Die Gartenlaube (1893)/Heft 46
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Nr. 46. | 1893. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Ein Lieutenant a. D.
In finsterer Entschlossenheit biß Erwin die Zähne zusammen und öffnete mit energischem Griff die Thür zu der sozialdemokratischen Druckerei. Als er sein Verlangen, eine Stelle als Abonnentensammler zu bekommen, stammelnd vorgebracht hatte, fragte ihn der Geschäftsführer, was er „drüben“ gewesen sei.
„Schreiber,“ log Erwin, ohne zu zaudern, im Bann des Selbsterhaltungstriebes.
„Gehören Sie zur Partei?“
Erwin blickte empört auf. „Zur –“
Unter dem forschenden Blick des andern kehrte ihm jedoch schnell die Besinnung zurück und sein „ja“ kam so entschieden, so heftig heraus, daß der Mann von weiteren Fragen abstand. Auf die Anweisungen, die der Geschäftsführer ihm gab, hörte Erwin nur mit halbem Ohr hin, dann wurde ihm ein Pack Probenummern ausgehändigt und zuletzt theilte man ihm die Bedingungen mit: täglich fünfundzwanzig Cent und außerdem von jedem Abonnenten, den er dem Blatt gewann, während der ersten drei Wochen die ganze Gebühr, vorausgesetzt, daß der Neugeworbene so lange aushielt, denn die Leser des „Volksblattes“ abonnierten zum großen Theil nur je auf eine Woche.
Am andern Morgen begann Erwin seine neue Thätigkeit. Er hatte sich am Abend vorher aus der Lektüre der ihm mitgegebenen Zeitungen ein paar Redensarten angeeignet über das „darbende Proletariat“, über „die Tyrannei des ausbeutenden Kapitals“ und über die „Nothwendigkeit des einmüthigen Zusammengehens aller produktiv Arbeitenden“ und gab sie nun bei den von ihm besuchten deutschen Arbeiterfamilien zum besten. Aber er sagte sein Sprüchlein so lau, so rein äußerlich her, sein ganzes Auftreten war so zaghaft und gleichgültig, daß er während der ersten drei Tage auch nicht einen einzigen Abonnenten bekam. Am vierten Tage aber machte ihn der Hunger, die eigene Noth, die Ungewißheit seiner verzweifelten Lage beredt und gab seinen Worten etwas Eindringliches, Packendes, so daß er am Abend glücklich drei neue Leser geworben hatte.
Nun, da erst einmal das Eis gebrochen war, machte er flotte Fortschritte in der Kunst, auf Herz und Geldbeutel der Leute zu wirken und sie seinen Wünschen geneigt zu machen. Er merkte sich, welche Reden die größte Wirkung übten, und gewann mit der Zeit eine förmliche Fertigkeit darin, mit seinem Publikum in dessen derber Sprache zu verkehren. Bald brachte er es im Durchschnitt täglich auf zehn Abonnenten, und wenn auch fast die Hälfte davon nach der ersten Woche wieder absprang, sein Gewinn belief sich doch auf ungefähr acht Dollar die Woche.
Zu diesem äußeren Vortheil gesellte sich noch ein anderes Ergebniß seiner neuen Beschäftigung. Er lernte das Volk kennen bei seiner Arbeit und in seinem Familienleben. Er sah viel Schmutz, viel Widerwärtigkeit, viel Verkommenheit, aber er sah auch Fleiß und Tüchtigkeit, ehrliches ausdauerndes Streben und tapferes Ankämpfen gegen Mißgunst und Härte des Schicksals. Meist waren die Leute, bei denen er vorsprach, freundlich und gesprächig; nur
[774] selten wies man ihn gleich von vornherein von der Schwelle. Oft lud man ihn ein, sich zu setzen, und Erwin folgte der Aufforderung gern, denn das fortwährende Umherlaufen, das Treppauf- Treppabsteigen war ermüdend. So saß er manchmal eine Mittags- oder Abendstunde bei irgend einer Arbeiterfamilie, sprach mit den Männern über Politik und schwatzte mit den Frauen von ihren kleinen Sorgen, von der Noth und Mühseligkeit des Lebens. Und wenn er sich dann später solche Stunden in der Erinnerung wieder vergegenwärtigte, so mußte er im stillen über sich selbst lächeln. War er es denn wirklich, Erwin von Buschenhagen, der sich mit den Aermsten des Volkes auf gleichen Fuß stellte, sich in ihre Gewohnheiten und Anschauungen hineinfand und ihnen in ehrlicher Theilnahme die Hände schüttelte?
Wenn Erwin jetzt des Morgens seinen Rundgang antrat, hatte er nicht mehr jenes lähmende Grauen, jenes Unbehagen und Frösteln zu bekämpfen, das ihm früher, eine Art Kanonenfieber, die erste Stunde jedes neuen Tages zu einer Marter machte. Er hatte sich ausgesöhnt mit der Beschäftigung, die ihm durch Gewohnheit und Erfolg fast lieb geworden war. Um so schmerzlicher überraschte ihn daher eines Tages die Mittheilung des Geschäftsführers des „Volksblattes“, daß die Zeitnug ferner auf seine Dienste verzichte. Mit Unwillen vernahm er den Grund der Entlassung, den ihm der Mann offenherzig angab, Eine Anzahl von „Genossen“ hatte sich erboten, Sonntags in ihrer arbeitsfreien Zeit New York von Haus zu Haus zu durchwandern, um Gesinnungsgenossen und Leser zu gewinnen.
Erwin konnte ein bitteres Auflachen nicht unterdrücken. Am Abend vorher hatte er aus Neugier eine sozialdemokratische Versammlung besucht. Der „Normalarbeitstag“ hatte den Gegenstand der Erörterung gebildet, und der Hauptredner hatte mit besonderer Schärfe das Arbeiten in den sogenannten „Ueberstunden“ gebrandmarkt. „Je kürzer der Arbeitstag, desto geringer die Zahl der Arbeitslosen. Jede Ueberstunde ist ein Verbrechen an unsern hungernden und darbenden Genossen“ – das war das Leitmotiv gewesen, das sich durch alle Ausführungen des Redners hindurchgezogen hatte. Und nun – was thaten jene Genossen, die ihre freien Sonntage zur Agitation verwandten, anderes als „Ueberstunden machen“? Schnitten sie nicht den Aermeren, ihm und anderen, mitleidlos den Erwerb ab? Rissen sie ihm nicht sein bißchen Brot aus den Zähnen? Das Unrecht, das man ihnen zufügte, sahen sie wohl, aber für das Unrecht, das sie selbst gegen andere verübten, waren sie blind!
Mit dieser nicht eben tröstlichen Betrachtung schloß Erwin diese Phase seines Lebens und seine Beziehungen zur Sozialdemokratie ab. Er bemühte sich zunöchst aufs neue, als Kellner irgendwo Aufnahme zu finden, wobei er die größeren Lokale, welche die Versammlungsorte für das ganze Deutschthum des östlichen New York bildeten, ängstlich mied. Aber in den kleinen Bierschenken brauchte man keinen Kellner.
Die wenigen Dollar, die er während des letzten Monats erübrigt hatte, reichten nicht lange aus, und als ihm endlich in seiner Verzweiflung und Rathlosigkeit der Gedanke kam, es einmal mit dem Hausieren zu versuchen, da besaß er nicht mehr Mittel genug zum Einkauf von Waren.
Seine Noth begann drohender und druckender zu werden denn je, Obdachlosigkeit und Hunger standen vor der Thür. Verzweifelt durchstreifte er die Stadt kreuz und quer, überall aufmerksam spähend, ab und zu in ein Lokal eintretend, um nach Arbeit zu fragen – immer vergebens.
Da kam ihm, als er eines Tages stundenlang den Broadway auf und ab gewandert war, eine hagere, steif heranstelzende Gestalt entgegen, in der er mit ungestümer Freude seinen amerikanischen Reisegefährten erkannte. Mister Hopkins! Gerettet! jubelte es in ihm. Er stellte sich ihm in den Weg llud grüßte schon von weitem. „Wie geht es Ihnen, Mister Hopkins?“
Der Amerikaner blickte erstaunt auf, grüßte und blieb stehen. „Sehr erfreut, Sie zu sehen, Mister – Mister –?“
„Hagen,“ fiel Erwin ein. „Wir lernten uns auf dem Dampfer kennen –“
„Ganz recht – ja, erinnere mich. Well, wie gefällt’s Ihnen bei uns, Mister Hagen?“
Erwin seufzte. „Ein heißer Boden, dieses Amerika,“ stammelte er, während Hopkins ihn schnell von oben bis unten musterte.
„Hm, hm,“ machte der Amerikaner und schwieg. Erwin aber, von der Angst erfüllt, daß jener seinen Weg fortsetzen und ihn hilflos zurücklassen könnte, stieß mit dem Eifer der Verzweiflung hervor. „Es ist so schwer, lohnende Beschäftigung zu finden, wenn man fremd ist und – und keinerlei Anhalt hat –“
Der Amerikaner betrachtete ihn wieder und sagte dann langsam: „Wenn ich Sie recht verstehe, suchen Sie Arbeit, Mister Hage.“
„Ja, die suche ich,“ entgegnete Erwin schnell, und ohne sich darum zu kümmern, ob sein Benehmen vielleicht zudringlich sein könnte, fügte er mit bittender Stimme hinzu. „Wenn Sie mir mit Ihrem Rath beistehen könnten –“
Der Amerikaner räusperte sich, zögerte einen Augenblick und sagte dann in seinem kalten, gleichmäßigen Ton. „Well, kommen Sie morgen gegen Mittag auf mein Bureau, Hoe und Kompagnie, 124 Grand Street. Will sehen, was ich für Sie thun kann.“
Er sprach das mit einer so ruhigen, unempfindlichen Miene, daß man zweifelhaft sein konnte, ob er es nur sagte, um den Bittenden loszuwerden, oder in dem wirklichen Verlangen, zu helfen. In Erwin aber stieg ein so heißes Dankgefühl empor, daß er mit feuchten Augen und in überschwänglichen Worten seinem gepreßten Herzen Luft zu machen begann. Mister Hopkins jedoch winkte abwehrend mit der Hand. „Good morning, Sir!“ Und eilig setzte er seinen Weg fort.
Am andern Morgen unterzog Erwin, bevor er sich zu Hopkins auf den Weg machte, seinen Anzug, den einzigen, den er noch besaß, einer eingehenden Besichtigung. Während der letzten Wochen war ihm allmählich Sinn und Gefühl für die Pflege seines Aeußeren abhanden gekommen, Jetzt aber erschrak er, als er wahrnehmen mußte, daß die Nähte seines Rockes schon recht abgescheuert und die Knopflöcher ausgerissen waren. Den letzteren Schaden besserte er, so gut er konnte, mit Nadel und Zwirn aus. Seine Stiefel bürstete er mit besonderer Sorgfalt, und wo das Leder gebrochen war und die hellen Strümpfe durchschimmern ließ, half er mit Tinte nach. Die Hutkrempe, die schon sehr abgegriffen war, frischte er, kurz bevor er das Haus verließ, mit Wasser auf.
Im Bureau von Hoe und Kompagnie nahm Mister Hopkins ohne weiteres ein kleines Examen mit Erwin vor.
„Wie steht es mit dem Englischen, Mister Hagen?“ fragte er, nachdem er mit dem Eintretenden nach amerikanischer Sitte einen Händedruck getauscht hatte.
„Ein wenig spreche ich es, aber nicht geläufig,“ entgegnete Erwin.
„Und mit Buchführung und Korrespondenz – wie ist’s damit?“
Erwin ließ muthlos den Kopf sinken, während er kleinlaut antwortete: „Davon verstehe ich wenig.“
„So! Hm! – Na, nur nicht gleich verzweifeln, Sir! Vielleicht findet sich etwas anderes, vorausgesetzt, daß Sie nicht wählerisch sind und sich vor – well, vor gewöhnlicher Handarbeit nicht fürchten.“
„O ich verschmähe nichts, mir ist jede ehrliche Arbeit recht, wenn ich dabei nur mein Leben fristen kann,“ stieß Erwin eifrig hervor. Neue Hoffnung röthete seine Wangen und richtete die zusammengesunkene Gestalt wieder straff empor.
„Gut, so will ich sehen, ob Mister Wegner, unser Vormann, Sie einstellen kann.“ Er sprach ein paar Worte in das Sprachrohr, welches das Comptoir mit der Werkstätte der Fabrik verband. Ein paar Minuten später trat ein Mann ins Zimmer, den Erwin, der mit dem Rücken gegen die Thür stand, nicht sehen konnte.
„Hier ist ein junger Landsmann von Ihnen, Mister Wegner,“ nahm der Amerikaner das Wort, „der um Arbeit anfragt. Es wäre mir lieb, wenn Sie etwas für ihn hätten.“
„Arbeit, Mister Hopkins, genug für zwei und auch für drei –“
Beim Klange dieser Stimme drehte sich Erwin so heftig um, daß der Sprechende unwillkürlich innehielt. Und nun starrten die beiden Männer einander an, der eine wie zum Sprunge bereit, mit Augen, aus denen Haß und Grimm sprühte – der andere mit fahlem, erbleichendem Gesicht.
Verwundert blickte der Amerikaner von einem zum andern. „Nun?“ rief er, zu Franz Wagner gewandt, dessen Namen er englisch „Wegner“ auszusprechen pflegte.
„Für diesen Mann da, Mister Hopkins,“ erklärte der Gefragte rauh und schroff, indem er den Arm mit heftiger Gebärde gegen Erwin ausstreckte, „für diesen Mann da habe ich keine Arbeit.“
Hopkins fühlte sich durch diese unhöfliche Weigerung Wagners verletzt. „Wenn ich Ihnen erkläre,“ sagte er scharf, „daß ich die Einstellung dieses Herrn wünsche –“
Der junge Mann aber ließ ihn nicht ausreden, „Ich kann [775] Sie nicht hindern, Mister Hopkins,“ rief er bebend, in mühsam beherrschter Erregung, „dem – dem da Arbeit zu geben. Für uns beide aber ist in einer und derselben Werkstatt nicht Raum. Bleibt er, so gehe ich.“
Der Amerikaner überlegte nur einen Augenblick. „Und das ist Ihr letztes Wort?“
„Mein letztes, Mister Hopkins.“
Der Amerikaner war sich sofort klar, was er im Interesse des Geschäfts zu thun habe. „All right, geheu Sie an Ihre Arbeit, Mister Wegner! Die Sache ist erledigt.“
Und sich, nachdem Wagner das Zimmer verlassen hatte, in gleichmüthigem Tone an Erwin wendend, sagte er mit einem flüchtigen Achselzucken: „Mister Hagen, es thut mir leid, aber ich kann nichts für Sie thun. Mister Wegner ist geradezu unentbehrlich für die Fabrik.“
Erwin erwiderte nichts; mit gesenktem Haupte, ganz daniedergebeugt von dem, was ihm widerfahren war, verließ er den Ort, den er mit so frohen Hoffnungen betreten hatte. Was waren alle Bitterkeiten, die ihm die letzten Monate gebracht hatten, im Vergleich zu dem vernichtenden Eindruck dieser wenigen Minuten! Knirschend fluchte er dieser Vergangenheit, deren Schatten ein tückischer Zufall wie einen Dämon an seine Fersen heftete.
Am nächsten Tage stand Erwill auf der Straße, obdachlos, seinen letzten Dollar in der Tasche; plan- und ziellos durchirrte er die Straßen der Stadt. Gegen Mittag trat er in ein Bierlokal, trank ein Glas Bier für fünf Cent und nahm ein paar Brötchen von dem „Free Lunch“. Am Abend suchte er eines der billigen Logierhäuser am unteren Ende der Bowery auf. So trieb er es ein paar Tage, bis der letzte Cent ausgegeben war. Und nun gähnten ihn alle Schrecken des Elends an.
Ein kalter Wintertag war angebrochen; der Schnee lag fußhoch in den Straßen und ein eisiger Nordwind schnitt den hastig vorübereilenden Fußgängern wie mit Messern ins Gesicht.
Erwin war in seinem dünnen Rock durchfroren bis auf die Knochen und todmüde; kaum daß er sich noch aufrecht halten konnte. Seit vierundzwanzig Stunden hatte er keinen Bissen mehr zu sich genommen. Endlos, endlos dehnten sich die Stunden, während er bald in einem abgelegenen Winkel Schutz vor dem Wind und einige Minuten Ruhe suchte, bald wieder durch die Straßen rannte, um die erstarrten Glieder zu erwärmen.
Die Dämmerung brach herein. Er schauderte bei dem Gedanken an das, was ihm bevorstand. Irgendwo, an einem einsamen Ort, würde er zusammenbrechen und die Schneedecke, die dicht den Boden verhüllte, wurde sein Sterbelager. Sterben! Das Wort hatte zwar für ihn viel von seinem Grauenhaften verloren, dennoch lehnte sich die Lebenslust seiner fünfundzwanzig Jahre gegen eine dumpfe Resignation auf. Mehr als einmal war ihm der Gedanke an Schuckmann durch den Kopf gefahren, aber immer wieder hatte die Scham ihn abgehalten, den einstigen Kameraden aufzusuchen und seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Daß Schuckmann keine Arbeit für ihn hatte, wußte er. Sollte er dem Freunde zur Last fallen, sich Almosen von ihm geben lassen? Sollte er seine Gastfreundschaft dadurch vergelten, daß er sich an den bescheidenen Tisch der Familie setzte und ihr die kärglichen Bissen schmälerte?
Als aber der Abend mehr und mehr fortschritt, als Hunger und Erschöpfung seine letzte Kraft zu verzehren drohten, lenkte er seine Schritte wie unter einem unwiderstehlichen Zwange nach dem Punkte der Stadt, wo ihm allein noch Hilfe winkte. Jetzt bog er mit dem äußersten Aufgebot seiner fast versagenden Kräfte in die Straße ein, in der Schuckmann wohnte. Die große runde Uhr im Schaufenster des Uhrmachers an der Straßenecke zeigte die zehnte Stunde. Ein Zittern wahnsinniger Furcht befiel den Vorüberwankenden. Wenn er zu dpät kam, wenn das Haus geschlossen und alle Hoffnung auf Rettung ihm abgeschnitten war! Das Verlangen nach Wärme, nach Nahrung verdrängte jede andere Regung und jedes Bedenken in ihm, und die letzten Schritte bis zur Wohnung des Freundes legte er laufend zurück. Nun stand er, tief aufathmend, im Hausflur, im Gefühl der Sicherheit, der nahen Rettung. Mühsam schleppte er sich die Treppe hinauf; vor der wohlbekannten Thüre blieb er ein paar Minuten stehen, keuchend, noch einmal zaudernd im Widerstreit seiner Empfindungen. Dann klopfte er.
Die Frau seines Freundes öffnete und blickte in den schlecht erleuchteten Flur hinaus. „Wer ist da?“ Aber schon erkannte sie den wortlos vor ihr Stehenden. „Sie, Mister Buschenhagen? Bitte, treten Sie ein! Wir haben Sie schon lange erwartet,“ Sie führte ihn durch die Küche in das Wohnzimmer.
Erwin stand wie betäubt und tastete unwillkürlich nach der Lehne des nächsten Stuhles. Der plötzliche Wechsel zwischen Dunkelheit und Kälte, zwischen Licht und Wärme machte ihn schwindlig; er fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Die kleine Frau beobachtete ihn erstaunt, und jetzt erst sein Zittern und die Blässe seines Gesichtes gewahrend, rief sie erschreckt: „Was ist Ihnen? Sind Sie nicht wohl? Rasch setzen Sie sich!“
Er ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. Dann nahm er sich mit aller Kraft zusammen und beruhigte die besorgte Frau, die jetzt an die Kommode trat und mit einem Brief in der Hand zu ihrem Gaste zurückkehrte.
„Das ist für Sie gekommen. Wir waren schon recht unruhig Ihretwegen, weil Sie gar nicht kamen. Haben Sie denn die Postkarte, die mein Mann an Sie schrieb, nicht erhalten?“ Erwin verneinte und betrachtete mit dumpfer Verwunderung die Aufschrift des Briefes, den ihm Frau Schuckmann einhändigte und der neben der Adresse Schuckmanns seine eigene trug. Was sollte das bedeuten? Doch er hatte keine Zeit, über diese Frage nachzudenken, denn die Gattin seines Freundes wandte sich von neuem an ihn. „Ja, wohnen Sie denn nicht mehr in Ihrem früheren Boardinghaus, Mister Buschenhagen?“
Der Gefragte senkte den Kopf unb stammelte ein leises: „Nein.“
„Nicht? Aber wo denn jetzt, Mister Buschenhagen?“
Keine Antwort. Einen Augenblick herrschte eine so völlige Stille in dem Zimmer, daß man die Athemzüge des kleinen Henry, der schlafend in seinem Bettchen lag, deutlich hörte.
Frau Schuckmann trat noch einen Schritt näher und heftete ihre Blicke forschend auf den schweigend Dasitzenden, der die Augen vor ihr niederschlug. Nun erst fiel ihr auf, daß der späte Gast bloß im Rocke, ohne Ueberzieher, gekommen war, nun erst gewahrte sie sein vernachlässigtes Aeußere, die tief eingesunkenen Augen, die scharfen Linien um den Mund, welche Hunger und Noth eingezeichnet hatten. Und die wahre Lage des Unglücklichen ahnend, rief sie erschüttert: „Sie haben Ihre Stellung verloren, Mister Buschenhagen – Sie haben Johnnys Karte gar nicht erhalten können, weil Sie –“ sie hielt bestürzt inne, denn sie empfand, wie demüthigend das alles für ihn sein mußte. Ohne ein Wort weiter zu verlieren, schlüpfte sie in die Küche und brachte Brot, Butter und kaltes Fleisch herbei. Dann holte sie einen Topf mit dampfendem Thee, der auf dem Kochherd für ihren Mann bereit gestanden hatte, und goß davon in ein sorglich vorher gewärmtes Wasserglas. „Schnell, langen Sie zu, Mister Buschenhagen,“ sagte sie herzlich. „Es ist kalt draußen, ein Glas Thee wird Ihnen gut thun.“
Und Erwin, von den Entbehrungen und Kämpfen der letzten Tage aller Widerstandskraft beraubt, ergriffen von dem zarten, stillen Walten der kleinen Frau, konnte es nicht hindern, daß ihm die hellen Thränen über die bleichen, eingefallenen Wangen rannen. Er war auch nicht imstande, was ihm das Herz bewegte, in hörbaren Lauten wiederzugeben, er sah nur mit einem stummen, unbeschreiblichen Blick zu der blonden Frau hinüber, die ihm mit dem Kranz goldenen Haares auf dem Scheitel wie ein Engel der Barmherzigkeit erschien, Dann aber machte er sich, ohne eine zweite Einladung abzuwarten, über Speise und Getränk her und der wilde Hunger forderte sein Recht.
Indessen hielt sich die junge Frau still im Hintergrund und machte sich am Bett ihres Knaben zu schaffen; nur ab und zu warf sie einen verstohlenen Blick auf den Essenden, und je tapferer sie ihn einhauen sah, desto befriedigter leuchtete ihr freundliches Gesicht.
Endlich hielt er inne und lehnte sich in dem wohligen Gefühl der Wärme und der Sättigung einen Augenblick wie selbstvergessen behaglich in seinen Stuhl zurück. Dann aber richtete er sich erschrocken wieder auf und schickte sich an, mit unsicheren Worten seinen Dank auszusprechen.
Sie aber fiel ihm sofort in die Rede. „Wollen Sie jetzt nicht Ihren Brief lesen, Mister Buschenhagen? Sie müssen wissen,“ setzte sie erläuternd hinzu, während er neugierig nach dem Schreiben griff, das er vorhin unerbrochen beiseite gelegt hatte, „vor ein paar Tagen las Johnny eine Anzeige in der ,Staatszeitung‘, und da er meinte, das sei etwas für Sie und weil keine Zeit zu verlieren [776] war, so setzte er sich hin unb schrieb in Ihrem Namen. Und da ist nun diese Antwort gekommen, schon vor drei Tagen.“
Erwin entfaltete hastig den Brief und las die wenigen Zeilen.
„Werther Herr! Herr Schuckmann hat mich auf Sie aufmerksam
gemacht, und wenn Ihre Persönlichkeit mir bei näherer
Bekanntschaft zusagt und Sie sich auch sonst für den offenen Posten
eignen, so möchte ich es wohl mit Ihnen versuchen. Es handelt sich
um eine Anstellung als Lehrer des Deutschen an meiner Sprachschule,
deren Adresse Sie am Kopfe dieses Briefes finden. Ich
erwarte Sie an einem der nächsten Vormittage zwischen 11 und 12 Uhr.
Achtungsvoll M. D. Beelitz.“
Und am oberen Rande des Briefes stand: „Sprachschule von Beelitz. Madison Squaare New York.“
Enttäuscht ließ Erwin den Kopf sinken. Eine trügerische Hoffnung! Wie konnte er mit seinen oberflächlichen Kenntnissen des Englischen daran denken, sich um diese Stelle zu bewerben! Doch als er jetzt diesem Bedenken Ausdruck gab, da schüttelte die kleine Frau das Haupt und entgegnete eifrig: „Wegen des Englischen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Mister Buschenhagen. Englisch wird nicht verlangt, das stand ausdrücklich in der Anzeige.“ Und als er dazu eine ungläubige verwunderte Miene machte, fing sie an, das Zeitungsblatt zu suchen, in dem die Ankündigung gestanden hatte, um ihm das Unglaubliche schwarz auf weiß zu beweisen. Als sie noch damit beschäftigt war, klopfte es an die Flurthür.
„Johnny!“ sagte sie, zu Erwin gewandt, und eilte hinaus. In der nächsten Minute stand Schuckmann dem Freunde gegenüber; sie schüttelten einander herzlich die Hände.
„Endlich! endlich!“ rief Schuckmann, ohne scheinbar Erwins Befangenheit zu bemerken. „Warum sind Sie denn nicht längst gekommen?“
Ein Wink seiner Frau und ein Blick auf die Erscheinung Buschenhagens machten ihn verstummen. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er dann, den Brief vom Tisch nehmend, fort: „Darf ich? Ich bin doch neugierig, um was es sich eigentlich handelt.“ Und nachdem er das Schreiben überflogen hatte: „Eine Lehrerstellung an einer Sprachschule! Merkwürdig!“
Rasch trat er zur Kommode, suchte einen Augenblick und kehrte mit einem Zeitungsblatt zurück. Eilig durchmusterte er die langen Reihen der Anzeigen. „Da,“ sagte er, mit dem Finger auf eine der Ankündigungen deutend, „lesen Sie selbst!“
Erwin las: „An einen gebildeten jungen Deutschen, der seine Muttersprache dialektfrei spricht und mit der Grammatik derselben vertraut ist, habe ich eine angenehme und dauernde Stellung zu vergeben. Kenntniß des Englischen nicht erforderlich und nicht erwünscht. Meldungen mit genauer Angabe des Bildungsstandes und des früheren Berufes richte man mit der Aufschrift ‚Sprachlehrer‘ an das Bureau der ‚New Yorker Staatszeitung‘.“
Fragend blickte Erwin den Freund an. Dieser zuckte die Achseln. „Wir stehen da einfach vor einem Räthsel, lieber Buschenhagen, und ich schlage vor, daß wir uns gar nicht erst den Kopf zerbrechen, sondern einfach bis morgen warten. Hoffentlich kommen Sie nicht zu spät!“
Libby tischte ihrem in seinem schweren Dienst tüchtig durchfrorenen und ausgehungerten Gatten das Abendbrot auf und verschwand dann in der Küche. Erwin aber schickte sich mit feuchten Augen an, dem Freunde für seine liebevolle Fürsorge zu danken. Doch Schuckmann unterbrach ihn schon bei den ersten Worten.
„Aber, lieber Buschenhagen, was ich da gethan habe, ist doch selbstverständlich. Man freut sich, wenn man einem alten Kameraden zu einer guten Stellung verhelfen kann. Wenn Sie sie nur erst hätten! Im übrigen habe ich noch ein Hühnchen mit Ihnen zu pflücken, Buschenhagen. Ja, ja! Sie haben Ihre Stellung im ‚Atlantic Garden‘ verloren, und anstatt zu uns zu kommen und einfach zu sagen: ‚Schuckmann, so und so geht mir’s!‘ hungern Sie lieber und frieren und ... na, Sie brauchen nicht gleich eine solche Armesündermiene aufzustecken, alter Freund, so oder ähnlich ist’s hier uns allen einmal gegangen. Und weil wir gerade bei diesem Gegenstand sind, so lassen Sie sich’s ein für allemal gesagt sein: wenn Sie je wieder in Noth gerathen und wissen nicht, wovon Sonnabends Ihr Kostgeld zahlen, so warten Sie nicht erst, bis Ihnen das Messer an der Kehle sitzt, sondern reden bei Zeiten ein offenes Wort! Nur keine falsche Scham! Die ist nicht angebracht unter so alten Kameraden! Abgemacht?“
Er reichte Erwin die Hand, die dieser mit beiden Händen hastig umschloß und heftig drückte und immer wieder drückte, während ihm die Augen übergingen. Voll Rührung sah Schuckmann in das schmale, vor innerster Erregung zuckende Gesicht des Freundes, dann machte er sich los und trat rasch an das Bett seines Knaben. Behutsam beugte er sich über ihn und küßte ihn auf die Stirne.
In diesem Augenblick trat Frau Libby wieder ins Zimmer und stellte einen Leuchter auf den Tisch. Ihr Gatte zündete die Kerze an und sagte: „Kommen Sie, Buschenhagen, es ist Zeit! Morgen ist auch noch ein Tag.“ Und als Erwin ein erstauntes Gesicht machte, setzte er hinzu: „Sie schlafen bei uns, natürlich! Freilich, ein Prunkgemach ist’s nicht, das wir Ihnen zur Verfügung stellen können, aber ein schlechter Kerl, der mehr giebt, als er hat!“
Er ging voran, während Erwin, der jede Einrede unterließ, die ja doch nicht ernst gemeint gewesen wäre, der Gattin seines Freundes mit herzlichem Dank die Hand reichte. Sie durchschritten die Küche; von dieser führte eine schmale niedere Thür in eine kleine Kammer, die nur gegen den Flur ein winziges Fenster besaß. Hier hatte Libby in aller Eile mit Hilfe eines überzähligen Strohsackes und einiger Decken und Kissen ein Lager zurechtgemacht. Schuckmann stellte das Licht auf den Holzstuhl, der das ganze Mobiliar des Raumes ausmachte, und sagte: „Gute Nacht, Buschenhagen! Ein Paradebett ist’s nicht, aber ein alter Soldat wie Sie kann schon darauf kampieren. Gute Nacht!“
Noch ein Händedruck und Schuckmann ging. Erwin stand
eine Weile da, starr auf die Thür blickend, durch die der Freund
verschwunden war, und unwillkürlich beide Hände aufs Herz
pressend. Dann fing er an, sich zu entkleiden. Noch war er damit
nicht ganz zu Ende gekommen, als ihm schon die Augen zufielen.
Todmüde sank er in die Kissen.(Fortsetzung folgt.)
Asthma.
Mehr noch als Speise und Trank ist die Luft uns unentbehrliches Lebensbedürfniß, und schlimmer als jeglicher andere Hunger wird der Lufthunger von uns empfunden. Bekanntlich ist es Aufgabe der Lungen, die atmosphärische sauerstoffreiche und kohlensäurearme Luft dem Organismus zuzuführen und durch den Vorgang der Athmung zu bewirken, daß das Blut mit dem ihm nothwendigen Sauerstoff gesättigt wird. Wenn aus irgend welchem Grunde die Lungen in ihrer Arbeit gehindert sind, so giebt sich eine Reihe von bedrohlichen Beschwerden kund, welche durch den Luftmangel verursacht sind. Solcher Lufthunger bildet auch das Charakteristische jener Anfälle von Athemnoth, welche, plötzlich und unerwartet auftretend, sich zu qualvoller Höhe steigern, nach kürzerer oder längerer Dauer plötzlich wieder verschwinden und eine ernste, zuweilen sogar das Leben bedrohende Erkrankung darstellen – das Asthma.
Wer zum ersten Male einen Asthmaanfall mit ansehen hat, dem haftet das Bild des Jammers noch lange in der Erinnerung, und wer selbst das Unglück hatte, den verzweifelten Kampf um Luft zu ringen, der vergißt diese Stunden gewiß sein Lebelang nimmer. Da wird eine Mutter des Nachts aus dem Schlafe geweckt, ihr Kind sei plötzlich aufgewacht und schwer krank. Sie eilt blitzschnell an das Bettchen. Es sitzt schon aufrecht, das arme, etwa fünf Jahre alte, blondlockige Mädchen. Aber wie verändert sind seine Gesichtszüge! Die höchste Angst malt sich in dem verzerrten Antlitz, seine Farbe ist blaß, die Stirn mit kaltem Schweiße bedeckt, aus den starr aufgerissenen Augen perlen schwere Thränen, die Lippen sind bläulich gefärbt und stöhnende Schmerzensrufe entringen sich ihnen, während die Nasenflügel heftig spielen. Das Halstuch hat das Kindchen abgerissen, und wie es mit zurückgebogenem Kopfe dasitzt, die kleinen Arme auf den Bettrand aufgestützt, sieht man unter dem Nachtkleidchen die Brustmuskeln heftig arbeiten, den Bauch stark eingezogen und hört schon von
[777][778] weitem ein Zischen, Pfeifen und Schnurren, das die gestörte Athmung in den Lungen bekundet. Unwillkürlich holt die Mutter selbst tief Athem. Wie gerne möchte sie auch dem Kinde dazu helfen, daß die Luft in dem kleinen Brustkasten weiter vorwärts dringe – doch nein, über eine bestimmte Stelle kommt sie nicht hinaus! Die Qual des kleinen Wesens dauert noch eine Viertelstunde, vielleicht noch länger – für die angstvoll Harrende eine Ewigkeit – bis endlich, nachdem wohl unterdessen auch der Arzt gekommen ist und die nöthigen Hilfsmaßregeln eingeleitet hat, die stürmischen Erscheinungen nachlassen, die Luft plötzlich wieder mit Macht in die Luftröhrchen und Lungenbläschen eintritt und das Kind gerettet ist. Die Schrecken dieser Nacht wird eine Mutter wohl nicht so bald vergessen; wenn sie nur nicht über kurz oder lang wiederkehren!
Ein anderes Bild, nach der Natur gezeichnet! Ein Mann, auf der Höhe des Lebens, scheinbar strotzend von Gesundheit, nur in den letzten Jahren etwas zu fettleibig geworden, merkt, daß ihm das schnelle Gehen sauer wird, daß er beim Treppensteigen leicht außer Athem kommt und beim Bücken rasch die Luft verliert. Das hat ja keine große Bedeutung, darum wird doch in gewohnter Weise wohlgelebt. Nun aber eines Nachts, der Morgen graut bereits, da bricht das Unglück herein. Urplötzlich erwacht der Mann aus dem Schlafe mit dem Empfinden starker Beklemmung auf der Brust, mit großer Athemnoth und unsäglichem Angstgefühl. Luft, Luft! Im Bette kann er es nicht aushalten. Nach Luft schnappend, setzt er sich auf einen Stuhl und sucht, die Arme aufgestützt, mit aller Macht eine leichtere Athmung zu gewinnen. Vergeblich! Das Einathmen erfolgt rasch, der Brustkasten wird gewaltsam in die Höhe gezogen, aber das Ausathmen dauert lange und ist mühevoll, die Bauchmuskeln ziehen sich stark zusammen, das Pfeifen und Rasseln auf der Brust ist weithin vernehmbar. Noch hat der Gequälte die Kraft, ans Fenster zu stürzen, er reißt es auf, die Außenluft dringt frisch und kräftig ins Zimmer, aber leider nicht so in die Lungen, die ihrer bedürfen. Das Gesicht ist unterdessen blauroth geworden, der Körper kalt, mit Schweiß bedeckt, das Herz pocht in rasch aufeinanderfolgenden Schlägen, der Puls ist sehr beschleunigt und schwach. Dieser traurige Zustand dauert lange bange Stunden, bis, im glücklichen Falle, Besserung eintritt, zäher schleimartiger Auswurf entleert wird und die Luftzellen wieder ihre normale Thätigkeit aufnehmen. Eine große Gefahr ist für jetzt über Dein Haupt hinweggezogen, Du gebrochener Mann, der Du mit einem Schlage erfahren hast, welch schwächliches Ding Dein scheinbar riesiger Körper ist. Aber ich muß Dir meine aus vielfältiger Erfahrung geschöpfte Warnung zurufen: „Dieser glücklich überwundene Asthmaanfall wird nicht Dein letzter sein!“
Mit diesen zwei flüchtig angedeuteten Fällen haben wir auch die Erscheinungsweisen von zwei Hauptgruppen des Asthmas vorgeführt, des bronchialen und des cardialen Asthmas. Bei dem ersteren gehen die plötzlichen Anfälle der Athemnoth von den Lungen und den kleinen Verzweigungen der Luftröhre aus, während bei dem cardialen Asthma der Anlaß durch Erkrankung des Herzens oder der arteriellen Blutgefäße gegeben ist. Als Ursache des Bronchialasthmas wird ein plötzlicher Krampf der feinen Luftröhrenzweigchen angenommen oder eine plötzliche Verstopfung ihrer Lichtungen infolge von Schwellung der Schleimhaut und Ansammlung eines besonders zähe beschaffenen Schleimes, Hindernisse, welche den Zutritt der Luft zu den Lungenbläschen sowie den Luftaustritt aus denselben erschweren und dadurch all die beängstigenden Qualen verursachen, welche wir oben geschildert haben. Den unmittelbaren Anlaß zur Auslösung der stürmischen Erscheinungen des Bronchialasthmas giebt bei den dazu veranlagten Personen zumeist ein heftiger Reiz, welcher die Schleimhäute der Athmungsorgane trifft. Als solche Reize sind anzuführen Einflüsse wechselnder Temperatur, feuchtkalten Wetters, welche Erkältungen zu veranlassen geeignet sind, Verunreinigungen der eingeathmeten Luft durch staubartige fremde Körper wie Metall, Holz, Kohle, auch Blütenstaub; Ueberanstrengung der Athmungsorgane durch lautes anhaltendes Sprechen, Singen, Schreien oder Uebermüdung der Lungen durch ungewöhnlich starke Fußtouren. Zuweilen sind es Allgemeinerkrankungen, welche in dem Körper eine Neigung für Bronchialasthma hinterlassen, so die Masern und der Keuchhusten bei Kindern; zuweilen ist die Veranlagung auch eine ererbte und man findet in einer Familie mehrere Mitglieder, welche leicht asthmatisch werden.
Die Anfälle selbst treten plötzlich auf, und zwar entweder ohne jeglichen Vorboten mit aller Macht, wie ein Sturm, der jäh über eine friedliche Landschaft hereinbricht, oder es wird ihr Nahen durch gewisse Anzeichen angedeutet, wie durch öfteres Niesen, Thränen der Augen, Gefühl von Kitzel im Kehlkopfe, Räuspern und Husten. Daß die Asthmaanfälle so häufig zu nächtlicher Zeit und dann zumeist nach Mitternacht und in den ersten Morgenstunden sich einstellen, hat wohl darin seinen Grund, daß im Schlafe leichter jene Ansammlung des zähen Schleimes in den Bronchien (Luftröhrenverzweigungen) stattfindet, die den Luftwechsel in den Athmungsorganen behindert. Die Anfälle sind von verschiedener Häufigkeit und Dauer. Sie können täglich die Qual der Kranken bilden, sie können aber auch freie Zwischenräume von Wochen, Monaten oder noch längerer Zeit gönnen, und wie sie oft nur einige, allerdings schreckensvolle Minuten anhalten, so können sie sich auch auf mehrere Stunden erstrecken.
So furchtbar ein Anfall für den Kranken ist und so beängstigend er für die Umgebung erscheint, das Aeußerste ist doch nur selten zu befürchten, ein tödliches Ende erfolgt im Anfalle selbst nur höchst vereinzelt. Auch sind die Aussichten auf Beseitigung des Leidens, auf Besserung oder Heilung nicht allzu schwach. Sie sind um so günstiger, wenn es sich um ein noch jugendliches Individuum handelt oder um einen Erwachsenen von sonst kräftiger Natur und guter Körperernährung, wenn ferner die Umstände, welche das Asthma hervorgerufen haben, bekannt und solcher Art sind, daß sie vermieden oder beseitigt werden können.
Welche Heilmittel giebt es nun gegen das Bronchialasthma? Die Frage nach den „Heil“mitteln wird von dem Laien mit Vorliebe gestellt und aus leicht begreiflichen Gründen als die Hauptsache angesehen. Die Beantwortung ist aber im Rahmen einer gemeinfaßlichen Darstellung außerordentlich schwierig, ja sie kann geradezu Unheil stiften. Denn, wie ich so oft betone, nur der Arzt, welcher jeden einzelnen Fall genau beobachtet und sich über die Erscheinungen desselben strenge Rechenschaft geben muß, kann auch ermessen, wie und durch welche Mittel er helfend, heilend, mildernd, beruhigend einzugreifen vermag. Während des asthmatischen Anfalls selbst wird er am ehesten zu narkotischen Mitteln seine Zuflucht nehmen, welche Beruhigung der Nerven und Abnahme der Schmerzempfindung herbeiführen. Der Arzt, aber auch nur dieser, ist dadurch oft imstande, einen beruhigenden Schlaf zu veranlassen, welcher den Asthmaanfall zum Stillstand bringt. Seit alter Zeit ist auch bekannt, daß das Einathmen gewisser Dämpfe von pflanzlichen Stoffen eine sehr beruhigende Wirkung auf den asthmatischen Zustand ausübt und die Beschwerden des Anfalls zu lindern vermag. Es werden in dieser Hinsicht gewisse Giftpflanzen besonders gerühmt, so der gemeine Stechapfel (Datura Stramonium), die Tollkirsche (Atropa Belladona); man zündet Blätter davon auf einem Teller an, läßt sie verglimmen und den Dampf von dem Kranken einathmen. Die Industrie, besonders die hochentwickelte und weit verbreitete der Geheimmittel, hat sich des Gegenstandes bemächtigt und aus jenen Blättern Cigaretten fabriziert, welche gegen Asthma angepriesen werden. In der That kann das Rauchen von 1 bis 2 Stück Cigaretten aus den richtigen Pflanzenblättern ganz treffliche Dienste thun und ich kenne selbst asthmatische Damen, die nie ohne wohlgefüllte Cigarettentasche ausgehen. Bei Personen, die gewöhnlich keinen Tabak rauchen, übt zuweilen schon das Rauchen einer Cigarre oder einer Pfeife gemeinen Tabaks günstig auf Abkürzung des asthmatischen Anfalls. Zu gleichem Zwecke werden auch Räucherungen mit Dämpfen von verbrennendem Salpeterpapier oder Arsenikpapier vorgenommen. Ein einfaches, unschädliches und oft Nutzen bringendes Mittel, welches auch der Laie anwenden kann, ist das Einathmen der zerstäubten Wasserdämpfe einer Lösung von je 1 Gramm doppeltkohlensaurem Natron und Kochsalz auf 200 Gramm Wasser. Man kann die Zerstäubung mittels des bekannten Gummiballons bewerkstelligen, welcher zum Pflanzenbespritzen in Gebrauch ist.
Je nach dem vorhandenen Grundleiden und der Körperverfassung des Kranken wird eine ärztliche Verordnung bestimmter Medikamente nothwendig sein, um die Wiederkehr der Anfälle zu verhüten. Ebenso werden auch in gewissen Fällen Brunnenkuren Nutzen stiften. Bei Personen, welche sehr leicht an katarrhalischen Erkrankungen der Schleimhäute des Athmungsapparates leiden, [779] wird eine Trinkkur an den warmen Quellen von Ems von günstigem Einfluß sein. Bei vollsaftigen, fettleibigen Leuten wird eine Kur mit den ableitenden Glaubersalzwässern von Marienbad und Karlsbad eine Reihe von Gelegenheitsursachen entfernen, welche sonst Reize für das Auftreten des Asthmas bilden. In Fällen, wo asthmatische Zustände mit Erweiterung und Veränderung der Lungenbläschen, also mit Lungenemphysem, verbunden sind, wird man verdünnte und verdichtete Luft zur Athmung verwerthen, wie das am besten in gut eingerichteten pneumatischen Kammern besorgt werden kann. Wohlthätig wirkt auch für solche Kranke während der Sommerszeit der Aufenthalt in höher gelegenen, mit Fichtenwäldern ausgestatteten Gegenden, wo die reine, sauerstoffreiche Luft ein besonderes Gefühl von Wohlbefinden erregt. Ebenso vortheilhaft ist es, wenn die Verhältnisse es gestatten, den Winter in einem südlichen wärmeren Klima zu verbringen, wo die Schädlichkeiten der rauhen Jahreszeit geringer und die Anlässe zu Erkältungen für den Kranken seltener sind. Außerordentlich wichtig aber ist für derartig Leidende, däß sie eine sorgfältige Diät beobachten, jedes Uebermaß im Essen und Trinken vorsichtig vermeiden. Alle schwer verdaulichen Speisen, alle blähenden Gerichte sind von der Tafel zu verbannen; das Abendessen muß äußerst mäßig sein, am besten bloß aus Bouillon, Milch oder weichen Eiern bestehen und darf nicht zu kurze Zeit vor dem Schlafengehen genossen werden; für einen regelmäßigen Gang der Verdauung ist besondere Sorge zu tragen. Bei rauhem Wetter und des Winters bei großen Kältegraden ist das Ausgehen ins Freie zu unterlassen und dafür das gleichmäßig warm gehaltene Zimmer zu hüten. Das Schlafgemach soll reichlich Raum und frische, jedoch nicht zu kalte Luft bieten. Im Anfalle selbst suche man dem Kranken durch Zufächeln von Luft, durch Waschen von Stirn und Gesicht mit Kölnischem Wasser, bei großer Schwäche und Mattigkeit durch Verabreichen von kleinen Mengen kräftigen Weines oder starken schwarzen Kaffees Erleichterung zu verschaffen, lasse aber schleunigst den Arzt holen. Gegen den Lufthunger und die Athemnoth wirkt zuweilen ein von sachverständiger Hand geübter andauernder Druck auf den Brustkorb, wodurch die Ausathmung unterstützt wird. Zu demselben Zwecke ist für Asthmatiker, welche an häufigen, lange dauernden Anfällen leiden, ein Athmungsstuhl empfohlen worden, in welchem der Kranke ohne fremden Beistand mit seinen eigenen Armen imstande ist, seinen Brustkorb rhythmisch bei jeder Ausathmung zu komprimieren (siehe „Gartenlaube“ 1888, Nr. 37).
Die zweite Form des Asthmas, das cardiale Asthma, nimmt vom Herzen seinen Ausgang, wenn dieses infolge von übermäßiger Fettansammlung oder Fettwucherung, von Uebermüdung, von Erkrankung seiner Muskulatur oder der Herzklappen von Verknöcherung der Blutgefäße nicht mehr genügend leistungsfähig ist, um die wichtige Arbeit des Blutkreislaufes in der streng geregelten Weise zu vollbringen. Die Stauungen, welche hierdurch im Kreislaufe des Blutstromes, besonders im Gebiete der Lungengefäße, eintreten, stören in empfindlicher Weise den Gaswechsel in den Lungen, geben zu Schwellungen in den feinen Bronchien Anlaß und verursachen Reizungen dieser Schleimhäute, die den asthmatischen Anfall hervorrufen. Daß ein solcher dem Kranken droht, darauf deuten gewöhnlich schon einige Zeit früher gewisse Vorboten, welche die ungenügende Herzarbeit verrathen, so besonders Kurzathmigkeit bei längerem Gehen oder gar Laufen, Athemnoth beim Treppensteigen oder Heben selbst geringfügiger Lasten, Beklemmung auf der Brust und Herzklopfen bei leichter Erregung, Blutandrang gegen den Kopf, Schwindelempfindung etc. Doch kommt der Anfall selbst unerwartet und plötzlich, er nimmt auch in der Heftigkeit der Beschwerden denselben stürmischen Verlauf wie beim bronchialen Asthma, birgt aber noch größere Gefahren, denn das geschwächte Herz droht, wenn an dasselbe erhöhte Aufgaben herantreten, denen es nicht gewachsen ist, zu – erlahmen.
Darum ist es auch beim cardialen Asthma von besonderer Wichtigkeit, im Anfalle auf das Herz selbst mit aller Macht anregend und kräftigend zu wirken, es zu verstärkter Arbeit anzuspornen. Es geschieht das, indem man starke Hautreize ausübt, auf die Brust Senfteige oder geriebenen Meerrettig legt, die Hände und Füße mit Bürsten bearbeitet, trockene Schröpfköpfe auf die Herzgegend setzt, dabei dem Kranken von Zeit zu Zeit einen Schluck stärksten Weines oder Cognacs, schwarzen Kaffees oder dgl. reicht, bis der Arzt eintrifft und die nöthigen Herzmittel verschreibt, unter denen Digitalis und Coffeïn eine Hauptrolle spielen. Ist die Gefahr des Augenblickes vorbei, dann heißt es, der Wiederkehr der asthmatischen Anfälle möglichst vorbeugen. Dazu gehört außer dem bereits angegebenen Kurverfahren vor allem der ernste Wille des Kranken, eine entsprechende, vom Arzte genau zu regelnde Lebensweise zu führen, durch zweckmäßige Ernährung und Bewegung den Herzmuskel zu kräftigen, durch strenges Meiden aller Schädlichkeiten jede besondere Erregung der Herznerven hintanzuhalten, jeden stürmischen Antrieb des Blutkreislaufes zu verhindern. Nur so kann es gelingen, den Gefahren zu begegnen, welche das Herzasthma sonst unabweisbar mit sich bringt, und das Leben der Kranken nicht nur zu verlängern, sondern auch recht erträglich zu gestalten.
Mit der Schilderung dieser beiden Hauptgruppen des Asthmas haben wir aber keineswegs alle Arten desselben erschöpft. Es giebt vielmehr noch eine ganze Reihe von Ursachen, welche asthmatische Anfälle hervorrufen können, wenngleich nicht so häufig und nicht in so heftigem Grade: Störungen der Verdauung, Schwäche des Magens und Darmes, abnorme Gasbildung, und mancher Kranke weiß ganz genau anzugeben, daß der Genuß seiner Lieblingsspeise von schwer verdaulicher Beschaffenheit, etwa ein Gericht hartgekochter Eier oder Hummersalat, vor dem Schlafengehen den nächtlichen Anfall von Asthma verschuldet hat. Wenn das Grundleiden gehoben wird, hat auch die Athemnoth ihr Ende. Zuweilen sind, und auf diese Fälle ist erst in jüngster Zeit besonders das Augenmerk gelenkt worden – Erkrankungen der Nasenschleimhaut gewisse Wucherungen, Auswüchse, Polypen derselben der Ausgangspunkt der asthmatischen Anfälle, welche ihr Ende erreichen, wenn die Nasenkrankheit durch örtliche Behandlung geheilt worden ist. Wiederum in anderen Fällen tragen nervöse Störungen die Schuld, allgemeine Nervenschwäche, verursacht bei Mädchen und Frauen durch Blutarmuth, Bleichsucht, sitzende Lebensweise und Stubenluft, bei Jünglingen und Männern durch Mißbrauch von starkem Kaffee und Thee, durch unmäßiges Rauchen schwerer Tabaksorten, durch Ueberanstrengung oder Ausschweifung verschiedener Art. Es kommen infolge solcher Nervosität böse Anfälle von Brustbeklemmung vor, welche eine gleich qualvolle Erscheinung wie jedes andere Asthma bieten, aber allerdings günstigere Aussichten für Besserung und Heilung gestatten, sobald nur die Nerven im allgemeinen gesundet sind.
Eine besondere Form des Asthmas bildet das Heufieber, ein Leiden, welches dazu veranlagte Personen alljährlich zu bestimmter Zeit befällt, zumeist wenn die Heuernte anfängt, wenn der größte Theil der Wiesenpflanzen zu blühen beginnt, im Monat Mai und Juni, aber auch im August und September. Die Anfälle treten ganz plötzlich auf, mauchmal aber werden sie auch mehrere Tage vorher angekündigt durch häufiges Niesen, Schnupfen, Thränen der Augen, Husten und Kitzel im Kehlkopfe. Meist dauern die Beklemmungsanfälle drei bis vier qualvolle Wochen, von kurzen Zwischenpausen unterbrochen, und bringen die Kranken in ihren Körperkräften und ihrer Gemüthsstimmung sehr herunter. Nicht bloß die Ausdünstungen des Heues lösen den Anfall aus, wie man nach dem Namen annehmen könnte, sondern auch die Düfte von blühenden Wiesenpflanzen; ja schon die über ein Roggenfeld streichende Luft kann dazu Anlaß geben. Man erklärt die Entstehung des Leidens damit, daß der Blütenstaub gewisser Pflanzen, der Luft beigemengt, auf der Nasenschleimhaut bestimmter dazu veranlagter Personen Reizzustände hervorrufe, die, auf die Schleimhaut der Luftröhrenverzweigungen sich fortpflanzend, Schwellung derselben veranlassen und dadurch zu Beklemmungsanfällen mit Erstickungsgefühl führen. Versuche eines englischen Arztes, welcher durch künstliche Beimengung von Blütenstaub verschiedener Pflanzen unter die Einathmungsluft die Erscheinungen des Heufiebers hervorrief, haben jene Anschauung bestätigt, auf welche auch das Heilverfahren begründet wird. Man läßt die zu Heufieber geneigten Personen, meist solche, welche an Landluft nicht gewöhnt sind und eine kranke Nasenschleimhaut haben, das Zimmer hüten oder schreibt ihnen einen Ortswechsel, besonders den Aufenthalt am Meeresstrande vor. Wenn dies nicht möglich ist, wird die Nase durch Verstopfung der Nasenlöcher mittels Watte gegen die schädliche Einathmung geschützt; auch örtliche Behandlung der Nasenschleimhaut ist zuweilen nützlich.
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Alle Rechte vorbehalten.
Weinlese im Rheingau.
„Am Rhein, am Rhein, da wachsen uns’re Reben;
Gesegnet sei der Rhein!“
Das köstliche Lied des alten Wandsbecker Boten, wer von uns hat es nicht schon mitempfunden, mitgesungen, wenn ihm des Rheines flüssiges Gold den Sinn erhob und die Zunge löste? Nirgends aber stimmt man doch so fröhlich, so überzeugungsvoll ein als auf einer Rheinfahrt selbst, nach welcher das Herz des Deutschen trachtet wie das des frommen Muselmanns nach der Pilgerfahrt gen Mekka. Da ist nichts als Freude: Freude an dem einen großen deutschen Vaterlande, dessen Ruhm und Herrlichkeit aus dem Kampfe um den Rhein sieghaft emporstieg, Freude an der Natur, Freude an dem Leben selbst, welches in buntschillernden Farben den Wallenden umspielt, Und der Winzer, der droben im Weinberg einen Augenblick von seiner mühevollen Arbeit wegschaut und herabspäht auf das bewimpelte Schiff, darf sich sagen, daß auch er und sein Pflegling, der Weinstock, ein wesentliches Verdienst um all das Vergnügen da unten haben.
Schön wie die ganze Landschaft erscheinen auch sie dem Auge des Wanderers, diese Rebengärten, die sich so keck an den steilen Berghängen emporwinden. Und zweifellos wird ihr Reiz wesentlich erhöht durch den Gedanken an das Köstliche, was sie spenden. Ob freilich der Weinberg so ganz in der Nähe betrachtet auch diese malerische Anmuth bewahrt? Da erkennt man doch zu deutlich die Spuren der unendlichen Mühe, welche nothwendig ist, um die rheinische Erde zu zwingen, daß sie ihren edelsten Schatz hergebe. Nicht als ein freies, üppiges Gewächs, lianenartig mit armdicken Aesten von Baum zu Baum sich schlingend, gedeiht hier die Rebe, wie z. B. in jenen Ländern an der Südküste des Kaspischen Meeres, von wo sie nach manchen Gelehrten ihren Siegeszug über die Erde angetreten hat. Recht kleinbürgerlich bescheiden läßt sie sich an Pfählen zu mäßiger Höhe aufziehen und ist herzlich froh, wenn der deutsche Winter ihren Erzieher nicht zwingt, ihr im Frühjahr als grausamer Arzt das Leben durch Amputation der erfrorenen Glieder zu retten.
Die Rebe ist eben kein einheimisches deutsches Gewächs. Durfte sich doch der Römer Tacitus die schnöde Bemerkung gestatten, daß die deutsche Erde vom Herbst weder den Namen noch Gaben kenne und daß dort niemals ein ordentlicher Obstbaum, geschweige denn ein Weinstock zu reifen vermöge! Und auch am Rheinstrom hat die Rebe von dem Gebiete, welches sie sich allmählich erobert hatte, gerade in unserer neuesten Zeit erhebliche Theile wieder eingebüßt. Bis ins Weichbild der Stadt Köln reichte zu Anfang dieses Jahrhunderts der Weinbau; jetzt mag das schon manchen Bürger der rheinischen Großstadt wie ein Märchen anmuthen, Allerdings bauen noch einige Dörfer nördlich von Bonn, am Abhange des fruchtbaren Vorgebirges, einen trinkbaren Rothwein, der sogar eines sehr berühmten Sohnes Vater ist – die vielgepriesenen Kapweine (vom Kap der guten Hoffnung) stammen großentheils von Reben her, welche die Holländer bei ihren Kriegszügen ins Erzstift Köln aus dieser Gegend mitnahmen. Immerhin aber bleibt die Nordgrenze des Weinbaus am Rheine heutzutage um einen ganzen Breitengrad hinter Schlesien zurück, wo die Rebe von Grüneberg nicht bloß Hunderten von Kranken Erquickung und Genesung in der Traubenkur bietet, sondern sogar einen vielberufenen Wein liefert, den einem bösen Spottliebe zufolge selbst der Teufel nur trinken könnte, wenn er ein geborener Schlesier wäre. Die welfischen Herzöge zogen sich vordem zu Hitzacker im Lüneburgischen ihren Mundwein, und die Kurfürsten zu Brandenburg sind beim Safte jener Reben, welche fleißige Dominikaner am Kreuzberg bei Berlin angebaut hatten, oftmals „sehr fröhlich gewest“.
Der Geschmack ist eben mit der Zeit immer anspruchsvoller geworden, und dem muß sich auch die Rebe fügen. Der Wein ist in Deutschland heutzutage weit davon entfernt, das tägliche Getränk des Volkes zu werden, wie es Fürst Bismarck einmal gewünscht hat. Sein älterer einheimischer Nebenbuhler, das Bier, hat ihm gewaltige Strecken abgewonnen, und seine Pfleger sind darauf angewiesen, in der Herausarbeitung der Qualität zu ersetzen, was er an Quantität eingebüßt hat. Und das gelingt ihnen auch, trotz aller Tücken und Nücken der nicht immer besonders gütigen Mutter Natur. Mehr Wein mögen die alten Ritter getrunken haben als wir heutzutage, wo der statistische Durchschnittsdeutsche sich mit knapp sechs Litern jährlich – man glaubt es kaum! – begnügt; aber solchen Wein, wie ihn heute der Winzer in den besseren Lagen am Rheine zieht, hat wahrscheinlich im Mittelalter nicht einmal der Kaiser getrunken.
Es zeigt sich das schon in der Unmenge von Sorten – besser „Lagen“ – die man heute unterscheidet, und zwar keineswegs bloß auf dem Zettel der Flasche. Eine frühere Zeit faßte schlechtweg alles als „Rheinwein“ zusammen, was von Bacharach, damals dem Hauptweinhandelsort am Rhein, zum Versand kam. Jetzt unterscheidet man anders; und wenn auch Rheinhessen, die [781] bayerische Rheinpfalz und weiter herunter so mancher Gau, das Nahethal, der Bopparder Hamm, die altberühmten vier Thäler: Bacharach. Steeg, Manubach und Diebach, die Thäler der Mosel und Ahr und unzählige andere, einen wahrhaft köstlichen Tropfen spenden – das Herz des Weinkenners schlägt doch am höchsten, wenn er die vornehmsten Lagen des Rheingaus nennen hört.
Da liegen sie zusammen – Rauenthal, Steinberg, Hochheim, Geisenheim, Johannisberg, Rüdesheim, Aßmannshausen, der Marcobrunner, der die Ironie besitzt, sich nach einem einfachen Wasserbrünnlein zu benennen, – alle zusammen auf einem Gebiet von kaum acht bis zehn Quadratmeilen. Der Wein ist es, der dort Leben und Fühlen der ganzen Bevölkerung beherrscht; ein guter Jahrgang ist das Glück des Volkes, ein böser sein Unglück – das äußert sich so lebhaft wie Landestrauer und Viktoriaschießen.
Man begreift das leicht, wenn man sich vergegenwärtigt, daß z. B. die eine Gemarkung Rüdesheim etwa 880 Morgen Reben baut, und daß man bei einem „vollen Herbste“ auf jeden Morgen ein Stückfaß, d. h. 1200 Liter besten Weines rechnet. Nun gehört allerdings ein solcher voller Herbst beinahe in die Reihe jener fabelhaften Vorstellungen, bei denen der Wunsch der Vater des Gedankens ist, aber auch ohne dieses Ideal zu erreichen, kann ein gutes Jahr den Ausfall von vier bis fünf mittelmäßigen, ja schlechten Jahren wett machen; und dann entfaltet sich zur Weinlese ein unendlich fröhliches, reges Leben, wie wir es heuer mitmachen durften.
Schon mehrere Wochen vor Beginn der Lese sind die Weinberge geschlossen worden, zum Schutze gegen menschliche Unachtsamkeit und Habgier. Den geflügelten und den vierfüßigen Traubenliebhabern muß man mit schärferen Mitteln zu Leibe gehen; die schlimmsten unter ihnen sind Reineke Fuchs, dem bekanntlich nur die besten, reifsten Trauben nicht „zu sauer“ sind, und sein noch gefräßigerer Neffe, Grimbart der Dachs. Wenn Goethe in seiner köstlichen Schilderung des St. Rochusfestes bei Bingen erzählt, wie die frommen Wallfahrer einen eben erwischten Dachs umbrachten, und sich dabei für das „arme schuldlose Thier“ ins Zeug legt, so diene dazu als heiteres Belegstück, daß dieses „schuldlose Thier“ gut und gern seine zwölf Pfund Trauben täglich vertilgt.
Daß die Lese beginnen darf, wird durch Läuten einer besonderen Glocke verkündet, die auch wiederum ertönt, wenn die Lese unterbrochen werden soll, was der strengen Regel zufolge zu geschehen hat, sobald Regen eintritt; denn in der Nässe gelesene Trauben liefern selten Gutes, wie mancher nothgedrungen naß gelesene Jahrgang mit betrübender Deutlichkeit bekundet. Nun beginnt in den Weinbergen – über Reihenfolge, Anfang etc. der Lese entscheidet ein besonderer Ausschuß – jenes bunte, bewegte Treiben, welchem auch die gleichmacherische Neuzeit noch nicht alle Eigenart hat rauben können. Die Masse der Lesenden setzt sich freilich auf den weitläufigen Besitzungen, die jetzt den größten Theil der rheingauischen Weinberge umschließen, aus bezahlten Leuten zusammen; es mag erlaubt sein, zu erwähnen, daß eine Schnitterin außer Essen und Trinken durchschnittlich 1½ Mark, ein „Legelträger“, wie wir deren einen mit den echten ausgearbeiteten Zügen des älteren rheingauer Bauern links auf unserem Lesebild sehen, besseres Essen und 2½ Mark erhält. Aber auch jede freiwillige Hilfe ist willkommen.
Hat die Herrschaft, wie natürlich bei gutem Lesewetter, Besuch von auswärtigen Verwandten und Freunden, so legt auch die zarte Dame aus der Großstadt mit fröhlicher Begier Hand an und schreibt dann wohl, wie es eine schöne Leipzigerin heuer that, nach Hause: „Denkt Euch, wirkliche Trauben haben wir abgepflückt!“ Musik und Gesang, wohl auch ein Tänzchen erhöht Arbeits- und Lebenslust, dazwischen wird fleißig getrunken. Denn wie sagt doch der Alte von Weimar von den Rheingauern, die er vor der St. Rochuskapelle so schalkhaft belauschte? „Niemand schämt sich der Weinlust; sie rühmen sich einigermaßen des Trinkens!“ Weniger löblich ist, daß etwelche den höchsten Beruf der Traube verkennen und unter dem Lesen eine beträchtliche Menge davon – essen; der Wunsch, solches zu verhüten, mag immerhin mitwirken, wenn neuerdings manche Besitzer ihren Winzern während der Lese Pfeifen, Tabak und Cigarren freigebigst austheilen. Denn so ein kleines Rheingauer Rieslingträubchen – vier Fünftel der Weinreben im Rheingau sind Riesling – ist schneller verspeist als ersetzt. Wird doch in jenen feinsten Lagen, wo drei Lesen nacheinander sind, die erste, köstlichste „Auslese“ („Ausbruch“) aus einzelnen Beerchen gewonnen, die mit Nadeln aus der Traube ausgepickt werden!
Weinlese und Mostkeltern gehen neben einander her. Meist sogleich an Ort und Stelle werden die Trauben zu „Maische“ zermahlen, dann geht es hinab die Pfade und Straßen, mit Juchhei und Jubel; die stämmige Wagenlenkerin auf unserer Anfangsvignette mag sich vorsehen, daß sie über dem allgemeinen Vergnügen nicht die Herrschaft über ihr Gefährt verliere, denn auch die Fahrwege sind hier zu Lande steil. Die steilsten Pfade freilich vermag nur der Mensch zu erklimmen; in der Rüdesheimer Gemarkung giebt es Gefälle bis zu 40 Grad! Wer da draußen im Lande behaglich sein Schöppchen trinkt, sollte sich doch zuweilen vorstellen, was es heißt, diese harten, steilen Porphyrwände sommerlang im glühenden Sonnenschein, winters über glatten Reiffrost und Schnee Stufe um Stufe zu erklimmen, den Dünger hinaufzuschleppen und – noch schwerere Arbeit – hinabzugehen mit einem Legel Most auf dem Rücken, welches alles in allem seine 120 Pfund wiegt!
Gekeltert wurde vielfach noch bis weit in unser Jahrhundert hinein ganz nach biblischer Art, durch Stampfen mit den Füßen; die Stiefel, welche dabei zur Verwendung kamen, wurden [782] von Lese zu Lese sorgfältig bewahrt. Von da ist ein weiter Schritt bis zu der heutigen Vervollkommnung des mechanischen Kelterns, der Centrifuge und der hydraulischen Kraftverwendung; der Most, welcher unsern Künstler begeisterte, ist, wie Figura zeigt, noch unter einem richtigen „Kelterbaum“ älterer, einfacher Bauart herausgeflossen, wie sie im Rheingau noch viel im Gebrauch sind. Sobald der Most unter der Kelter herausfließt, wird sein Zuckergehalt bestimmt; das ist die erste und wichtigste Handhabe zur Beurtheilung des Jahrganges. Meist verwendet man die sogenannte Oechslesche Wage, wie sie der alte Herr und sein Genosse auf unserem Kelterbilde rechts eben handhaben; der Herr hat ein volles Recht, überlegen und selbstbewußt dreinzublicken, denn möglicherweise reicht seine Wage gar nicht: nicht alle Exemplare sind bis auf einen so hohen Zuckergehalt vorgesehen, wie er heuer in den besten rheingauer Lagen erzielt wurde – bis zu 120 Grad Oechsle, durchschnittlich bis zu 90, während das Ergebniß gewöhnlich von 75 bis höchstens 95 schwankt. Von der Kelter kommt der Most zur Gährung in offene Fässer in besonderen, bis zu 14 bis 16 Grad Reaumur erwärmten Gährräumen; je schneller, lebhafter er gährt, um so günstiger gestaltet sich die Hoffnung für den Wein.
Die rothen Weine, deren edelster Vertreter, der Aßmannshäuser, ja ebenfalls dem Rheingau angehört, kommen nicht sogleich zur Kelterung; sie müssen mit den Schalen (Bälgen) gähren, da diese den Farbstoff und zum Theil auch andere beim Rothwein geschätzte Stoffe liefern; Wein, der sogleich aus rothen Trauben gekeltert ist – wie z. B. ein großer Theil des für die rheinischen Schaumweine verwendeten Gewächses – wird weiß, höchstens leicht röthlich. Bei den rothen Trauben ist noch ein besonderes Verfahren nach der Maische zu beachten, das sogenannte Rappsen oder Rebbeln, welches wir auf einem unserer Bilder dargestellt sehen. Der Zweck dieses Verfahrens ist die Entfernung der Tranbenkämme (auch Rappen genannt, daher der Name) von der Maische, weil beim Mitkeltern der Kämme der Wein zu rauh und scharf gerathen könnte. Man bedient sich hierzu eines viereckigen Kastens, dessen Boden von einem scharfen Drahtsiebe mit Maschen von 1½ bis 2 cm im Quadrat gebildet ist. Dieser Siebkasten wird über eine Bütte gestellt, mit der Masse gefüllt und dann so lange hin und her geschüttelt, bis die gereinigte Maische unten durchgefallen ist und die leeren Kämme oben abgehoben werden können. Bei sehr feinen Weinen wird eine ähnliche Vorrichtung zuweilen angewandt, um bereits vor der Maische die reifen Beeren von den Kämmen zu lösen.
Es versteht sich, daß beim Keltern mit dem Trunke nicht gekargt wird; denn wie ein alter Winzerspruch sagt:
„So lang der Kelterbaum umgeht,
Darf sich freuen, was drum steht.“
Und nach der Lese giebt es natürlich noch eine besondere Lustbarkeit mit Schmaus, Trunk und Tanz, wo auch die Herrschaft mit ihren Gästen erscheint, das Erntefest des Weines. Vordem waren dabei noch allerlei Bräuche im Schwange; die hübscheste und bravste (wo das zusammentraf!) Winzerin brach die letzte Traube und wurde dann, zu Roß, zu Esel oder auf dem Ochsengespann, in weitem Kleide, phantastisch mit Reblaub und anderen Kränzen umwunden, von der gleichfalls bekränzten Schar der Winzer und Winzerinnen in feierlichem Zuge vor die Herrschaft geleitet – als „Herbstmucke“; dem Scharfsinn der Sprachforscher und Mythologen muß es überlassen bleiben, den Ursprung dieses Namens ausfindig zu machen. Ganz nach alter Art wird die Sitte unseres Wissens nur noch in Laubenheim vereinzelt geübt. Wohl aber sorgen besonders die großen Privatbesitzer des Rheinngaues dafür, daß die Schlußfeste mit Musik, Schmaus und Lustbarkeiten aller Art nicht aussterben, und das anmuthige Ständchen, welches uns der Künstler aus dem Verlauf eines solchen Festes vorführt, wird hoffentlich noch lange nicht das letzte seiner Art im Rheingau gewesen sein. Neben den privaten Großbesitzern und der Domäne, die in der Nähe der auf unserem Lesebilde sichtbaren Burg Ehrenfels bei Rüdesheim besonders geschätzte Lagen baut, giebt es auch noch heute viele kleinere bürgerliche Besitzer, welche selbst keltern.
Zu dem Verschwinden mancher alten, fröhlichen Lesebräuche haben abgesehen von dem sogenannten Geist der Zeit auch noch besondere Umstände mitgewirkt. Vordem wurde die Lese durchschnittlich früher angesetzt als in unseren Zeiten, wo es als Regel gilt, nicht vor Allerheiligen anzufangen. Eine so frühe Lese wie die heurige ist seit vielen Jahren nicht dagewesen. Wenn es nun zur Lesezeit schon friert und schneit, so wirkt das naturgemäß auf die allgemeine Lustbarkeit im Freien stark abkühlend. Was aber die alten Bräuche am meisten geschädigt hat, das war die große Zahl von schlechten oder doch nur mittelmäßigen Weinjahren seit dem letzten „großen“ Jahre, 1868. Gottlob hat das Jahr 1893 diesen Kummer wieder in etwas beseitigt, und angesichts des heurigen Ergebnisses darf der Winzer schon mit gefaßterem Gemüthe an ältere schöne Weinjahre zurückdenken.
Das berühmteste unseres Jahrhunderts, vielgepriesen in Goethes und kleinerer Dichter Werken, war das Jahr 1811. Es war der Quantität nach ein reiches Jahr und zugleich an Qualität hervorragend; der Winzer hat für solche gesegnete Herbste den Ausdruck, daß „auch der Wein an den Hecken“ gut war, d. h. an den nicht sonnigen Stellen. Eine Flasche „Elfer“ ist heutzutage ein Schatz, der mit schwerem Golde bezahlt wird. Es ist aber ein gutes Theil Raritätenliebhaberei dabei im Spiele. Denn auch der Satz, daß guter Wein mit den Jahren immer besser werde, hat seine Grenze. Der Wein hat wie ein lebendes Wesen seine Entwicklungsjahre, in welchen er seinen Charakter ausbildet, auch ab und zu wie jeder Mensch seine Anfälle von Untugenden durchmacht, bis er sich dann eines Besseren besinnt. Allmählich aber erreicht auch er wie der Mensch eine Lebenshöhe, jenseit derselben wird er greisenhaft, mürrisch, kalt, und zuletzt ist er tot. Alsdann ist er ein guter Wein – gewesen. Und nur sehr selten braucht er bis zu diesem Punkte die biblische Lebenszahl von 70 bis 80 Jahren.
Alle elf bis zwölf Jahre, so rechnet man im Rheingau, giebt es einen besonders guten Treffer. Die Rechnung stimmt zunächst: 1822 war ein sehr schönes Jahr, 1834 brachte wenig (etwa Einviertelherbst) aber hervorragend guten Wein; 1846 war wieder ein großes Jahr, 1848 kam noch eine reiche, aber in der Qualität nur mittelmäßige Ernte, und dann, wieder elf Jahre nach 1846, gab es die berühmten großen drei Jahre 1857, 1858, 1859, den Glanzpunkt in der Geschichte des rheingauer Weinbaues. „Garibaldi“ nennt man den 1860er: er kam reichlich und vielversprechend, [783] blieb aber unreif. 1862 gab wieder sehr guten Wein, aber meist nur Einviertelherbst. Dann folgen noch zwei Sterne erster Ordnung, 1865 mit einem in der Qualität hervorragenden, besonders süßen Dreiviertelherbst, begünstigt durch herrliches Wetter während der Lese – es war so warm, daß die in der Sonne stehenden Bütten undicht wurden – und 1868, ein vorzüglicher Wein, vielfach voller Herbst. Von da an aber blieb die Natur, die sich in den letzten elf Jahren so freigebig gezeigt hatte, sehr karg. Es gab Mißjahre wie 1869, 1871, 1872, ferner 1873, wo die Trauben erfroren, 1877, berüchtigt durch seine Säure, 1887 und 1888 gering; einzelne Jahre wie 1870 und 1874 gaben viel, aber von schwacher Qualität, andere wie 1880, 1884, 1886, 1890 und 1892 gaben Besseres (1884 auch besonders schöne Auslesen), aber meist nur kleine Mengen. Dann kam das Jahr 1893: im Frühjahr viel Frostschaden, dann ein ganz ungewöhnlich heißer, trockener Sommer, welcher trotz des Frühjahrsfrostes den üppigsten Hoffnungen Raum gab, aber – zu lange anhielt; der Regen, längst ersehnt, trat endlich zur Unzeit ein, rief vielfach eine unnatürlich frühe Edelfäule hervor und zwang die Leute, zumal in der Befürchtung vor einem andauernd nassen Herbste, weit vor der Zeit zu lesen. Daher ist die Meuge in diesem – wie auch in vielen der vorhin besprochenen Jahre – in den einzelnen Gauen ganz verschieden: im mittleren Rheingau, von Oestrich bis Rüdesheim, glaubt man, von einem guten Halben-, ja Dreiviertelherbste sprechen zu dürfen, weiter stromabwärts, z. B. in Lorch, lautet das Urtheil viel ungünstiger, man geht bis zu einem Achtelherbst herunter. Durchweg sehr befriedigt aber ist man von der Güte; man vergleicht sie mit dem Weine von 1868, ja man wagt sogar hier und da die köstlichen Ergebnisse von 1865 zum Vergleiche heranzuziehen, hinweisend auf den riesigen Zuckergehalt des Mostes, die rasche Gährung, den gesund bitteren, nicht säuerlichen Nachgeschmack des „Federweißen“ (d. h. des gährenden Mostes). Immer bleibt noch abzuwarten, wie sich der junge Wein beim ersten Abstich, im Februar vorstellt.
Möge er halten, was er versprochen hat, zum Heile fröhlicher weinkundiger Zecher, vor allem aber des fleißigen, ausdauernden, wahrhaftig nicht auf Rosen gebetteten Winzervolkes! Möge er helfen, daß „Rhein“ und „Wein“, dieser köstliche Reim, auch ferner seinen alten goldenen Klang bewahre!
Alle Rechte vorbehalten.
Sein Minister.
(Schluß.)
Doras Pulse schlugen wie im Fieber eine unsägliche Beklemmung schnürte ihr das Herz zusammen. Sie gab vor, daß sie die ungewohnte Unruhe in der Stadt nicht länger ertragen könne, daß ihr Kopf schmerze, und bat die Generalin Halden dringend, nach ihrem Wagen zu schicken, Dann verabschiedete sie sich von den Gästen. Emil trat vor, um ihr Adieu zu sagen; er erwartete, daß sie ihm die Hand reichen werde, aber sie gab sie ihm nicht.
Es wurde Dora nicht wohler in der Einsamkeit ihrer Villa. Unzähligemal rief sie sich jedes Wort zurück, das sie zu Emil gesprochen hatte; sie wog noch einmal jede Wendung ab. Nein, sie hatte ihn nicht ermuthigt, hatte seinen wahnsinnigen Traum abgewiesen, wie es sich gebührte, als eine tolle Ausgeburt seiner Phantasie, die nie in den Bereich der Möglichkeit treten konnte. Und doch – warum hatte sie ein so drückendes Gefühl der Schuld; warum diese qualvolle Angst, die sie ruhelos von einem Gemach in das andere trieb?
Als es zu dämmern begann, suchte sie im Freien Kühlung, Erquickung. Immer wieder schritt sie an dem Gartengitter längs der Straße hin, wo sie Emil so oft hatte stehen sehen. Sie hatte die kleine, nie benutzte, von Strauchwerk umwucherte Pforte, die hier in den Garten führte, nie vorher beachtet. Nun berührte sie das Schloß – es schien gut versperrt und gab keinem Rütteln nach. „Ein Märchen! Sie öffnet sich nicht – er fabelte ja nur!“ dachte sie aufathmend. Aber Ruhe fand sie nicht, auch im Hause nicht, in das sie zurückkehrte. Sie ließ in ihrem Wohnzimmer neben der Veranda die Lampen anzünden und die Thüren schließen. Aber sie meinte zu ersticken in dem schwülen Raum und riß selbst, ringend nach Luft, die Thürflügel zur Veranda wieder auf. Bei jedem Geräusch in der Nähe fuhr es ihr wie ein elektrischer Schlag durch die Glieder.
Man brachte ihr Abendbrot; aber der Hals war ihr wie zugeschnürt, sie ließ die Speisen unberührt, nur den Wein vermochte sie zu trinken in durstigen Zügen, Nun fühlte sie sich wohler. Sie lächelte über ihre kranken Nerven, über ihre maßlose Furcht vor einem Nichts.
Die Nacht sank herab; leuchtende Sterne schimmerten herein. Die Dienerin trat ein und fragte, ob die gnädige Frau noch etwas zu befehlen habe. Merkwürdig – da war die Beklemmung wieder! Dora fühlte, wie ihr Herz heftig zu hämmern begann. Das Wort: „Bleiben Sie wach, bis ich Ihnen rufe!“ schwebte ihr auf den Lippen. Aber als wäre ein zwiefacher Wille in ihr, sagte sie statt dessen: „Legen Sie sich nur zu Bett, Anna, ich brauche nichts mehr.“
Sie hörte das Mädchen die Treppe zu ihrer Kammer hinaufgehen und nahm einen Roman zur Hand; aber die Worte flogen zusammenhangslos vor ihren Augen hin und her. Von tiefem Grauen erfüllt, saß sie bei der einsamen Lampe; sie sehnte sich nach dem Morgen, nach dem Tageslicht, in dem ja doch ihre Gedanken aus dem Bann erwachen mußten, der sie umschlungen hielt. Da – was ist das? Ihr steht der Herzschlag still, das Zimmer dreht sich ihr im Kreise; mit starren, weitgeöffneten Augen schaut sie nach der offenen Verandathüre. Ueber die Stufen, die vom Garten zu der Veranda führen, kommt ein vorsichtig gedämpfter Schritt, Sie stößt keinen Schrei aus, als das blonde Haupt Emils nun plötzlich aus dem Dunkel auftaucht und im Rahmen der Thür erscheint. Sie fühlt mit einem Male eine klare Ruhe. Todesernst erwartet sie ihn.
Sie sagt sich, daß er diesen Schritt nur gewagt haben kann, weil er sie grenzenlos liebt. Eine große Liebe aber hat ihr Recht, zu sein. Und so muß diese Stunde denn entscheiden über ihr ganzes Leben, muß die Vergangenheit mit einem scharfen Schnitt lostrennen von dem „Morgen“! Eine rasche Flucht übers Meer, ein neues Leben in einer neuen Welt, ein gemeinsames Ringen um das Dasein, eine todesmuthige Leidenschaft, die alles fortwirft, sich von allem Gewesenen löst, um sich das Glück zu erkaufen – das ist das Zukunftsbild, das vor ihren Augen aufsteigt, während er nun auf sie zustürzt und seine Arme um sie schlingt. Einige Sekunden lang ruht sein Mund auf dem ihrigen in einem heißen trunkenen Kuß. Sie fühlt sich sein in diesem Augenblick so rückhaltlos wie in ihrer Mädchenzeit, da er zum ersten Mal ihre Lippen berührte – sein bis zum Tod. Doch wie sie nun die Augen wieder öffnet, erschrickt sie vor dem Ausdruck seines Gesichts. Seine Blicke umfassen ihre Gestalt mit einer begehrlichen Gluth, um seine Lippen zuckt ein Lächeln, vor dem ihr schaudert. Er wendet sich zurück, schließt die Verandathür und zieht vorsichtig die Vorhänge zu. Er ist sich bewußt, welches Wagniß er begeht, aber er will klug sein, am Abgrund sich vor dem Schwindel hüten, um sich nicht zu Grunde zu richten.
Ein Zagen, eine Unruhe überkommt ihn, als die feierlichen glänzenden Frauenaugen sich nun so forschend auf ihn heften, als Dora langsam fragt, während sie seine Hände, die sie umfassen wollen, zurückdrängt: „Haben Sie auch ein Recht, mich für sich zu fordern, Emil? Ist es wirklich die große unendliche zu jedem Opfer bereite Liebe, die Sie hierher führt?“
Seine Hände umklammern mit nervöser Ungeduld die ihrigen. „Dora, wie können Sie zweifeln! Zweifeln an meiner Leidenschaft in dieser Stunde! Ich setze meine Existenz aufs Spiel und Sie fragen noch, ob ich Sie liebe!“
Ihre Augen bohren sich noch immer mit einem unheimlichen Ernst in sein Gesicht. „Wenn Ihre Liebe wahr und echt ist, warum haben Sie mich dann von sich gelassen, als ich frei gewesen bin? O, sagen Sie, sagen Sie mir endlich, was uns voneinander geschieden hat! Wir konnten glücklich sein, ohne Qual, ohne Schuld!“
„Dora, laß die Vergangenheit,“ erwidert er ablenkend, „sie soll uns nicht diese einzige selige Stunde vergällen! Ich kannte meine Liebe nicht, ich war ein Thor, ein blinder Thor!“
Immer bleicher, immer düsterer wird das Angesicht der Frau, die sich aus seiner Nähe zu befreien sucht. „Ein Thor, nur ein Thor!“ wiederholt sie bitter.
Aber er fleht mit heißer Stimme: „Jetzt erst weiß ich, daß [784] wir zu einander gehören, Geliebte. Und müssen wir auch unsere Liebe in tiefstes Dunkel hüllen – hat nicht eben dieses Geheimniß seinen süßen schauerlichen Reiz?“
Sie wehrt sich mit aller Kraft gegen den aus seiner Berührung, aus seiner Stimme, aus seiner Erregung auf sie einströmenden Taumel.
„Dieses Geheimniß?“ sagt sie tonlos. „Sie meinen – diese Schuld, dieses Verbrechen? Und es dünkt Ihnen süß, daß Sie mich meinem Gatten entreißen?“
„Haben wir nicht gekämpft? War unser Kampf nicht nutzlos? Du hast mich fortgestoßen, aber Deine Augen, Dein Herz, sie wußten nicht, was die Lippen sprachen!“ Schmeichelnd, zärtlich umfaßt er mit beiden Händen ihr Haupt und senkt die glühenden Augen verzehrend in die ihrigen. „Hab’ Mitleid mit mir, mit meiner Sehnsucht! Vergönne mir Deine süßen Lippen! Niemals wird Dein Gatte es ahnen, kein Gedanke wird sein Glück trüben – –“
Sie schnellt empor, jählings, mit zorniger Kraft. Elender! Obgleich ihr Mund es nicht spricht, flammt doch das Wort deutlich aus den Augen, mit denen sie ihn voll Verachtung mißt. Mit einem Male kennt sie ihn, kennt ihn bis ins tiefste Herz. Wie selbstsüchtig er ist, wie bar jeder großen Empfindung! Wie niedrig er denkt! Ihre Züge sind hart geworden, ihre Stimme klingt höhnisch, als sie spricht: „Sie glauben, mein Mann werde nie von dieser Stunde erfahren? Sie irren! Ich selbst werde ihm sagen, das Sie zu mir kamen, in dies einsame Haus, daß ich Sie nicht fortweisen ließ wie einen Dieb, wie einen Einbrecher, weil ich toll war, weil ich an Ihre Liebe glaubte!“
„Dora, Du bist von Sinnen! Aber Deine Worte erschrecken mich nicht! Du bist kein Kind! Morgen wirst Du erkennen, das Du schweigen mußt – nicht bloß um meinetwillen – daß Du uns beide zu Grunde richtest durch ein so unerhörtes Bekenntniß.“
Seine schlecht verhehlte Angst, seine Unruhe schürten nur die Flamme ihres Zorns. „Habe ich Sie gerufen? Nein! Hinterrücks sind Sie gekommen, weil Sie glaubten, ich wäre schlecht genug, den fernen Gatten zu betrügen und dann zu schweigen über die Sünde! O, woher nahmen Sie das Recht, mich für so niedrig zu halten? Vor aller Welt hätten Sie sich zu mir bekennen, mir Ihr Leben bieten müssen, wenn Ihre Liebe echt gewesen wäre. Ihre Liebe! Mir ekelt vor ihr!“
Groß und stolz stand sie vor ihm und deutete nach der Thüre. Aber in demselben Augenblick kam ein dumpfes Rollen näher und näher – das Rollen eines Wagens. Beide horchten unwillkürlich gespannt auf den Laut, der die Stille der Nacht unterbrach. Der Wagen fuhr über das Pflaster vor dem Hause – er bog mit einem Knirschen der Räder in den Hof ein, hielt vor der Villa still. Ein Schlüssel wurde ins Hausthor gesteckt, eine Männerstimme befahl: „Warten Sie!“
Beide vernahmen die Worte, erkannten die Stimme. Emil zuckte zusammen, verfärbte sich, griff hastig nach seinem Hut und eilte nach der Verandathüre in einem feigen, kläglichen Schrecken. Durch Doras Augen aber schoß ein irres Leuchten; ein wilder Haß gegen diesen Mann stieg in ihr auf, ein wahnsinniges Verlangen nach Vergeltung, nach Rache, und wenn sie selber verderben sollte.
„Mein Gatte kommt! Sie bleiben!“ befahl sie und warf sich ihm, die Thüre versperrend, in den Weg. „Er soll Sie bei mir finden, soll Sie kennenlernen wie ich!“
Draußen fiel das Hausthor ins Schloß, ein Schritt wurde im Flur vernehmbar. Emil hatte alle Fassung verloren; in Todesangst flüsterte er heiser: „Dora, ich bitte Dich! Dora!“
Dann aber, als sie nicht wich, packte ihn plötzlich die Verzweiflung. Mit Gewalt riß er sie von der Thüre fort, stieß sie zurück und stürzte hinaus.
„Schweige, Dora – um Deiner Zukunft willen, schweige!“ klang es noch einmal von draußen an ihr Ohr. Dann wurde es ganz still.
Auf dem Tische brannte die Lampe. Das Buch, in dem Dora gelesen hatte, lag aufgeschlagen da. Sie selbst stand am Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Da öffnete sich die Thüre, die vom Flur in das Zimmer führte. Der Minister trat ein. „Erschrick nicht, Liebste, ich bin’s! Wie hübsch, daß ich Dich noch wach finde! Ich habe ein Telegramm bekommen, das mir sofortige Abreise befahl. Der König ist entschlossen, zu gunsten seines Sohnes abzudanken. Man weiß davon wohl noch nichts in der Stadt? Da ich morgen schon in aller Frühe in Anspruch genommen sein werde, wollte ich Dich heute noch – aber was hast Du, Dora? Warum siehst Du mich mit so stummem Entsetzen an?“
Sie blieb ohne ein Wort der Erwiderung unbeweglich am Fenster stehen.
„Dora!“ rief er mit steigender Unruhe, „so sprich doch!“
Sie schwieg noch immer. Nun wurde auch seine Stirn finster und er erblaßte. Hastig trat er an sie heran und fragte heiser: „Ich habe Geräusch hier gehört, als ich eintrat – warst Du nicht allein?“
„Nein!“
Er fuhr jäh zurück. Das sprichst Du in einem Tone, Dora ... o, es kann ja nicht sein! Sag’ Nein, Dora, gestehe, daß nur Dein Mädchen bei Dir gewesen ist oder eine Freundin, die bei Dir wohnt!“ Dann aber, sich vor die Stirne schlagend, rief er mit einem gellen Auflachen: „Siehst Du, ich bin solch blinder Thor! Ich zweifle noch, und Deine Bestürzung sagt doch genug!“ Er packte ihre Hände und stieß wüthend hervor: „Seinen Namen! Ich will wissen, wer es war!“
Sie öffnete schon die Lippen, um Emil zu nennen. Eine Befreiung wäre es ihr gewesen, ihn zu brandmarken, ihren Abscheu gegen ihn hinauszuschreien. Aber sie besann sich. Sobald ihr Gatte wußte, wer in der Nachtstunde sein Haus betreten hatte, würde er den Elenden fordern, um den Flecken, der auf seine Ehre gefallen war, in Blut abzuwaschen. Sollte sie dulden, daß er sein Leben aufs Spiel setzte um ihrer Verirrung willen?
„Ich werde Dir den Namen nicht sagen, niemals!“ erwiderte sie mit klangloser Stimme.
Ein Stöhnen brach von seinen Lippen; mit zornbebenden Händen umschlang er sie und riß sie vom Fenster fort an das Licht.
„Dora, das thust Du mir? Du! Fast ein halbes Jahrhundert habe ich gelebt, und von Dir muß ich lernen, daß ich nichts weiß von den Menschen! Daß sie alle falsch sind und treulos – und daß ich ein Narr bin, ein kindischer Narr!“
Dora meinte, versinken zu müssen vor Reue, vor Beschämung. Sein leidenschaftlicher Groll zeigte ihr, wie warm er an sie geglaubt, wie heiß er sie geliebt hatte. Und sie, sie hatte nur an diesen Andern gedacht, an diesen Unwürdigen, der einer echten Empfindung gar nicht fähig war!
„Bernhard – höre mich! Du thust mir Unrecht! Ich bin nicht so schuldig, wie Du glaubst!“ stammelte sie in scheuer Verwirrung.
„Hast Du einen andern geliebt? Ja oder nein!“
„Ja!“ sagte sie langsam. „Aber Du mußt mich dennoch hören, Bernhard!“
Sie ergriff seine Hand, aber er riß sich los.
„Was weiter geschehen wird – Du sollst es bald erfahren. Ich weiß nur eines: unsere Wege sind von nun an getrennt.“ Mit diesen Worten schied er.
Sie hörte seine Schritte verhallen, hörte den Wagen fortrollen und schlug die Hände vor das Gesicht, in Qualen der Reue, des tief gekränkten Stolzes. Da drang durch die nächtliche Stille das Rauschen des Flusses an ihr Ohr. Sie sprang empor. Sterben! Vergessen! Sie riß die Thüre auf und eilte mit einem rasenden Entschluß über die Veranda hinunter in den Garten. Nur fort, nur Ruhe, Ruhe für das schmerzende Gehirn, für das zerrissene Herz.
Draußen aber standen groß und feierlich die Sterne am Himmel; der Windhauch, der durch die Bäume strich, kühlte ihr die heiße Stirn, die brennenden Augen. Von der gewaltigen Schönheit der schlafenden Erde und dem milden Leuchten in der Höhe kam eine ruhige Klarheit über sie. Ihr Tod wäre ihr eigenes Verdammungsurtheil! Sie mußte leben, um ihrem Gatten die volle, rückhaltlose Wahrheit zu bekennen! Aufathmend kehrte sie langsam ins Haus zurück. – –
In den stillen Straßen, durch die der Minister dahinfuhr, roch die Luft nach den welkenden Tannenreisern der Gewinde, welche die Häuser schmückten.
Bernhard war wieder ruhig geworden; sein Herz hämmerte nicht mehr, als wollte es den letzten Schlag thun. Es war ihm nur, als breite sich rings um ihn ein großes Dunkel. – Gestern noch hatte ihn die Nachricht erschüttert, daß der König abdanken wolle; handelte es sich doch zugleich um seine eigene Stellung, um das Ende seiner Macht. Jetzt war ihm der Gedanke, sich in voller Kraft von seinem Amt zurückziehen zu müssen, gleichgültig geworden. Er lächelte nur bitter darüber, daß ihm gestern die Vorstellung ein Trost gewesen war, er werde nach seiner Entlassung sich Dora
[785][786] mehr widmen, sein Glück erst recht genießen können. Nun war ihm auch dieser Wahn genommen; nun gab es nirgends mehr Sonnenlicht auf seinen Wegen. Aber mitten in seiner dumpfen Resignation fuhr er zornig auf. Wer war’s? Wer hatte ihm das Herz seiner Frau gestohlen? Alle jungen Männer, die sein Haus betraten, rief er sich ins Gedächtniß zurück. Er dachte an Wienburg. Aber auf ihn hatte er seine Gunst gehäuft, ihn hatte er mit väterlichem Wohlwollen behandelt. Und doch – hatte Dora ihm nicht gestanden, daß sich der Assessor voriges Jahr noch auffällig um sie bemüht habe?
Von solchen Gedanken hin und hergeworfen, betrat er endlich seine vereinsamte Stadtwohnung, legte sich zur Ruhe und schauderte vor dem Einschlafen, weil es ihm graute vor dem Erwachen.
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Inzwischen stand im Dunkel geborgen unter den Bäumen der Landstraßenallee ein Mann und wüthete über sich selbst, über sein tolles Wagniß, über die Leidenschaft, die ihn nun seine ganze Laufbahn kostete. Denn wenn ihn diese schwärmerische Närrin wirklich verrathen hatte – was dann? Dann war seine Zukunft vergeudet für eine Thorheit, für ein Nichts! Aber war es nicht doch wahrscheinlicher, daß Dora nur gedroht, daß sie im letzten Augenblicke der Vernunft Gehör gegeben und geschwiegen hatte? Dann galt es, kaltblütig den nächsten Schritt zu überlegen und jedem Verdacht des Ministers zuvorzukommen, wenn dieser ja mißtrauisch geworden war. Wenn er sofort in seine Wohnung eilte, unbemerkt seine Sachen zusammenpackte und mit dem nächsten Zug ins Gebirge fuhr, konnte er am nächsten Morgen in einer vielbesuchten Sommerfrische auftauchen, wo eine Anzahl bekannter Familien weilte, konnte vorgeben, er komme von einer Wanderung über die Berge. –
Am nächsten Morgen schritt der Assessor in früher Stunde an einem Gebirgssee entlang, dessen Ufer mit eleganten Landhäusern besetzt waren. Alles schlief noch; nur in der Dorfstraße, die er jetzt erreichte, begann das Leben zu erwachen. Von einer Frau, die einen Korb Alpenrosen auf dem Rücken zur Bahn trug, kaufte er sich einen Strauß. Ein paar von den Blumen steckte er auf seinen Hut; die anderen behielt er in der Hand. Dann ging er noch eine Zeitlang zwecklos hin und her.
Als die Sonne höher stieg, öffneten sich auch die Thüren der Landhäuser; die Stadtkinder kamen herausgesprungen, dann erschienen junge Mädchen in hellen Morgenkleidern. Emil begrüßte mehrere Bekannte. Mit besonderer Herzlichkeit verneigte er sich vor Ida von Kammerling, die mit ihrem Bruder dem Seeufer zueilte und lebhaft erröthete, als sie den Assessor so unvermuthet vor sich stehen sah.
„Ich komme eben vom Gebirge,“ sagte er, „habe eine abscheuliche Nacht in einer Sennhütte zugebracht, dafür allerdings einen wunderbaren Sonnenaufgang genossen. Darf ich Ihnen diese Blumen, die auf der Höhe wuchsen, als Morgengruß anbieten?“
Wie er so liebenswürdig vor ihr stand in dem flotten Touristenanzug, mit dem kecken Filzhut auf dem blonden Kopf, ergoß sich über Idas Gesicht jenes Lächeln der Freude, das jedes Mädchen verschönt.
„Werden Sie länger hier bleiben, Herr Assessor?“ fragte sie verwirrt. „Es ist wirklich reizend an dem See.“
Emil gab keine bindende Antwort, spielte aber während des ganzen Tages Ida gegenüber mit erhöhtem Eifer den Liebenswürdigen, obgleich ihn eine qualvolle Unruhe erfüllte und ihm beständig Doras drohende Worte im Ohr klangen.
Gegen Abend kamen die Zeitungen und riefen eine allgemeine Aufregung hervor, denn sie brachten die Nachricht von der Abdankung des Königs. So sehr Emil auch ein Meister in der Kunst der Verstellung war, hatte er doch Mühe, bei dieser unerwarteten Wendung die ruhige Fassung zu bewahren, die dem Beamten ziemte. Er wußte, die Thronbesteigung des Kronprinzen würde den Freiherrn von Telf seine Stellung kosten – der Mann, vor dem er zitterte, war also am Ende seiner Macht, war vielleicht in wenigen Tagen schon nicht mehr im Amte. Und er wußte noch ein zweites, was ihn nicht weniger mit Jubel erfüllte: nur der Ministerialrath von Kammerling konnte als Nachfolger des Ministers in Frage kommen.
Man ging im Mondschein noch am Seeufer auf und ab; Emil hatte Idas Arm genommen und drückte ihn zärtlich an sich. Beim Abschied küßte er ihr zweimal die Hand, Idas Wangen glühten, als sie in ihr Zimmer trat, und triumphierend lächelte sie vor sich hin, als schaute sie ein ersehntes, fast erreichtes Ziel.
Unzähligemal hatte sich Dora am Morgen nach der verhängnißvollen Nacht die Worte zurechtgelegt, die sie ihrem Gatten sagen wollte, als Beichte und Rechtfertigung zugleich, und mit verzehrender Ungeduld wartete sie auf die entscheidende Stunde. Aber sie blieb allein. Der Tag verging, die Nacht und wieder ein Tag. Sie wagte nicht, die Villa zu verlassen; sie erschien sich wie eine Geächtete. Und als dann endlich, nach der langen ruhelosen Einsamkeit, der Wagen ihres Gatten vorfuhr, da kam es wie ein Schwindel über sie und all die klaren Sätze, die sie in Gedanken zu ihm gesprochen hatte, zerflatterten in nichts. Bernhards Gesicht war bleich und düster; es zeigte einen Ausdruck der Trauer, einen Leidenszug, der sie unsagbar rührte. Er grüßte gemessen, mit fremder unnahbarer Miene, und begann mit frostiger Stimme: „Dieses peinliche Zusammensein unter vier Augen war nicht wohl zu umgehen. Aber Du wirst mit mir in dem Wunsch übereinstimmen, daß es wenigstens so kurz als möglich werde. Ich –“
„O Bernhard – wie habe ich mich gesehnt nach dieser Stunde!“ unterbrach sie ihn zitternd.
Er machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. „Nur keine Erörterungen, keine Erklärungen! Bitte, spare sie mir! Ich werde kein Wort des Vorwurfs, keinen Tadel aussprechen. Was geschah, ist unabänderlich. Nur die eine Frage: was sind Deine Wünsche für die Zukunft? Ich werde keine neue Verbindung mehr eingehen, dazu bin ich zu alt, zu – klug geworden. Aber Du trachtest jedenfalls nach einem neuen Glück, und deshalb überlasse ich Dir die Entscheidung, ob unsere Ehe gerichtlich getrennt werden soll. Ich bin bereit, auf Bedingungen einzugehen, die Dir in diesem Fall die Nachtheile des Schrittes möglichst ersparen sollen. Eine nicht gerichtliche Trennung aber würde durch den Umstand erleichtert, daß ich meine Entlassung eingereicht und von dem jungen König bereits erhalten habe. Schon morgen werde ich eine größere Reise antreten und überhaupt der Stadt künftig fern bleiben, so daß unsere Wege sich nicht zu kreuzen brauchen. Ich habe nur noch zu bemerken, daß ich es für meine Pflicht erachte, nach wie vor für Dein Leben zu sorgen, bis Du durch Eingehung einer neuen Ehe einem andern das alleinige Recht dazu giebst. Ich bitte Dich also um Bescheid.“
Seine abgemessenen Worte legten sich eisig auf Doras warmes Gefühl. Sie fand nicht die Kraft, ihn zu unterbrechen, sie fühlte nur, wie die Thränen ihr in die Augen traten, wie ihr der Schmerz die Stimme ersticken wollte. Als aber ihr Gatte nun, ohne sie nur anzublicken, zum Fenster hinausstarrte, so fremd und kalt, wie wenn niemals eine Gemeinschaft zwischen ihnen gewesen wäre, wie wenn eine Ehe sich lösen ließe gleich einem geschäftlichen Vertrag – da verwandelte sich ihre Rührung in Empörung.
„Nein, Bernhard, ich lasse mich nicht von Dir weisen wie eine Sünderin, ich verlasse nicht schweigend und zerknirscht die Stellung, die Du mir gegeben hast. Ich bin keine schlechte ehrlose Frau, die man einfach aus dem Hause schickt. Ich habe Dir keinen Grund zur Scheidung gegeben, keinen, der dem Richter, wenn er sich nicht vom Schein irreführen läßt, das Recht giebt, mich für schuldig zu erklären. Aber ich fühle mich dennoch nicht schuldlos, weder vor Dir noch vor meinem Gewissen. Ich habe als Mädchen einen andern geliebt und geglaubt, mit dem Gefühl völlig fertig zu sein, als ich Deine Frau wurde. Aber als ich ihn dann wiedersah – da wußte ich, daß ich mich getäuscht hatte. Eine namenlose Sehnsucht, ein großes Leid kam über mich, das nicht von mir ließ, obgleich ich mich wehrte mit aller Kraft. Und dann – in jener Nacht! Bei Gott, Bernhard, gerufen habe ich ihn nicht, doch ich ahnte, daß er kommen, daß mein Geschick sich entscheiden werde. Und wie er dann wirklich vor mir stand, da sagte ich mir: er liebt Dich bis zur Verzweiflung, sonst würde er das nicht wagen, und in diesem Augenblick war ich bereit, dem großen Gefühl, von dem ich träumte, alles, mein ganzes Leben – auch Dich zu opfern; ich duldete, daß er meine Lippen berührte. Aber nur sekundenlang! Dann trat plötzlich Klarheit zwischen uns. Mit einem einzigen Worte verrieth er mir, an welches Scheingebilde ich meine Gefühle und Wünsche gehängt hatte. Ich sah ihn vor mir stehen ohne den Glanz, den meine thörichte Phantasie um sein Bild gewoben hatte. Schaudernd erwachte ich aus meinem Wahn. Mir ekelte vor seiner frivolen selbstsüchtigen Liebe, die nur heimlich, im Dunkeln, meiner begehrte. Mich verlangte danach, vor Dir niederzusinken in bitterer Reue, Dich [787] um Verzeihung zu bitten für meinen unseligen Irrthum. – Als hätte ein Gott Dich gerufen, rollte in dieser Minute Dein Wagen vors Haus. Aber glaube mir, auch wenn Du in jener Stunde nicht gekommen wärst, ich hätte nicht geschwiegen! Was ich Dir auch zu Leid gethan habe, betrügen wollte ich Dich nicht! Ich begreife, daß Du mir nicht verzeihen kannst, da Du nun die volle Wahrheit kennst, ich will auch die Strafe tragen, daß ich Deine Liebe verscherzt habe – aber dennoch –“
Sie trat einen Schritt näher zu ihm heran. Er hatte zum ersten Male, seit sie sprach, das Gesicht wieder ihr zugewendet; seine Züge verloren ihre Härte und zeigten nur noch den tiefsten, ergreifendsten Schmerz.
„Dennoch, Bernhard,“ fuhr Dora fort, „dennoch bitte ich um Deine Verzeihung. Wenn Du Dir sagen würdest, ich sei eine Kranke gewesen, besessen von einem bösen Zauber! O ich weiß, ich bin Dir nicht das geworden, was ich Dir hätte sein können. Aber nun, nun bin ich frei von dem Wahn, der mein Denken gefangen genommen hatte; nun erst bin ich empfänglich für das Glück an Deiner Seite. O Bernhard, es kann nicht sein, daß es Dir so leicht wird, mich von Dir zu lassen –“
„Nein Dora, bei Gott – leicht sind diese Tage nicht gewesen! Wenn Du wüßtest!“ murmelte er, sich mühsam beherrschend.
Sie erhob die heißen Augen bittend zu seinem Gesicht. „Ich habe Dir so weh, so furchtbar weh gethan, soll ich nicht versuchen dürfen, es wieder gutzumachen? Willst Du wirklich fort in die Einsamkeit, mit der tiefen Bitterkeit im Herzen? Nimm mich mit Dir! Ich weiß ja, daß ich Dir jetzt, heute noch nicht die sein kann, die Du bisher in mir gesehen hast. Doch langsam, ganz langsam gelingt es mir vielleicht, Dein Vertrauen wieder zu gewinnen! O bitte, laß mich’s zu verdienen suchen, daß Du mir je gut gewesen bist!“
Es lag so viel Demuth in dem gesenkten, jetzt von Thränen überfließenden Antlitz, daß es ihn rührte. Mit fast väterlicher Güte strich er ihr über das Haar. „Ich weise Dich nicht fort, Dora, wenn Du an meiner Seite bleiben willst. Wir müssen es der Zeit überlassen, ob ich vergessen kann, ob ich noch einmal an das Glück zu glauben vermag. Du wirst Geduld haben müssen, Kind! Ich bin nicht jung wie Du. In meinen Jahren ist das Herz schwerfällig und heilt nur langsam von solcher Enttäuschung.“
Sie drückte ihm fest die Hand. „Ich danke Dir, Bernhard,“ sagte sie schlicht. – –
In den nächsten Monaten gab es für die Gespräche der Gesellschaft die verschiedensten Neuigkeiten: die Ernennung des Ministertalraths von Kammerling zum Minister des Innern an Stelle des Freiherrn von Telf, die Verlobung der Tochter des neuen Ministers mit Emil Wienburg, der zum Regierungsrath vorgerückt war, und die bald darauf stattfindende Vermählung des jungen Paares.
Emil fing an, an einen besondern Glücksstern zu glauben. Er war so nahe vor dem Schiffbruch gestanden und nun hatte der günstigste Wind sein Fahrzeug erfaßt und führte es unter vollen Segeln dahin auf glatter Bahn. Wenn ihn auch vor der reizlosen Gestalt, vor den anmuthlosen Zügen seiner jungen Frau zuweilen ein leises Frösteln ergreifen und eine Sehnsucht überkommen wollte nach einem stolzen Frauenantlitz und einem wonnigen Munde, so wies er diese Empfindung fort als eine Schwäche, die dem klugen Manne nicht zieme. Für ihn galt es, zu ringen und zu streben um sich in der Gunst der Mächtigen zu erhalten und sich über die Köpfe der andern hinweg emporzuarbeiten, höher und höher, bis er selbst zu den Führenden gehörte.
Aber Emils Glücksstern sollte plötzlich zerfließen wie trügerischer Dunst.
Eines Abends, zwei Monate nach seiner Verheirathung, wurde er zu seinem Schwiegervater gerufen. Er fand ihn mit dem Tode ringend. Der Schlag hatte ihn gerührt. Und wenn auch noch einmal eine Besserung eintrat, wenn der Unglückliche auch noch eine Weile, gelähmt und der Sprache beraubt, weiter lebte – Minister konnte er nicht mehr sein.
An seine Stelle trat der Mann, dessen Wege Emil nie wieder zu kreuzen gehofft hatte: Freiherr von Telf. Mit seltener Großmuth rief der junge König in einem hochherzigen Schreiben den treuen Beamten zurück und sicherte ihm seine besondere Gunst, sein wärmstes Vertrauen zu.
Eine der ersten Amtshandlungen des wiederernannten Ministers war die Versetzung des Regierungsraths Wienburg in eine Provinzstadt, was für den Ehrgeizigen einer Verbannung gleich kam. Bernhard hatte den Namen errathen, den seine Frau ihm nie genannt hatte. Nicht eifersüchtige Befürchtung veranlaßte ihn, Wienburg zu entfernen, sondern die gerechte Empörung über dessen heuchlerisches Streberthum.
Bei dem Alleinsein in der Fremde, frei von Pflichten und Sorgen, hatte der Freiherr seine Gattin erst recht kennen und verstehen lernen, und sie hatte gesiegt über die düstere Enttäuschung, über die Schatten, die seine Seele verdüsterten. Nachdem er schon Abschied genommen hatte vom Sonnenschein, war ihm erst der rechte Liebesfrühling beschieden geweseu. Nun war ihm keine Regung in Doras Seele fremd, nun wußte er sie gegen jede Gefahr gefeit durch den sichersten Schutzwall – das Glück.
BLÄTTER UND BLÜTHEN.
Trübe Zeichen der Zeit. Bedenkliche, sehr bedenkliche Enthüllungen hat der Spieler- und Wuchererprozeß zu Hannover ans Tageslicht gebracht! Daß es im Deutschen Reiche Wucherer giebt, das wußte man leider schon vorher, und ehenso, daß unter den deutschen Offizieren und unter den sogenannten oberen Schichten der Gesellschaft das Spiel häufig in Formen geübt wird, in denen es nicht mehr eine Unterhaltung, sondern ein Laster ist. Aher daß diese beiden bösen Beulen am Leibe unserer Gesellschaft schon so tief und so weit um sich gefressen hätten, daß es in unserem deutschen Vaterlande eine ganze, organisierte Wucherer- und Falschspielerbande gäbe, die ihre Opfer nach Hunderten zählt und sie um Summen prellt, die nach bürgerlichen Ansprüchen ein stattliches Vermögen darstellen – das sind denn doch Offenbarungen, die in weiten Kreisen unseres Volkes mit tiefer Beschämung vernommen werden.
Man könnte den Einwurf erheben, daß es eben nur eine bestimmte Gesellschaftsklasse sei, welche durch die Enthüllungen des Hannoveraner Prozesses gebrandmarkt werde. Gäbe es keine leichtsinnigen Offiziere und Studenten, so gäbe es auch nicht jene Sorte von Vampyren, die sich diesen Leichtsinn zu Nutze machen und ihr dunkles Handwerk darauf bauen. Mögen die flotten Muttersöhnchen immerhin ihr Geld unter den Fingern zerrinnen sehen – was ficht das uns an?
Indessen, so stehen die Dinge doch nicht! Wir sind alle Glieder eines Volkes, und wenn irgendwo an diesem Körper etwas krank ist, so leiden wir alle mit. Und haben wir denn das Recht, mit pharisäischem Hochmuth beiseite zu stehen? Sind wir alle so frei von den Schwächen, welche den Offizier, den Studenten, den Landjunker in die Hände des Wucherers treiben oder ihn am Spieltisch nach der äffenden Fortuna haschen lassen? Dürfen wir ihr Schicksal mit selbstgerechtem Achselzucken abthun und sprechen: „Was ficht das uns an?“
Der Wahrheit die Ehre: das Recht haben wir nichi! Die Sucht, über die Verhältnisse zu leben, ist nicht beschränkt auf jene „vornehmen“ Kreise und das Haschen nach Spielgewinn nicht auf die Uniform. Das darf man nicht behaupten wollen in einem Lande, wo in so und so viele staatlichen Lotterien mit Eifer gesetzt wird, das darf man nicht behaupten wollen angesichts der vielen sich aufdrängenden Beispiele von unvernünftigem Luxus bis herab in die Kreise derer, die mühsam mit ihrer Hände Arbeit ihr knappes tägliches Brot verdienen. Auch das sind ungesunde Schwären, die am Marke unseres Volkes zehren, auch hier giebt es zerrüttete Existenzen und verlorene Gewissen!
Jener Prozeß zu Hannover ist ein grell flammendes Warnungszeichen, daß es gilt, anzukämpfen gegen ein schleichendes Uebel unserer Zeit, und niemand schließe sich aus, wenn es jetzt heißt: „Es ist etwas faul im Staate Dänemark!“
Charles Gounod †. (Zu dem Bilde S. 773.) Im Gounod ist derjenige französische Tondichter aus dem Leben geschieden, der nach Auber am meisten Volksthümlichkeit auf den deutschen Bühnen genossen hat und wohl auch noch lange genießen wird. Und diese Volksthümlichkeit verdankt er einer einzigen unter seinen zahlreichen Schöpfungen, der Oper „Faust“. Wollte man die Zahl der Aufführungen, die dieses Werk in deutschen Städten erlebt hat, zusammenzählen, man würde gewiß weit in die Tausend hineingerathen: verzeichnete doch allein Wien schon im Jahre 1890 seine dreihundertste Vorstellung. Die zwingende Gewalt dieser Musik wird aber noch überzeugender dadurch bestätigt, daß der „Faust“ einen so großartigen Erfolg erringen konnte, trotzdem bei seiner Einführung der Text als ein Verbrechen an Goethes unvergleichlichem Meisterwerk empfunden wurde und, wenn auch in gemildertem Maße, wohl noch empfunden wird. Es kostet in der That Ueberwindung, diesen verwaschenen Abklatsch von [788] Goethes Dichtung ruhig an sich vorüberziehen zu lassen, wie sich dem deutschen Zuschauer auch bei Rossinis „Tell“ oft das Herz im Leibe umdreht. Ein um so glänzenderes Zeugniß aber liegt darin für den Komponisten, daß er dieses Mißbehagen durch seiner Melodien Reiz siegreich zu überwinden vermochte. Immerhin darf man vielleicht ein Zugeständniß an die Empfindungen deutscher Hörer darin erblicken, daß Gounods „Faust“ in Deutschland meist unter dem Titel „Margarethe“ gegeben wird.
Vor wie nach dem „Faust“, der am 19. März 1859 im „Lyrischen Theater“ zu Paris zum ersten Male über die Bühne ging, hat Gounod nichts geschaffen, was jenem an Wirkung gleichgekommen wäre, obwohl noch eine ganze Reihe von Opern und kirchlichen Kompositionen aus seiner Hand hervorgegangen ist. In Deutschland ist seine „Meditation“ zu Bachs C-dur-Präludium, ursprünglich für Violine geschrieben, wohl noch am bekanntesten. Sonst aber ruht sein Ruhm ausschließlich auf dem „Faust“.
Gounod war am 17. Juni 1818 zu Paris geboren und hat dort auch den größten Theil seines Lebens zugebracht. Ein fünfjähriger Aufenthalt in England, wozu ihn zunächst der Ausbruch des deutsch-französischen Krieges veranlaßte, bildet die einzige größere Unterbrechung. An äußeren Ehren hat es Gounod nicht gefehlt: er war Kommandeur des Ordens der Ehrenlegion und Mitglied der Pariser Akademie der Künste. In St. Cloud besaß er eine Villa, und dort ist er auch am 18. Oktober gestorben. Als ihn der tödliche Schlaganfall ereilte, hielt er, wie man erzählt, in der Hand die Partitur seines in jungen Jahren komponierten „Requiems“. Er hatte noch eben einem jungen Organisten Winke für einen daraus zu fertigenden Klavierauszug gegeben.
Hund und Maulkorb. Die Polizeiverordnungen unserer Städte zwingen uns vielfach, unseren Hunden Maulkörbe anzulegen; auch giebt es unter den „Freunden des Menschengeschlechts“ bissige Exemplare, die sich dauernd dieser Maßregel fügen müssen. In beiden Fällen wollen wir einem Schaden vorbeugen, den die Thiere anrichten könnten, keineswegs aber sie quälen. Und doch ist in dieser Beziehung aus Unverstand schon viel gesündigt worden. Das „Neue Universum“, dieses volksthümliche Jahrbuch der neuen Erfindungen und Entdeckungen, bringt nun in seinem neuesten (14.) Jahrgang eine sehr lehrreiche Zusammenstellung schlechter und guter Maulkörbe, die wir auch unseren Lesern vorführen möchten. Ein Marterinstrument ist der unter Nummer 1 dargestellte Maulkorb, weil er dem Hunde nicht gestattet, die Kiefer zu öffnen. Nun sind aber die Nasengänge des Hundes so eng, daß er, wenigstens wenn er erhitzt ist, das Maul öffnen muß, um athmen zu können; ebenso ist er auch gezwungen, die Zunge herauszustrecken, um das Innere seiner Rachenhöhle abzukühlen. Das Thier muß also, wenn der Nasenriemen des Maulkorbs 1 eng angezogen ist, fast ersticken, lockert man aber diesen Riemen so weit, daß der Hund das Maul öffnen kann, so ist der Maulkorb überflüssig, denn nun kann der Hund auch beißen. Der unter Nummer 2 dargestellte Maulkorb ist schon besser. Er macht dem Hunde das Beißen unmöglich, ohne ihn in der freien Athmung zu behindern. Er besteht aus Lederriemen und einem Geflecht von vernickeltem Eisendraht, ist ziemlich leicht und hat nur die eine Schattenseite, daß sein Träger einige Zeit braucht, bis er sich daran gewöhnt hat. Leichter geschieht dies bei dem nur aus Lederriemen hergestellten Maulkorb Nummer 3. Da aber das Leder sehr porös ist, so wird dieser Maulkorb, wenn er naß wird, recht schwer, und leicht scheuert sich der Hund sein edles Geruchsorgan durch.
Letzteren Uebelstand vermeidet zum Theil der unter Nummer 4 abgebildete Maulkorb, welcher gänzlich aus vernickeltem Eisendraht hergestellt und daher ziemlich leicht ist. Doch schließt auch er einen Druck auf die Nase nicht ganz aus, auch scheuert sich der Hund oft die Haut über den Augen ab, was sehr entstellend wirkt. Nach dieser Richtung hin bedeutet eine Verbesserung der entweder aus schmalen Lederriemen oder aus verzinntem Eisendraht herzustellende Maulkorb 5, am besten aber entspricht allen Anforderungen der Maulkorb 6. Wird das breite, über die Nase laufende Band mit Rehfell weich gefüttert und in gutem Zustand erhalten, so dürfte ein Durchscheuern nicht leicht vorkommen, im übrigen besteht er aus schmalen flachen oder runden Lederriemen sowie aus vernickeltem oder verzinntem Eisendraht. – Es wird nach dieser Anleitung jedem Hundebesitzer leicht sein, für seinen Liebling einen zweckentsprechenden Maulkorb ausfindig zu machen.
Zum Gedächtniß eines Patrioten. In Schleswig-Holstein begeht man am 18. November mit besonderer Herzlichkeit die Feier des hundertjährigen Geburtstages von Uwe Jens Lornsen, und überall im Reiche wird man sich in dankbarem Gedenken an den edlen Friesen mit seinen engeren Landsleuten zusammenschließen. Von seiner Hand ist ein Stein ins Rollen gesetzt worden, der erst mit der Befreiung der Elbherzogthümer von der dänischen Herrschaft wieder zur Ruhe kam, und in seinem prophetischen Geiste hat er die Zukunft Deutschlands schon fast genau so geschaut, wie sie sich in der Folge wirklich entwickelt hat. Seine im Jahre 1830 erschienene Schrift „Ueber das Verfassungswerk in Schleswig-Holstein“ war eine That, ein Weckruf und eine Richtschnur zugleich, und ihre Wirkung von unberechenbarem Segen für sein Volk. Für ihn selbst freilich war sie ein tragisches Verhängniß. Nicht, daß sie ihn um sein Amt und ins Gefängniß brachte, war das Schwerste – das haben schon viele erduldet, und das Märtyrerthum war nur ein Vortheil für ihre Sache! Aber die seelischen Qualen einer einsamen Haft fanden in Uwe Jens Lornsens Gemüth einen schwachen Punkt, von dem aus sie die schmerzlichsten Verheerungen anrichteten. Eine tiefe Neigung zur Schwermuth, hervorgerufen durch ein an sich bedeutungsloses körperliches Uebel, konnte durch die keineswegs schonend gehandhabte Untersuchungs- und Strafhaft nur ungünstig beeinflußt werden, und nach einem jahrelangen Ringen mit dem ihn finster umschleichenden Dämon endete der sonst so willensstarke und verstandesklare Mann am 13. Februar 1838 durch eigene Hand.[1] Sein glühender Wunsch, seinem Volke in den Stürmen der Zeit ein Führer zu Licht und Freiheit sein zu dürfen, ist nicht mehr in Erfüllung gegangen.
Aber jene eine That ist nicht vergessen worden, und wenn man heute die Männer aufzählt, die an der Wiege des deutschen Einheitswerkes gestanden haben, so ist auch Lornsens Name darunter. Dafür bleibt ihm das treue Gedächtniß seines Volkes!
Der Wasserfall. (Zu unserer Kunstbeilage.) Es ist ein Werk des größten holländischen Landschaftsmalers, das wir heute den Lesern vorführen, ein Werk Jakob van Ruisdaels, das jetzt eine Zierde des an klassischen Gemälden holländischer Meister so überaus reichen „Rijks Museums“ zu Amsterdam bildet. Man sagt von Ruisdael, er habe zum ersten Mal die Landschaft zum Spiegel des menschlichen Empfindens gemacht, und in der That sind seine Bilder in hohem Grade durch das ausgezeichnet, was man heutzutage „Stimmung“ nennt. Und dieser Künstler, der über 400 Gemälde von klassischer Schönheit geschaffen hat, mußte, erst etwa 54jährig, ein trauriges Ende nehmen. Er war ein Haarlemer Kind und mit 30 Jahren nach Amsterdam ausgewandert. Weil er aber gänzlich verarmte, so sandten ihn die Amsterdamer nach Haarlem zurück, und dort starb er im März 1682 – im Armenhaus.
- ↑ Das Leben und Wirken Uwe Jens Lornsens ist im Jahrgang 1879 der „Gartenlaube“, Nr. 5 und 6, ausführlich geschildert. Wir besitzen auch in dem Buche von C. Jansen, „Uwe Jens Lornsen. Ein Beitrag zur Geschichte der Wiedergeburt des deutschen Volkes“ (Neue Ausgabe, Kiel 1893, Eckardt) eine vortreffliche Biographie des Mannes.
Inhalt: Ein Lieutenant a. D. Roman von Arthur Zapp (6. Fortsetzung). S. 773. – Charles Gounod. Bildniß. S. 773. – Asthma. Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch. S. 776. – Am Hinterpförtchen. Bild. S. 777. – Weinlese im Rheingau. Von Ernst Lenbach. S. 780. Mit Abbildungen S. 780, 781 und 782. – Sein Minister. Novelle von E. Merk (Schluß). S. 783. – Jessika. Bild. S. 785. – Blätter und Blüthen: Trübe Zeichen der Zeit. S. 787. – Charles Gounod †. S. 787. (Zu dem Bildniß S. 773.) – Hund und Maulkorb. Mit Abbildungen. S. 788. – Zum Gedächtniß eines Patrioten. S. 788. – Der Wasserfall. S. 788. (Zu unserer Kunstbeilage.)