Die Gartenlaube (1893)/Heft 47
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Nr. 47. | 1893. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Sabinens Freier.
Diese Sabine ist mein Pathenkind.
Eigentlich hatte ich im Sinn, die Ehre dieser Gevatterschaft abzulehnen; ja, ich war so wüthend über das elegante Papierkärtchen, welches den Lieutenant Viktor von Brenken dazu einlud, daß ich es auf den Tisch warf und sporenklirrend im Zimmer auf und ab schritt, überlegend, ob ich nicht die Czapka aufstülpen und mir einige Tage Urlaub von meinem Kommandeur holen solle, um eine dringende Reise als Grund meiner Ablehnung angeben zu können. Eine solche Zumuthung kann auch nur von einer Frau gestellt werden, die – na – die gar nicht weiß, wie weh sie einem gethan hat! Wahrhaftig, da hatte sie noch etwas an den Rand hingekritzelt, da stand – ich habe das alte Ding mit dem Goldrand noch – da stand:
„Mein lieber Viktor! Es bittet Dich in alter Freundschaft, bei meiner Kleinen Pathe zu sein, Deine Leni.“
Na, dann los! Aber, weiß Gott, ich hätte lieber Holz gehackt, als das alles mit angesehen. Erstlich das Gesicht des Taufvaters! Ich bin nicht unparteiisch, und wollte ich hier sein Bildniß malen, so könnte es am Ende doch zu unvortheilhaft ausfallen – aber das ist und bleibt wahr und das kann jetzt noch jeder sehen, der sein Oelbild betrachtet, daß er, der Herr Justizrath Bayer, kein Adonis war, im Gegentheil eine entfernte Aehnlichkeit mit einer Bulldogge hatte. An diesem Tage nun verzog er zwar das verdrießliche breite Gesicht zu einem verbindlichen Lächeln, aber dieses Lächeln machte keinen ganz ungezwungenen Eindruck, denn er hatte eigentlich etwas von einem kräftigen Buben in die Zeitung setzen lassen wollen, und nun war da ein Fräulein, ein so kleines zartes Geschöpfchen, daß die Großmama, bei der ich mich nach dem Ergehen ihrer Tochter und dem ihrer Enkelin pflichtschuldigst erkundigte, mir sagte: „Ach Viktor, das Kind ziehen wir nicht groß! Paß auf, es erlebt die Taufe gar nicht!“
Nun war aber doch diese Taufe da.
Der Pomp, der entfaltet wurde, hatte beinahe etwas Brutales; ich begriff Tante Klara und Cousine Leni nicht, daß sie bei ihrem
[790] feinen Geschmack eine derartige Ueberladung duldeten. Freilich, wie ich dann die Leni so blaß, mit gesenktem Köpfchen neben dem Altar sitzen sah, der in dem mit gelber Seide ausgeschlagenen Salon hergestellt worden war, und wie ich dann einen Blick that nach dem, dem sie angehörte, der eine funkelnde Brillantgarnitur im Vorhemd und einen daumennagelgroßen Solitär am Zeigefinger trug und mit seiner Riesenfigur sämtliche Anwesenden überragte, da sagte ich mir: hier gilt nur ein Wille! Diese zarte kleine Frau kann nichts anderes thun als ihr Köpfchen beugen, immer wieder beugen. Selbst meine resolute Tante Klara wagte es trotz ihrer schwiegermütterlichen Stellung nicht, ihm zu widersprechen.
Es war eine sehr stattliche Gesellschaft, die sich um den Tauftisch versammelt hatte; eine große Anzahl von „Freßgevattern“ und acht Pathen, darunter der Landrath, die Frau Kommandeur, Großmama, eine Freundin Lenis, Sophie von Plessen, ich – die andern weiß ich nicht mehr zu nennen. Eine Menge Kerzen brannte an den Wänden und auf dem Glaslüster, trotz der Tageshelle, und die Nachmittagssonne wob um Lenis braunes krauses Haar eine Strahlenkrone, die ihr das Ansehen einer Madonna verlieh. Ich glaube, auch die Taufrede, die der alte Pastor Funk hielt, war schön und rührend, denn meine beiden Nachbarinnen schluchzten in ihre Taschentücher. Ich? Mir war schlecht zu Muthe, ich konnte die Augen nicht von Leni wenden, und als mir endlich die hochbelobte Frau Schmidt das weiße mit blauen Schleifen besteckte Spitzenbündel in die Arme legte und ich in ein Paar stiller, grünlichklarer Kinderaugen blickte, die ausdruckslos und doch wie staunend an den Knöpfen meiner Uniform hingen, kam mir auch so ein eigenthümliches Schlucken in die Kehle, daß ich froh war, als mir die Kleine wieder abgenommen wurde.
Leni hielt, als wir nach beendeter Ceremonie uns glückwünschend nahten, meine Hand ein wenig fester als sonst in der ihrigen, aber sie sah an mir vorüber. Und dann schrie mir der Hausherr den Namen meiner Tischnachbarin in die Ohren und ich führte Fräulein Sophie von Plessen in den Speisesaal.
Wie gesagt, es ging hoch her. Bayer war als Feinschmecker bekannt, und „Johannisberger Schloß“ mit Trüffelpüree kann man ja immerhin genießen, wenn man auch den Gastgeber am liebsten dahin wünscht, wo der Pfeffer wächst. Es wurden viele Reden gehalten. Leni und ich tranken uns ein paarmal zu, und als ihr Wohl ausgebracht wurde, stand ich auf und ging mit dem Schwarm der Gäste zu ihr hinüber. Wir sahen uns auch an beim Berühren der Gläser, und da hatte ich das Unglück, die weiße Seide ihres Kleides mit „Röderer“ zu begießen. Ich entschuldigte mich aber nicht, und sie lächelte nicht verzeihend wie sonst; in ihren Augen hatte ich etwas gesehen wie Thränen, und die galten nicht dem Kleid.
Nach Tisch – der Salon war zum Tanzsaal hergerichtet – fing der übliche Walzer an. Ich wand mich wie ein Aal durch die Menge und eroberte Leni noch mit knapper Noth.
„Du, Cousine,“ fragte ich, „wann tanzten wir zum letzten Mal zusammen?“
Und schon im Wirbel des Tanzes sagte sie: „An dem Tage, bevor ich – – ach Viktor!“
Wir standen still, sie mit erblaßtem Gesicht und fast verzerrtem Lächeln. Und dann begann sie hastig zu plaudern.
„Weißt Du auch, Vetter, warum ich die Sophie Plessen neben Dich setzte? Du mußt ans Heirathen denken, hörst Du? Du bist sechsundzwanzig Jahre, und Deine Mutter wünscht es so sehr.“ Und ehe ich noch antworten konnte, bat sie: „Laß mich noch einmal mit Dir tanzen, Viktor!“
Ich legte den Arm um sie. „Leni, ist Dir das gut? Du hustetest eben.“
„Ach ja,“ sagte sie traurig und ließ den Kopf sinken, „der Arzt hat es mir überhaupt verboten! Aber weißt Du, Viktor, hol’ mir ein Tuch, ich will einmal in die Kinderstube gehen.“
Ich holte ihr das Verlangte, irgend eine Hülle aus der Stube, wo die Damen abgelegt hatten, und dann fragte ich: „Darf ich mitkommen?“
„Ja, komm!“
Das Zimmer lag im oberen Stock und war groß und still; eine Nachtlampe erhellte es nur dämmernd. Auf den Zehen schlichen wir über den Teppich zu dem weißverhangenen Bettchen. Die alte Kinderfrau, die im Winkel in einem Lehnstuhl geschlafen hatte, verschwand, als sie uns erblickte, wohl froh, sich durch einen Schluck Bowle in der Küche stärken zu können. Leni aber hatte sich über die Wiege gebeugt und ihr schönes Gesicht lag fast auf dem winzigen Kopf des Kindes.
„Du armes kleines Ding!“ hörte ich sie flüstern. Dann sank sie auf den Stuhl neben dem Bettchen und zupfte gedankenschwer an den Spitzen der Decke.
„Sie schläft schon,“ sagte ich, mich zum Scherzen zwingend, „sonst würde ich ein Wiegenlied singen, Cousine.“ Und ich zog ein Schemelchen herzu und hockte mich zu ihren Füßen.
Sie faltete plötzlich die Hände im Schoß; ich hielt das Ende einer Schleife von ihrem Kleide zwischen den Fingern und spielte damit. Kein Laut, kein Ton hier oben, nur das leise Athmen des Kindes und das einförmige Ticken der Schwarzwälder Kuckucksuhr an der Wand. Ich konnte kein Auge von ihr verwenden; ich hatte diese Frau so unendlich geliebt, hatte bestimmt geglaubt, daß sie die Meine werden würde, und wenn das nicht, daß sie wenigstens keinem andern gehören dürfe. Aus Sorge, aus wahnsinniger Angst, sie sei zu zart, war ich ihr gegenübergestanden wie einer Heiligen, der irdische Wünsche gar nicht nahen dürfen. War sie doch die Einzige, die der Tante Klara geblieben war von fünf blühenden Töchtern; alle, alle starben sie weit drunten im Süden, wo sie gemeint hatten, ihre kranken Lungen zu kräftigen, zu heilen. Mit Leni blieb die Tante auf den Rath der Aerzte hier, da sie anscheinend gesund war, und doch kam sie uns allen vor wie eine dem Tode Geweihte. Ihre zarte, fast überirdische Schönheit hatte mir Arm und Zunge gelähmt, so daß ich sie nicht an mein Herz zog, um ihr zu sagen. „Ich liebe Dich, Leni – sei mein!“
Monatelang war ich wie im Taumel umhergewandert und umhergeritten, immer mit dem Zweifel kämpfend: darf ich sie begehren? – immer wieder mich überredend, ich dürfe ihren Frieden, ihr sonniges Mädchendasein nicht stören; immer in dem Glauben, Tante Klara werde sagen, wie sie zu ihrem Schwiegersohn gesagt hatte, als ihre zweitjüngste Tochter nach kaum einjähriger Ehe starb: „Hätte sie hier so still weiter gelebt – ich besäße sie noch!“
Nein, ich fand nicht den Muth, die Tante um dieses ihr Letztes zu bitten. Ich wußte auch nicht, ob Leni mich liebe. Bis zu dieser Stunde wußte ich es nicht. Ich war grenzenlos zurückhaltend gewesen, unser Verkehr ein geschwisterlich inniger. Nur einmal auf einem Ball – da glaubte ich etwas in ihren Augen zu lesen, das mich in den Himmel hob und dann tiefer denn je zu Boden drückte. Sie durfte wenig tanzen, aber wir hatten wenigstens zusammen den Kotillon abgesessen oder waren noch dabei, da brachte mir ihre beste Freundin, die Sophie von Plessen, einen Orden. Von besagter Sophie ging die Rede, daß sie mich nicht ungern sähe; im Kreise der Kameraden wurde ich mit ihr des öftern geneckt. Ich selbst hatte nichts bemerkt, mich nahm das Eine so völlig gefangen. Nun, wo ich im Tanz mit der großen stattlichen Blondine dahinflog, die so recht das Bild der Gesundheit war, verfolgte uns ihr Auge mit einem Ausdruck, den ich noch nie darin gesehen hatte, gespannt, ja düster, und so blickte sie uns auch entgegen.
„Was ist Dir, Leni? Bist Du nicht wohl?“ war meine Frage gewesen.
Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. Nach einer Weile sagte sie leise: „Sie ist schön, die Sophie – nicht wahr, Viktor?“
„Ich weiß es nicht, Leni,“ antwortete ich, „möglich, daß sie von vielen für schön gehalten wird – ich habe nicht darüber nachgedacht.“
Da ging so ein strahlendes Lächeln über ihr brünettes Gesichtchen, und mit einem Aufleuchten der glänzenden klaren Augen sagte sie: „Ach Viktor, einmal möchte ich mit Dir tanzen heute abend – einmal, es wird ja nicht schaden!“
Und dann tanzten wir zusammen.
In jener Nacht faßte ich den Entschluß, am anderen Tage mit Tante Klara zu reden, ihr mein gequältes Herz offen darzulegen. Am liebsten wäre ich schon in aller Morgenfrühe hingegangen, aber der Dienst verhinderte mich, und mittags hatten wir Gäste am Tische unseres Kasinos, so daß ich erst gegen Abend dazukam, das Witwenheim Tante Klaras im alten Brenkenhause aufzusuchen. Ich pflegte fast jeden Tag um diese Stunde hinzugehen; es war nicht gebräuchlich, daß mich das alte Lieschen anmeldete. Auch hellte schritt ich die breite Stiege hinauf, die ich [791] unzähligemale schon erklommen hatte in Bangen oder Hoffen, je nachdem, und trat nach kurzem Anklopfen in das große Wohnzimmer.
Die letzte Dämmerung des Februarabends erhellte noch eben nothdürftig die liebe alte Stube, aber doch noch genug, um mir mit einem einzigen Schlage zu zeigen, was mir das Schicksal angethan hatte. Da stand sie, die zarte leichte Gestalt, von dem Arm eines großen Mannes umfaßt; vor ihnen die Mutter, die beider Hände hielt. Wie die Schlußscene eines glücklich endenden Schauspiels war es anzusehen.
Ich weiß nicht mehr, wie ich die Treppe hinunter und in meine Wohnung gekommen bin. Das, das hatte ich nicht erwartet! Mir war es ja nicht unbekannt geblieben, daß der Rechtsanwalt Bayer um Helene herumschmachtete, aber in alle Ewigkeit nicht wär’ in mir der Gedanke aufgetaucht, daß dieser plumpe Geselle die Hand ausstrecken könne nach dem vergötterten Mädchen, Es waren fürchterliche Stunden, die nun folgten. Anfänglich dachte ich daran, mich versetzen zu lassen; dann kam es wie Trotz über mich – ich wollte dennoch bleiben. Und thatsächlich bekam ich es fertig, ihr mit lächelnden Lippen Glück zu wünschen inmitten einer Menge anderer Besucher, die zu gleichem Zwecke erschienen waren. Draußen aber, als ich an der Küchenthür vorüberschritt, da stand „de oll Lieschen“ und hielt mich am Aermel meines Paletots fest.
„Herr Leutnant,“ flüsterte sie, „wat uns Frölen is, de is nich schuld. Uns gnä Fru – – ach Gott, Herr Leutnant, Sei glöwen nich, wat Leni kämpft hat mit ehr lüttes Hart! Ik mein, Herr Leutnant, dit Paar stimmt nich tosamen.“
„So, so, die gnä Fru?“ sagte ich. „Nun, es wird schon gut werden, Lieschen.“ Von dem Augenblick an war meine Verehrung für Tante Klara spurlos verschwunden.
Ach, und nun! Nun wußte ich ja längst, daß sie nicht glücklich war. Nun saß sie da vor mir, und jeder Zug ihres lieben Gesichtes erzählte von inneren Kämpfen; auf den zarten Wangen aber, da brannten zwei Rosen, die nur zu deutlich sprachen – vom Vergehen, vom Scheiden!
Und sie war nicht mein gewesen, Ich hatte nicht den Muth gehabt, sie an meiner Seite sterben zu sehen, nicht den Muth gehabt, sie zu verlieren nach kurzem Glück – ich Thor! Vielleicht starb sie nicht wenn ich sie besaß! Wie kann der Tod etwas nehmen, das man so fest hält, so vergöttert? Unmöglich! Und nun – – Mein einziger Trost war noch, daß sie meine Liebe vielleicht doch nicht erwidert, daß sie nur schwesterlich an mich gedacht hatte.
„Viktor!“ sagte sie leise und riß mich aus diesen Gedanken.
„Leni!“ antwortete ich.
„Hör’, Viktor, Du mußt mir etwas versprechen –“
„Was Du willst, Leni!“
Sie neigte sich etwas herunter, so daß ihr schönes klares Antlitz dicht vor dem meinigen leuchtete. „Viktor, ich weiß, lange lebe ich nicht mehr. Nein, sprich nicht dazwischen, sei ruhig!“ Und ihre kleine Hand preßte sich auf meinen Mund, „Laß es mich doch ein einziges Mal von der Seele herunterreden, was mir keine Ruhe läßt bei Tag und Nacht seit der Stunde, in der die Kleine zum Leben erwacht ist. Sieh, ich weiß bestimmt, ich sterbe bald, und ich würde ja so leicht von hier gehen, wenn mich dies nicht hielte.“ Sie neigte den Kopf ein wenig nach dem Bettchen. „Nun weiß ich aber keinen weiter auf der Welt, Vetter, als Dich, den ich bitten könnte um eine große echte Liebesthat. Du bist immer so gut gegen mich, Viktor, sehr gut –“
Sie schwieg ein Weilchen, dann fragte sie: „Findest Du nicht, daß sie mir ähnlich sieht? Ach, und das ist so schrecklich; sie wird ein ebenso armes herzenseinsames Geschöpf werden wie ihre Mutter. Bayer wird es ihr nie verzeihen, daß sie kein Bube ist, und wenn sie erst eine Stiefmutter hat, dann wird sie ebenso ohne echten wahren Sonnenschein aufwachsen wie ich und wird sich ebenso tief danach sehnen und ebenso todesunglücklich sein wie ich.“
„Aber Leni,“ sagte ich mühsam, „wer, von dem Du Liebe geheischt, würde sie Dir versagt haben?“
Sie preßte heftig meine Hand. „Du!“ sagte sie; es klang wie ein erstickter Schrei. Dann ließ sie meine Rechte fallen und sank kraftlos zurück.
Hatte sie es wirklich gesprochen, dieses „Du“? Oder war es nur ein Seufzer gewesen, der mir geklungen hatte wie jenes Wort – eine thörichte sündhafte Einbildung?
Wir waren beide verstummt, aber mir klopfte das Herz wie wahnsinnig. Ich fühlte, dieses Schweigen durfte nicht länger dauern, dieses Beisammensein hier ebenfalls nicht, wenn ich ihr nicht zu Füßen fallen, ihr alles gestehen sollte, was ich um sie gelitten. Wie im Krampf umklammerte ich den Rand des Bettchens und fühlte, wie mir die kalten Tropfen auf der Stirne perlten.
„Leni,“ sagte ich heiser und richtete mich mühsam auf, und allmählich erst erstarkte meine Stimme, „Leni, wenn’s Dir eine Beruhigung ist, so verspreche ich Dir, ich werde mich als Pathenonkel comme il faut Deinem Fräulein Tochter gegenüber aufspielen. Ich“ – jetzt versuchte ich zu lachen – „ich werde ihr Ballkleider kaufen, Reitpferde aussuchen und womöglich auch einen Mann, vorausgesetzt, daß Dir alle diese Dinge gefallen, denn ans Sterben, Leni – wie kannst Du ans Sterben denken!“
Sie sah mich noch immer starr und traurig an. „Ein gutes Wort nur will ich für sie, Viktor, wenn ihr ’mal das Herz weh thut. Du hast vielleicht dann eine liebe Frau, eine traute Häuslichkeit – laß sie davon ein wenig mitgenießen; es wird nicht viel Gutes für sie aufgehoben sein im Leben, in diesem Hause. Ach, es würde mir soviel leichter werden, das Fortgehen von ihr, wenn – –“
Sie war aufgestanden und beugte sich wieder über die Kleine, „Komm’,“ sagte sie dann, ihre Hand auf meine Schulter legend, „komm’, Viktor – ich weiß es, Du hältst Wort; wenn auch Dein Mund nichts verspricht, Dein Herz hat’s gethan. Komm’, es ist besser, wir gehen. Großes Kind,“ fügte sie dann weich hinzu und strich mir mit den lichten Fingern leicht über die nassen Augen. „Aber denke Dir, ich freue mich in dem Gedanken, daß Du mir eine Thräne nachweinen wirst, wenn ich tot bin,“
„Leni!“ flüsterte ich fassungslos und griff nach ihrer Hand. Aber sie wandte sich rasch ab und ging der Thür zu, und ich folgte ihr, zitternd wie ein Fieberkranker.
Ihr Mann kam ihr mit weinrothem Gesicht entgegen und zog ihren Arm in den seinigen. Ich konnte es nicht mit ansehen, ich konnte diese ganze übermüthige Tanzgesellschaft nicht mehr ertragen, suchte im Flur Mantel und Säbel und ging. Der graue Morgen fand mich noch in der Ulanka vor dem Schreibtisch sitzend, ich hatte mein Versetzungsgesuch geschrieben, zu gleicher Zeit mit der Bitte um Urlaub. Mein Schwager war damals Adjutant an maßgebender Stelle, und ich hatte mich privatim an meine Schwester gewandt, ihr mein ganzes Seelenleid geschildert und sie gebeten, so diskret als möglich ihren Mann zu beeinflussen, um das Ungewöhnliche für mich zu erlangen.
Am Tage nach der Taufe reiste ich ab und kehrte erst, als die Versetzung genehmigt war, zurück, um mich abzumelden. Ich war zu einem Regiment in Ostpreußen beordert.
Wie bei allen anderen Abschiedsbesuchen kam ich auch zu Bayers in Czapka und Ulanka. Als mir das Stubenmädchen erzählte, der Herr sei auf einer Geschäftsreise, glaubte ich einen Augenblick lang, es sei besser, nur eine Karte abzugeben, dann aber fand ich, daß ich ein Abschiedswort von ihr wohl noch mit hinübernehmen dürfe in die öde Zukunft, ja daß ich schließlich das Recht hätte, zum Dank für mein Opfer ihr nochmals die liebe Hand zu drücken – und so stand ich ein paar Minuten später vor ihr. Sie saß in ihrem kleinen Boudoir am Ofen in einem Sessel, das Kind auf dem Schoße.
Sie sah mich groß ab, als habe sie mich erwartet. „Du willst mir Lebewohl sagen, Viktor?“
„Jawohl, Cousinchen!“ versuchte ich zu scherzen, „Dir und dem Fräulein Sabine da. Wenn ich sie wiedersehe, wird sie hoffentlich ‚Onkel‘ sagen können.“
„O, ich denke ja wohl,“ flüsterte Leni.
Ich begann nun geflissentlich von allem möglichen zu erzählen, richtete die Grüße aus, die mir Mutter und Schwester für sie aufgetragen hatten, sprach von meiner neuen Garnison, kurz, ich schwatzte das Blaue vom Himmel herunter, nur um das entsetzliche laute Klopfen meines Herzens zu betäuben.
„Nun, dann leb’ wohl, Viktor,“ sagte sie, mich plötzlich unterbrechend, als wollte sie die Qual des Abschieds kürzen. „Du weißt, wer glücklich ist, wenn es Dir gut geht. Unmittelbar werde ich nichts von Dir hören, aber Deine Mutter und die meine, die schreiben sich ja, ich werde also immer wissen, wie Du lebst, ob Du glücklich bist – so lange ich noch – –“
Sie brach ab, Ich hatte ihre Hand ergriffen und drückte sie an meine Lippen.
„Leb’ wohl, Viktor! Ich weiß, weshalb Du gehst – ich
[792][793] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [794] danke Dir!“ Ich wandte mich rasch um und schritt der Thüre zu, da rief sie noch einmal meinen Namen: „Viktor!“
Sie hatte das Kind auf den Sessel gelegt von dem sie sich erhoben. „Vergiß Dein Versprechen nicht!“ bat sie mit versagender Stimme und streckte mir die gefalteten Hände entgegen.
„Nie, Leni, nie!“
„So leb’ wohl, Viktor!“
Ich konnte nicht antworten. Ich sehe sie noch heute vor mir stehen. Sie trug ein helles faltiges Hauskleid, ihre leichte Gestalt hatte etwas Ueberirdisches, wie sie sich abhob von dem dunklen Hintergrund.
Und dieses eine Mal suchten sich unsere Augen so, als ob nichts dazwischen stände, was diesen Blick zur Sünde machte. Wer solchen Blick kennt, der weiß, daß er weher thut als alle anderen Schmerzen der Welt zusammen, der weiß, daß man ihn brennen fühlt, so lange man lebt, und das Gefühl, sich vorwurfsfrei benommen zu haben, ach, das ist erst dann ein Trost, wenn die ersten wahnsinnigen Schmerzen sich abgestumpft haben. In jener Minute hab’ ich es nicht als Erleichterung empfunden! Ich stürzte fort, elend wie noch nie. Ich wußte, ich sah sie nicht wieder.
Fünf Jahre später, in dem großen herrlichen Jahre 1870 war es, da erhielt ich ihre Todesnachricht. Fünf lange Jahre hatte sie gebraucht zum Sterben! Tante Klara schrieb es mir; der Brief war fast unleserlich von den Thränen, die auf das Papier gefallen waren. Drinnen lag ein kleines Briefchen.
Ich weiß noch genau, wo es war, als diese Botschaft kam; man vergißt bei großen Schmerzen und großem Glück auch nicht die kleinsten Nebendinge. In dem Salon eines Schlosses bei Paris war es, um Weihnachten. Man hatte die Möbel, die ihre ursprüngliche hellblaue Farbe kaum mehr erkennen ließen, bunt durcheinander geschoben; die Kameraden saßen bei einer Riesenbowle rauchend und spielend um den Tisch in der Mitte. Einige seidene Fenstervorhänge waren theilweise heruntergerissen; man hatte den schweren Stoff vielleicht gebraucht zum Schutz gegen die Kälte, oder er war verbrannt von den Franctireursbanden, die vor uns hier gehaust hatten. Das zarte Muster des Riesenteppichs ließ sich kaum noch unterscheiden. Am verstimmten Flügel sang ein junger Kamerad ein schwermüthiges Lied; ein Stalleimer, gefüllt mit Schnee und Eis, stand mitten in einer trüben Lache auf dem Fußboden, und die Ordonnanz hockte davor, die Champagnerflaschen drehend. Dazu der leichte Rauch von Cigaretten und Pfeifen und das Lachen und Sprechen der Herren die bemüht waren, eine seltene Konifere aus dem Park als Weihnachtsbaum aufzuputzen oder gleich mir die soeben eingegangenen Feldpostbriefe zu lesen oder gar Kisten zu öffnen.
Ich hatte selten oder vielmehr nie von Tante Klara einen Brief bekommen, so daß ich ihre Handschrift nicht kannte. Der Poststempel war sehr verwischt. Ich wandte den Brief erst eine Zeitlang nach rechts und links, bemüht, den Schreiber zu errathen; dann – es war in der Dämmerung – setzte ich mich an einen der beiden großen Kamine, in denen mächtige Holzscheite flammten, um die Zeilen zu lesen, und da entzifferte ich mühsam bei dem flackernden Schein die Worte:
„Unsere Leni ist gestern nachmittag sanft entschlafen! Mein lieber Viktor, ich bin ganz gebrochen! Sie war nicht lange zu Bett, aber seit der Geburt der kleinen Hella kränkelte sie beständig. Dann, vor ungefähr acht Tagen, war sie nicht mehr imstande, sich aufrecht zu halten. Sie starb bei völliger Klarheit über ihren Zustand und gab mir noch einen Tag vor ihrem Tode beiliegendes Briefchen mit der Bitte, es Dir zu senden, sobald sie entschlafen sei. Ich erfülle den Willen meines theuren Kindes. – Ach Viktor, ich bin namenlos unglücklich! Die beiden armen Mädchen mutterlos und – unter Verhältnissen, die entsetzlich schwer sind; ich kann es nicht hierher schreiben. Leni wäre ihnen so nöthig gewesen, so sehr!
Verzeihe, wenn ich so durcheinander schreibe! Bayer steht als Landwehroffizier in X; er hat das Schwere nicht mit angesehen. Ich wollte ihn rufen lassen, aber Leni wünschte es durchaus nicht.
Viktor, welch ein furchtbares Jahr! Ich bin so sterbensmüde,
und doch, ich darf noch nicht ruhen, denn wer soll die
Kinder erziehen? Denke unser in alter Treue und kehre gesund
heim! Gott schütze Dich!
Deine trostlose alte Tante
Klara von Brenken.“
Ich stand auf, trat in eine der tiefen Fensternischen und legte den Kopf an die Scheiben. Ausgelitten! Erlöst! Das waren die ersten Empfindungen, sie gaben mir ein Gefühl von Erleichterung. Ich hatte nie an sie denken können ohne quälende Pein. – Dir ist wohl, Leni, schlafe sanft! Nun kann keine Roheit Dich mehr verletzen, keine aufschreiende Sehnsucht Dich ruhelos umhertreiben, Du fühlst nichts mehr, Du schläfst!
Und ich konnte ruhig das kleine Briefchen öffnen, um es in dem grauen Schneelicht von draußen und dem herüberdämmernden Lampenschein zu lesen. Sie schrieb:
„Ich habe allezeit gebetet für Dich; Gott gebe Dir gesunde Heimkehr, mein lieber Viktor, und viele glückliche Jahre! Es
grüßt Dich noch einmal mit Dank für alles, was Du thun wirst,Und darunter stand von ungeschickter Kinderhand, die offenbar von der Mutter geführt worden war:
„Lieber Onkel, Mütterchen sagt, ich soll Dich immer sehr
lieb haben. Vergiß auch nicht DeineDa erst liefen mir die Thränen aus den Augen.
Hinter mir jubelten die Kameraden, sie hatten Weihnachtsgeschenke von daheim ausgepackt und freuten sich darüber, dazwischen kamen Nachrichten von einem Gefecht, das heute stattgefunden haben sollte, Vermuthungen über einen zu erwartenden Ausfall der Pariser nach unserer Seite und so weiter. Das Leben des großen Krieges, dieses einzigen Siegeszuges, der wie ein Märchentraum uns emportrug zu stolzer ungeahnter Höhe! Ich starrte hinaus in den öden verlassenen Park – er war so öde wie meine Zukunft. Wie mancher brave Junge lag da in Frankreichs Erde, der jäh einem großen Glück entrissen wurde! Mich hatte das Schicksal verschont, um mich weinte keine schluchzende Braut, keine verzweifelte Gattin, keine trostlose Mutter – sie hatte ich noch vor dem Ausmarsch begraben – wie ich keinen mehr besaß, der sich so recht freuen würde über meine Heimkehr.
„Vergiß nicht Deine kleine Bine!“ klang es da in mein Ohr.
Dieses Kind! Ach Gott, es würde mich ja nicht vermissen, es kannte mich ja gar nicht und hatte einen Vater, der – – Nein, nein! Ich will versuchen, es zu lieben, will versuchen, ihm eine Stütze zu sein, sollte es dereinst keine bessere finden und – – sollte ich heimkehren. Man war doch schließlich mitten im Leben und Sterben! Leni, arme kleine Leni, schlaf’ ruhig – ich versprach’s Dir ja! Und im Geiste sah ich ihr Grab. Gestern mochten sie sie eingesenkt haben in unsere Familiengruft zu Wardelingen.
Wir waren beide Wardelinger Kinder, sie die Tochter von meines Vaters verstorbenem Bruder. Die Brenkens stammten aus Wardelingen; das uralte Haus an der Marienkirche mit seinen vorgeschobenen Stockwerken, über dessen rundbogiger Pforte unser Wappen in halbverwittertem Sandstein prangte, das hatten unsere Voreltern bewohnt zu der Zeit, als noch die Quitzows das Land beunruhigten; damals war ein Brenken Lehensherr der Burg Wardelingen gewesen. Mein Großvater erwarb das alte Haus, kurz bevor es wegen Baufälligkeit abgebrochen werden sollte, und ließ es wiederherstellen und den verwilderten Garten in stand setzen. Bewohnt wurde es nicht von uns, bis mein Onkel starb und mein Vater es als Zuflucht der in dürftigen Verhältnissen zurückgebliebenen Tante Klara anbot, die dieses Asyl in dem kleinen märkischen Neste für sich und ihre Kinder dankbar annahm. Und ich, angelockt durch alte Familienerinnerungen, hatte nicht geruht bis ich in das Kavallerieregiment, das dort lag, eintreten durfte. Wenn ich geahnt hätte, was meiner dort wartete – und doch, ich hätte die Erinnerung daran um alles nicht missen mögen, um alles nicht!
Und nun schlief sie dort neben ihren Schwestern und den alten längst vergessenen Familienmitgliedern. Hoffentlich hatte man sie dort bestattet und nicht etwa in die Bayersche Familiengruft geschaftt! Im Tode wenigstens sollte sie heimkehren zu uns.
„Herr Premier! – Brenken!“ riefen ein paar Stimmen hinter mir, „kommen Sie doch, der Punsch wird kalt!“
„Ich danke, meine Herren! Ich habe Briefe zu schreiben,“ antwortete ich, suchte in dem Gartensaal, der mir als Quartier angewiesen war, meine Schreibmappe aus dem Koffer hervor und kritzelte zwei Briefe hin bei einem Stümpfchen Licht – den einen an ein bekanntes Blumengeschäft in Berlin mit dem Auftrag, das Herrlichste, was es eben an Blumen gebe, nach Wardelingen zu schicke, den andern an eine Spielwarenhandlung in Nürnberg mit der Weisung, die schönste Puppe, die am Ort zu haben sei, an Fräulein Sabine Bayer in Wardelingen zu senden. Auf eine Visitenkarte [795] schrieb ich dazu: „Von Deinem Onkel Viktor, der Dich immer lieb haben wird.“ Das war vorläufig alles, was ich für sie hatte, außer dem, was ich nicht in eine Kiste packen konnte, um es hinzuschicken – die tiefe innere Trauer, das innige Mitgefühl.
An Tante Klara zu schreiben wollte mir aber nicht gelingen. Ich zerriß vier bis fünf Briefe, die einen, weil sie doch allzu kalt und formell ausgefallen waren – zu einem wärmeren Ausdruck vermochte ich mich nicht zu zwingen – die anderen, weil sich bittere Vorwürfe mir in die Feder gedrängt hatten, die ich der Frau am frischen Grabe ihres letzten Kindes nicht machen wollte, obgleich ich dazu berechtigt gewesen wäre. Ich schwieg also, ich schwieg noch lange Zeit hinterher. Das Einzige, womit ich mein Versprechen an Leni erfüllte, waren die alljährlich sich wiederholenden Weihnachts- und Geburtstagsgaben für ihr Kind. So hatte sie es nicht gemeint, ich wußte es, aber ich konnte mich dennoch nicht entschließen, nach Wardelingen zu reisen. Bei dem bloßen Gedanken, die Stätte wiederzusehen, überkam mich eine Seelenstimmung, die mich elend und nervös machte und mich schlechterdings zum Aufgeben meines Vorsatzes zwang, den ich alle Jahre um Neujahr herum faßte, wenn ich ein Briefchen erhielt, das die Ueberschrift: „Lieber Onkel Viktor“ und die Unterschrift: „Deine kleine Bine“ aufwies. Ich fühlte mich dann so ungemüthlich, als sei mir eine alte längst fällige Rechnung zum so und sovielten Male vorgezeigt worden und ich stände da ohne einen Pfennig in der Tasche, weil ich all mein Geld schon ausgegeben hatte.
Mein Gott, was konnte ich diesem Kinde nutzen? Gar nichts! Da ein lediger Ulanenrittmeister, den auf der Welt höchstens noch der Sport interessiert und seine Schwadron! Und überdies, Cousine Leni hatte mir ja erst für später das Kind anempfohlen, für die Zeit, in der es bei ernsten Lebenslagen meinen Schutz gebrauchen könnte. Vorläufig war diese Bine noch ein Kind, und Kinder vermissen nichts; und das, was sie vielleicht vermißte, die Liebe der Mutter, die konnte ich ihr nicht geben.
So lernte ich denn Lenis Vermächtniß nicht persönlich kennen und lebte in der kleinen ostpreußischen Garnison mein Leben weiter, so gut es eben gehen wollte, erwarb mir den Ruf eines vollendeten Ehefeindes und ward allmählich von den Müttern erwachsener Töchter aus der Liste der Heirathskandidaten gestrichen. Thatsächlich hatte ich die wunderliche Marotte, jedes Mädchen mit Leni zu vergleichen, und damit war ihr Urtheil gefällt und meine Ruhe gewahrt, denn keine einzige hielt den Vergleich aus.
Inzwischen war ich Major geworden; das Ereigniß traf so um Weihnachten herum ein. Auf dem Sylvesterball war ich mit den silbernen Fransen erschienen und mußte nun plötzlich eine bedeutend ältere Dame zu Tische führen als bisher. Nach dem Essen spielte ich, anstatt zwanglos da und dort zu plaudern, zum ersten Male Whist mit dem Kommandeur, dem Landrath und einer der allerältesten Damen der Gesellschaft, und beim Nachhausekommen sagte ich mir: man habe es mir doch recht deutlich fühlbar gemacht, daß ich jetzt ins Register der Ehrwürdigen eingetragen sei, obgleich ich schließlich doch von gestern auf heute keineswegs ein alter Herr geworden war.
Aber ich erhielt am selben Abend gleich noch zwei Beweise dafür, daß die Zeit nicht still steht. Da lagen ein paar Briefe auf meinem Schreibtisch, der eine von meiner Schwester, der andere – der mußte von der kleinen Bine sein, denn der Poststempel war „Wardelingen“, die Handschrift aber schien damenhaft niedlich, so daß ich doch wieder irre ward.
Meine Schwester schrieb mir, ein Wardelinger Kaufmann habe sich an sie gewendet mit der Frage, ob wir ihm unser altes Haus verkaufen wollten. „Wie denkst Du darüber, Viktor? Wenn Du so meinst wie ich, so lehnen wir ab, trotz des namhaften Preises. Wir haben es doch beide nicht nöthig, das alte Haus zu verschachern, in dem unsere Voreltern gesessen haben und Leni ihre Mädchenzeit verlebte. Ich denke auch immer, es sei einmal so ein stiller Winkel, in den man sich retten kann, wenn man von der übrigen Welt nichts mehr wissen mag. Ich habe manchmal das Leben im Strudel recht satt, Viktor, aber meines Mannes wegen – – kurz und gut, Bruder, wenn Du also denkst wie ich, behalten wir das alte Gerümpel, wär’s auch weiter aus keinem Grunde, als der köstlichen Gravensteiner wegen, die im Garten wachsen.“
„Na, das versteht sich!“ murmelte ich. „Uebrigens werde ich dem Manne antworten.“
Dann sah ich noch eine Nachschrift: „Tante Klara soll noch immer die Alte sein, Du weißt ja. Die zweite von Lenis Mädchen, die Hella, wird von ihrem Vater wie ein Junge erzogen. Tante Klara schrieb mir ganz trostlos darüber; Hella habe einen Pony und mehrere Hunde und stecke voll der muthwilligsten Streiche. Dieser Herr Bayer ist doch ein recht merkwürdiger Mensch – die Aelteste ist für ihn kaum vorhanden. Tante Klara sagt übriges gar nichts über Dein Pathchen.“
Nun, dieses Pathchen meldete sich ja wohl eben schriftlich bei mir? Ich öffnete auch diesen Brief.
Wirklich – hatte sie denn das selbst geschrieben? Das war ja eine Schrift wie gestochen und der ihrer Mutter so ähnlich; sogar dieselben kleinen unmotivierten Häkchen an den großen Buchstaben, dieselben U-Bogen! Mir fiel das jetzt zum ersten Male auf.
„Mein lieber Onkel Viktor,“ stand da, „recht herzlich danke ich für Deine schönen Weihnachtsgeschenke, die mir wieder eine große Freude machten; ersehe ich doch daraus, daß Du immer wieder an mich denkst, obgleich Du mich doch gar nicht kennst und mich nur lieb hast, weil Dich die gute arme Mama darum bat.
Lieber Onkel Viktor, ich würde Dir so gern auch etwas schenken, aber ich weiß nicht, was. Denn ich kenne Deine Wünsche nicht. Wenn ich Dir auch einmal eine Cigarrentasche sticken dürfte! Rauchst Du? Ich habe immer nicht den Muth gehabt, Dir etwas anzubieten, aber jetzt arbeite ich schon ganz sauber.
Und nun habe ich noch eine sehr große Bitte, lieber Onkel – schenke mir doch keine Puppe mehr; ich werde ja an Ostern konfirmiert und Hella spielt gar nicht mit Puppen und lacht mich aus, weil ich alle diese schönen Wickelkinder und Balldamen so lieb habe. Sind sie doch von Dir geschickt! Ich glaube, nun habe ich zehn Stück. – Es wäre doch sehr hübsch, wenn Du einmal kommen könntest. Die Großmama sagt, Du hättest uns gar nicht mehr lieb, aber das glaube ich nicht. Hella ist auch so neugierig, Dich zu sehen.
Vielen Dank, lieber Onkel!
Deine treue Bine.“
Ich lachte hell auf. Herr Gott, das hatte ich nicht bedacht, daß so ein „Gör“ wächst! Diese zehnte Puppe war mal wieder die richtige Gedankenlosigkeit von mir gewesen; als ob ein Mädel ewig mit Puppen spielte! Nein, es ist doch – – Plötzlich war ich Major und wunderte mich, und plötzlich hatte ich ein nahezu erwachsenes Pathenkind und wunderte mich nochmals!
Arme kleine Bine! Wie herzig dieser Brief war!
Ich kaufte am andern Tag eine niedliche Brosche und schickte
sie ihr als Ersatz für die Puppe, die sie doch verschenken solle.
Aber da antwortete sie: nein, diese letzte Puppe wolle sie gerade
recht sorgsam aufheben. (Fortsetzung folgt.)
Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
Neues vom „Metall der Zukunft“.
Als es mit Hilfe der Elektricität gelungen war, das Aluminium aus gewöhnlichem Lehm zu annehmbaren Preisen herzustellen, da pries man es als das „Metall der Zukunft“ und prophezeite ihm auch einen siegreichen Einzug in die Küche, wo es nicht nur neben den Emailletöpfen, neben Kupfer- und Nickelgeschirr bestehen, sondern diese gar verdrängen sollte! Man hatte ja von alters her an den bisher üblichen Geschirren aus unedlen Metallen Verschiedenes auszusetzen; sie waren schwer und darum nicht leicht zu handhaben, und besonders gaben sie oft gesundheitsschädliche Verbindungen an die Speisen ab. Das Aluminium, welches sich durch die Eigenschaft, nicht zu rosten, auszeichnet, schien darum auf den ersten Blick recht geeignet, in der Küche dem Menschen gute Dienste zu erweisen. Aber die Industrie und Hygieine waren mit seinen Eigenschaften noch nicht genügend vertraut und so wurde vorläufig nichts aus dem erhofften Siegesfluge; im Gegentheil, als die ersten Aluminiumfeldflaschen und Aluminiumkochtöpfe auftauchten, ließen sich bald Stimmen hören, welche davor warnten, das „Silber aus Lehm“ in der Küche zu verwenden. Es sollte von den Speisen und Getränken angegriffen werden und deren Geschmack verderben; es sollte sich beim Gebrauch und beim Reinigen zu rasch abnutzen; vor allem aber wurde auch ihm wieder der Vorwurf gemacht, daß es die Speisen „vergifte“, sie gesundheitsschädlich [796] mache. Die Warnung verfehlte ihre Wirkung nicht, das Publikum stutzte und wartete das Ergebuiß sorgfältigerer Prüfungen ab.
Diese wurden auch alsbald in Angriff genommen, und was wir nunmehr im folgenden mitzutheilen haben, stützt sich auf die äußerst sorgfältigen und gründlichen Untersuchungen, welche im Kaiserlichen Gesundheitsamt und von der Medizinalabtheilung des preußischen Kriegsministeriums im Friedrich-Wilhelms-Institut zu Berlin angestellt worden sind.
Den wichtigsten Theil dieser Untersuchungen bildete die Klärung der Frage, ob durch Benutzung des Aluminiumgeschirrs Gesundheitsstörungen bei Menschen hervorgerufen werden können. Bestand dieser Vorwurf zu Recht, so verbot sich die Einführung des Aluminiums in unsere Küchen von selbst.
Die Wissenschaft rechnet das Aluminium an sich wie alle anderen Metalle zu den Giften. Dies geschieht aus dem Grunde, weil alle Metallsalze, sobald sie in das Blut eingeführt werden, warmblütige Thiere töten. Unter diesen Umständen, d. h. beim Eintritt in das Blut, erweisen sich auch Aluminiumverbindungen als gefährlich, wenn sie auch im Vergleich zu anderen Metallen wie Blei, Kupfer, Eisen, Nickel etc. am allerwenigsten giftig sind. Nun spritzen wir uns aber ja kein Aluminium in das Blut ein, seine Verbindungen können nur dadurch schädlich wirken, daß sie mit Speisen verzehrt oder in Getränken verschluckt werden. Auf diese Weise werden die Menschen durch Bleiverbindungen vergiftet, indem diese vom Magen und Darme aus in das Blut übergehen. Ist dies nun auch beim Aluminium der Fall? Man durfte diese Frage nicht ohne weiteres bejahen, da es bereits bekannt war, daß einige Metallverbindungen, wie z. B. die des Mangans, vom Darme aus gar nicht in den Körper übergehen. Man mußte es also auf eine Probe ankommen lassen, und diese fiel günstig für das Aluminium aus: seine Verbindungen gehen, wie zahlreiche Thierversuche gezeigt haben, vom Darme aus nicht in den Körper über.
Wichtiger aber sind die Ergebnisse der Versuche am Menschen. Zwei Aerzte, 26 und 35 Jahre alt, gesund und von kräftiger Körperbeschaffenheit, nahmen im Laufe eines Monats täglich vormittags 11 Uhr 1 Gramm weinsaures Aluminium mit dem zweiten Frühstück. Beide beobachteten weder unmittelbar nach dem Einnehmen des Salzes noch im Verlaufe der ganzen Versuchszeit die geringste Störung des Appetits oder des Wohlbefindens. Auf Grund dieser Thatsache ist das Gesundheitsamt zu der Schlußfolgerung gelangt, „daß eine Schädigung der Gesundheit durch den Genuß von Speisen und Getränken, welche in Aluminiumgeschirr gekocht oder aufbewahrt worden sind, bei den hierbei gewöhnlich in Betracht kommenden Verhältnissen nicht zu erwarten ist.“
Im Friedrich-Wilhelms-Institut wurden anderthalb Jahre lang Kochversuche mit Aluminiumgeschirre angestellt, und während dieser Zeit verzehrten die beiden Laboratoriumsdiener sämtliche in den Aluminiumgeschirren bereitete Speisen und Getränke – täglich Fleisch, Gemüse und Kaffee in zwei vorschriftsmäßigen Friedens-, zeitweise auch Kriegsportionen. Hierbei ist niemals irgend eine üble Folge hervorgetreten. Die beiden Leute haben sich völlig wohl und normal befunden und namentlich beim Genuß der bekanntlich sehr reichlich bemessenen Kriegsportionen an Körperumfang und Gewicht sichtlich zugenommen. So gelangte auch die Medizinalabtheilung des preußischen Kriegsministeriums zu dem Ergebniß, „daß Bedenken gegen Verwendung von Trink- und Kochgeschirren aus Aluminium in sanitärer Hinsicht nicht bestehen“.
Nun ging ein weiterer Vorwurf dahin, daß durch Benutzung des Aluminiumgeschirrs der Geschmack der Speisen und Getränke ungünstig beeinflußt werde. Dies war in der That bei der Benutzung der Feldflaschen, die man zuerst in Gebrauch genommen hatte, der Fall. Es stellte sich aber heraus, daß daran das Aluminium selbst nicht schuld war. Bei der Anfertigung von Aluminiumfeldflaschen wurde früher eine fettige Füllungsmasse aus Hammeltalg und Schweineschmalz oder Rüböl und Schmierseife verwendet. Es leuchtet ein,,daß auch die geringsten Rückstände dieser Stoffe geeignet waren, den Getränken einen schlechten Beigeschmack zu verleihen. Thatsächlich ist auch wiederholt beobachtet worden, daß der fatale Beigeschmack bei fortgesetztem Gebrauch immer schwächer wurde und sich schließlich ganz verlor. Seitdem man aber Aluminiumgeschirre ohne Anwendung der Füllmasse durch Drücken und Ziehen aus einem einzigen Blechstück herstellt, sind auch diese Klagen verstummt, und eine Geschmacksveränderung der Getränke und Speisen konnte selbst bei wochenlanger Aufbewahrung nicht festgestellt werden.
Hier möchten wir gleich einschalten, daß Obst und Sauerkraut und dergleichen, die in Aluminiumtöpfen gekocht oder stehen gelassen werden, ihre natürliche Färbung nicht verändern, daß also die Appetitlichkeit der Speisen nicht leidet.
Der zweite Theil der Untersuchungen betraf die sehr wichtige ökonomische Frage. Ist diese leichte Ware auch dauerhaft? Widersteht sie den Angriffen des Kochens, Reinigens etc., oder wird sie in verhältnißmäßig kurzer Zeit abgenutzt?
In dieser Hinsicht brachten namentlich die Arbeiten im Friedrich- Wilhelms-Institut sehr lehrreiche und erfreuliche Ergebnisse.
Wie alle unedlen Metalle, so wurden auch Geschirre aus Aluminium von den Speisen und Getränken angegriffen. Das Alnminium hat aber einen besonderen Feind, die Gerbsäure, welche z. B. bei Benutzung der Aluminiumflaschen unangenehme Folgen mit sich bringt. Bewahrt man in solchen Flaschen gerbsäurehaltige Getränke wie z. B. Cognac auf, so bemerkt man im Innern der Flasche die Bildung eigentümlicher schwarz- brauner Flecken und schließlich wird die Flüssigkeit trüb und flockig. Gesundheitsschädlich sind diese Flocken nicht, aber sie machen das Getränk unappetitlich. Zur Aufbewahrung von Flüssigkeiten, die Gerbsäure enthalten, eignen sich also die Aluminiumflaschen nicht unbedingt.
Von den Gerbstoffflecken bildenden Getränken kommt vor allem der Kaffee, das Normalgetränk des marschierenden Soldaten, in Betracht; indes ist hier die Fleckenbildung so unerheblich – bei vierundzwanzigstündiger Aufbewahrung nur einige wenige stecknadelkopfgroße Pünktchen - daß bei dem in der Regel nur nach wenigen Stunden bemessenen Aufenthalt des Kaffees in den Flaschen praktische Bedenken nicht entstehen. Salzlösungen und gewöhnliches Trinkwasser bilden bei längerem Stehen weiße Flecken, die jedoch belanglos sind und ebenso wie die schwarzen durch Reinigung der Flasche mit heißem Wasser und etwas Sand entfernt werden können.
„Das Urtheil über Aluminiumfeldflaschen,“ heißt es in den „Veröffentlichungen aus dem Gebiete des Militärsanitätswesens“, „muß nach den im Laboratorium angestellten Versuchen recht günstig lauten. Ihre großen Vorzüge, Leichtigkeit, Rostfreiheit, Ungiftigkeit gegenüber anderen Metallkompositionen, Unzerbrechlichkeit, besonders auch beim Einfüllen heißer Getränke (Kaffee), gegenüber den bisherigen Glasflaschen liegen auf der Hand.“
Kocht man salzige und sauere Speisen in Aluminiumtöpfen, so wird von diesen ein Theil des Metalls gelöst. Als man Kochversuche mit Essigsäure anstellte und das gelöste Aluminium berechnete, waren die Mengen anfangs so groß, daß man eine baldige Abnutzung des Materials befürchtete. Als man aber aus diesem Grunde die Essigkochversuche noch viele Wochen lang fortsetzte, bestätigte sich jene Voraussetzung nicht; vielmehr ergab sich die wichtige Thatsache, daß eine sehr deutliche und ziemlich rasch fortschreitende Abnahme der in Lösung gehenden Aluminiummengen stattfand. In gleichem Maße aber, wie im Laufe des Versuchs der Angriff der Essigsäure auf das Aluminiumgefäß nachließ, bedeckte sich die Oberfläche des letzterem soweit sie mit dem Essig in Berührung kam, mit einer zusammenhängenden, glatten, anfangs ganz dünnen, später immer dicker werdenden hellbraunen und fast wie Emaille aussehenden Haut, die wir offenbar als eine Art Schutzschicht anzusehen haben. Wie kommt nun diese Schutzschicht zustande?
Das Alnmininm ist so, wie es in den Handel gebracht wird, nicht chemisch rein, sondern enthält Spuren von Eisen und geringe Beimengungen von Silicium, dem harten Stoffe, welcher die Kiesel bildet und selbst den stärksten Säuren zu widerstehen vermag. Der Gehalt an Silicium schwankt in verschiedenen Aluminiumblechen von 1/2 bis 2 Prozent. Der harte Stoff ist in dem Metall in feinsten Theilchen vertheilt. Wirkt nun eine schwache Säure auf das Blech ein, so wird das Metall langsam gelöst; die Siliciumtheilchen werden dadurch in ihrer oberen Hälfte bloßgelegt, mit der unteren aber bleiben sie im Metall eingebettet. Wenn wir ein solches Blech unter starker Vergrößerung betrachten könnten, so würde es einem Pflaster ähnlich sehen, in welchem das Silicium die Steine, das Aluminium den Boden bilden würde. Jedes Siliciumtheilchen schützt nun die unter ihm befindliche Aluminiumschicht vor weiteren Angriffen der Säuren und Salzlösungen, und je dichter das Pflaster ist, desto vollkommener der Schutz, desto besser die sich selbst bildende Emaille.
Die Entdeckung dieser Thatsache ist für die Aluminiumindustrie von der höchsten Bedeutung; es ist ihr damit ein Weg vorgezeichnet, wie sie die Gefäße mit einer Schutzschicht versehen soll. Bisher sind allerdings nur die Grundzüge dieses Prozesses bekannt, und der Industrie bleibt die Aufgabe, die besten Methoden ausfindig zu machen. Dann wird sie in der Lage sein, Kochgeschirre, die bereits mit einer Schutzschicht versehen sind, in den Handel zu bringen. Vorderhand können wir uns mit der Thatsache begnügen, daß diese wichtige Emaille sich von selbst im Kochgeschirr bildet, wenn wir in ihm die üblichen Speisen kochen, und die Hausfrau lernt daraus, daß sie die Schutzschicht schonen muß und das Geschirr im Innern nicht blank scheuern darf. Wird es einmal gelingen, die Schutzschicht in guter Haltbarkeit fabrikmäßig herzustellen und mit ihr auch die Feldflaschen zu versehen, so werden auch deren letzte geringfügige Mängel, die Bildung der Flecken und die Trübung gerbsäurehaltiger Getränke, beseitigt sein.
Aus allen Versuchen, die im Friedrich-Wilhelms-Institut angestellt wurden, ergab sich, „daß Aluminiumkoch- und -trinkgefäße zwar von den meisten Speisen und Getränken angegriffen werden, aber nur in geringem und bei fortgesetztem Gebrauch rasch abnehmendem Maße“.
Was nun den Einfluß der Reinigung auf die Aluminiumgefäße anbelangt, so ist mit allen bekannten Reinigungsarten ein verhältnißmäßig großer Verlust an Material verbunden. Nur soll man auch die Folgen dieser Abnutzung nicht übertreiben. Das übliche Reinigungsverfahren mit warmer Sodalösung ist nur mit Vorsicht anzuwenden; am zweckmäßigsten erweist sich die Reinigung mit reinem heißen Wasser und nicht zu harter Bürste. C. Winkler stellte z. B. Versuche an mit einem Speiselöffel aus Aluminium, der in täglichem Gebrauche war, und kam dabei nach einer Mittheilung in der „Zeitschrift für angewandte Chemie“ zu dem Ergebniß, daß Speisegeräthschaften aus Aluminium sich vielleicht etwas, aber nicht viel stärker als solche aus legiertem Silber, dagegen weniger als solche aus Neusilber abnutzen.
Bei der ökonomischen Werthschätzung des Aluminiumkochgeschirrs ist jedoch noch ein Umstand in Betracht zu ziehen. Nutzt sich das Geschirr ab, was schließlich bei jedem Geräthe einmal der Fall ist, so ist es durchaus nicht so werthlos wie altes Eisen, es wird vielmehr wie das Kupfergeschirr vom Kupferschmied, von Aluminiumfabrikanten für den Metallwerth wieder eingelöst.
Ob das „Silber aus Lehm“ den richtigen Stoff für das
„Kochgeschirr der Zukunft“ bildet, das läßt sich heute noch nicht sicher sagen.
Das glänzende Metall, das aus der elektrischen Gluth hervorgeht, muß
noch wie jede Neuerung die weit heißere Feuerprobe des praktischen
Lebens bestehen. Von dem Vorwurf der Giftigkeit ist es glänzend gereinigt;
auch über seine Abnutzung lautet heute das sachverständige Urtheil günstiger
als vor wenigen Jahren. Ob es für den Haushalt paßt? Diese Frage
kann in keinem Laboratorium, sondern nur im Hause entschieden werden.
Hygieiniker und Chemiker haben ihren Spruch gethan, nun ist es an den
Frauen, über das Aluminiumkochgeschirr zu Gericht zu sitzen. C. F.
[797]
Aus Anzengrubers Werde- und Wanderzeit.
Auf dem geweihten Boden der Ehrengräber des Wiener Centralfrriedhofes,
in nächster Nähe der letzten Ruhestätten von Beethoven und Schubert, erhebt
sich seit Allerseelen das Grabdenkmal, das die Getreuen Anzengrubers dem
genialen Volksdichter aufrichten ließen. Das Denkmal, die preisgekrönte Schöpfung
des jungen Bildhauers Johann Scherpe, greift ans Herz wie die kernigen Gestalten
des großen Dramatikers; wir sehen ein Bauernmädchen unterwegs jählings stillhalten und
lautaufschluchzend den Pfahl eines „Marterls“ umklammern, dessen Votivbild porträttreu
die Züge Ludwig Anzengrubers wiedergiebt; das Kind des Volkes kann sich nicht
trösten darüber, daß ihm – und nicht nur ihm - ein unersetzlicher Helfer
und Fürsprecher, ein „Seelsorger auch außer der Kirche“, vorzeitig entrissen
wurde. Kein Zweifel, daß Anzengruber selbst an diesem Bildwerk Wohlgefallen
gefunden hätte: es stellt die Sache des Volkes, für die er „bis zum letzten
Athemzug sich selbst getreu“ gelitten und gestritten, in den Vordergrund. Der Geist des
Dichters hat auf dem Bildhauer geruht, als dieser das Denkmal schuf:
Anzengruber selbst hat unbewußt an seiner bildnerischen Verherrlichung
mitgeholfen. Es war ihm aber auch beschieden, seiner Verklärung noch in
anderer Weise die höchste Weihe zu geben: am Vorabend der Enthüllung seines
Denkmals eroberte sich sein „Meineidbauer“ das ihm bisher verschlossene Burgtheater,
und lebendiger als je zuvor erkannten die Landsleute den ganzen Werth des Mannes.
Tief ergriffen ist der Herold der ersten Erfolge des Lebendigen bei diesem Anlaß auch als Herold der jüngsten reichen Ehren seines geschiedenen Lebensfreundes hervorgetreten: am Tage der Anzengruber-Feier überraschte uns P. K. Rosegger in der „Deutschen Zeitung“ mit einem Festgedicht, überschrieben
„Dem Andenken Anzengrubers.“
„Ein Weihgesang, ein Frohgesang springt heut’ aus meiner Leier,
Am Grabe der Unsterblichen giebt’s keine Totenfeier.
Ihr seht mit Stolz und Dank des Meisters herrliches Vollbringen,
Ich wüßt’ von seinem Menschenthum ein rührend Lied zu singen.
Sein Haupt ist schön, auch wenn ich es des Lorbeerzweigs entblöße;
Wohl, Dichterkönnen preis’ ich hoch, noch höher Menschengröße.
Die Freunde denken herzbewegt an dieser Stell’ aufs neue
An seines Wesens schlichte Art, an seines Herzens Treue;
Die Wahrheit, die im Worte er gefeiert und gespiegelt:
Im Leben durch Wahrhaftigkeit hat er sie, traun, besiegelt.
Sein Leben war ein Heldenstreit. Sein plötzliches Erliegen
Hat erst uns aufgeweckt zu ihm. Sein Fallen war sein Siegen.“
„Sein Fallen war sein Siegen“: so wahr die Worte sind, so traurig stimmen sie jeden, der Anzengrubers Lebenslauf, ein langes, mutig und schweigend getragenes Martyrium, kennt. Im äußeren Umriß sind die Schicksale des tapferen Dulders den Lesern der „Gartenlaube“ wohl vertraut; sie wissen, daß der Vater unseres Dichters, ein kleiner Beamter, der in seinen Mußestunden Tragödie auf Tragödie schrieb, im Jahre 1844 starb, als der Kleine kaum vier Jahre alt war, und daß fortan einzig und allein die Mutter mit einer Jahrespension von 160, schreibe einhundertundsechzig Gulden sich und ihr Söhnlein durchschlagen mußte. „Was diese Mutter ist,“ so schrieb Anzengruber bei ihren Lebzeiten in Aufzeichnungen, die ich im Nachlaß gefunden habe, „das steht in den Blättern meines Herzens mit großen Buchstaben eingeschrieben und ich brauche nicht dieselben aufzuschlagen, denn, die das Glück haben, eine Mutter zu besitzen, würden den alten breiten Druck recht gut kennen, sich lächelnd zu mir wenden und die gleichen Blätter aufblättern, und die’s nicht verständen – (für die wär’ jede Müh’) umsonst.“ Nach ihrem Tode aber, der 1875 erfolgte, klagte er, der sonst so Verschlossene, dem getreuen Rosegger, er sei auf dem besten Wege, gemüthskrank zu werden: „Ich habe nicht nur das Weib, das mich geboren, die Mutter, die für mich Unmündigen gesorgt, ich habe meine beste Freundin verloren, ein Stück meines Herzens, meiner Seele.“ Ihr las der Aufstrebende wie der anerkannte Dichter jeden seiner Entwürfe vor; ihren Familiennamen, Herbich, legte er seiner mächtigsten Frauengestalt, der Großmutter im „Vierten Gebot“, diesem Urbild aller Bürgertugend und Herzensgüte, bei; ihr Andenken ist von dem des Sohnes so wenig zu trennen wie das der Frau Rath von dem Namen Goethes.
Die wackere Frau, die im Elternhause bessere Zeiten gesehen hatte, trug in Liebe und Ergebung alle Noth mit ihrem einzigen Kinde. So lange die Mittel reichten, ließ sie den Jungen die Realschule besuchen, und als es galt, für den Lebensunterhalt Ludwigs aufzukommen, der als unbesoldeter Lehrling eines Buchhändlers nicht viel mehr lernte, als Pakete machen, stellte sie sich ohne weiteres hinter den Ladentisch einer „Pfaidlerei“ (Zeugladen) auf der Wieden. Ebenso selbstverständlich war es, daß sie, die eingewurzelte Wienerin, dem Sohne als Hausmütterchen in die Fremde folgte, als dieser, von unbezwinglichem Drange getrieben, sein Heil als Schauspieler versuchte. Dramatische Neigungen steckten ihrem Ludwig vom Vater her im Blut; von klein auf dramatisierte er, der „früher dichten als schreiben“ konnte, aus dem Stegreif jede erreichbare Geschichte, besonders gern die Blaubartsage, die er sofort mit der – Köchin des Hauses tragierte; höchst ergötzlich berichtet er, wie er bei solchem Anlaß einmal dermaßen schrie, daß der erschrockene Hausmeister herbeieilte im Glauben, es sei ein Unglück geschehen. Und so stark war diese Theaterleidenschaft, daß sich, so karg die Wirthschaft der Witwe Anzengruber auch sonst bestellt war, doch Mittel und Wege für den Jungen fanden, auf die letzte Galerie des Burgtheaters oder in das „Paradies“ der Vorstadtbühnen sich zu schleichen. Der erste Theaterbesuch des Fünfjährigen galt der Jenny Lind, die er, als echter Wiener, nur „die schöni Lind“ nannte. Den gewaltigsten Eindruck auf den Halbwüchsigen machte dann Heinrich Anschütz als alter Miller in „Kabale und Liebe“; oft hat er mir Rede und Gebärde des verzweifelnden Vaters wiederholt, der die Brotlade aufzieht mit dem Wehruf: „Hier ist ein Messer, durchstich Dein Herz und – (laut aufweinend) – das Vaterherz!“ Ebenso nachhaltig ergriff ihn hernach Dessous „Narziß“, eine Bekanntschaft, die nicht ohne Einfluß auf seinen Wurzelsepp geblieben ist. Und wie auf den Gipfeln der Schauspielkunst, so trieb er sich auch in den Niederungen des Volksstückes alten Schlages umher; sein erster dramatischer Versuch war eine „Nestroyiade“. Unwiderstehlich zog seine Sinnesart den Jüngling endlich selbst auf [798] die Bretter; sein erstes Auftreten geschah an einer sagenumsponnenen Stätte, in dem Meidlinger Musenstall des vielbelachten, im deutschen Bühnenklatsch unsterblich fortlebenden Direktors Groll. Auf dieser Ulkbühne debutierte ab und zu ein Anfänger, der späterhin wie Ferdinand Raimund ein Ruhm der Volksbühne oder wie der Heldenspieler Joseph Wagner eine Größe des Burgtheaters wurde; zumeist aber fanden sich hier Spaßvögel und Verkannte, übermüthige Hausherrnsöhne und unternehmende Selcherstöchter zusammen. Ein Jugendfreund des Dichters, der späterhin sein Schwager werden sollte, der Wiener Magistratsbeamte Franz Lipka, bewahrt noch ein von Anzengruber eigenhändig geschriebenes und gezeichnetes Büchlein aus jener Zeit auf, in dem der Dichter in der Manier der englischen Humoristen – in dem folgenden Fragment eines komischen Romans „Unter dem Mond“ – seiner Begegnungen und Abenteuer mit Groll gedenkt.
„Erstes Kapitel. Der Leser lernt mehrere Personen kennen, mit denen er wohl noch ferner zu thun haben wird. Es war am 4. Juni 1860 vormittags, als in drückender Hitze ein junger Mann nach Meidling, das nahe bei Wien liegt, schritt. Sommerliches Gewand, weicher runder Filzhut kleidete den bald hoch aufgerichtet, bald wieder nachlässig dahinschreitenden Lanz,[1] so hieß nämlich der junge Mann. So über Kothlachen und Gräben hinwegsetzend, gelangte er an den ersehnten Ort, marschierte nach dem daselbst befindlichen ‚Theresienbad‘, fragte dort nach Direktor Groll und eilte in dessen ebenerdige Wohnung. Schon drückte er an die Schnalle der Glasthür, über welcher ein Schild mit dem goldnen ‚Theaterdirektion‘ prangte, als eine Stimme aus einem nahen Fenster rief: ,Was wollen Sie denn?‘ Unser Mann wandte sich um, schritt dem Fenster zu und rief zu dem Stimmabgeber, einem Mann mit Schlafrock und Schlafmütze: ‚Ich möchte gern den Herrn Direktor Groll sprechen.‘ ‚Der bin ich, was wünschen Sie?‘ ‚Ich wollte fragen, ob Sie niemanden branchen können,‘ sagte den Hut rückend Lanz. ‚Engagement?‘ ‚Ja.‘ ‚Alles schon besetzt,‘ bemerkte mit nachdrücklicher Pantomime der Direktor. ‚Das heißt,‘ fuhr der Untenstehende fort, ‚Engagement ohne Gage.‘ ‚Ja, waren Sie schon auf Theater?‘ ‚Nein, aber ich habe längere Zeit bei – dem berühmten Komiker – C. Treumann gelernt; dann mich selbst vorbereitet für meine theatralische Laufbahn.‘ Jetzt wurde der Direktor etwas freundlicher. ‚Haben Sie noch Eltern? Sind Sie noch minorenn?‘ Da der junge Mann erst 20 Jahre zählte, verlangte Groll einen von der Mutter unterfertigten ‚Sustentationsrevers‘ und auf die mit sehr sarkastischem Ausdruck gegebene Zusage des Jünglings erklärte der Direktor: ‚Nachmittag 8 Uhr ist Probe von den ‚Modethorheiten‘, die nächsten Sonntag zur Aufführung kommen; es ist noch ein Fiaker da: eine kleine Rolle.‘ ‚Ganz gut, ich werde vor 8 Uhr eintreffen. Ich empfehle mich.‘ ‚Mein Kompliment,‘ sagte der Direktor und rückte seine Mütze. ‚Wünsche wohl zu speisen.‘ ‚Danke, gleichfalls,‘ sagte nachlässig lächelnd Lanz, ging rasch voran und hüpfte übermüthig den Ausgang zum Theater hinab.“ Diesen „Fiaker“ und allerhand andere ähnliche Röllchen, Reitknecht Sam in der „Waise von Lowood“, Pereles in „Einer von unsere Leut’“ etc., durfte Anzengruber aber nur spielen, nachdem seine Mutter schriftlich ihre Einwilligung zur Berufswahl ihres Sohnes gegeben hatte; zugleich mußte sie feierlich versichern, für die „Subsistenzmittel ihres Sohnes zu sorgen, bis derselbe ein festes Engagement anzutreten imstande sein wird“.
Ach! es sollte nicht allzu lange währen, bis der Rekrut des Herrn Groll ein festes Engagement erhielt. Anfangs der sechziger Jahre trat Anzengruber seine Kunstreisen an „unter Verhältnissen, wo das Reisen eine Kunst war“; seine ersten Winterquartiere blieben die besten, seine ersten Monatsgehalte von 25–35 Gulden (bei deren Erwähnung ihm nach Jahrzehnten „ein fieberrüttelndes Erinnern aufstieg“) die höchsten. Jahre lang schlug er sich von einer Bettelschmiere zur anderen durch, bei denen er sich bestenfalls zum Hungervirtuosen ausbilden konnte. Alle Winkelzüge und Kniffe der Fahrenden, wie sie von Holteis „Vagabunden“ bis auf den Direktor Striese im „Raub der Sabinerinnen“ so lustig zu hören, in der Wirklichkeit dagegen desto trauriger zu erleben sind, sollte unser Dichter an sich selbst erfahren. 1862 lachte er noch, als er, mit einer Wandertruppe nach Apatin, einer Haltestelle des Donaudampfers in Ungarn, verschlagen, Bäuerles alte „Aline oder Wien in einem andern Welttheil“ unter dem Titel „Aline oder Apatin in einem andern Welttheil“ angekündigt sah; die weltbekannte Strophe: „’s giebt nur a Kaiserstadt, ’s giebt nur a Wien, ah, da muß prächti sein, da möcht’ i hin!“ lautete natürlich: „’s giebt nur in Ungarn a Apatin d’rin“, eine Abänderung, die in der nächsten Station Palanka zu der Neuerung führte: „’s giebt nur in Ungarn a Palanka d’rin“. So gern und so lang Anzengruber „als unverbesserlicher Träumer“ aber auch bereit war, „wie ein Hypnotisierter rohe Kartoffeln für Birnen zu essen“, allgemach fehlten selbst die Kartoffeln für ihn und seine Mutter. In Steiermark, Slawonien und Kroatien trieb er sich herum, mehr als einmal im Stich gelassen von den Direktoren, sobald die mageren Einnahmen getheilt werden sollten. Und tiefer noch traf ihn die Erkenntniß, daß in solcher Umgebung weder für den Menschendarsteller, noch für den Dramatiker Gewinn zu holen sei. Einem Molière gereichten seine Lehr- und Wanderjahre, in denen er zu Beginn seiner Laufbahn auf Kreuz- und Querzügen Frankreich durchstreifte, zum Segen; seine starke schauspielerische, dazumal wie heute besonders dankbar aufgenommene komische Begabung, seine Fähigkeiten als Regisseur und Geschäftsmann machten ihn zum Führer seiner Kameraden. Anlagen dieser Art waren Anzengruber versagt. Er taugte nicht zum Darsteller; im Verkehr schloß er sich selten an oder auf; er hauste zurückgezogen mit seiner Mutter, saß jeden Abend an dem Tisch ihrer einen gemeinsamen Stube und horchte auf, bis sie mit dem Nachttrunk heimkam. „Hatte sie dann die Thür hinter sich geschlossen, so saßen wir noch lange plaudernd, denn wir hatten uns immer gar viel zu sagen.“ Menschliches und Dichterisches beredete das edle Paar. Immer neue ernste und heitere Vorwürfe zu Bühnenwerken jeder Form entwickelte der namenlose Komödiant vor der Einzigen, die ihm gläubig vertraute. Jahraus, jahrein brachte er neue Stücke fertig. „Der Kramer und sei Tochter“, „Ein Deserteur der großen Armee“, „Der Onkel is angekommen“ und allerhand andere Titel sind das einzige, was von diesen Werken auf uns gelangt ist. Denn nicht einmal bei den Direktoren seiner Gesellschaft, geschweige in Wien, fanden diese Erstlinge Beachtung. Die Wiener Theaterkanzleien sandten ein Manuskript nach dem anderen zurück – ungelesen; keine einzige bestand die Probe des ängstlich harrenden Antors, der einzelne Bogen versiegelt oder zusammengeklebt, wie er sie abgeschickt, auch wiederum unberührt zurückerhielt.
Dennoch trieb es den Dichter in die Vaterstadt zurück, wo seiner noch ganz andere Hungerjahre harrten als in der Provinz. 1867 war er im Harmonietheater engagiert. „Eine hübsche Anstalt“, schrieb er dazumal mit grimmigem Humor einem Freunde; „ich übe mich in den schwierigsten Episoden, insofern schwierig, als man wirklich oft nicht leicht die Schlagwörter behalten kann, auf welche man nichts zu reden hat; ich thu’ das für die kleine Erkenntlichkeit von 50 Kreuzer pro Abend und beziehe die horrende Gage von 20 Gulden pro Monat, das alles, um in Wien an der Quelle zu sitzen und mit der Feder arbeiten zu können; bei einer solchen Stellung, wie ich sie jetzt inne habe, wo man von heut’ auf morgen nicht weiß, ‚wirst Du oder wirst Du nicht umschmeißen?‘ mangelt jener Erfolg, den man braucht, um sich einen wenigstens kleinen Namen zu machen, eine Firma, zu der auch andere Vertrauen fassen, damit nicht die Zukunft an die dieses sehr kurzathmigen Institutes gebunden sei. Meine Erlebnisse, die mich auf diese Roßauer Sandbank absetzten, als einen schiffbruch-durchweichten, meergeschaukelten Robinson, dem zwar kein treuer Neger Freitag, wohl aber viele schwarze Freitage i. e. Fasttage bevorstanden, diese [799] Erlebnisse einmal, wenn wir uns wieder sehen! Pech ist mein Lebenselement, ich bin daher im Zweifel, zu welcher Gattung von Wesen ich mich rechnen soll; das Wasser, die Luft, die Erde sind bevölkert; daß aber auch das Pech bevölkert ist, davon weiß die Naturgeschichte nichts und Pechvogel ist ein sonderbarer Ausdruck – mit verklebten Schwingen stiegt man nicht.“
Anzengruber hat diese Behauptung durch die That widerlegt: er hat späterhin doch „mit verklebten Schwingen“ seinen Hochflug gewagt, obwohl oder weil er als „Aushilfsschauspieler“ des Harmonietheaters den Tiefpunkt seines Daseins noch lange nicht erreicht hatte. Als mit dem Zusammenbruch dieser Zufallsbühne sogar jene bescheidene Einnahmequelle versiegte, verdang sich Anzengruber als „externer Mitarbeiter“ dem „Kikeriki“, einem vielgelesenen Witzblatt, das seine Mitarbeiter mit kärglichstem Zeilenlohn bedachte; Gelegenheitscouplets für Volkssänger, Novellen zu 15 bis 20 Gulden für die Unterhaltungsbeilagen der „Morgenpost“ und des „Wanderers“ hätten Mutter und Sohn auf die Dauer schwerlich vor dem buchstäblichen Verhungern geschützt, hätte sich nicht endlich ein Verwandter Anzengrubers, Adjunkt (heute Gerichts-Präsident) Dr. Ritter von Holzinger, mit Eifer und Erfolg bemüht, dem Siebenundzwanzigjährigen eine Tagschreiberstelle bei der Polizeidirektioll zu verschaffen. In diesem Amt schrieb er, berathen und befeuert „von meiner Muse? nein! von meiner Mutter“, nochmals ein Stück, wiederum nur, wie er von vornherein mit Entsagung meint, für seine Schreiblade. „Was dabei herauskam, weiß jeder, der den ‚Pfarrer von Kirchfeld‘ kennt.“
Mit einem Schlage war nun Anzengruber, nach seinem eigenen Worte, „oben“. .Sein Name war gekannt in allen deutschen Landen; neue Meisterschöpfungen der Tragik und Komik, „Der Meineidbauer“, „Die Kreuzelschreiber“, „Der G’wissenswurm“, „Das vierte Gebot“ folgten; der Erzähler stellte sich mit seinem „Gottüberlegenen Jakob“, dem „Sündkind“, „Schandfleck“ und „Sternsteinhof“ in die erste Reihe der deutschen Novellisten und Romanschreiber. Aber reine Lebensfreude sollte ihm in seiner Meisterzeit noch weniger beschieden sein als in seiner Werde- und Wanderzeit. In den Jahren seiner künstlerischen Vollreife fand er in Wien keine Truppe und keine Bühne für dieselben Stücke, die nun nach seinem Tode gleichzeitig am Burgtheater, im Deutschen Volkstheater und im Raimundtheater zu Ehren kommen. Seine Mutter starb ihm und bereitete ihm damit den ersten, niemals verwundenen Schmerz. Und was ihm sonst noch in Kunst und Leben an Prüfungen und Bitternissen zugemessen wurde, gefährdete mitunter selbst seinen „gußeisernen Humor“. Unbeirrt durch alles persönliche Mißgeschick, hat er aber bis zu seinem Lebensende in ruheloser Arbeit als Denker und Dichter für die Sache des Volkes, als Anwalt aller Mühseligen und Beladenen sich eingesetzt mit dem heiligen Ernst eines Mannes, der alle Noth und jedes Leid, das er an sich selbst erfahren, den Mit- und Nachlebenden ersparen will. Der Größe dieser Gesinnung sind seit Anzengrubers Heimgang nicht allein die Landsleute mehr und mehr inne geworden. Nun suchen sie an dem Toten zu sühnen, was an dem Lebendigen versäumt wurde. Wehmüthige Betrachtungen der Art erfüllten uns, als bei der jüngsten Festvorstellung des „Meineidbauers“ im Burgtheater Tobias die Worte sprach: „Amol im Leben hat a jeder sein Kreuzweghof g’habt, wo’s ihm grimmig schlecht ’gangen is; mit Gott’s Hilf find’t aber auch jeder amol sein Altranning, wo er Großknecht werden kann.“ Die volle Freude dieser Genugthuung ist dem Dichter nicht geworden: er hat es nicht mehr mit eigenen Augen geschaut, daß sein „Meineidbauer“ eine Heimath auf dem Burgtheater sich errungen hat. Unser Trost muß sein, daß nach Roseggers Weihegruß
„– auf dem Grab ein Blümlein steht, statt Allerseelenkerzen,
Das lacht uns zu: Er ist nicht hier, er lebt in Euren Herzen.“
Ein Lieutenant a. D.
Am anderen Tage machte sich Erwin in freudig banger Erwartung zeitig auf den Weg nach dem Madison Square. Schuckmann hatte ihm ein paar Dollar aufgedrängt – als „Vorschuß auf das Zukunftsgehalt“ – damit er sich unterwegs mit neuen Stiefeln und einem andern Hut ausstaffieren konnte.
Als er die Treppe des großen eleganten Gebäudes hinaufstieg, an dessen Vorderseite ein Riesenschild mit den weithin leuchtenden Worten: „Sprachschule von M. D. Beelitz“ befestigt war, da klopfte ihm das Herz gewaltig. Seine ganze Seele war nur von dem einen Wunsch erfüllt, nicht zu spät, nicht vergebens gekommen zu sein.
Die Thür zu der Schule öffnete ihm ein brünett aussehender Herr, der auf Erwins Frage nach Mister Beelitz mit südlicher Lebhaftigkeit auf französisch entgegnete: „Herr Beelitz? Ja, der ist hier!“ und dann schwerfällig in schauderhaftem Englisch hinzufügte: „Bitte, kommen Sie!“ Der Franzose führte Erwin zu einer der in den Flur mündenden Thüren, klopfte, öffnete und ließ ihn eintreten. Erwin befand sich in einem kleinen einfach ausgestatteten Zimmer. An einem Schreibtisch in der Nähe des Fensters saß ein Herr, der jetzt von seiner Arbeit aufblickte und sich erhob. Seine hellen blaugrauen Augen mit listig forschendem Ausdruck auf den Besucher heftend, näherte er sich ihm und fragte nach seinen Wünschen. Erwin nannte seinen Namen. Er sei gekommen, um sich Herrn Beelitz auf dessen brieflichen Wunsch vorzustellen.
Der andere erwiderte kurz: „Mein Name ist Beelitz,“ deutete auf einen Stuhl und setzte sich seinem Besucher gegenüber.
Erwin sah befangen und peinlich berührt vor sich nieder. Er fühltw, wie die Augen des andern sich von neuem forschend auf ihn richteten und gleichsam jeden Zoll an ihm einer eingehenden Prüfung unterwarfen. Nach einer Weile unterbrach Herr Beelitz das Schweigen. „Haben Sie schon unterrichtet?“
„Nein!“ Erwin ärgerte sich, daß er noch immer nicht lügen gelernt hatte. Wie oft hatte ihm Schuckmann gepredigt: „In Amerika muß einer alles verstehen!“
„Wie lange sind Sie im Lande?“
„Sechs Monate.“
„Sprechen Sie englisch?“
„Nur wenig.“ Erwin brachte es stotternd heraus. Sein Herz klopfte fast hörbar; in qualvoller Spannung hing sein Blick an des andern Lippen. Jetzt kam sein Verdammungsurtheil!
„Das ist mir lieb,“ hörte er da Herrn Beelitz sagen, und die gleichmüthige ausdruckslose Stimme klang ihm wie Engelsmusik, „es ist mir im Interesse des Unterrichts lieb, wenn meine Lehrer die Muttersprache ihrer Schüler nicht sprechen.“
Erwin blickte fragend verwirrt zu Beelitz hinüber. Er wußte nicht, ob er recht gehört habe. Wie konnte sich denn ein Lehrer seinen Schülern verständlich machen, wenn er nicht imstande war, in ihrer Sprache zu ihnen zu reden? Doch Herr Beelitz ließ ihm nicht Zeit, über diese unlösbare Frage nachzudenken, sondern examinierte weiter: „Haben Sie schon von meiner Unterrichtsmethode gehört?“
Erwin überlegte, doch nur eine Sekunde; zu lügen wäre in diesem Falle unklug gewesen. „Leider nein,“ entgegnete er kleinlaut. Nicht ein Muskel bewegte sich in seines Gegenübers hartem, knochigem Gesicht, dessen Hauptzierde ein starker Schnurrbart war, röthlich blond wie das kurze krause Haar, und dessen charakteristische Züge auf eine eiserne Willenskraft und einen scharfen, kühl abwägenden Verstand schließen ließen. Ruhig stand Herr Beelitz auf, ohne eine Spur von Verdruß oder Empfindlichkeit zu zeigen.
„Kommen Sie!“ sagte er und ging mit Erwin auf den Flur hinaus. Vor einer Thür auf der andern Seite des Ganges stand er still, öffnete leise und trat behutsam auf den Zehenspitzen ein. Sein Besucher folgte ihm in höchster Verwunderung.
In dem großen Zimmer saß auf drehbaren Stühlen im Halbkreise etwa ein Dutzend Personen beiderlei Geschlechts in den verschiedensten Altersstufen zwischen dem sechzehnten und sechzigsten Lebensjahre. Vor der Tafel, die sich auf einem Holzgestell neben der Thür befand, stand schreibend ein junger Mann.
Herr Beelitz machte nach seinem Eintritt mit sehr verbindlichem Gesichtsausdrnck und mit ersichtlicher Sorgfalt ein paar Verbeugungen, die offenbar höflich und elegant sein sollten, aber der gesellschaftlichen Schulung des Direktors kein allzu günstiges Zeugniß ausstellten. Dann winkte er dem Lehrer, fortzufahren, [800] setzte sich mit Erwin an eine der Seitenwände und raunte ihm zu: „Passen Sie gut auf! Sie werden sehen, wie man unterrichtet, ohne mit dem Schüler in seiner Muttersprache zu verkehren.“
Und Erwin hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu, anfangs ein wenig mißtrauisch, nach und nach in ungeheucheltem Interesse für die merkwürdige Methode, zuletzt in rückhaltloser Bewunderung.
Der Lehrer schrieb eine Anzahl von Wörtern an die Tafel, Bezeichnungen von Dingen im Zimmer, wie: „Der Tisch, der Stuhl, das Fenster, das Buch“. Dann fragte er, auf einen der Gegenstände deutend: „Was ist das?“ und beantwortete sich die Frage zuerst selbst: „Das ist der Stuhl,“ indem er zugleich auf das entsprechende Wort an der Tafel wies. So lehrte er in ähnlicher Weise, wie ein Kind von der Natur zum Sprechen gebracht wird; er fragte und fragte und holte aus den mit Verständniß und Befriedigung zuhörenden Schülern die Antworten heraus, ohne auch nur ein einziges Mal zu einer Uebersetzung seine Zuflucht zu nehmen.
Nach dem Schluß der Unterrichtsstunde begab sich Herr Beelitz mit Erwin in das Empfangszimmer zurück und entwickelte nun in großen Zügen seine Lehrmethode, die er in jahrelanger mühevoller Arbeit, bei Tage für den Erwerb thätig, des Nachts seinem Studium nachhängend, unablässig verbessert und vereinfacht hatte. Der Eifer, die Gluth des Erfinders kam über den Sprecher, färbte die blassen knochigen Wangen und blitzte aus den aufleuchtenden grauen Augen. Erwin lauschte in athemloser Aufmerksamkeit, ganz im Bann des seltsamen Mannes, den er anfangs fast für einen Schwindler zu halten geneigt gewesen.
Plötzlich brach Herr Beelitz mitten in seinen Ausführungen ab und ebenso schnell nahmen seine Züge ihre gewohnte Ruhe und Unbeweglichkeit wieder an; seine Augen richteten sich wieder mit dem alten spähenden Ausdruck auf Erwin und bohrten sich förmlich in sein Gesicht ein, auf dessen erhitzten Wangen noch deutlich der Abglanz der Spannung lag, mit der ihn die Worte des Schuldirektors erfüllt hatten. „Nun,“ meinte Beelitz nach einer Pause stummer Beobachtung, „was halten Sie von meiner Methode?“
„Ich?“ Erwin sprang in seinem Eifer unwillkürlich von seinem Sitz auf. „Ich meine, daß das die beste und natürlichste Weise ist, wie man eine fremde Sprache wirklich sprechen lernen kann, und ich wünsche nichts sehnlicher, als nach Ihrer Art Englisch studieren zu können.“
Für eine flüchtige Sekunde erschien ein Ausdruck der Genugthuung in den starren Zügen des Sprachlehrers, dann sagte er in seinem ruhigen gleichmäßigen Ton: „Ich habe eine Klasse von Deutschen und Franzosen, die bei mir Englisch lernen. Sie können da am Unterricht theilnehmen. Aber glauben Sie imstande zu sein, in dieser Weise selbst deutschen Unterricht zu ertheilen?“
Erwin bedachte sich nicht einen Augenblick. „O – wenn Sie – wenn Sie es mit mir versuchen wollten,“ stammelte er, „ich würde es an Fleiß und Lust nicht fehlen lassen.“
Beelitz nickte kurz und entgegnete: „Gut – ich stelle Sie hiermit als Lehrer des Deutschen an. Sie verpflichten sich, nach meiner Methode, genau und ausschließlich nach meiner Methode, zu unterrichten, ohne je während der Stunden ein englisches Wort zu sprechen. Sie verpflichten sich, so viele Stunden zu übernehmen, als ich Ihnen zuweisen werde, bis – bis achtundvierzig wöchentlich. Ihr Gehalt beträgt während des ersten Jahres zwölf Dollar die Woche. Sind Sie damit einverstanden?“
Erwin überlegte nicht, daß achtundvierzig Stunden die Woche – acht Stunden tägtich – eine unerhörte rücksichtslose Ausnutzung der geistigen Kraft bedeute. Zwölf Dollar die Woche! Das war mehr als er je zu hoffen gewagt hatte.
„Mit tausend Freuden nehme ich an,“ stieß er hastig hervor, „und ich verspreche Ihnen, Herr Beelitz, daß ich alles aufbieten werde, um mir Ihre Zufriedenheit zu erwerben.“
Und mit diesem Versprechen war es ihm ernst. Er legte im stillen das Gelübde ab, sich dieser Stellung mit aller Kraft zu widmen, sie sich um jeden Preis zu erhalten, sich förmlich an sie zu klammern, um nicht wieder dem Elend der Beschäftigungslosigkeit zu verfallen und dann am Ende darin zu Grunde zu gehen.
„So folgen Sie mir, unterzeichnen Sie den Vertrag und geben Sie dem Fräulein im Bureau Ihre Adresse![“]
Herr Beelitz schritt seinem neuen Sprachlehrer voraus in das Geschäftszimmer nebenan. Bei ihrem Eintritt erhob sich eine jugendliche Frauengestalt vom Schreibpult und wandte sich ihnen zu. Erwin warf einen neugierigen Blick auf die schlanke Erscheinung im schlichten schwarzen Kleide, aber in derselben Sekunde fuhr er auch schon erblassend zurück. Aeffte ihn ein grausamer Spuk oder war es wirklich Klara, die da vor ihm stand und ihn mit starren finsteren Augen betrachtete? Kein Zweifel! Das waren die Züge, die er einst geliebt hatte!
Es blieb ihm kaum Zeit, sich nothdürftig zu fassen, denn Herr Beelitz hatte rasch auf einem Formular die leergelassenen Stellen ausgefüllt und reichte jetzt den Vertrag Erwin zur Unterschrift. Mit zitternder Hand und ohne zu lesen setzte dieser seinen Namen unter das Schriftstück. Dann nannte er auf das Geheiß seines nunmehrigen Prinzipals seine Adresse – die Wohnung Schuckmanns – die Klara in eines der Geschäftsbücher eintrug, und verabschiedete sich von Herrn Beelitz mit einem Händedruck, von Klara mit niedergeschlagenen Augen durch eine förmliche Verbeugung.
Und nun, während er auf der Straße dahinschritt wie ein Trunkener, hastend und strauchelnd, nun bemühte er sich vergebens, in dem Widerstreit der auf ihn einstürmenden Empfindungen zu klarer Ueberlegung zu kommen. Welch eine Tücke des Zufalls! Jetzt, da er endlich, endlich errungen hatte, wonach er so lange vergebens gesucht, jetzt dies neue Zusammentreffen, vor dem alle schönen Hoffnungen wieder in nichts zu zerrinnen drohten! Oder durfte er es nicht mehr Zufall nennen, daß ihm in dieser ungeheuren Stadt auf allen Wegen, die er einschlug, um sich zu retten, immer wieder jene beiden begegneten? War es das Walten einer höheren Macht, die ihn immer wieder zurückstoßen wollte in das alte Elend? Konnte er denn seine Stellung antreten auf die Gefahr, tagtäglich mit Klara in Berührung zu kommen, mit ihr verkehren zu müssen? Gebot ihm nicht der Gedanke an das, was er einst an ihr verschuldet hatte, jedes weitere Zusammentreffen zu vermeiden, der Betrogenen die peinlichen Demüthigungen zu ersparen, die sein Anblick in ihr erwecken mußte? Hatte sie nicht geradezu ein Recht, sein Fernbleiben zu verlangen, nach allem was geschehen war? Machte er sonst nicht ihr das Bleiben unmöglich? Sein ganzes Gefühl bäumte sich gegen die Vorstellung auf, daß er zu der alten schweren Verschuldung eine neue fügen könnte. Und doch – sollte er sich selbst zum Elend, ja vielleicht zum Untergang verurtheilen eines leichtsinnigen Jugendstreiches wegen, den Hunderte seiner Kameraden, den die meisten seiner Altersgenossen ohne jedes Bedenken vergessen hätten? Was wurde aus ihm, wenn er auf diesen Posten Verzicht leistete? Nicht zum zweiten Male würde sich ihm eine so günstige Gelegenheit bieten, aus schimpflichen Verhältnissen herauszukommen in eine Laufbahn, die lohnend und anständig war. Er dachte an Eltern und Schwestern. Sie bangten und grämten sich wohl um seinetwillen, denn seit seiner Abreise von Berlin hatte er noch keine Zeile an sie gelangen lassen, weil er sich schämte, zu verrathen, wie schlecht es ihm ging. Und nun hätte er mit Genugthuung, mit der Gewißheit, ihnen eine Freude zu bereiten, von dieser günstigen Wendung seines Schicksals berichten, hätte ihnen zeigen können, daß er trotz seines früheren Leichtsinns die ehrliche Kraft nicht verloren habe, selbst sein Leben zu gestalten.
In dieser Seelenqual, diesem folternden Zwiespalt seiner Gedanken stöhnte Erwin laut auf. Die Stirn glühte ihm wie im Fieber, sein Herz klopfte stürmisch, seine Pulse flogen. Was thun? Er rang und rang und konnte zu keinem Entschluß kommen.
Noch an demselben Abend hatte Erwin mit Schuckmann eine lange Unterredung. Er legte ihm ein rückhaltloses Bekenntniß ab, erzählte von seinen früheren Beziehungen zu Klara, von seiner Begegnung mit ihr erst im „Attantic Garden“ und dann in der Sprachschule des Herrn Beelitz und ließ den Freund einen vollen Blick in seine seelischen Kämpfe thun.
Schuckmann überlegte nicht lange. „Lieber Freund,“ meinte er, „wären Sie noch drüben, würde Ihnen dort diese Sache begegnet sein, so wäre die Situation eine andere; hier aber entschlagen Sie sich nur getrost so zarten Bedenken! Sie befinden sich in einer Zwangslage, Licht und Schatten sind zwischen Ihnen und jener jungen Dame nicht gleich vertheilt. Sie lebt bei ihrem Bruder, der, wie Sie vermuthen, eine gute Stelle hat. Wenn also die junge Dame eine Berührung mit Ihnen zu peinlich findet, so ist sie durch nichts gehindert, ihre Beschäftigung bei Beelitz
[801][802] aufzugeben und den ihr unerträglichen Anblick zu fliehen – wenn er ihr wirklich gar so unerträglich ist, was ich, nebenbei gesagt, trotz alledem und alledem nicht recht glaube. Daß aber Sie das Rettungsseil, das Sie kaum erfaßt haben, ohne weiteres wieder fahren lassen, kann kein Mensch, kann auch die junge Dame nicht von Ihnen erwarten. Für Sie handelt es sich einfach um Sein oder Nichtsein. Ritterlichkeit ist eine schöne Sache, aber in Ihrer Lage ist sie Luxus, ja ein Verbrechen, das Sie gegen sich selbst verüben würden – der reine Selbstmord. Darum müssen Sie bleiben, Sie können ja so viel wie irgend möglich der Dame aus den Augen gehen.“
Nach einigem Hin- und Herreden fügte sich Erwin den Gründen des Freundes.
Während der ersten Tage war die Thätigkeit, die Erwin von seinem neuen Prinzipal angewiesen erhielt, lediglich eine passive; sie bestand hauptsächlich darin, den Stunden der Deutsch lernenden Schüler auf den verschiedenen Stufen als stiller Zuhörer beizuwohnen, um sich so eine umfassendere Kenntniß der Methode anzueignen. Dann nahm ihn Herr Beelitz zu sich in sein Zimmer und Erwin mußte, während der Direktor die Rolle eines Schülers übernahm, seine ersten praktischen Versuche im Unterrichten machen.
Nach acht Tagen war er so weit, daß ihm einige Anfängerklassen zugewiesen werden konnten. Mit allem Eifer, mit wirklicher innerer Befriedigung gab er sich seinem neuen Berufe hin. Seine Bewunderung der Lehrmethode des Herrn Beelitz steigerte sich, je gründlicher er sie kennenlernte, ja sie wuchs zu förmlicher Begeisterung. Wie geschickt, wie wohldurchdacht der Lehrgang aufgebaut war, wie staunenswerth der Erfolg, den der Lehrer damit erzielte!
Und diesem wissenschaftlichen Ergebniß entsprach der äußere Ertrag des Unternehmens in vollkommener Weise. Mehr als fünfhundert Schüler, aus allen Altersklassen, aus allen Schichten der Bevölkerung, besuchten die Schule, um hier Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Englisch zu erlernen. Erwin wußte nicht, sollte er mehr den scharfen durchdringenden Verstand und die umfassenden Sprachkenntnisse oder die organisatorische Tüchtigkeit des kleinen, körperlich unscheinbaren Direktors bewundern. Es war etwas Widerspruchsvolles, Räthselhaftes im Wesen dieses Mannes, der so kühl erwog, so schlau berechnete, so kaltherzig und rücksichtslos seinen Vortheil wahrte und der doch, wenn auf seine Methode die Rede kam, mit dem echten Feuer der Begeisterung sprach, das auch den Gleichgültigen entzündete, der sich an seinen eigenen Ausführungen förmlich berauschte und zum Schwärmer wurde.
Dnrch diese wechselnden Eindrücke, die er von seinem Prinzipal empfing, und durch die Anforderungen, die seine neue Thätigkeit an ihn stellte, wurde Erwin so ganz und gar in Anspruch genommen, daß er das Peinliche seiner gelegentlichen Berührungen mit Klara nicht so empfand, wie er vorher befürchtet hatte. Klara hatte ausschließlich mit den geschäftlichen Dingen im Bureau zu thun und kam daher außer Sonnabends, wo sie den Lehrern die Anweisungen für ihren wöchentlichen Gehalt überreichte, mit Erwin fast nie in Verkehr. Wenn es aber geschah, so war ihr ganzes Wesen frostig, unnahbar ihre Stimme, ihr Gesicht hart und abweisend. Niemals richtete sich ihr Blick auf sein Gesicht, auch nicht, wenn sie mit ihm persönlich zu thun hatte; sie sah kühl an ihm vorbei und Erwin sagte sich mit schmerzlichem Bedauern, daß sie nichts vergessen habe, daß sie ihn hasse, aus voller Seele hasse.
Eines Tages ertheilte ihm der Schuldirektor einen Auftrag, der alle Empfindungen Erwins in neuen Aufruhr brachte. Herr Beelitz übertrug ihm die Ausbildung der Buchhalterin, die sich unter seiner Leitung im Unterrichten üben sollte, damit sie nöthigenfalls einige Kinderklassen zu übernehmen imstande wäre. Erwin wußte nicht, sollte er diese Anordnung des Direktors als eine willkommene Gelegenheit begrüßen, Klara zu versöhnen, oder sich der ganzen Angelegenheit entziehen. Er kam zu keinem Entschluß und ließ am Ende der Sache ihren Lauf. Die erste Stunde wurde festgesetzt. Von Herrn Beelitz begleitet, trat Klara in das Schulzimmer, und Erwin, mit Mühe seine Erregung bemeisternd, mußte mit dem Unterricht beginnen. Glücklicherweise half die Gegenwart des Direktors, welcher der Lektion beiwohnen zu wollen schien, beiden über die ersten Minuten hinweg und zwang sie zur Ruhe und Sammlung. Kaum aber hatten sie sich mühsam gefaßt, so erhob sich Herr Beelitz und verließ das Zimmer. Erwin kam ins Stammeln und Stottern und brach plötzlich mitten im Satze ab. Eine Pause schwülen Unbehagens, folternder Beklommenheit entstand, wöhrend beide, die Augen zu Boden gesenkt, sich vergebens bemühten, einen Ausweg aus dieser Pein zu finden. Endlich raffte sich Erwin auf. Lieber offen sprechen als dies Schweigen über das, was doch quälend zwischen ihnen lag und zum Austrag kommen mußte. Mit fester Stimme, die Augen entschlossen auf Klara heftend, begann er: „Fräulein Klara – Fräulein Wagner; ich bedaure, daß ich Ihnen eine Begegnung nicht ersparen konnte, die, wie ich sehr wohl begreife, Ihnen unerwünscht, peinlich sein muß. Ich hatte, als ich Sie hier das erste Mal sah, die Empfindung, daß es meine Pflicht sei, Sie mit meinem Anblick zu verschonen und die Stelle auszuschlagen. Aber der Zwang der Verhältnisse ist stärker als unser Wille – das ist meine einzige Entschuldigung.“
Ihre Blicke hafteten noch immer am Boden, doch die Gluth, die mit einem Mal ihr Gesicht bedeckte, das stürmische Ringen ihrer Brust verriethen ihre Erregung.
Erwin holte tief Athem und fuhr fort: „Fräulein Klara, vielleicht hilft die Zeit dazu, daß wir ein anderes besseres Verhältniß zu einander gewinnen, vielleicht gelingt es mir, Sie zu überzeugen. daß ich das Unrecht, das ich mir einst Ihnen gegenüber zu Schulden kommen ließ –“
Eine heftige Bewegung Klaras schnitt ihm das Wort im Munde ab. Sie war aufgesprungen, ihre Augen blickten düster und drohend, ihre Mienen zuckten.
„Sparen Sie Ihre Redensarten, Herr – Herr Hagen,“ stieß sie mit bebender Stimme hervor. „Wir beide haben Persönliches einander nicht mitzutheilen. Wir sind im Dienst des Herrn Beelitz und haben uns seinen Anordnungen zu fügen. Das ist das einzige Verhältniß, in dem wir zueinander stehen.“
Sie setzte sich, nahm ihren Bleistift und ihr Buch zur Hand und bedeutete ihn so, in seinem Unterricht fortzufahren.
Erwin biß sich erbleichend auf die Lippen. Ohne ein Wort weiter zu entgegnen, nahm er die Lektion wieder auf, aber seine Stimme klang rauh und schroff.
Auch während der folgenden Stunden verschwand bei Erwin die erbitterte Stimmung nicht. Die Kälte, die Klara ihm gegenüber fortgesetzt zur Schau trug, erinnerte ihn immer von neuem an jene verletzende Abweisung. Schwer lastete auf beiden die Erfüllung ihrer Pflicht, die Minuten schlichen mit unerträglicher Langsamkeit dahin, und wie von einem erdrückenden Alb befreit, athmeten sie auf, so oft Herr Beelitz im Schulzimmer erschien, um Erwin abzulösen und sich von den Fortschritten der Schülerin persönlich zu überzeugen. Mit gewissenhafter Genauigkeit hielt sich Erwin an den angegebenen Lehrgang; nie sprach er ein Wort, das durch diesen nicht vorgeschrieben war. Endlich, endlich – nach qualvollen Wochen erklärte der Direktor Klaras Ausbildung für beendigt.
Es war wenige Tage nach diesem von allen Theilen freudig begrüßten Ereigniß, Erwin hatte eben das Bureau betreten, um dort einen Auftrag des Herrn Beelitz auszuführen, als er plötzlich eine Stimme hörte, die ihm das Blut in die Wangen trieb. Im nächsten Augenblick stand er Miß Carry Sumner gegenüber, die sich in die Liste der Schüler eintragen ließ. Die junge Amerikanerin erkannte ihn sofort und streckte 1hm freudig überrascht die Hand entgegen „Ach, Mister Hagen – Sie! Sehr erfreut, Sie zu sehen.“
Erwin verbeugte sich mit mehr Artigkeit und erwiderte die Begrüßung mit mehr Liebenswürdigkeit, als er sie für die kaltherzige Amerikanerin übrig gehabt hätte, wenn Klara Wagner nicht Zeugin des Vorgangs gewesen wäre. So aber empfand er es als eine Genugthuung, mit der hübschen elegant gekleideten jungen Dame eine lebhafte Unterhaltung beginnen zu können. Miß Carry that sich keinen Zwang an; so kokett wie jemals blitzten ihre Augen den einstigen Verehrer an und mehr als einmal kam von ihren frischen Lippen ein lautes Lachen, als Erwin sich in allerlei launigen Erinnerungen an die gemeinschaftliche Oceanfahrt erging.
„Miß Carry, wissen Sie noch – unsere erste Begegnung auf dem Schiff?“
„Lassen Sie sehen! Ganz rechtt, es war am drltten Tage der Fahrt und ich hätte eben den ersten Besuch dieses teuflischen Quälgeistes, der Seekrankheit, erhalten – o, Mister Hagen, wie furchtbar! Wenn ich daran denke – brr, mich schaudert noch jetzt.“
„O Miß Carry, wie können Sie denken, ich hätte eine so unangenehme Erinnerung in Ihnen wachrufen wollen! Nein, mir schwebte jener Abend vor, der folgte. Die frische Luft auf Deck [803] that Ihnen außerordentlich wohl. Ueber uns der klare Himmel mit unzähligen funkelnden Sternen, unter uns leuchtend in Phosphorglanz die See –“
„Gewiß, gewiß, Mister Hagen – es war eine unvergleichliche Nacht.“ Sie lächelte kokett, ohne sich durch Klaras Anwesenheit irgelld welchen Zwang auferlegen zu lassen, und fuhr dann neugierig fort: „Aber was thun Sie denn hier, Mister Hagen? Vermuthlich auch Schüler der Beelitz-Schule?“
Erwin erröthete leicht. „Nicht Schüler, sondern Lehrer.“
„Lehrer!“ Sie lachte laut auf und schlug die Hände zusammen. „Ach das – wie drollig das ist! Da werde ich am Ende gar das Vergnügen haben –?“
„Wenn Sie Schülerin des Deutschen sind –“
„Allerdings – um in der Uebung zu bleiben und nicht alles, was ich drüben mühsam gelernt habe, hier wieder zu vergessen.“
„Dann wird auf meiner Seite das Vergnügen sein, Sie unterrichten zu dürfen. Ich bemerke Ihnen aber im voraus, Miß Carry, daß ich ein sehr sehr strenger Lehrer bin.“
„O, Mister Hagen, ich zittere schon jetzt vor Ehrfurcht und Angst und –“ Ihr Blick streifte zufällig das Gesicht der Buchhalterin, aus deren Augen ihr so viel Mißbilligung und Verachtung entgegensprühte, daß sie unwillkürlich mitten im Satz abbrach, sich ärgerlich auf die Lippen biß und mit geringschätziger Miene die Achseln zuckte. Erwin war der Richtung ihres Blickes gefolgt; mit einem Gefühl der Befriedigung gewahrte er, daß jetzt eine glühende Röthe in Klaras Gesicht aufstieg, während sie verwirrt den Kopf senkte. Die schöne Amerikanerin aber verließ das Bureau, nachdem sie Erwin mit einem vertraulichen: „Auf Wiedersehen, Mister Hagen“ die Hand gereicht hatte.
Schon am nächsten Tage trat Miß Sumner in die Klasse von Erwins besten Schülern ein, deren Stunden hauptsächlich mit dem Lesen klassischer Schauspiele oder mit freier Unterhaltung ausgefüllt wurden. Die Beweglichkeit, das übermüthige, herausfordernde Wesen der Amerikanerin wirkte förmlich elektrisierend auf die übrigen Glieder des Kreises und nie war in dem Schulzimmer soviel gescherzt und gelacht worden als seit dem Eintritt von Miß Carry. Auf Erwin wachte ihre launige, graziöse Art nicht weniger Eindruck wie ehemals und bald genug befand er sich wieder ganz in ihrem Bann. Und je bitterer er es empfand, daß ihm Klara seit jener Scene im Bureau mit einer noch absichtlicheren Mißachtung auswich, desto empfänglicher wurde er für Miß Carrys Liebenswürdigkeit.
An Gelegenheit, sich derselben zu erfreuen und sie zu erwidern, fehlte es nicht. Die Eigenart der Methode Beelitz brachte es mit sich, daß Lehrer und Schülerin in allerlei Situationen sich nahekamen. Wenn Erwin die Zeitwörter „geben“ und „nehmen“ einübte und zu diesem Zwecke der Miß ein Buch mit den Worten reichte: „Ich gebe Ihnen das Buch. Nehmen Sie das Buch!“ so geschah das selten, ohne daß sich ihre Fingerspitzen unter dem Buche berührten, und wenn Erwin zur Uebung „Ladenbesuche“ machen ließ, wobei er selbst die Rolle des Verkäufers übernahm, so fand sich auch da hinreichend Gelegenheit, mit Miß Carry vielsagende Blicke zu tauschen, die durchaus nicht zur Methode des Herrn Beelitz gehörten.
Eines Nachmittags nach Beendigung seiner Stunden machte Erwin, der inzwischen dank seinem ausreichenden Gehalt seine Garderobe wieder auf einen anständigen Fuß gebracht hatte, mit besonderer Sorgfalt Toilette. Befriedigt musterte er sich im Spiegel. Sein Gesicht war wieder blühend und frisch wie in seinen besten Tagen. Wangen und Kinn, sauber rasiert, zeigten einen leisen, kaum sichtbaren Flaum duftenden Puders, die Spitzen des Schnurrbarts waren keck emporgewirbelt. Der dunkle Anzug war funkelnagelneu und saß tadellos. Von den Händen hatte er jede Spur seiner früheren. Thätigkeit zu entfernen gewußt; sie waren wieder zart und weiß. Mit freudiger Genugthuung, mit eitlem Lächeln nickte er seinem Spiegelbild zu. Er fühlte sich wieder als Angehöriger einer bevorzugten Menschenklasse; vergessen waren alle Leiden, ausgelöscht alles Elend. Sorglos, glänzend, verklärt von dem Sonnenstrahl des Reichthums lag die Zukunft wieder vor ihm. Kein Zweifel, Miß Carry liebte ihn, und auf diese Liebe baute er seine Hoffnungen.
War es nicht ein Zeichen ihrer Zuneigung, daß sie neulich, nachdem die übrigen Schüler das Schulzimmer schon verlassen hatten, in ihrer gewinnenden Weise ihm gesagt hatte, sie würde sich sehr freuen, ihn einmal bei sich zu sehen? Zugleich hatte sie die Adresse ihrer elterlichen Wohnung genannt und hinzugefügt, daß sie vor der Essensstunde, zwischen fünf und sechs Uhr, stets zu Hause sei. Es lag auf der Hand, sie wünschte ihn mit ihren Eltern bekannt zu machen und ihren Beziehungen einen gesellschaftlich würdigeren Hintergrund zu geben.
Und nun schickte sich Erwin zu diesem Besuch in Carrys Elternhaus an; seine lebhafte Phantasie schaute rosige Zeiten und kürzte ihm so den weiten Weg bis zur Lexington Avenue, wo Mister Sumner seine Privatwohnung hatte. Der Dienerin, die ihm die Hausthür öffnete, nannte er seinen Namen mit der Bitte, ihn bei Herr und Frau des Hauses zu melden. Die Familie Sumner saß im Wohnzimmer, als die Dienerin mit der Nachricht eintrat, ein Herr Hagen wünsche Mister Sumner zu sprechen. Dieser zuckte verdrießlich mit den Achseln. „Hagen? Kenne ich nicht!“ erkärte er mit mißtrauischer Miene.
Carry aber erhob sich lebhaft. „Mister Hagen, sagen Sie? Der Besuch gilt mir, Papa! Führen Sie den Herrn ins Empfangszimmer!“ Und während die Dienerin ging, um den erhaltenen Befehl auszuführen, fügte sie, zu ihren Eltern gewandt beiläufig hinzu: „Mein Lehrer aus der Beelitz-Schule.“
Mister und Missis Sumner vertieften sich nach dieser Erklärung beruhigt wieder in ihre Zeitungen, wahrend ihre Tochter rasch an den Spiegel trat, mit prüfenden Blicken ihren Anzug musterte und die Stirnlocken ordnete.
„Erfreut, Sie zu sehen, Mister Hagen!“ Mit diesen etwas steifen Worten begrüßte sie zwei Minuten nachher ihren Gast, um, nachdem sie sich in einen Schaukelstuhl geworfen und Erwin zum Sitzen veranlaßt hatte, sogleich die lebhafte Frage folgen zu lassen: „Sagen Sie, wie kommen Sie auf den Einfall, sich meinen Eltern melden zu lassen?“
Erwin blickte überrascht, verständnislos auf und mußte sich ihre Frage noch einmal wiederholen lassen. „Ja aber, Miß Carry,“ entgegnete er dann, noch immer erstaunt, .„das ist doch selbstverständlich. Man kann doch nicht eine junge Dame zu sprechen wünschen!“
„Warum nicht?“
„Nun weil – weil das nicht schicklich wäre.“
„Nicht schicklich?“ Sie lachte. „Bei Ihnen drüben in Deutschland, Mister Hagen – mag sein. Bei uns aber behandelt man die erwachsenen Mädchen nicht wie Kinder, die man am Gängelbande führen muß.“
Erwin konnte ein Befremden nicht ganz unterdrücken. „Ich hielt es für unhöflich,“ versetzte er ernst, in steifer Haltung, „Ihre Eltern einfach zu übergehen.“
„Zu übergehen? Aber Mister Hagen, seien Sie doch nicht so unausstehlich pedantisch! Ihr Besuch gilt mir, Sie wollen ein wenig mit mir plaudern, nicht?“
„In erster Linie, freilich.“
„Nun sehen Sie! Lassen Sie also Mister und Missis Sumner bei ihren Zeitungen, die ihnen viel interessanter sind als unser Schnickschnack.“ Sie blickte, während sie ihren Schaukelstuhl in Bewegung setzte, schelmisch zu ihm hinüber. „Es thut mir leid, Mister Hagen, aber Sie müssen schon zusehen, wie Sie sich mit mir behelfen.“
Carry zeigte sich verführerischer als je in ihrer anmuthigen Koketterie; Erwin war entzückt, bezaubert und vergaß sehr schnell den peinlichen Eindruck, den er bei seinem Eintritt empfangen hatte. Sie plauderte von ihrem häuslichen Leben, von ihren Gewohnheiten und daß ihr Tagewerk darin bestehe, zu lesen, Musik und – Toilette zu machen. Jede Beschäftigung in der Hauswirthschaft sei ihr zuwider; sie begreife die deutschen Frauen nicht, die es nicht verschmähten, selbst in der Küche Hand anzulegen und ihre Töchter an den Kochherd zu stellen. In muthwilligster Laune sprudelte sie über von witzig boshaften Einfällen, so daß Erwin nicht aus dem Lachen herauskam. Im Fluge verging ihm die Zeit und fast erschrocken fuhr er empor, als die zierliche Stutzuhr auf dem Kaminsims die sechste Stunde verkündete. Miß Carry entließ ihn mit der bestrickendsten Liebenswürdigkeit. Wie im Rausche gelangte Erwin auf die Straße; erst die frische Luft ernüchterte ihn ein wenig und gab ihm die Fähigkeit zurück, über die Erlebnisse der letzten Stunde einigermaßen ruhig nachzudenken. Gdankenvoll schüttelte er den Kopf. Wunderliches Land dieses Amerika, sonderbare Sitten! Berückendes, seltsam widerspruchsvolles Geschöpf – diese Miß Carry!
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Blätter und Blüthen
Melilla. (Zu dem Bilde S. 789.) Von dem Gibraltar gegenüberliegenden Vorgebirge Afrikas zieht sich der gekrümmten Küstenlinie entlang, nur einen schmalen Saum am Meere freilassend, ein hohes Gebirge hin, „Rîf“ genannt oder „Errîf“. Es ist wild und schluchtenreich, schwer zugänglich und bewohnt von Berberstämmen, die man nach der für die algerischen Berber üblichen Bezeichnung „Kabylen“ oder nach ihrem Wohnort wohl auch „Riffins“ nennt. Sie selbst heißen sich „Masighs“ oder „Amasighs“, d. h. „Freie“, leben fast durchweg unabhängig unter erblichen Fürsten ihres Stammes, ohne sich viel um ihren Oberherrn, den Sultan von Marokko, zu kümmern. Sie sind hellfarbig, von schönen athletischen Formen, kräftig, thätig und lebhaft und fallen auf durch ihren spärlichen Bart. Das Haar ist nicht selten blond, so daß man sie oft für Bauern aus dem nördlichen Europa halten könnte. Sie sind ein trotziges, verwegenes Geschlecht, voll fanatischen Hasses gegen die Christen, Jagd und Seeraub ist ihr Hauptvergnügen, ihre Flinte ihr vornehmstes Besitzthum, das allein schon eine Stimme in der Versammlung der Stammesgenossen gewährleistet.
Das sind die Gegner, mit denen die Spanier jetzt zusammengerathen sind. Es ist nicht das erste Mal. Schon gegen Ende der fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts hatten die Rîfbewohner sich die Wirrnisse marokkanischer Thronstreitigkeiten zu nutze gemacht und waren unter anderem auch in die spanischen Besitzungen in Nordafrika eingedrungen. Da Marokko die verlangte Genugthuung für die Räubereien seiner „Unterthanen“ nicht gab, so erklärte Spanien im Oktober 1859 den Krieg, der nach blutigen Gefechten zu einem für Spanien günstigen Frieden führte (April 1860).
Zum Schutze der spanischen Besitzungen in Marokko dienen nun vier sogenannte „Presidios“, welches Wort sowohl „Festung“ wie „Staatsgefängniß“ bedeutet. Diese Doppelrolle haben denn auch Ceuta, Melilla, Peñon de Velez und Alhucemas zu spielen. Sie haben den nicht mehr sehr ausgedehnten Rest von spanischem Besitz zu decken und sind zugleich Deportationsorte für Staatsgefangene und schwere Verbrecher. So besteht auch die auf etwa 3000 Seelen sich belaufende Einwohnerschaft des 15 Kilometer südöstlich vom Kap Tres Forcas auf einer schmalen Landzunge gelegenen Melilla zu einem großen Theile aus Deportierten. Nebenbei ist die Stadt, trotz ihrer scheinbar freien und luftigen Lage, sehr ungesund, so daß Gouverneur und Besatzung oft wechseln.
Nach den Zeitungsnachrichten hat der Bau eines vorgeschobenen Forts den Kabylen Anlaß zur Empörung gegeben. Vielleicht war das auch bloß ein Scheingrund, den die fanatischen Kabylen benutzten, um den Kampf gegen die verhaßten Fremdlinge wieder zu eröffnen. Genug, der spanische General Margallo erlitt in den letzten Tagen des Oktober eine schwere Schlappe und ist selbst im Kampfe gefallen. Die Spanier machen gewaltige Anstrengungen, um ihrem schwer geschädigten Ruf wieder auf die Beine zu helfen. Wenn aber ein europäischer Staat den marokkanischen Boden zum Schauplatz kriegerischer Unternehmungen macht, so geht immer ein nervöses Zucken durch die Kabinette Europas: es ist immer möglich, daß da ein Stein ins Rollen geräth, der auf seinem Wege schwere internationale Verwicklungen hervorrufen könnte. Denn Spanien, Frankreich und England stehen sich, was die sogenannte „marokkanische Frage“ betrifft, mit äußerstem Mißtrauen gegenüber und keines will dem andern einen Vorsprung auf dem Gebiete gönnen, auf das sie alle ein Anrecht zu haben glauben.
Der Cotta’sche Musenalmanach für 1894. Würdig schließt sich der neue Almanach seinen Vorgängern an. In vornehmer Ausstattung, begleitet vom Schmuck stimmungsvoller Bilder nach Meistern wie H. Baisch, H. Kaulbach, R. Püttner, tritt uns der Inhalt dieses poetischen Sammelbuches entgegen. An der Spitze steht eine Prosadichtung von Paul Heyse, „Donna Lionarda“; sie schildert in kurzen feinen Strichen ein Menschenschicksal von melancholischem Reiz. Zwei Erzählungen in Versen schließen sich an. In der ersten läßt Ernst Ziel aus des Meeres und der Liebe Wellen, „Zwischen Felsen und Klippen“, ein anmuthiges Idyll entstehen; die zweite, die Stephan Milow zum Verfasser hat, malt uns das wechselvolle Los einer „Grafentochter“, das am Ende harmonisch ausklingt in tröstlicher Entsagung. Diese Dichtungen führen uns hinüber zu den kleineren Beiträgen, in denen Otto Braun, der feinsinnige Herausgeber, die besten Namen, alte und junge Talente versammelt hat. Eckstein, J. G. Fischer, Gottschall, Heyse, Jensen, Lingg, Paulus, Rittershaus, Roquette, Karl Weitbrecht und andere lassen sich da in den verschiedensten Weisen, aber immer in künstlerischen Formen vernehmen. So enthält auch dieser neue Band des Musenalmanachs nicht wenig des Schönen, er wird jedem Freund edler Poesie willkommen sein.
Das Liebesorakel. (Zu dem Bilde S. 792 u. 793.) In der Säulenhalle eines antiken Hauses sehen wir Frauen mit einem Spiel beschäftigt, welches der Kunst des Alterthums zu verschiedenen hübschen Darstellungen Anlaß gegeben hat. Es ist das Knöchelspiel oder das Spiel mit den Astragaloi.
Das Hazardspiel war in Rom zur verderblichsten Sucht geworden und alle Strenge wiederholter gesetzlicher Bestimmungen konnte nicht verhindern, daß im geheimen das verführerische Würfelspiel vieler Glück und Vermögen zu Grunde richtete. Es gab zwei Sorten Würfel: die „Tali“ oder „Astragaloi“, wie der griechische Name lautete, ursprünglich aus Thierknöcheln gefertigt, später aus sehr verschiedenem Material, hatten nur vier ebene Flächen; zwei einander gegenüberstehende waren uneben oder gerundet, so daß auf ihnen der Würfel nicht leicht zu stehen kommen konnte. Die vier ebenen Flächen waren mit Punkten oder Strichen bezeichnet, so daß auf zwei sich entgegenstehenden Seiten 1 und 6, auf den andern 3 und 4 sich befanden. Die Zahlen 2 und 5 fehlten ganz. Mit vier solchen Würfeln wurde gespielt. Der glücklichste Wurf, der den stolz klingenden Namen „Venus“ führte, war, wenn alle vier Würfel verschiedene Zahlen zeigten, der schlechteste Wurf, wenn alle vier dieselbe Zahl und zwar die Eins zeigten.
Die zweite Art Würfel, die „Tesserae“, entsprachen den auch bei uns gebräuchlichen. Ihre sechs Seiten waren mit 1 bis 6 bezeichnet, so daß stets die einander gegenüberstehenden Seiten zusammen sieben Augen zählten, ganz wie bei uns. Von diesen Würfeln wurden beim Spielen nur drei oder zwei gebraucht.
Daß man das Würfelspiel auch zu einem Würfelorakel benutzen konnte, so daß je nach dem Falle der Steine irgend ein glücklicher oder unglücklicher Ausgang eines Unternehmens, das Eintreffen oder Ausbleiben eines gewünschten Ereignisses verkündigt wurde, ist wohl fraglos, und da Fragen der Liebe und Heirath bei den Frauen aller Zeiten in erster Linie standen, so darf man wohl auch annehmen, daß die Schönen auf dem Bilde von Piatti das Orakel der Würfel in einer Herzensangelegenheit befragt haben. Von den beiden vorzugsweise betheiligten Schönen, die sich zum Würfelspiel hingelagert haben, ist die eine offenbar eben im Begriff, einen entscheidenden Wurf zu thun. Noch wiegt sie zögernd die Knöchelchen auf dem Rücken der schöngeformten Hand. Mit geringerer oder größerer Theilnahme verfolgen drei andere den Verlauf des Glücksspiels, und die Kunst des Malers zeigt sich besonders darin, daß er den verschiedenen Grad dieser Theilnahme in ausdrucksvoller Weise zur Anschauung gebracht hat. †
Das Einjährig-Freiwilligen-Examen der Handwerker. Die deutsche Ersatzordnung läßt auch Handwerker zum Einjährig-Freiwilligen-Examen zu, wenn dieselben eine hervorragende fachliche Arbeit vorlegen können. Die Prüfung erstreckt sich alsdann nur auf die Elementarfächer und die Kandidaten sind von dem Nachweis der Kenntniß der fremden Sprachen befreit. Von dieser Berechtigung wird unseres Wissens nicht besonders häufig Gebrauch gemacht.
Um so erfreulicher dürfte die Thatsache sein, daß bis jetzt neun Schüler der „Fachschule für Blecharbeiter in Aue i. S.“ zu dieser Prüfung zugelassen wurden und diese auch bestanden haben.
Diese neun Fälle erstrecken sich auf die Zeit vom Jahre 1886 bis 1893 und die vorgelegten sehr gediegenen Arbeiten, die vom „Geschäftsführenden Ausschuß des Verbands deutscher Klempnerinnungen“ als hervorragende Leistungen begutachtet wurden, bestanden in Kannen und Servicen, sowie Petroleumtischlampen in Kupfer, Nickelin, Auranmetall etc. Mögen diese Beispiele für junge Handwerker ein Sporn sein, vorwärts zu streben! *
KLEINER BRIEFKASTEN.
B–ff, Köslin. Besten Dank! Es freut uns, daß Ihnen das in Nr. 42 veröffentlichte Gedicht „Die Noth“ von Franz Bechert so sehr gefallen hat. Gewiß haben Sie recht mit dem Gedanken, „daß das Motiv zu jenem Gedicht doch auch eine Kehrseite hat, daß die Menschheit der Noth auch zum größten Danke verpflichtet ist“, und Sie selbst haben dieser Wahrheit ein hübsches poetisches Gewand gegeben in dem Verse:
„Nicht aus Palästen voll Glanz und Pracht
Ist der zündende Funke gekommen,
Der taghell gelichtet des Geistes Nacht –
In Hütten der Armuth ist er erwacht
und im Kampf mit der Noth erglommen!“
P. R. in Springfield, Mass. Das kürzeste und dabei neueste Nachschlagewerk ist „Meyers Handlexikon des allgemeinen Wissens“ (Leipzig, Bibliographisches Institut). Es ist erstaunlich, was man in diesem Band von 1702 Seiten alles beisammenfindet, natürlich in knappster Form, aber zuverlässig, und das ist die Hauptsache!
P. Dr. in Rostow am Don. Herr Pfarrer Lehmann in Creußen bittet uns, Ihnen seinen herzlichen Dank auszusprechen für die 3 Rubel, welche Sie infolge des Aufrufs in der „Gartenlaube“ den armen Abgebrannten in Creußen haben zukommen lassen.
[ Verlags-Werbung J. G. Cotta für „Grillparzers sämtliche Werke“, 5. Ausgabe. ]
Inhalt:
[ Verzeichnis der Beiträge in Nr. 47/1993. ]
- ↑ Unter diesem aus den Anfangsbuchstaben L. Anz. gebildeten Leihnamen erschien unser Dichter auch wirklich zuerst auf dem Zettel des Meidlinger Theaters.