Die Gartenlaube (1893)/Heft 45
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Nr. 45. | 1893. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Ein Lieutenant a. D.
Mitten in ihrer lebhaften Unterhaltung erhielt die Gesellschaft in Schwabs Biersalon einen Zuwachs. Der Eintretende ging zuerst an den Schenktisch heran bestellte ein Glas und nahm ein paar Schnitten Brot und Wurst von dem auf dem Büffett zur allgemeinen Benutzung stehenden „freien Jmbiß“ dem „Free Lunch“. Als er sich dem Tisch der ehemaligen Offiziere näherte, wurde Erwin auf ihn aufmerksam. Der Ankömmling trug einen abgenutzten Ueberzieher und als Kopfbedeckung eine abgegriffene
[758] Mütze, über deren Schirm ein Messingschild mit der Aufschrift „Conductur“ befestigt war. Die Erscheinung des Fremden überraschte Erwin. Wo hatte er nur dieses Gesicht mit der Schmarre quer über die linke Wange und mit den braunen gutmüthig blickenden Augen bereits gesehen? Ein Gedanke durchzuckte ihn – Schuckmann!
Aber im nächsten Augenblick lächelte er über diese Vermuthung. Unwillkürlich vergegenwärtigte er sich den flotten Dragoneroffizier, der seinerzeit der Löwe der Garnison gewesen war, der schneidigste hübscheste Lieutenant, den man sich denken konnte, der sich einen Viererzug hielt und drei kostbare Reitpferde und in jeder Hinsicht eine Verschwendung trieb, welche alles in Schatten stellte und das väterliche Erbtheil des Offiziers im Betrage von hunderttausend Thalern in zwei Jahren bis auf den letzten Pfennig aufzehrte. Und nun sollte dieser Mann da in der abgetragenen Kleidung, mit dem ungepflegten Vollbart und den braunen Händen der allezeit peinlich elegante Schuckmann sein? Lächerlich!
Erwin erhob sich, um dem Herantretenden seinen Namen zu nennen. Doch er hatte noch nicht den Mund geöffnet, als der Fremde ihm schon beide Hände entgegenstreckte und, während über sein Gesicht ein freudiges Aufleuchten huschte, mit heller Stimme rief: „Wie, Buschenhagen – Sie? Ja sind Sie’s denn wirklich?“
Es war also doch Schuckmann, Erwin erkannte ihn an der Stimme, vermochte aber vor Ueberraschung kein Wort hervorzubringen und konnte seiner Freude nur durch einen Händedruck Ausdruck geben.
„Sitzen!“ sagte Schuckmann herzlich, drückte Erwin auf seinen Stuhl nieder und setzte sich neben ihn. „Wie ich mich freue! Wie geht’s in der Heimath? Was macht Kramm und Werra und was der gute Radewils? Fünf Jahre sind es, daß ich außer aller Verbindung mit drüben bin. Erzählen Sie, Kamerad, erzählen Sie!“
Erwin ließ sich nicht lange nöthigen und kramte von seinen Erlebnissen während der letzten Jahre aus, soviel ihm gerade einfiel. Je mehr er sprach, desto fröhlicher wurde das Gesicht Schuckmanns, der mit voller Seele zuhörte.
„Ja. ja, es war eine tolle Zeit,“ meinte er, als Erwin eine Pause machte, um die trocken gewordene Zunge anzufeuchten, „der Leichtsinn feierte seine Feste. Und was mir die allertollsten Streiche eingab, das war die Bewunderung, die ich obendrein erntete, das respektvolle Staunen, die aufleuchtenden Blicke der Mädchen. Mochte eine Sache auch noch so unsinnig und übermüthig sein – da sie von unsereinem ausging, war sie einfach ‚schneidig‘. Eine verrückte Welt, in der ein Glanz und Nimbus ohnegleicheu von den Epauletten ausstrahlt, in der man den Offizier, ganz abgesehen davon, was er als Mensch werth ist, auf ein alles gewöhnliche Volk überragendes Piedestal stellt! Kein Wunder, daß einem das schließlich in die Krone steigt und man nicht weiß, was vor Uebermuth anstellen!“
„Recht habt Ihr, Schuckmann,“ mischte sich hier der gräfliche Oberkellner ins Gespräch. „Na, hier in Amerika lernt dann unsereiner sich bald bloß noch als Mensch fühlen. Die reine Korrektionsanstalt, dieses Amerika, hol’ mich der Teufel! Da wird man um- und umgekrempelt, und ehe man sich’s versieht, ist man ein anderer, ein neuer Mensch –“
„Ein besserer Mensch!“ rief Schuckmann energisch dazwischen. „Wenigstens ist das meine Meinung trotz alledem und alledem. Mag’s einen auch manchmal hart ankommen, mag mancher von uns kopfüber untertauchen in der Menge der strandenden Existenzen – wer’s aushält und sich durchringt, ist wenigstens ein Mann geworden, ein ganzer Mann, der dem Leben die Stirn bietet und ihm in allen Lagen gewachsen ist, was nicht weniger heißen will, als dem Tod ins Gesicht zu sehen. Darum sage ich“ – der Sprechende stand lebhaft auf und erhob sein Glas – „hoch Amerika! Hip, hip, Hurra!“
Alle sprangen auf, stießen mit Schuckmann an und leerten ihre Gläser, Erwin aber war starr vor Staunen. War das Schuckmann, der flotte, leichtsinnige, tolle Schuckmann, der so sprach? War es möglich, daß ein paar Jahre in einem Menschen eine so völlige Umwandlung vollbringen konnten?
Unterdessen drehte sich Schuckmann zur „Bar“ um und rief dem Wirth zu: „Jedem ein frisches Glas!“
Der Gerufene, eine wohlbeleibte schwerfällige Gestalt in Hemdsärmeln, die bis über die Ellbogen zurückgeschlagen waren, kam gemächlich heran, nahm die Gläser und füllte sie von neuem, „Schuckmann,“ sagte der Reitlehrer lächelnd und strich sich, in Erwartung des frischen Trunkes, behaglich die lang herabwallenden Bartkoteletts, „alle Achtung vor dem Speech, den Sie da losgelassen haben! Wenn Sie ’mal Ihren Posten als Pferdebahnschaffner verlieren, können Sie alle Tage als Pastor Ihr Glück machen. Es kommt Ihnen ein Achtungsschluck.“ Er ergriff sein Glas, das der Wirth eben vor ihn hinstellte, neigte es gegen Schuckmann und trank es bis zur Hälfte aus.
Schuckmann that ihm Bescheid und meinte dann: „Am Ende auch Pastor – warum nicht? In Amerika muß einer in allen Sätteln gerecht sein. Das ist das Schöne hier – wer in einem Beruf Schiffbruch leidet, kann im andern immer wieder obenauf kommen.“
Als die Gläser zum großen Theil von neuem geleert waren, ließ sie Schuckmann abermals füllen, was allgemeines Staunen erregte.
„Hört ’mal, Schuckmann,“ gab Graf Bürker dem allgemeinen Gefühl Ausdruck, „Ihr seid ja so freigebig, als wenn Ihr das große Los gewonnen hättet! Das ist doch sonst nicht Eure Art. Was ist Euch denn heute so Angenehmes begegnet?“
Der Gefragte lächelte vergnügt vor sich hin. „Die Annehmlichkeit ist schon drei Jahre alt,“ entgegnete er und sein Gesicht strahlte. „Heute ist der Geburtstag meines Stammhalters. Ihr kennt den Bengel, Graf, und werdet mir zugeben, daß mein Henry –“
„Der klügste und hübscheste kleine Kerl zwischen dem Stillen und Atlantischen Ocean ist,“ fiel Bürker ein. „Meine Herren“ – er erhob sich – „dies Glas Schuckmann dem Jüngeren, dem künftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten! Er lebe hoch!“
Als die Tischrunde jubelnd eingestimmt und mit dem glücklichen Vater angestoßen hatte, wandte sich Bürker an Erwin, der alles in stummer Berwunderung mit anhörte. „Sie müssen wissen – Kamerad Schuckmann ist der einzige unter uns, der sich den Luxus einer Familie gönnen kann, und wie Sie ihn hier sehen, ist er das Muster eines Gatten und Vaters, ein wahres Prachtstück von einem braven Staatsbürger, dessen höchste Tugend, dessen Leidenschaft das Sparen ist. Staunen Sie: Schuckmann ist Ka–pi–ta–list! Der Mensch hat Geld auf der Bank!“
Die letzten Worte, welche der Graf mit besonderer Betonung und mit komischer Würde ausgerufen hatte, erregten ein lautes Hallo. Der Gefeierte lächelte schmunzelnd vor sich hin.
„Meine Herren,“ begann er, „die Sparsamkeit ist eine Tugend, bei der nur der Anfang schwer ist. Es ist nicht zu sagen, wie viel Ausdauer und Ueberwindung dazu gehört, wieviel Mühe es macht, hundert Dollar zusammenzubringen. Ist aber erst dieses Hundert voll, so geht die Sache von selbst, und Sie glauben gar nicht, welch schönes Bewußtsein es ist, ein paar Dollar auf der Bank zu wissen für den Fall der Noth. Darum sparen, meine Herren, bei Zeiten sparen!“
„Nur keine Predigt, Schuckmann – das ist zu früh!“ rief hier der lustige Nähmaschinenagent. „Sparen ist mir in tiefster Seele zuwider. Ich habe nicht das Zeug dazu. Und zum Henker, ich will’s auch nicht lernen. Wenn man nur immer so viel hat, als man braucht, das genügt! Mister Peter, frische Gläser!“ ...
Es war schon in der dritten Morgenstunde als die Herren endlich aufbrachen. Vor der Thür verabschiedeten sie sich voneinander. Schuckmann aber schob seinen Arm unter den Erwins und fragte: „Wo wohnen Sie?“
„In der Delancy Street.“
„Da gehen wir ein Stück zusammen.“
Schuckmann schien sehr aufgeräumt. Er sprach in einem fort und Erwin hatte nichts zu thun als zuzuhören.
„Sie finden wohl, daß ich mich sehr verändert habe?“
„Allerdings.“
„Das kommt von selbst, wenn man verheirathet und glücklicher Vater ist; Sie glauben nicht, wie das den Menschen ummodelt, wie einem das so ein ganz sonderbares Gefühl der Verantwortlichkeit giebt. Wer Frau und Kind liebhat, dem vergeht die Lust zu Dummheiten und leichtsinnigen Streichen von selbst, ohne daß er nöthig hätte, erst besonders an sich zu arbeiten. Die Hand aufs Herz – es war doch eigentlich recht fades, kindisches Zeug, dem wir drüben gehuldigt haben. Und froh, so recht von Herzen froh ist man dabei auch nicht gewesen. Ich sage Ihnen, jetzt – das ist doch etwas ganz anders. Wenn ich abends zu Hause sitze, meine Frau neben mir – eine niedliche kleine Frau, nicht anspruchsvoll, keine sogenannte ‚höhere Tochter‘, kein Goldfisch, aber gut, herzensgut, einfach und bescheiden – wenn ich des Abends so mit meiner Frau zusammensitze und ihr etwas aus der Zeitung vorlese oder mit ihr plaudere über dies und jenes oder wenn ich meinen Jungen auf den Knien habe und ihn reiten lasse und der Bengel jauchzt und strampelt mit den kurzen drallen Beinchen – ich sage Ihnen, Buschenhagen, das giebt so ein [759] eigenes Gefühl, ein Gefühl der Sicherheit, der stillen Zufriedenheit, das unendlich mehr werth ist als all das Zeug von ehemals.“
Erwin wußte nichts darauf zu erwidern. Er konnte sich nur immer von neuem verwundern über den Schuckmann von heute, der einen so schroffen Gegensatz zu dem Schuckmann von einst bildete. Aber als jetzt der neben ihm Schreitende weiter erzählte von Frau und Kind, von seiner stillen Häuslichkeit, seinem Berufe, seinen Hoffnungen und Zukunftsträumen, da wurde auch ihm ganz warm ums Herz und eine ehrliche, tiefe Achtung stieg in ihm auf, grundverschieden von jener lauten Bewunderung, die er und die jüngeren Kameraden einst den Thaten des „tollen Schuckmann“ gezollt hatten.
Als sie einander „Gute Nacht“ sagten, fragte Schuckmann plötzlich: „Sind Sie morgen mittag frei?“
„Ja, bis fünf Uhr!“
„So bitte ich Sie, morgen zum Mittagessen mein Gast zu sein. Sie müssen meine Frau kennenlernen und meinen Jungen. Aber wenn ich bitten darf, keine zu großen Erwartungen, was unseren Tisch betrifft! Wir essen einfach: Suppe und Sonntagsbraten – morgen haben wir Kalbsbraten. Das ist etwas Rares in Amerika. Ich habe ihn selbst eingekauft, und daß er gut ist, dafür stehe ich Ihnen. Ich rechne also auf Sie. Gute Nacht, schlafen Sie wohl!“
Obgleich Erwin eigentlich recht müde war, als er endlich sein Kosthaus erreicht hatte, wälzte er sich doch noch eine ganze Weile schlaflos in seinem Bett umher. Seine Seele war zu sehr erfüllt von all den neuen Eindrücken, die ihm die letzten Stunden gebracht hatten. Das, was er an dem Stammtisch in Peter Schwabs Bierlokal gesehen und gehört hatte, war so seltsam, daß es ihm jetzt wie ein phantastischer Traum vorkam. Ein Freiherr als Bäckergeselle, ein Graf als Oberkellner, ein Baron als Stadtreisender und vor allem Schuckmann, der tolle Schuckmann, als Pferdebahnschaffner, als Gatte und Vater, als sparsames Familienhaupt, das den Markt aufsuchte und Fleisch einkaufte! Das alles war wie ein Stück aus einer verzauberten Welt.
Es war zwölf Uhr mittags, als Erwin der Einladung Schuckmanns folgte. Dieser wohnte in der vierzehnten Straße in einer Miethskaserne, die eine Unmenge kleiner Wohnungen enthielt.
Auf sein Klopfen an der Thür, die ihm sein ehemaliger Kamerad gestern noch genau bezeichnet hatte, öffnete eine schmächtige kleine Frau. Sie blickte den Gast einen Augenblick prüfend an, während dieser höflich seinen Hnt zog; dann lächelte sie ihm freundlich zu und sagte: „Sie sind gewiß Johnnys Freund. Nicht?“
Und als Erwin sich verneigte, forderte sie ihn auf, näherzutreten. Er folgte der Voranschreitenden, die ihn durch einen kleinen halbdunklen Raum geleitete, der nur durch eine schmale Oeffnung Licht erhielt und durch einen eisernen Kochofen sich als Küche auswies. Frischer Bratengeruch erfüllte den ganzen Verschlag, dessen Möbel nur aus einem Küchentisch, einem alten schmalen Geschirrschrank und einem Schemel bestanden. Durch eine Glasthür gelangten sie ins Wohnzimmer, dessen zwei Fenster nach dem Hof hinausgingen.
Erwin stand überrascht einen Augenblick an der Thür still. So einfach, ja ärmlich hatte er sich Schuckmanns Wohnung doch nicht vorgestellt. An der einen Wand ein Roßhaarsofa, davor ein runder braun angestrichener Tisch; an der andern ein großes und ein kleines Bett; sonst nur noch ein paar Holzstühle und ein Schaukelstuhl, daneben eine alte Kommode. Der einzige „Luxus“ war der Teppich, der über den ganzen Fußboben ausgespannt war.
„Bitte, legen Sie ab!“ Die junge Frau sagte es mit einer freundlichen Handbewegung; Erwin gehorchte mechanisch, sehr befangen, und ließ sich dann auf ihre Einladung hin auf dem Sofa nieder. Er war in wirklicher Verlegenheit, womit er die Unterhaltung beginnen sollte. Er, der zu Hause den Damen seiner Kreise gegenüber nie um einen Gesprächsstoff verlegen gewesen war, wußte nicht, was er zu dieser schlichten Frau sprechen sollte. „Mister Schuckmann?“ stotterte er endlich. Sie kam ihm zu Hilfe. „Mein Mann kommt gleich zurück. Er ist nur ’mal in das Restaurant nebenan gegangen.“
Sie hatte kanm ausgesprochen als man auch schon das Geräusch der geöffneten Flurthür hörte; eine Sekunde später trat Schuckmann ein. Erwin, der sich erhoben hatte, mußte wohl ein sehr verblüfftes Gesicht machen, denn der andere lachte laut auf. Es war aber auch ein drolliger Anblick, den der „tolle“ Schuckmann bot. Auf dem Kopfe saß ihm ein breitrandiger Schlapphut; einen Rock trug er nicht, sondern nur eine dicke gestrickte Weste über dem Hemd. Auf seinem linken Arm hockte ein kleiner, lustig dreinblickender Knabe und in der rechten Hand hielt er einen mit Bier gefüllten Krug.
Nachdem Schuckmann seine Hände frei gemacht hatte, begrüßte er den Gast herzlich.
„Liebe Libby,“ sagte er dann zu seiner Frau, „hier mein Freund Buschenhagen von dem ich Dir heute früh erzählt habe, ehemals preußischer Lieutenant, zur Zeit Kellner im ,Atlantic Garden‘.“
Erwin konnte ein Erröthen nicht unterdrücken. Schuckmann bemerkte es und klopfte ihm auf die Schulter. „Ich glaube gar –“ sagte er mit heiterem Vorwurf. „Das müssen Sie sich hier abgewöhnen! Kellner oder Minister, ganz gleich, wenn man nur sonst ein ehrenhafter Kerl ist. Meine Libby hat in dieser Hinsicht gar keine Vorurtheile. Als wir uns kennenlernten, ging ich mit Insektenpulver hausieren.“
Erwiu hatte erst jetzt Gelegenheit, die Frau seines Freundes genauer zu betrachten. Ihr Gesicht war unbedeutend, aber aus ihren blauen Augen strahlte so viel Herzensgüte, und als sie jetzt ermunternd zu ihm herüberblickte, lag ein so liebenswürdiges Lächeln auf ihren Zügen, daß mit einem Male seine Befangenheit wich und einem warmen sympathischen Gefühl für die kleine Frau Platz machte. Während sie nun in der Küche nebenan verschwand, um nach dem Braten zu sehen, nahm Schuckmann den Knaben, den er bei der Begrüßung des Freundes auf den Boden gestellt hatte, wieder auf den Arm und trat mit ihm zu Erwin hin. Der Kleine wandte sich etwas scheu von dem fremden Gesicht ab und umklammerte mit beiden Händchen den Hals des Vaters.
„Na, na – nicht fürchten, Henry,“ mahnte dieser und bemerkte dann, zu dem Freunde gewandt: „Er sieht so selten ein fremdes Gesicht, wir leben ganz für uns. Hallo, Henry, gieb dem Onkel eine Hand – na wird’s?“
Der Junge wandte sich zögernd herum und reichte vorsichtig, mit ängsttichem Blick Erwin die kleine dicke Rechte.
Schuckmann sah ihm dabei mit vergnügtem Schmunzeln zu, strich ihm über den Blondkopf und küßte ihn zärtlich auf den Mund.
„Ich sage Ihnen, Buschenhagen, so sich selbst verjüngt vor sich zu sehen, darüber geht nichts!“ Er hob den Kleinen der aufjauchzte und lustig strampelte, mit ausgestreckten Armen in die Höhe und betrachtete ihn mit stolzen Blicken. „Ein strammer Bengel, nicht?“ sagte er über die Schulter zu Erwin. „Und klug! Nein wirklich, es ist nicht bloß väterliche Eitelkeit, die aus mir spricht.“
Erwin wehrte lächend ab.
„Sie glauben es nicht? So passen Sie einmal auf, Buschenhagen!“ fuhr der glückliche Vater mit ehrlichem Eifer fort. „Henry, mein Junge, zeige dem Onkel ’mal, was Du gelernt hast! Zähle – zuerst deutsch!“
Der Knabe machte ein ernstes Gesicht und begann langsam, stockend: „Eins, zwei, drei vier, fünf –“
„Nun englisch!“ gebot Schuckmann, dessen Gesicht bei jeder neuen Zahl freudiger und stolzer aufleuchtete.
„One, two, three, four, five –“ zählte Henry mit wichtiger Miene.
„Sehen Sie, Buschenhagen,“ fing Schuckmann von neuem an, während sie sich niederließen – er mit dem Knaben auf dem Schaukelstuhl, sein Gast auf dem Sofa – „sehen Sie, für meine Person habe ich keinen Ehrgeiz mehr. Wenn ich nur das verdiene, was die Meinen brauchen, und allenfalls noch ein bißchen mehr, so bin ich zufrieden. Bloß was meinen Jungen betrifft – aus dem soll einmal etwas werden. Das ist meine Lebensaufgabe, aus Henry einen tüchtigen Menschen zu machen. Und der Junge kann alles werden – Minister, Präsident, was man will. Aber auf diese Zukunft müssen wir gleich ’mal anstoßen!“
Er erhob sich lebhaft, holte drei Gläser von der Kommode, füllte sie aus dem Krug, in dem er das Bier gebracht hatte, und rief nach der Küche hinaus: „Libby! Bitte, komm’ doch einen Augenblick!“ Und zu Erwin gewandt, fügte er erklärend hinzu: „‚Libby‘ – das ist eine Abkürzung von ‚Liberty‘: Freiheit. Sie ist nämlich am vierten Juli geboren, am Tag der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten. Ein drolliger Name, was? Ja, in diesem Punkt leisten die Amerikaner Unglaubliches.“
Indes erschien die Gerufene und alle drei stießen lustig an auf das Wohl des kleinen Zukunftshelden.
Zehn Minuten später war der Tisch gedeckt. Der kleinen Frau ging alles so flink von der Hand, sie zeigte in jeder Bewegung eine so natürliche Anmuth, in ihrem ganzen Gebahren [760] ein so ungekünsteltes Wesen, daß Erwin sich schon in der ersten Stunde in der Familie heimisch fühlte. Er plauderte mit der Frau von allem Möglichen: von ihrer Vergangenheit, von ihrem Kinde, ihrer kleinen Wirthschaft, ja von sich und seinem jetzigen Berufe ohne jede Scheu, als wären sie längst die besten Freunde. Dabei war es ihm wahrhaft rührend, zu sehen, mit welcher Zärtlichkeit sie um ihren Gatten bemüht war, wie sie ihm die Wünsche, noch ehe er sie äußerte, von den Mienen absah, und mit welcher Zartheit auf der andern Seite ihr Gatte gegen sie verfuhr. Zwischen beiden der muntere, gut erzogene kleine Bursche – es war ein so anheimelndes Bild schlichten Familienglückes, wie Erwin es noch nie in seinem Leben gefunden hatte.
Um drei Uhr brach Schuckmann auf, denn er hatte noch Dienst. Erwin begleitete ihn ein Stück Weges. Bevor sie sich trennten, sagte Schuckmann, dem Freund zutraulich die Hand auf die Schulter legend: „Buschenhagen, Sie haben nun gesehen, wie es bei mir ausschaut. Wenn es Ihnen danach ums Herz ist, so kommen Sie wieder! Einer besonderen Einladung bedarf es nicht mehr, Sie sollen uns immer willkommen sein. Umstände freilich machen wir nicht, Sie müssen schon mit dem fürlieb nehmen, was Sie gerade antreffen.“
Und nachdem ihm Erwin herzlich gedankt hatte, fügte er mit listigem Augenzwinkern hinzu: „Buschenhagen, bin ich nicht ein armer bedauernswerther Kerl?“
Erwin wurde ganz roth vor Eifer. „Der Teufel soll mich holen, Schuckmann, wenn ich Sie nicht beneide. Sie sind ein glücklicher Mann!“
Und das kam aus ehrlichem Herzen, unter der Nachwirkung der eben verlebten friedlichen Stunden.
„Nicht wahr?“ schmunzelte der andere. „Mit einem solchen Frauchen und einem so herzigen Burschen von Sohn!“
„Präsident in spe!“
Sie lachten beide laut auf, schüttelten einander die Hände und trennten sich,
Buschenhagen lebte sich mehr und mehr in seinen neuen Beruf ein, dem er bald mit wirklichem Eifer nachging. Die Sucht, ein hübsches Stück Geld zu verdienen, die hier förmlich in der Luft lag, packte auch ihn und trieb ihn an, seine ganze Gewandtheit aufzubieten, um allabendlich so viele Gläser Bier als irgend möglich abzusetzen. Zuweilen erschien Schuckmann mit Frau und Kind in einer freien Abendstunde und Erwin legte dann einfach den Kellnerschurz ab, setzte sich zu ihnen und spielte auf eine Stunde den Gast.
Mehrere Monate bekleidete er schon seine Stelle im „Atlantic Garden“. Die kleinen Demüthigungen, welche sein Los mit sich brachte, empfand er kaum noch, dachte auch vorläufig gar nicht daran, seinen Posten aufzugeben, sondern wollte ihn so lange festhalten, bis er des Englischen mächtig geworden sein würde. Dann standen ihm alle möglichen Wege offen, aber ohne die Kenntniß der Landessprache – das hatte ihm Schuckmann eindringlich vorgehalten – war nichts Ordentliches anzufangen. Ohne Englisch war man immer dem Zufall, der Noth preisgegeben.
Da hatte er eines Tages eine Begegnung, die alle seine Pläne über den Haufen warf und mit einem Schlage sein mühsam errungenes Gleichgewicht wieder vernichtete. Eines Abends, er kam eben mit dem gewohnten Ruf: „Lagerbier! Lagerbier!“ den Mittelgang des Riesenlokals herauf, sah er plötzlich kaum zwanzig Schritt entfernt an einem Tisch zwei Personen sitzen, deren unvermutheter Anblick ihn so heftig zusammenfahren ließ, daß er alle Kraft zusammennehmen mußte, um nicht die Gläser, die er trug, zu Boden fallen zu lassen. Auf den ersten Blick erkannte er ihn, seinen Todfeind, den Deserteur, der also glücklich nach Amerika entkommen war, und neben ihm seine Schwester Klara. Er stand einen Augenblick wie angewurzelt, wie gelähmt vor Schrecken und achtete nicht darauf, daß ein paar Gäste am nächsten Tisch ihm schrieen und winkten und dann ärgerlich eine Verwünschung zuriefen, als er ihrem Begehren nicht nachkam.
[761] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
Die Augen starr auf Klara und ihren Bruder gerichtet, bei dem Gedanken, daß sie ihn bemerken könnten, erschauernd und doch wie gebannt von ihrer Gegenwart, vergaß er alles, was sonst um ihn vorging. Und nun, nun schienen auch sie ihn zu erkennen, ihm schien es, als ob ein Ausdruck höhnischer Verachtung sich in den Mienen der beiden male. Mit hastigem Ruck drehte er sich um und eilte stürmischen Schrittes dem Ausgang zu.
Am Schenktisch setzte er die gefüllten Gläser so heftig nieder, daß sie fast in Scherben gegangen wären, und ohne auf den verwunderten Ausruf des Aufwärters zu hören, riß er Hut und Ueberzieher vom Nagel und stürmte davon. Schweißtriefend langte er in seinem Zimmerchen an, wo er sich erschöpft aufs Bett warf. Und so sehr er sich auch wehrte, so sehr er sich selbst unmännlich, kindisch schalt, er konnte es nicht hindern, daß ihm die Thränen über die Wangen liefen und ein heftiges Schluchzen ihn überfiel. Trotz aller Erfahrungen, trotz aller guten Lehren Schuckmanns fühlte er sich so beschämt, gedemüthigt, daß er sich am liebsten vor sich selber versteckt hätte. Er – er war jetzt der Besiegte, der Unterliegende, und jener, den er einst mit Hohn und Schimpf von sich gewiesen, über den er sich so hoch erhaben gedünkt hatte, stand über ihm und blickte seinerseits auf ihn und seinen Beruf mit Geringschätzung herab. Im Kampf ums Dasein besaß jener ja die stärkeren Waffen.
Erst allmählich, als er sich sagte, daß in der Riesenstadt eine zweite Begegnung leicht zu vermeiden sei, verlor seine Empfindung etwas von ihrem bitteren Stachel. Aber nie mehr, das stand unerschütterlich bei ihm fest, nie mehr würde er in den „Atlantic Garden“ zurückkehren, zu diesem Beruf, in dem er keinen Augenblick vor den demüthigendsten Begegnungen sicher war. Eher wollte er alles andere versuchen und die schwerste Arbeit auf sich nehmen, ja lieber Noth und Hunger leiden.
So fing denn das sauere Suchen nach Arbeit wieder für ihn an. Es war an einem der nächsten Tage, als er auf einem solchen Gange in das Zeitungsviertel New Yorks am Südende der Stadt kam. Neugierig und bewundernd schauten seine Augen an den thurmhohen Palästen hinauf, in denen die großen Zeitungen der nordamerikanischen Presse ihr Heim hatten. Da traf beim Weiterschlendern sein Blick auf ein bescheidenes Schild, das über dem Eingang zu einem kleinen Geschäftsraum befestigt war und die Inschrift trug: „New Yorker Volksblatt, Organ für die Interessen des arbeitenden Volkes.“ Er erinnerte sich, im „Atlantic Garden“ einmal von diesem jungen Zeitungsunternehmen gehört zu haben, das Arbeiter begründet und zum leitenden Organ der deutsch-amerikanischen Sozialdemokratie gemacht hatten. Neben dem Schild war eine Tafel angebracht, auf der zu lesen stand: „Fleißige und geschickte Abonnentensammler werden sogleich verlangt. Näheres in der Druckerei.“
Es gab ihm einen ordentlichen Ruck. Abonnentensammler für eine deutsche Zeitung – da würde ihm seine Unkenntniß der Landessprache nicht im Wege sein, da hatte er es ja selbstverständlich nur mit Landsleuten zu thun. Und doch – Leser werben für ein sozialdemokratisches Blatt? Unmöglich! Aber wenn er nun wirklich der sozialdemokratischen Partei ein paar neue Anhänger zuführte, würde die Welt darüber zusammenbrechen? Lächerlich! Wenn er’s nicht that, so fanden sich andere genug dazu. Und wenn er sich nun zu dem – zu dem entschloß, was seiner ganzen Vergangenheit schroff ins Gesicht schlug, wenn er sich dazu herbeiließ, er, der ehemalige Offizier, von der Sozialdemokratie Brot zu nehmen, that er es etwa zum Besten der Partei? Unsinn! Er that es für sich, um nicht zu verhungern, weil er keine andere Wahl hatte. Wenn er nicht zugriff und nahm, was sich hier bot, so blieb ihm wahrhaftig nichts übrig, als sich an einer Ecke aufzustellen und vor jedem Vorübergehenden bittend den Hut zu ziehen. Besser aber als betteln war diese Arbeit immer noch!
Hell und klar strahlt heute das stille Licht der traulichen Petroleummape über den abendlichen Familientisch. In der Geschichte dieses Lichtes ist der 27. August des Jahres 1859 ein denkwürdiger Tag, denn an ihm wurde mittels artesischer Brunnen bei Titusville in Pennsylvanien die erste unterirdische Oelader „angezapft“, die täglich 621/2 Centner Petroleum lieferte. Dieses Ereigniß rief ein wahres „Oelfieber“ hervor, man bohrte an hundert und tausend Stellen und das amerikanische Petroleum trat einen Siegeszug an, der durch seine fabelhafte Geschwindigkeit geradezu beispiellos in der Kulturgeschichte dasteht. In kaum einem Jahrzehnt wurde in der ganzen civilisierten Welt die Petroleumlampe zur Hauslampe, die ihr ruhiges helles Licht in Palästen wie in Hütten erstrahlen ließ.
Indessen, so wunderbar auch dieser Siegeszug ist, so muß man doch, ohne die Thatkraft der Amerikaner irgendwie bezweifeln zu wollen, hervorheben, daß das Petroleum bereits geebnete Wege vorfand. Die civilisierte Welt stand inmitten einer Revolution auf dem Gebiete der künstlichen Beleuchtung, als die Ströme des amerikanischen Erdöls der Menschheit eröffnet wurden.
Versetzen wir uns an den Anfang dieses Jahrhunderts! Bereits brannte das Leuchtgas in verschiedenen Städten, die Lichtkerzen waren außerordentlich vervollkommnet; aber die Hauslampe ließ noch viel zu wünschen übrig. Man bedenke nur, daß Flach- und Runddochte erst im Jahre 1783 auftauchten, und daß erst einige Jahre darauf über die rußende Flamme der Glascylinder gesetzt wurde! Wohl waren das schon beachtenswerthe Fortschritte, aber noch war das Brennmaterial nicht genügend. Das alte Rüböl, mit dem die Lampen gespeist wurden, war nicht nur theuer, sondern stieg auch ungenügend in dem Dochte empor; man mußte darum durch besondere Einrichtungen für die Zuführung des Oels zum Dochte Sorge tragen, und die Lampen waren infolgedessen in der Handhabung unbequem.
Um jene Zeit entdeckte nun die junge chemische Wissenschaft in den sogenannten Mineralölen Hydrocarbür, Photogen und Solaröl, Beleuchtungsstoffe, die billiger waren als Rüböl, leichter im Docht emporstiegen, in einfacher gebauten Lampen brannten und mehr Licht als die bisher benutzten fetten Oele gaben. Zu Anfang der fünfziger Jahre sah man in der That in Europa und Amerika an vielen Orten Mineralölfabriken entstehen und damals wurde auch der Grund zu der bedeutenden Mineralölindustrie der Provinz Sachsen gelegt, wo Paraffin und Solaröl aus der Schwelkohle, einer Art von Braunkohle, gewonnen werden.
Inmitten dieser Umwälzung auf dem Gebiete der künstlichen Beleuchtung geschah es, daß gegen das Ende des Jahres 1848 einige Geschäftsleute aus der Umgegend von Drohobycz bei dem Apotheker P. Mikolasz in Lemberg erschienen und diesem eine schwarzgrüne, ölige, dicke Flüssigkeit, welche sie aus stagnierenden Wassern und seichten Vertiefungen geschöpft hatten, zur chemischen Untersuchung überbrachten. Damals waren Ignaz Lukasiewicz und P. Zeh als Provisoren in der Apotheke thätig und sie erkannten in der Flüssigkeit rohes Bergöl oder Petroleum.
Dieses Erdöl war ein längst geläufiges Ding. Seit uralten Zeiten quoll es ja in vielen Gegenden der Erde hervor und zahlreiche Ortschaften verdankten ihm ihre Namen; wir möchten nur an die deutschen Lokalbezeichnungen „Theerberg“, „Pechgraben“, „Oelbach“, „Pechelbronn“ u. s. w. erinnern. Auch in Galizien war es dem Volke unter dem Namen „Ropa“ seit alter Zeit bekannt, auch hier wurden Ortschaften nach ihm benannt, davon zeugen die Ortsnamen „Ropica“, „Ropianka“, „Ropagóra“, der Fluß „Ropa“ u. a. Wie in Deutschland wurde auch in Galizien das rohe Erdöl, das auf sumpfigen Wiesen, an den Ufern der Bäche oder Tümpel auf der Oberfläche des Wassers schwamm, vom Landvolke gesammelt und als Medizin für das Vieh, namentlich gegen die Räude, und als Wagenschmiere benutzt. Auch vermendete man es zum Wasserdichtmachen des Leders, und zu diesem Zwecke wurden kleinere Mengen dieses Oeles bereits in frühester Zeit aus Galizien nach Rußland verschickt.
In einigen Gegenden Galiziens kannte man seit lange auch eine einfache Art von Bergbau zur Gewinnung des Erdöls. Wie Strippelmann in seinem Werke „Die Petroleumindustrie Oesterreich-Deutschlands“ berichtet, wurden flache Gruben von 8 bls 10 Fuß Tiefe gegraben, in denen sich Wasser, zugleich aber auch auf dessen Oberfläche das aus tiefer liegenden Gesteinsschichten hervortretende Oel ansammelte.
Als nun Ignaz Lukasiewicz mit der Untersuchung des Erdöls beschäftigt war, kam er auf den Gedanken, daß diese rohe Masse gereinigt werden, daß aus ihr ein besserer Leuchtstoff als die bis dahin bekannten Mineralöle gewonnen werden könnte; er setzte [763] seine Arbeiten unermüdlich fort und es gelang ihm endlich im Jahre 1853, das Erdöl zu raffinieren und ein Erzeugniß zu liefern, welches das Hydrocarbür an Leuchtkraft weit übertraf und dabei billiger war als die damals vorhandenen Mineralöle. Die Direktion der Nordbahn in Wien, welche bisher ihr Photogen ausschließlich aus Hamburg bezogen hatte, deckte nunmehr einen Theil ihres Bedarfs in Galizien. Es bildeten sich kleine Gesellschaften von 8 bis 10 Personen, die in verschiedenen Gegenden auf Oelgewinnung ausgingen, und so konnte der Wiener Markt im Jahre 1854 mit etwa 300 Centnern beschickt werden.
Inzwischen fand aber der kunstlose galizische Oelbergbau einen mächtigen Förderer in Titus von Trzecieski, der in Bóbrka, südöstlich von Lemberg, sich nicht mehr mit dem Sammeln des oberflächlich hervorquellenden Oeles begnügte, sondern tiefere Schächte abteufen ließ. Die Schächte wurden mit mäßig starken Bohlen verzimmert, die losgearbeiteten Gesteinmassen mit einfachen Haspelwinden zu Tage gefördert, während ein der gewöhnlichen Getreideputzmaschine sehr ähnlicher Ventilator den in der Tiefe Arbeitenden frische Luft zubrachte. Solche Schächte rückten begreiflicherweise sehr langsam in die Tiefe vor und selbstverständlich drang durch die Zimmerung immer Wasser ein, so daß man immer nur Oel mit Wasser aus dem Schachte heben konnte. Dieses Gemisch trennte sich dann in Behältern, indem das Oel wegen seines leichteren spezifischen Gewichtes nach oben stieg und dort ablief, während das Wasser unten seinen Abzug fand. Es gelang Trzecieski auf diese Weise, einen Schacht abzuteufen, der einige Jahre hindurch täglich 32 Centner Oel lieferte.
Lukasiewicz und Trzecieski arbeiteten nun zusammen und gründeten im Jahre 1858 in Ulaszowice bei Jasło die erste größere Petroleumraffinerie Galiziens. Das Oel konnte erfolgreich gegen das Hydrocarbür aufkommen und im Jahre 1859 deckte die Nordbahn ihren 1100 Centner betragenden Bedarf vollständig aus Galizien. Um dieselbe Zeit verbesserte Dittmar in Wien die Einrichtung der Lampen für die Destillate von Lukasiewicz, die in Oesterreich immer mehr Anklang fanden.
So konnte sich Galizien rühmen, vor den amerikanischen Triumphen aus eigener Kraft am Fuße der Karpathen eine lebenskräftige Leuchtölindustrie hervorgebracht zu haben, und mit Recht wird Ignaz Lukasiewicz als deren „Vater“ von den Galiziern geehrt.
Die Amerikaner hatten inzwischen ebenfalls selbständig dem Erdöl ihre Aufmerksamkeit zugewendet und im Jahre 1859 mit Erfolg Petroleum raffiniert; doch war die Gewinnungsart so unvollständig, der Mangel an rohem Erdöl so groß und der Preis so hoch, daß dieses Petroleumraffinat gegen die bisherigen Mineralöle nicht aufkommen konnte. Diese Verhältnisse änderten sich aber mit einem Schlage, als die von George H. Bissel angeregten Bohrungen bei Titusville von Erfolg gekrönt wurden und der Oelsegen über Amerika kam. Nunmehr erblühte dort an den Oelquellen ein neues Leben, in kurzer Zeit entstanden Städte, wurden neue Eisenbahnlinien nach früher menschenleeren Gebieten gebaut. Von einer derartigen phänomenalen Entwicklung war auf den Oelfeldern Galiziens nichts zu spüren; hier herrschte Mangel an technischen Kräften und Mangel an Kapital. Aber durch das Eingreifen der Amerikaner wurden die Gewinnung und das Raffinieren des Oeles vervollkommnet, die Lampen verbessert, und alle diese Fortschritte mußten schließlich auch dem galizischen Petroleum zugute kommen, das in seiner Zusammensetzung dem amerikanischen fast ganz gleich ist. Immerhin blieb Amerika das wichtigste Petroleumland der Welt; im Jahre 1885 betrug der Werth der nordamerikanischen Petroleumerzeugung ungefähr 81 Millionen Mark, der von Rußland 9 Millionen Mark, während Galizien nur für 51/2 Millionen Mark hervorbrachte. Es wird aber von verschiedenen Seiten behauptet, daß die galizische Erdölgewinnung einer beträchtlichen Steigerung fähig sei. In der That hat die Erfahrung der letzten Jahrzehnte gezeigt, daß die ölführenben Schichten sich auf verschiedenen Linien längs des Karpathengebirges durch West- und Ostgalizien und über die Bukowina bis nach Rumänien erstrecken; und als man nach amerikanischem Muster zu bohren anfing, wurden einige Quellen erschlossen, die in ihrer Ergiebigkeit den berühmten pennsylvanischen durchaus nicht nachstanden, und unter denen namentlich die in Sloboda rungurska erbohrten hervorzuheben sind.
Zu den bemerkenswerthesten Erfolgen gehören zweifelsohne die Bohrungen, welche in den achtziger Jahren der kanadische Schotte Mac Garwey ausgeführt hat. Dieser hatte eine Zeitlang erfolglos auf den
hannöverschen Oelfeldern gearbeitet, als er im Jahre 1873 veranlaßt wurde, mit seinen Bohrmaschinen und seinen kanadischen Leuten nach Galizien zu kommen. Nach einigen beachtenswerthen Erfolgen in der Gegend von Gorlice wandte er sich im Jahre 1886 in die Nähe der berühmten, von uns bereits erwähnten Oelgruben von Bóbrka, und hier gelang es ihm, die berühmtesten Oelquellen Galiziens zu erschließen.
Auf einem kleinen Landstrich von 2 bis 3 Hektaren wurden in der Nähe des Dorfes Wietrzno Brunnen mit einer Anfangsergiebigkeit von 300 bis 2800 Barrels (zu 150 kg) in 24 Stunden erbohrt. Jeder dieser Brunnen gab also in den ersten Tagen seines Daseins innerhalb 24 Stunden 45 000 bis 420 000 kg Oel im Werthe von 1500 bis 15000 Gulden. Wohl gemerkt, nur in den ersten Tagen! Denn alle Quellen von so mächtiger Ergiebigkeit lassen in ihrer Fülle sehr rasch nach, liefern bald nur zwei Drittel oder die Hälfte der ursprünglichen Menge, halten einige Monate an, um wieder zu sinken und dann einige Jahre hindurch noch mäßig zu fließen. Um die gewaltigen Oelmengen möglichst rasch verfrachten zu können, ließ Mac Garwey später eine 14 Kilometer lange unterirdische Röhrenleitung nach der Eisenbahnstation Krosno anlegen.
Natürlich erzeugten diese Erfolge auch in Galizien ein Oelfieber gleich dem nordamerikanischen, und da zu erfolgreichem Bergbau außer Sachkenntniß und Ausdauer auch noch ein unbestimmtes Etwas, das Glück, nöthig ist, so konnte es nicht ausbleiben, daß viele in ihrer Spekulation schwere Enttäuschungen erlebten. Andererseits wurden die Bemühungen auch von Erfolg gekrönt. Auf dem alten Gebiete von Bóbrka, wo der Oelbergbau schon seit etwa 40 Jahren geblüht, aber sich mehr auf die Oberfläche beschränkt hatte, stellte man Tiefbohrungen an und stieß in der That in 300 Metern Tiefe auf eine neue ölführende Schicht, welche sich noch reicher als die oberflächliche zeigte und Quellen mit einer Anfangsergiebigkeit von 300 Barrels und darüber lieferte. In Równe, östlich von den Mac Garweyschen Feldern, wurden ähnliche Erfolge in Tiefen von 300 bis 370, ja bis 626 Metern erzielt.
[764] Früher, in den sechziger und siebziger Jahren, waren viele Herren verschiedener Nation nach Galizien gekommen, die sich als Bergbaukundige und Techniker ausgaben und versprachen, Oel zu erbohren; die wenigsten von ihnen waren ehrliche Leute, viele zählten zu der Klasse der Schwindler und Spekulanten. Sie haben den galizischen Oelbergbau eher in Verruf gebracht, denn gefördert. Die Kanadier, die zuletzt erschienen, waren doch bessere Leute!
Der kanadische Erdbohrer, den sie mitbrachten, war für Galizien wie geschaffen, denn er war von einer genialen Einfachheit, im wesentlichen nur aus Eisen und Holz gebaut, so daß selbst in entlegenen Gegenden Ausbesserungen mit einfachen Werkzeugen durchgeführt werden konnten. Ein scharfes Stahlstück, der „Meißel“, wird, indem man es langsam um seine Achse dreht, mit Hilfe eines sogenannten Balanciers in die Erde geschlagen. Meißel und Balancier sind durch das „Gestänge“ verbunden, welches natürlich mit dem Vordringen in die Tiefe immer länger werden muß und deshalb aus einzelnen 11 bis 12 Meter langen und zusammenschraubbaren Stücken besteht. Das auf der Schachtsohle von dem Meißel zerstampfte und zerschlagene Gestein, der „Bohrschlamm“, wird mittels eines herabgelassenen Blechrohres, welches am unteren Ende eine beim Aufziehen selbstthätig schließende Klappe hat und den Namen „Löffel“ führt, zu Tage gefördert. Das Einlassen und Ausziehen des Meißels, des Löffels und des Bohrgestänges geschieht mit Hilfe von Seilen. Dazu sind dann wegen der Länge des Gestänges die „Bohrthürme“ nöthig, die sich zu einer Höhe von 17 bis 18 Metern über die Erdoberfläche erheben.
Die polnischen Arbeiter lernten bald den Kanadiern ihre Kunstgriffe ab und so entstanden die sogenannten „falschen Kanadier“ oder eingeborene Bohrmeister, die ebensogut wie die Fremden, aber bedeutend billiger arbeiteten. Seitdem auf diese Weise dem Mangel an geeigneten Kräften abgeholfen wurde, ist auf der ölreichen Linie Bóbrka-Wietrzno-Równe eine ganze Stadt von Bohrthürmen entstanden die der von Sloboda rungurska nichts nachgiebt.
Diese Stätten rastloser menschlicher Thätigkeit bieten einen höchst eigenartigen Anblick. Schön kann man ihn gerade nicht nennen, denn die Bohrthürme sind kahl, die Menschen von Erdöl glänzend, die Schuppen und Wohnhäuser nur aus rohen Brettern errichtet, da man ja hier nur so lange zu weilen gedenkt, als die Quellen fließen. Ringsumher ist aller Pflanzenwuchs erstorben. Trotzdem macht das ganze rastlose Getriebe mit den schnaubenden und puffenden, ächzenden und pfeifenden Dampfmaschinen, mit dem Knarren der Pumpen, dem Klappern der Schmieden einen mächtigen Eindruck, und geradezu majestätisch ist der Anblick, wenn plötzlich aus einem im Bohren begriffenen Schachte durch die Gewalt unterirdischer Gase eine 4 bis 8 Zoll im Durchmesser haltende Säule dunklen Petrolenms 20, 25 und mehr Meter hoch in die Luft geworfen wird, daß es aus dem First des Bohrthurmes hervorspritzt. Von magischem Reize ist das Bild eines solchen Feldes bei Nacht. Dann deckt das Dunkel alles, was das Auge beteidigen könnte; aber auf den Oelfeldern leuchten, gleich den heiligen Feuern von Baku, die allabendlich angezündeten, den Bohrungen entströmenden und in Röhren aufgefangenen Petroleumgase. Bald brennen sie ruhig mit ihren gelb-bläulichen Flammen und erhellen weithin die ganze Gegend und das Himmelsgewölbe darüber, daß der Schein auf Meilenweite wahrgenommen wird; bald flackern sie im Nachtwind unruhig auf und nieder, einen Augenblick alles in Dunkel versinken lassend, aus dem dann bei plötzlichem Aufflammen die Gebäude auftauchen und die schwärzlichen Bohrthürme wie Riesen sich zum Himmel recken. Hier und da strahlt oben von diesen ein ruhiges weißblaues Licht, wie ein ferner, niedrig über dem Horizont stehender Stern. Das sind die elektrischen Glühlampen in den Bohrthürmen, wo die Arbeit auch bei Nacht fortgesetzt wird. Elektrische Beleuchtung wird der ausströmenden Gase wegen benutzt, die Anwendung von Petroleumlampen würde Explosionen nach sich ziehen. Gefahrlos ist das Arbeiten auf diesen Feldern durchaus nicht und trotz der strengsten Vorsicht ereignen sich dennoch Unglücksfälle. Ein dumpfer Knall, der Bohrthurm fliegt in die Luft, was von ihm stehen geblieben ist, brennt nieder und unter der Belegschaft giebt es Tote oder von Brandwunden arg Verstümmelte.
Oelführende Schichten haben ihre eigene Anordnung, welche nicht immer von der Gestaltung der Erdoberfläche abhängt. Sie sind unter Hügeln und Thälern, unter trockenem Lande und den Gründen von Seen, den Betten von Strömen vorhanden; man kann darum wohl auch ein Flußbett auf Petroleum anbohren. Ein derartiger Oelschacht inmitten des Stromes gewährt einen eigenartigen Anblick; in seiner Einfachheit erinnert er an die Pfahlbauten der grauen Vorzeit, aber es wohnt ein anderer Geist in diesen Holzhütten, die durch elektrische Leitungsdrähte mit der Außenwelt verbunden sind! Viele der Oelschächte Galiziens liegen weitab von den Eisenbahnen, die kleineren besitzen auch keine Rohrleitungen zu den nächsten Stationen, da wird der Versand des gewonnenen Erdöls vielfach durch gewöhnliche Oelfuhrwerke besorgt. Aber die [765] Strecken, welche die Leute mit den mächtigen Schmierstiefeln und dem dicken Schafspelz zurückzulegen haben, werden immer kleiner, die Röhrenleitungen immer zahlreicher, die neuzeitlichen Verkehrsmittel erobern stetig den Fuß der Karpathen, und immer häufiger begegnet man den eisernen Oelwagen, die auf eisernen Schienen den Leuchtstoff in die weite Welt hinaustragen.
Die galizische Petroleumindustrie muß hart mit dem fremden Wettbewerb, namentlich dem des russischen Petroleums, ringen, aber sie hat sich bis jetzt bewährt und darf einer günstigen Zukunft entgegensehen. Das ist auch zu wünschen im Interesse der lichtbedürftigen Menschheit.
In seinen Oelgruben besitzt Galizien noch eine hervorragende Besonderheit. Je weiter wir am Fuße der Karpathen gegen Osten vordringen, desto häufiger wird das Vorkommen paraffinreichen Erdöls, bis man schließlich auf das seltene Erdwachs trifft. Dieses Erdwachs bildet eine bräunliche bis dunkel-lauchgrüne Masse. Man fabriziert aus ihm durch Destillation Paraffin, welches viel besser ist als das aus der Schwelkohle gewonnene, oder durch Behandlung mit Schwefelsäure einen eigenartigen Stoff, das Ceresin, das sich ausgezeichnet zur Fabrikation von Kerzen eignet und in der That vielfach anstatt des Bienenwachses verwendet wird. Galizien besitzt in der Nähe von Boryslaw die bedeutendsten Fundstätten des Erdwachses. Das betreffende Feld ist sehr klein, es umfaßt nur etwa 125 Hektar, und doch sind auf diesem Raume mehrere tausend Schächte abgeteuft. Da das Erdwachs ein verhältnißmäßig fester Körper ist, wird es durch einen bergmännischen Schacht- und Streckenbetrieb gewonnen; oft wird es als dünne Schuppe zwischen Gestein gefunden, an den besten Stellen quillt es aber aus größeren Spalten als ein weicher Körper durch Gasdruck heraus, ja zuweilen kommt ein Ausbruch – dort zu Lande „matka“, d. h. Mutter, genannt – mit so großer Schnelligkeit und Gewalt, daß die Arbeiter sich nicht mehr retten können, vom Erdwachs umdämmt werden und elend umkommen.
Das galizische Erdwachs, das ohnedies mit der Nebenbuhlerschaft anderer ähnlicher Stoffe schwer zu kämpfen hat, wurde neuerdings von einem harten Schlage betroffen. Die orthodoxen Russen brauchen zu ihren heiligen Handlungen, namentlich während der Fastenzeit, viel Lichter. Diese Lichter durften nun bisher aus keinem thierischen Fett hergestellt werden, mußten vielmehr aus Bienenwachs gemacht sein, als dessen Ersatz auch das Erdwachs gewählt werden konnte. Zu Anfang dieses Jahres erließ aber der heilige Synod in Rußland eine Verordnung, daß fortan die Verwendung des Erdwachses – wohl wegen seines muthmaßlich thierischen Ursprungs zu Kirchenkerzen u. dergl. nicht mehr erlaubt sei, eine Verordnung, die in Boryslaw recht schmerzlich empfunden wird. Das galizische Erdwachs wird im Westen Europas neue Absatzgebiete suchen müssen und in Zukunft vielleicht noch häufiger, als dies schon jetzt der Fall ist, zu kleinen Kerzen verarbeitet werden, die in der fröhlichen Weihnachtszeit vom Baume strahlen.
Ehe wir von den Oelfeldern Gasiziens scheiden, wollen wir noch eine Naturmerkwürdigkeit aufsuchen, die mit ihnen zusammenhängt. Wir schreiten durch die prachtvollen duftenden Tannenwälder der Karpathen und wenden uns zu dem aufstrebenden Jodsoolbade Iwoniez, in dessen Nähe man ebenfalls Oelbrunnen erschlossen hat. Wir wenden uns zu einer natürlichen Wasserquelle, welche den Namen „Bełkotka“, d. h. „Murmlerin“, führt. Touristen und Badegäste suchen sie auf, denn mit ihr entspringen Petroleumgase dem Schoß der Erde, die angezündet in Flammen über dem Wasser tanzen, ja sogar unter demselben brennen. Auf einer Steinplatte neben dieser Quelle sind die schönen Verse des polnischen Dichters Wincenty Pol eingegraben. Sie lauten in freier deutscher Uebertragung:
„Du grüßt hier im Wald an schattigster Stelle
Heut’ wie vor Zeiten, hold murmelnde Quelle!
Wie durchzittern die Seele Begeisterungsgluthen,
So reines Feuer durchflammt deine Fluthen.
Hier stehn wir voll Ehrfurcht an deinem Herde,
Gott preisend im Wunder der heimischen Erde,
Dein heiliges Feuer, dein murmelndes Beben,
Sie beide entstammen des Erdinnern Thoren.
Wie gleichen sie beide unserm Herzen und Leben,
Die aus Flammen uns werden und Thränen geboren!“
Alle Rechte vorbehalten.
Einiges vom Marschall Mac Mahon.
Vor wenigen Monaten noch ritt der Marschall Mac Mahon jeden Morgen nach dem Boulogner Hölzchen – der Lieblingspromenade der Pariser - begleitet von einem seiner Ordonnanzoffiziere in Uniform. Gerade und fest zu Pferde sitzend, glich der 85jährige Mann einem gut konservierten Fünfziger, und auch in engern Kreisen, im Salon, riefen seine stramme Haltung, das klare Auge, die unverwüstliche Frische und Lebenskraft Staunen hervor.
Um so unerwarteter kam sein Ende, das am 17. Oktober erfolgte.
Sein Name, der 40 Jahre lang auf allen Schlachtfeldern wiederhallte, wo welsche Waffen fochten, ist populär über Frankreichs Grenzen hinaus, selbst in Deutschland, trotzdem oder weil er der berühmteste Feldherr war, der 1870 unserem deutschen Heere gegenüberstand; auch an den glänzenden Botschafter, der im Jahre 1861 bei der Krönung König Wilhelms den Kaiser von Frankreich mit großem Prunke vertrat, erinnert sich wohl noch mancher unserer Landsleute: und besonders im italienischen Kriege von 1859 hat dieser Soldat so maßgebend in die europäischen Geschicke eingegriffen, daß ein getreues Bild von ihm vielen willkommen sein mag.
Ueber den Ursprung der Familie ist manches Irrige im Umlaufe, weshalb wir denselben in Kürze erwähnen.
Jeder edle Irländer stammt bekanntlich von den „Königen von Irland“ ab; so auch die Mac Mahons, welche mit dem letzten Könige aus dem Hause Stuart, Jakob II., nach Frankreich flohen und sich in der Gegend von Autun niederließen. Wenn der König Jakob selbst ausschließlich von einem Gnadengehalt Ludwigs XIV. lebte, so war das Elend seiner Anhänger noch größer, und es hat daher nichts Auffallendes, daß wir den Ahnherrn der heutigen Mac Mahons als Heilkünstler und Empiriker finden, in welcher Eigenschaft er die von allen patentierten Aerzten aufgegebene Marquise v. Equilly vom sicheren Tode rettete. Sein Honorar war die Hand und das Vermögen der reichen Dame. Nun wurde auch, durch Dekret vom 23. Juni 1750, „der Adel des Johann Mac Mahon, aus Limerick in Irland, in Frankreich anerkannt und beibehalten“, und Ludwig XV. übertrug auf ihn das Marquisat seiner Frau.
Sein Nachkomme, der Marquis von Mac Mahon, Generallieutenant während der Restauration, hatte vier Söhne und vier Töchter. Titel und Vermögen gingen auf den ältesten über, der sich im Jahre 1845 bei einem Hindernißrennen in Autun den Hals brach: aber zu unerwartetem Glanze gelangte das Haus durch den dritten, den Grafen Marie Edme Patrice Maurice, der am 13. Juni 1808 auf dem Schloße Sully das Licht der Welt erblickte.
Zum Soldaten bestimmt, bezog er die Spezialschule von St. Cyr. [766] Seine Karriere war eine der unerhörtesten an Schnelligkeit: Unterlieutenant im Jahre 1827, war er im Jahre 1833 schon Hauptmann; 1840 – längste Wartezeit! Bataillonschef; 1842 Oberstlieutenant; 1845 Oberst; 1848 Brigadegeneral; 1852 Diyisionär und Großkreuz der Ehrenlegion. Allerdings stieg er nicht im ruhigen Schatten der Kaserne empor, sondern auf den heißen Schlachtfeldern Algeriens, wo er auch, vor Konstantine, verwundet wurde. Doch mehr als seinen Verdiensten verdankte er seine Grade der Gunst seines engern Landsmannes, des Generals Changarnier, der auch ein Kind der Stadt Autun war. Das Verhältniß der beiden Männer war um so merkwürdiger, als sie den vollständigsten Gegensatz bildeten, der sich denken läßt. So einfach, natürlich, sogar etwas roh Mac Mahon auftrat, so geschniegelt, gebügelt; affektiert war Changarnier. Er trug Korsett und Haartour, und obwohl Soldat in der Seele, schmeichelte er doch der unter Louis Philipp herrschenden Richtung. Zudem war er ein Pedant und würzte seine Worte gern mit lateinischen Phrasen.
Mac Mahons Name klang auch durch Enropa, als er vor Sebastopol (1855) die Feste Malakoff erstürmte, und ganz besonders im Jahre 1859. Da warf er, trotz anderer Befehle auf den Kanonendonner zumarschierend, am 4. Juni bei Magenta die siegreich vordringenden Oesterreicher zurück und rettete durch sein unerwartetes, rasches Eingreifen seinen Kaiser selbst, Napoleon III., vor schmählicher Gefangenschaft. Er erhielt noch auf dem Schlachtfelde den Marschallstab sowie den Titel eines Herzogs von Magenta.
Im Jahre 1870 endlich kommandierte er die erste französische Armee, wir wissen alle, mit welchem Unstern. Seine Truppen eröffneten jene Reihe von Niederlagen, welche für die stehende Armee einestheils mit der Uebergabe von Metz, anderntheils mit dem unvergeßlichen Tage von Sedan endete. Die Schule von Afrika, wo aus parlamentarischen Rücksichten die Franzosen sich beständig in der Minderzahl befanden, aber diese Minderzahl nicht nur durch Tapferkeit, sondern besonders durch bessere Bewaffnung und Disziplin ausgleichen konnten, hatte sich gegen mindestens ebenbürtige, sorgsam geführte Truppen nicht bewährt.
Uebrigens hatte Mac Mahon, der den verhängnißvollen Marsch nach Sedan gegen bessere Einsicht auf ausdrücklichen Befehl des Ministerraths und der Kaiserin unternommen hatte, das Glück, bei Beginn der Schlacht verwundet und somit des Kommandos sowie der gesetzlichen Verantwortlichkeit enthoben zu werden. Es kleidete ihn dies in einen Nimbus; er war und blieb „der glorreiche Besiegte“, während seine Kollegen später vor den Kriegsgerichten mehr oder weniger gerechtfertigten Tadel einstecken mußten.
Nach Heilung seiner Wunde stellte er sich den deutschen Behörden, die ihm Wiesbaden zum Aufenthalt anwiesen. Nach dem Friedensschlusse übertrug ihm Thiers das Oberkommando über die mühsam reorganisierten Truppen, welche nach fürchterlichem Blutbade die Kommune niederwarfen.
Mit Civilverhältnissen und Staatskünsten hatte sich der Marschall bisher nicht viel abgegeben; der „pékin“ (Nichtsoldat) war ihm zuwider.
Eine erste und böse Erfahrung, die sein Vorurtheil zu ändern nicht angethan war, machte er, vor 1870, in seiner Stellung als Generalgouverneur von Algier. Wie alle, die das Land aus eigener und langer Erfahrung kannten, wollte er dessen Blüthe auf die Eingeborenen selbst gründen, deren gute Eigenschaften er zu würdigen wußte und die er, gerade ihres kriegerischen Werthes wegen, liebte. Er stieß aber auf die herrische Einmischung der Politiker, welche von Paris aus die Kolonie zu lenken und besonders aufs schamloseste auszubeuten sich anmaßten; und an Ort und Stelle selbst gerieth er aufs heftigste mit dem Erzbischof Lavigerie zusammen, dessen ungemessenem Bekehrungseifer der sonst streng katholische Gouverneur Grenzen zu stecken suchte.
Soldat war er, Soldat wollte er bleiben. Während sein Freund Changarnier an drei Orten sich zum Abgeordneten wählen ließ, dem Präsidenten Thiers in eigennütziger Absicht den Hof machte und dessen Egeria, dem bekannten Fräulein Dosne, täglich ein Sträußchen mit einer Visitenkarte schickte, auf welcher stand: „General Changarnier, immer noch nicht Marschall“ – lehnte Mac Mahon jede politische Kandidatur ab und hielt sich von den Parteien fern.
Ging Mohammed nicht zum Berge, so kam diesmal der Berg zu Mohammed. Die zum größten Theil aus legitimistischen, orleanistischen und bonapartistischen Elementen zusammengesetzte Kammer stürzte am 24. Mai 1873 den Präsidenten Thiers und ernannte mit großer Mehrheit den Herzog von Magenta zum provisorischen Präsidenten der Republik.
Diejenigen, die ihn so erhoben hatten, erwarteten von ihm die Herstellung einer Monarchie, über deren Name und Farbe sie freilich selbst unter sich in bitterer Fehde lagen. Er sollte den „rechtmäßigen Fürsten“ auf den Thron setzen – ob Heinrich V., Philipp VII. oder Napoleon, blieb dahingestellt. Der Marschall aber war vor allem „Mac Mahonist“ und keineswegs gesonnen, seine erste Amtspflicht, die Sicherung der bestehenden Gesetze, zu verrathen. Erst als nach zahlreichen Ergänzungswahlen immer mehr demokratische Abgeordnete die alte Mehrheit bedrohten, versuchte der Marschall am 10. Mai 1877 eine Art gesetzlichen Staatsstreichs, löste die Kammern auf, ordnete Neuwahlen an, bediente sich der alterprobten rücksichtslosen Agenten der Kaiserzeit – dennoch siegten die Radikalen unter Führung Gambettas. Da gab der Marschall nach, und der alte Republikaner Dufaure übernahm die Leitung des Ministeriums.
Mac Mahon enthielt sich hinfort jeder persönlichen Einmischung. Er „repräsentierte“, eröffnete am 1. Mai 1878 die Weltausstellung, empfing den Schah von Persien. Als aber die Sieger gar Miene machten, das Ministerium vom 16. Mai in Anklagestand zu versetzen, da dankte der Marschall ab, 30. Januar 1879. Ihn ersetzte dann JUles Grevy.
Damit war seine öffentliche Rolle zu Ende. Sie entsprach in ihren Licht- und Schattenseiten dem Charakter und den geistigen Fähigkeiten des Mannes: frisch zuschlagender Haudegen, aber nicht Stratege; zu einem raschen Federzug bereit, aber fein angelegten Intriguen, langsam reifenden Plänen nicht gewachsen.
Seine persönliche Tapferkeit war sprichwörtlich, und mit Recht führte er den Löwen in seinem Wappen.
Den Angriff auf Malakoff leitete er von einer dem Feuer ausgesetzten Erhöhung aus; fünf Boten schickte ihm der Oberbefehlshaber Pelissier mit dem Befehl, den gefährlichen Standpunkt zu wechseln. „Ich lasse dem General danken!“ gab jedesmal Mac Mahon zur Antwort und verließ den Platz erst, als er in Malakoff selbst eindringen konnte. Kaum war er in dessen Besitz, als Spione sowohl wie Ingenieure ihn zu sofortiger Räumung aufforderten, da das Fort unterminiert sei und mit sämtlichen Truppen in die Luft fliegen werde. „Da bin ich, da bleibe ich!“ lautete die berühmte Antwort des Generals. Die Warnung war übrigens richtig; und nur einer zufälligen Unterbrechung der elektrischen Leitung nach Sebastopol verdankten die Franzosen samt ihrem Führer das Leben.
Ein weniger bekannter und für die Tollkühnheit des Marschalls noch bezeichnenderer Zug ist der folgende: Auf der Terrasse von St. Germain-en-Laye, welche das Seinethal bis Paris beherrscht, ritt Mac Mahon, damals Oberst, ein besonders störrisches Pferd zu, welches beständig stieg und durchzubrennen suchte. „So, Du willst setzen, Luder?“ schrie endlich wüthend der Oberst, „nun, so setze!“ Damit ließ er die Zügel nach, gab die Sporen – und über die Mauer, hinunter in die grausige Tiefe! Das Pferd blieb auf der Stelle tot, der Reiter erhob sich unverletzt.
Politisch gehörte er der gemäßigt legitimistischen Partei an. Dennoch stimmte er im Jahre 1852 für den neuen Cäsar. Als einige seiner nächsten Freunde ihn darüber zur Rede stellten, antwortete er, nicht ohne feinen Humor: „Ich war unentschlossen und sah zu, wie die Soldaten kompagnieweise ihre Stimme abgaben. Das lautete bald ,Ja‘, bald ‚Nein‘. Schließlich kamen die Disciplinäre[1] dran. Die stimmten alle wie ein Mann ,Nein!‘ Nun, ich konnte mich doch nicht ihnen anschließen!“
Diesen halben Skepticismus hegte er auch auf religiösem Gebiete. Er galt als klerikal und war es theilweise, für andere wenigstens; den ausübenden Theil der kirchlichen Pflichten überließ er seiner Gemahlin. Es hindert dies nicht, wie wir schon gesehen haben, daß er z. B. dem Erzbischof von Algier scharf gegenübertrat.
Er war eben vor allem eine etwas rohe Soldatennatur alten Schlages, eine „alte Lederhose“, wie die Franzosen sagen. Ihm blieb das barsche Wesen, das Schwören und Fluchen selbst im Salon, selbst im Ministerrath. Und dennoch suchte er gewählte Gesellschaft, spielte er den Mann von Welt; ja, in den Jahren 1845 bis 1855 zählte er, soweit es die kurzen Abstecher nach Paris erlaubten, zu den elegantesten Mitgliedern des Jokeyklubs, bezahlte etwa, wie der Herzog von Fitz-James, eine 15-Centimesbriefmarke mit einem 20-Frankstück, ohne sich herausgeben zu lassen u. dgl. m.
Er liebte überhaupt glanzvolles Auftreten, und das große Vermögen, welches ihm seine Frau, ein Fräulein von Castriers, zugebracht hatte, erlaubte ihm dies. Während seiner Präsidentschaft setzte er aus eigener Tasche über 11/2 Millionen Franken zu, obwohl seine Civilliste die Summe von 1200000 Franken betrug. Einen großen Theil bekamen die Armen.
Einen „theuren“ Freund hatte er in dem Schah von Persien, dem ersten Monarchen, der seit dem Kriege Paris mit seiner Gegenwart beehrte und mit königlichen Ehren empfangen wurde. Der Schah schenkte unter anderem der Frau Marschall einen Schmuck im Werthe von 80000 Franken, übersah aber die Bereinigung der Kleinigkeit, wie sich nach seiner Abreise herausstellte. In solchen Fällen pflegt man die geheimen Fonds anzugreifen; Mac Mahon aber bezahlte ohne weiteres diesen und viele andere Posten des orientalischen Despoten aus seiner Privatkasse.
Das Talent der Rede fehlte ihm gänzlich, und dies gab zu manchem Spaß Anlaß. An Stegreifreden durfte er nicht denken; auch stieß er etwas mit der Zunge an. Selbst das Auswendiglernen glückte nicht immer. So begann er einmal bei Gelegenheit einer landwirthschaftlichen Feier:
„Die Agrikultur ist alles, meine Herren! Die Agrikultur, welcher wir ... welche uns ...“
Da blieb er stecken und rief unwillig: „Zum Teufel mit der Agrikultur!“
Ein andermal – Toulouse war von fürchterlichen Ueberschwemmungen heimgesucht worden und das Staatsoberhaupt hatte sich zur moralischen Hebung der bedrückten Gemüther an Ort und Stelle begeben – stand er inmitten der verwüsteten Felder. Alles lauschte.
„Was Wasser! Was Wasser!“ seufzte endlich der Marschall mit bewegter Stimme.
War aber der Mund verschlossen, so war die Hand um so offener; und anstatt mit einer schönen Rede beschenkte er die armen Ueberschwemmten mit einer fürstlichen Gabe.
[767] Seine letzten Jahre widmete er überhaupt guten Werken. Er wandte sein Augenmerk vor allem der Armee zu, die er von Herzen liebte, sorgte in jeder Weise für die „Verwundeten der Land- und Seetruppen“ und ging hierin wie bei jeder Gutthat mit eigenem Beispiel voran, wie auch seine Frau, welche das Departement der bürgerlichen Armen und Elenden verwaltete.
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Nun, da ich diese Erinnerungen niederschreibe, liegt der alte Held der Krim still und bleich auf seinem Lieblingsschloß La Forest – während in Paris die Fahnen flattern, Trompeten schmettern, Trommeln rasseln und der russische Admiral Avellan auf dem Balkon des Cercle militaire die Trikolore küßt.
Im ganzen hat wohl selten ein Sterblicher in solchem Maße der „Götter Gunst“ erfahren wie Mac Mahon. Selbst berufliche Mißgriffe endeten schließlich zu seinem persönlichen Besten; eine gewisse Naivetät, sein gerader Sinn, seine reine Hand und reine Sitte entwaffneten den Gegner. Ueber den Soldaten, den Staatsmann gehen die Ansichten auseinander; aber sein Land ehrt in ihm den modernen „Ritter ohne Furcht und Tadel“, und in dieser Zeit der verdächtigen Kompromisse und der unsaubersten Selbstsucht hat er seinen Werth, der einstimmige Nachruf: „Er war ein braver Mann!“
Hätten wir Sitz und Stimme im Familienrath, so würden wir auf seinen Grabstein die Worte eingraben lassen, mit denen er sein Entlassungsschreiben schloß:
„Während meiner 53jährigen Thätigkeit als Soldat und Bürger handelte ich stets nach Ehre und Pflicht und mit unbegrenzter Hingebung an das Vaterland!“
Alle Rechte vorbehalten.
Sein Minister.
(3. Fortsetzung.)
Es fällt einer Frau immer schwer, einem Mann gegenüber, der ihr nicht gleichgültig ist, die richtige Grenze in ihrem Benehmen zu finden. Um nicht freundlich zu scheinen, war Dora beleidigend unhöflich gegen Emil; um nicht zu zeigen, daß ihr die Vergangenheit noch etwas bedeute, schien sie auch seine Gegenwart kaum zu bemerken. Und gerade diese schroffe Abweisung reizte ihn zum Widerstand mit allen Mitteln. Er glaubte zwar zu wenig an die Echtheit der Geringschätzung, die sie gegen ihn
an den Tag legte, um zu befürchten, daß sie die freundlichen Gesinnungen ihres Gatten für ihn erschüttern und ihm ernstlich schaden würde. Nein, je mehr sie ihn zu hassen vorgab, desto klarer wurde ihm, daß sie ihn noch immer liebe. Aber er war zu eitel, um die Mißgunst einer schönen, gefeierten, einflußreichen Frau und die beständige Zurücksetzung in ihrem Salon mit Gelassenheit ertragen zu können, vollends da er von Doras Gatten oft in deren Nähe gezogen wurde.
Es gehörte Emils aalglatte Geschmeidigkeit und seine ganze Diplomatie dazu, um es ihm zu ermöglichen, gegen Doras Unliebenswürdigkeit mit den alten Waffen anzukämpfen, ohne den Verdacht des Gatten zu erwecken. Aber er war Meister darin, eine Sekunde zu erhaschen, in welcher er die junge Frau mit einem feurigen Flehen, einer stummen Klage in den Augen unbemerkt, anblicken konnte, und dann, sobald die Aufmerksamkeit sich ihm wieder zuwandte, ruhig im Gespräch fortzufahren. Er verstand sich darauf, sie immer wieder durch eine Bemerkung, ein Wort, das für niemand auffällig war, an die Vergangenheit zu erinnern, an jenes Maifest, an die Nachmittage bei der Generalin, an die Zeit ihrer Liebe. Mitten in der allgemeinen Unterhaltung geschah das, selbst wenn ihr Gatte zuhörte, so daß es ihr unmöglich war, sich gegen den Zwang zu wehren, den er auf ihr Gedächtniß ausübte.
So fremd und kühl sie sich also dem Anscheine nach gegenüberstanden, es war doch ein heimlicher Kampf zwischen ihnen, der seine Gefahren hatte. Emil war überzeugt, daß er in diesem Kampfe Sieger bleiben, daß sein unermüdliches Betteln um einen freundlichen Blick, das beredte Bekenntniß seiner Augen sie endlich bezwingen werde. Er wollte ja nicht um Liebe werben, nur um Freundschaft. Aber eines hatte er nicht in Betracht gezogen, gerade das, was so nahe lag und wirklich geschah: daß die schöne Frau, um deren Gunst er sich mühte, dabei Macht über ihn selber gewann, eine Macht, die sogar seinen Ehrgeiz zu ersticken drohte, die seine Vernunft verwirrte, die ihn aus seinem vorgesteckten Wege fortriß, einem Abgrund entgegen. Dora war jetzt noch schöner als in ihrer Mädchenzeit. Ihre stolze Gestalt schien wie von selbst in dem glänzenden Kreise die erste Stelle einzunehmen; es lag über ihr ein Hauch der Vornehmheit, dem gerade der Assessor nur schwer zu widerstehen vermochte.
Die Entdeckung, daß er auf dem besten Wege sei, sich in eine schwüle Leidenschaft für die junge Frau zu verstricken, machte Emil bestürzt. Er fürchtete die Augen des Ministers, fürchtete, sich zu verrathen, und suchte nach einer Maske für seine Empfindungen. Am klügsten schien es ihm, durch seine Bemühungen um eine andere Dame jeden Verdacht abzulenken. Er hatte Ida von Kammerling, die Tochter eines Ministerialrats, dessen Gunst ihm von Nutzen sein konnte, schon früher ausgezeichnet; nun that er es in auffälliger Weise. Das junge Mädchen war weder schön noch liebenswürdig, vielmehr eckig in Erscheinung und Wesen, und ein scharfer Zug um ihren Mund ließ nicht eben auf die friedlichste Gemüthsart schließen. Sie hatte von seiten der Männer noch nicht viel Liebenswürdigkeiten erfahren, so machten ihr denn die Aufmerksamkeiten des hübschen und verwöhnten Assessors einen um so größeren Eindruck. Emil aber begegnete öfter, wenn er im Salon des Ministers lebhaft plaudernd neben Ida stand, den Augen Doras; ein leidenschaftlicher zorniger Ausdruck lag in ihnen, der ihn triumphieren machte. O, endlich hatte sie sich verrathen – sie war eifersüchtig, sie liebte ihn noch!
In der That suchte Dora vergebens, einer eifersüchtigen quälenden Unruhe Herr zu werden, wenn sie den Assessor in der Nähe des Mädchens sah, mit dem das allgemeine Gerücht ihn bereits verlobte. Immer wieder schweiften dann ihre Blicke zu dem blonden Manne hinüber, der sich lächelnd zu seiner Nachbarin hinabneigte, und eine Marter folterte sie, die sie mit Angst vor der Zukunft erfüllte. Emil aber spielte sein doppeltes Spiel weiter. Wenn er Dora stundenlang alle Qualen der Eifersucht hatte kosten lassen, dann starrten seine Augen sie plötzlich an, so sehnsüchtig, so verzehrend, als wollten sie sagen: ich bin unglücklich! Siehst Du denn nicht, daß ich mich nur betäube, zu vergessen suche und nicht vergessen kann?
Einmal, als man sich im Musikzimmer niedergelassen hatte, um dem Vortrag einer Sängerin zu lauschen, stand Emil dicht neben Dora und heimlich von der Seite schaute er sie an, unablässig. Da konnte sie sich nicht länger beherrschen, und in herbem Ton bemerkte sie, ohne ihn anzusehen. „Neben Fräulein von Kammerling ist noch ein Ptatz frei, Herr Assessor!“
„Sie spotten, Excellenz!“ erwiderte er leise und blieb.
Sie verwandte die Augen nicht von der Sängerin, aber sie fühlte seine Blicke, seine Nähe. Es war ihr, als durchfluthe ihr banges Herz ein heißer Strom, und das stürmische Liebeslied, das durch den Saal klang, erschien ihr wie der Aufschrei ihrer eigenen verworrenen Gefühle.
Das Glück ist ein seltsames Ding. Dora hatte allen Grund, mit ihrem Dasein zufrieden zu sein. Ihr Mann überschüttete sie mit Güte, sie war umgeben von einem Glanz, den sie sich noch vor kurzem nicht hätte träumen lassen – aber je mehr Gutes ihr zu theil wurde, desto mächtiger regten sich unerfüllbare Wünsche und sie klagte das Schicksal an, daß es ihr nicht ein heißeres Liebesglück beschieden hatte. Und da von allen Seiten in schmeichelnden Worten ihre Schönheit, ihre unwiderstehliche Anmuth gepriesen wurde, so stieg ihr Glaube an ihre Macht über die Herzen, und sie begann sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß Emil doch in Wahrheit dieser Macht nicht habe widerstehen können, daß seine Liebe echt sei. Ja vielleicht war dieselbe erst jetzt voll erwacht! Vielleicht hatte sich ihr einst ein Hinderniß entgegengethürmt, von dem sie nichts ahnte – vielleicht hatte auch er gelitten! Aber sie wurde solcher Erwägungen doch nicht froh. Immer wieder empfand sie ein wahres Grauen darüber, daß er sich mehr und mehr in ihre Seele drängte, daß ihr Ringen nutzlos zu werden drohte gegen den Bann, der ihren Willen umstrickte.
Sie war so viel allein. Ihr Gatte hatte gehäufte Berufsgeschäfte, ernste Sorgen. Der König, dessen Gehörleiden immer mehr zunahm, zog sich fast gänzlich in die Einsamkeit zurück; die Minister konnten nur schwer die nöthigen Unterschriften erlangen. Seit der Kabinettsekretär Herwald in Ungnade gefallen war, hatten die Günstlinge rasch gewechselt, und zu alledem hatte sich der unglückliche Herrscher seinem Sohne, dem künftigen Thronfolger, gänzlich entfremdet. Der heißblütige junge [768] Prinz, dem die väterliche Hand nicht mehr die Zügel straff hielt, begann nun in stürmischem Ungestüm sein Leben zu genießen, und man sah im Lande mit wachsender Angst, wie er seine Kraft in tollen Gelagen verzehrte und die Hoffnungen erschütterte, die man in seine Person gesetzt hatte. Niemand jedoch wagte es, dem „künftigen König“ Vorstellungen zu machen, bis sich Freiherr von Telf dazu entschloß. Ihm lag die Zukunft des Staates mehr am Herzen als seine eigene, und so bat er eines Tages um Audienz bei dem Kronprinzen. Mit ernsten muthigen Worten beschwor er ihn, seine Kraft dem Lande zu erhalten, sich die Liebe des Volkes zu sichern, über das er einst herrschen sollte, der großen Zukunft zu gedenken, die ihm bevorstehe, Der Prinz hörte ihn ruhig an; die offene Sprache verfehlte ihren Eindrnck nicht, ja sie trug die besten Früchte. Aber solche Warner werden immer unangenehm empfunden, und Freiherr von Telf wußte, daß seine Entlassung unfehlbar kommen werde, sobald der Prinz den Thron bestieg.
So sehr ihn diese Vorgänge beschäftigten, so scheute er sich doch, sie mit Dora zu besprechen; er wollte sie nicht vorzeitig beunruhigen. Aber indem er vermied, ihr Interesse für seine Angelegenheiten wachzurufen, beging er dennoch einen Fehler. Sein Vertrauen würde ihr geschmeichelt haben – seine Rücksicht, stets auf ihre Gedanken einzugehen, dankte sie ihm nicht; denn sie wußte, daß er den Kopf voll von anderen Dingen hatte, und war versucht, zu glauben, daß sie ihm überflüssig sei.
Es war mittlerweile Sommer geworden, ein heißer Sommer mit gewitterschweren drückenden Tagen. Dora fühlte, wie die Schwüle ihre innere Unruhe steigerte; heiße sehnsuchtsvolle Wünsche wuchsen in ihr empor wie Giftpflanzen, die nur in Sonnengluth reifen. Eines Tages beschwor sie ihren Mann, mit ihr fortzureisen; sie müsse freie Luft haben, freie Natur. Da er die Stadt unmöglich verlassen konnte und seine Frau blaß und elend fand, so miethete er in der Umgebung der Stadt eine hübsche Villa mit einem Garten. Das Landhaus lag auf einer Anhöhe, wo in fast ländlicher Stille ein weiter Horizont sich den Augen darbot, und war mit dem Wagen in kurzer Fahrt zu erreichen. Er konnte allerdings über Mittag nicht hinausfahren, da er zu viel Zeit verloren hätte, aber zum Abendbrot fand er sich regelmäßig ein.
Für Doras Seelenzustand war aber da draußen zu viel Ruhe, zu viel Einsamkeit. So frisch der Wind auch über die weite Anhöhe wehte, so klar der Horizont vor ihr lag bis an die Alpenkette, für ihr Gemüth war die Beschäftigungslosigkeit, in der sie hier lebten, eine gesteigerte Gefahr, und das stille Hinüberstarren nach den fernen Bergen wiegte sie nur in haltlose Träumerei.
Bei seinem letzten Besuch vor ihrer Uebersiedlung hatte Emil die Worte Doras mit angehört, sie wolle in ihrer Sommerfrische viel lesen. Die Bemerkung war nicht an ihn gerichtet gewesen, aber er hatte sie benutzt, um diensteifrig ein paar poetische Werke in die Villa zu senden samt einigen bescheidenen Zeilen. Mit feiner Berechnung hatte er seine Wahl getroffen und Gottfried von Straßburgs „Tristan und Isolde“ in ihre Hand gelegt. Wenn sie in den berauschend süßen Reimen, die der moderne Uebersetzer dem alten Meister nachgesungen hatte, jene berückende Schilderung der Minne las, so nahm der Held des Gedichtes, fast ohne daß sie sich dessen selber bewußt wurde, die Gestalt und die Züge Emils an; Emil schwebte ihr vor Augen, jung und schön – und ach, sie hatte ihn geliebt!
In den Liedern, die er ihr sonst noch zugesandt hatte, war da und dort ein Vers angestrichen, und immer waren es Worte, die sie auf sich beziehen mußte. Es lag ein tückischer Zauber in dem Gedanken, daß seine Augen auf demselben Blatt geruht, daß sein Herz höher geschlagen hatte bei demselben Bilde, das nun auch sie ergriff. Es schien zu ihr zu reden in schmeichelnden poetischen Lauten, und unablässig schwirrten ihr die Zeilen durch den Kopf:
„Unser goldenes Jugendglück
Ging auf immer in Scherben.
Laß mich flieh’n in die Fremde weit!
Denn die Geister der alten Zeit
Müßten uns beide verderben.“
Das Buch sank ihr dann wohl in den Schoß, und wie in ihrer Mädchenzeit begann ihre Phantasie ihr endlose Märchen zu erzählen; aber die Bilder die sie jetzt schuf, waren glühender, gefährlicher als ehedem. Sie wußte, daß das alles schwärmerische Unmöglichkeiten waren, und hielt es für kein Unrecht, sich dem Hang zum Fabulieren hinzugeben. Aber dabei sah sie Emils Gestalt bald nicht mehr im nüchternen Tageslicht, sondern im unsicheren verklärenden Mondenschein; ihre Erkenntniß seines Charakters verlor sich mehr und mehr in trügerischen Schleiern. Sie glaubte allmählich an seine Leidenschaft und ihre Phantasie war unermüdlich, allerlei entschuldigende Gründe dafür zu suchen, daß er sie dennoch aufgegeben hatte.
Wenn ihr Gatte des Abends kam, dann wichen die Gespenster, dann ward es ruhig in ihr. Aber er hätte fragen müssen, wie sie ihre Tage verbringe, hätte ihr Denken an sich reißen, ihr Gemüth beschäftigen sollen. Müde jedoch, wie er war, fühlte er sich glücklich, wenn er ihre Hand in der seinigen halten und schweigend ausruhen durfte an ihrer Seite. Im wonnigen Bewußtsein sicheren Besitzes hatte er keine Ahnung davon, welcher Sturm der Friedlosigkeit ihre junge heiße Seele durchtobe.
Eines Abends stand Dora, schon lange ihren Gatten erwartend, auf der Veranda und blickte gedankenverloren auf die sprühenden farbig glitzernden Tropfen des Springbrunnens. Ein letzter glühender Wiederschein der Sonne übergoß noch die Höhe mit einem Meer von Glanz; dann verzitterte das grelle Licht, fortfluthend, wie von bläulichen Schatten aufgesogen. Dora seufzte plötzlich tief auf, sie wußte selber kaum, warum. Ein Gefährt kam durch die stille Straße gerollt; sie hob wie erwachend den Kopf. Aber der Wagen fuhr nicht wie sonst, wenn ihr Gatte heimkehrte, in den Hof, er hielt vor dem Gartenthor. An der Hausthür klaug die Glocke, und gleich darauf meldete die Dienerin: „Herr Assessor Wienburg.“
Doras Hand klammerte sich krampfhaft fest an das Geländer, an dem sie lehnte. Ruhe, Ruhe! Sie preßte die Linke auf ihr toll klopfendes Herz. Welcher Dämon führte ihn in ihre Nähe, jetzt, gerade jetzt?
Er trat in das Zimmer hinter ihr und verneigte sich tief, denn sie hatte den Kopf ihm zugewandt und blickte ihm durch die offene Thüre zur Veranda entgegen, aber ohne sich von der Stelle zu bewegen.
Der Assessor näherte sich ihr mit ein paar schnellen Schritten. „Ich bitte tausendmal um Verzeihung, daß ich zu so später Stunde zu stören wage. Excellenz hat mich beauftragt – “
„Ist meinem Gatten etwas zugestoßen?“ rief Dora rasch. Sie hatte im ersten Augenblick nur über Emils Kommen gezittert; nun erst besann sie sich.
„Nein, gnädige Frau! Excellenz sandte mich nur, damit Sie sich nicht beunruhigen. Es findet eine geheime Ministersitzung statt, die wohl noch mehrere Stunden dauern wird. Excellenz kann also nicht zum Abendbrot erscheinen. Ein Kanzleibote sollte herausgeschickt werden; aber Seine Excellenz war so liebenswürdig, auf meine Bitte hin meine Dienste in Anspruch zu nehmen.“
Er war vor sie hingetreten und stand ihr nun erwartungsvoll gegenüber.
„Ich danke Ihnen,“ sagte Dora, ohne ihn anzusehen, „und bedauere nur, daß Sie Ihre Zeit für mich opferten und diese einförmige Fahrt durch die Vorstadt zweimal ertragen müssen.“
„O, die Fahrt war ein Genuß, wie er mir nur selten zu theil wird,“ betheuerte er mit einem leisen erregten Schwingen in der Stimme, das sie seltsam durchschauerte. „Ich bin ja dem Glanz, der Sonne entgegengeeilt. Diese Höhe hier lag umflossen von Licht vor meinen Augen. Und dann – ich habe kein Heim, nach dem ich verlange. Ich werde auch nicht mit Ungeduld erwartet.“
In seiner Stimme zitterte eine vorwurfsvolle Klage. Sie hatte Mühe, das Gespräch fortzusetzen, und eine Weile blieb es still zwischen ihnen. Aber dieses Schweigen war unerträglich. Sie erinnerte sich, gehört zu haben, daß seine Mutter die Präsidentin Wienburg, vor kurzem vom Schlage getroffen worden sei, und erkundigte sich nach ihrem Befinden.
Er seufzte. „Sie lebt! Aber welch ein Leben ist das – geistig und körperlich gelähmt!“
„Wie traurig!“
„Ja, es ist traurig. Was würde ich nicht thun, um meine Mutter zu retten! Ihr Wunsch war stets mein oberstes Gesetz. Sie durfte mein Lebensglück von mir fordern, und ich gab es ihr hin. Und nun stehe ich vor einer entschwindenden Gestalt, die ich nicht wiedererkenne, ohne jede Möglichkeit Hilfe zu bringen.“
Er sprach so ernst bewegt, wie sie ihn nie hatte reden hören. Sie mußte diesem Herzenston glauben und war überzeugt, jetzt offenbarte er ihr jene Seele, die man der Welt gegenüber nicht zur Schau trägt, die sich nur in seltenen Augenblicken auf die Lippen drängt. Das große Räthsel, warum er ihr entsagt hatte,
[769][770] schien sich plötzlich zu lichten: seine Mutter hatte es so gewollt! Noch immer wagte sie nicht, den Blick zu ihm zu erheben; aber sie fühlte, wie seine Augen sie betrachteten, verschlangen.
„Wie süß es hier duftet!“ sagte er leise. „Wie nach blühenden Linden.“
„Im August?“ fragte sie ironisch; aber ihre Stimme klang gepreßt.
„Vielleicht ist es nur die Erinnerung, die mich überkommt. Jeder hat einmal eine Stunde, in der das Glück ihn streift – auch mir ist eine solche Stunde geworden, und damals blühten die Linden. Seitdem giebt es für mich keinen süßeren Duft in der Welt.“
Eine gewaltsam zurückgehaltene Empfindung sprach aus seinen Worten. Er heuchelte nicht – seine Leidenschaft war echt. Er, der Unstete, den die Mädchen den „Eintagsfalter“ nannten, der bisher leichten Herzens mit der Liebe getändelt hatte – er fühlte sich plötzlich umstrickt von Banden, die ihn festhielten, die er nicht abzuschütteln vermochte. Es war der dämonische Zauber des Unerreichbaren, des Verbotenen, der ihm die verführerische Frau, die da vor ihm im Dämmerlicht zwischen dem Weinlaub lehnte, so unwiderstehlich machte.
„Ein Jahr! Wie es die Menschen entfremden, wie es die Welt verändern kann!“ fuhr er leise fort, die Augen fest auf Dora geheftet, als müsse er sie zwingen, ihn anzusehen. „Denken Sie auch noch der Vergangenheit, gnädige Frau? Vor einem Jahr –“
Sie öffnete plötzlich die Lippen, die sie fest aufeinander gepreßt hatte. „Vor einem Jahr war ich mit meinen Eltern auf dem Lande in einem stillen Gebirgsdorf,“ erwiderte sie. Sie sah ihm kalt in das leidenschaftlich erregte Gesicht.
Er aber ließ sich durch diese scheinbare Kälte nicht täuschen. „Wenn sich ein Jahr fortdenken ließe!“ seufzte er, „wenn jener süße Lindenduft wiederkäme und die ewig verlorene, unvergeßliche Stunde des Glücks! Ihnen hat dieses Jahr nur geschenkt und geschenkt – mir hat es alles genommen. Vielleicht durch eigene Schuld, vielleicht –“
Sie nahm plötzlich alle ihre Kraft zusammen; dicht an ihm vorbei ging sie in das Zimmer und klingelte. Ein jähes Entsetzen hatte ihr die Beherrschung wiedergegeben.
Die Dienerin trat ein mit der Lampe. Das Licht erschien ihr wie eine Rettung. Während das Mädchen die Vorhänge am Fenster zuzog, wandte sich Dora an den Assessor, der noch an der Thür zur Veranda stand. „Ich wiederhole Ihnen meinen Dank, Herr Assessor, daß Sie sich herbemüht haben, um mir Unruhe zu ersparen.“ Sie reichte ihm die Hand.
Diese Worte, in Gegenwart der Dienerin gesprochen, waren eine deutliche Verabschiedung, der er sich fügen mußte. Aber es blitzte doch ein Ausdruck des Triumphes aus seinen Augen. Im Lampenlicht sah er erst die Blässe auf ihrem Gesicht, das Beben ihrer Gestalt, ihre Fassungslosigkeit. Er fühlte bei der leisen Berührung ihrer fiebernden Finger, wie ihr ganzes Wesen im Aufruhr war trotz ihrer erheuchelten Gelassenheit. Mit einer stummen Verbeugung verabschiedete er sich.
Als Dora allein war, trat sie wieder auf die Veranda; durch die geöffnete Thür fiel der Lichtschimmer über ihre helle Gestalt. Sie hörte den Wagen fortfahren; aber Emil war nicht eingestiegen. Sie unterschied trotz der Dämmerung seine Gestalt, die an dem eisernen Gartengitter entlang schritt. Auf der Straße, ihrem Hause gerade gegenüber, blieb er wie festgewurzelt stehen und schaute zurück. Sie wollte im ersten Augenblick sich ins Zimmer zurückziehen, dann aber blieb sie doch regungslos, finster vor sich hinstarrend.
Sie freute sich nicht über ihren Sieg. Reue ergriff sie, ein unsägliches Verlangen, ihn zurückzurufen, ihn zu fragen: warum hast Du mich nicht zu Deiner Frau gewollt? Warum hast Du uns beide so elend gemacht? Sie verzieh es sich nicht, daß sie ihn nicht hatte zu Ende reden lassen. Mit der Ueberzeugung, daß ein fremder Wille ihn von ihr getrennt habe, der Wille seiner Mutter, würde ihr die Entsagung leichter werden – so wähnte sie. Die Liebe versteht sich ja so merkwürdig gut auf Trugschlüsse!
Emil stand noch langge auf der Straße und blickte zu der hohen hellen Gestalt hinüber. Dann ging er, wie berauscht von einem giftigen Trank. Sein Entschluß war gefaßt. Statt in ein paar Tagen, wenn sein Urlaub begann, fortzureisen, wollte er in der Stadt bleiben, in Doras Nähe. Während seine Freunde auf den höchsten Bergspitzen die Gefahr suchten, wolltr er hier einen Weg gehen, auf dem jeder Schritt Verderben brachte. Diese Frau gewinnen, diese Lippen küssen, die einem anderen gehörten! Ein tollkühner Plan, aber um so lockender, um so verführerischer, weil der, der ihn betrat, seine Existenz in die Schanze schlug! Er sah Dora in einem falschen Licht. Aus dem schwärmerischen Kind, das sie vor einem Jahre noch gewesen war, schien sie ihm jetzt ein verlangendes Weib geworden zu sein, an dessen Verstellungskunst er glaubte, dem er Klugheit, Leidenschaft und List zutraute. Er ahnte gar nicht, wie viel von dem alten Kinderwahn noch in dem Herzen der schönen Frau zurückgeblieben war.
Der Zufall schien mit Emil verschworen, um Dora zu verderben. Ihr Gatte mußte in die Reichshauptstadt verreisen. So war sie nun ganz der Einsamkeit überlassen. Ihre Bekannten waren auf dem Lande, es kam kein Besuch mehr, nur ab und zu ein Brief, der sie in die Wirklichkeit zurückrief, sie dem Traumleben entriß, das sie führte, während dieser heißen wolkenlos blauen Augusttage, auf die so wunderbare leuchtende Nächte folgten.
Jeden Abend, wenn es ganz dunkel, ganz still auf der Höhe geworden war, sah sie vor dem Gitterthor, der Veranda gegenüber, einen Mann lehnen. Niemand außer ihr bemerkte ihn; kein Mensch ging mehr durch die Straße. Sie unterschied die Umrisse seiner Gestalt, sie wußte, wer es war, der da zu ihr emporschaute. Das Bewußtsein, daß seine Blicke sie umspannen mit einem Netz, das sich enger und enger um sie schloß, machte sie fiebern. Es kam sie die Lust an, ihn fortweisen zu lassen, diesem stummen Anstarren, durch das er Macht über sie gewann, mit Gewalt ein Ende zu machen. Und wenn er dann in später Stunde seinen Posten verließ, dann war es ihr doch, als habe das Glück an der Pforte gestanden, ohne daß sie die Arme danach ausstrecken durfte. Am Tage zitterte sie, so oft die Klingel gezogen wurde, weil sie fürchtete, er würde kommen, und wenn dann irgend eine gleichgültige Anfrage gemeldet wurde, so war sie doch enttäuscht.
Einmal erschien die Gelleralin Halden bei ihr zum Besuch.
„Ich bin selbst herausgefahren, liebe Dora,“ sagte sie „weil ich Sie persönlich bitten wollte, übermorgen zu mir zu kommen. Sie werden gelesen haben, daß an diesem Tage der Schützenzug stattfinden wird. Er geht an meinen Fenstern vorüber. Sie müssen ihn sich ansehen! Nein, nein – ich dulde gar keine Ausrede, ich nehme einen Korb unter keinen Umständen an. Wissen Sie, daß Sie wirklich leidend aussehen? Diese Abgeschiedenheit hier draußen taugt nicht für eine junge Frau. Wir werden nur eine kleine Gesellschaft bei uns haben – lauter Bekannte!“
Du darfst nicht hin, er wird kommen – gerade weil er kommen wird, mußt Du hin; es wird besser sein, wenn Du wieder einmal mit ihm gesprochen und erfahren hast, daß sein Zauber nicht unwiderstehlich ist – diese Gedanken stürmten auf Dora ein. Sie besann sich eine Weile, dann sagte sie ihr Erscheinen zu. Als die Generalin sich empfahl, rief sie noch ein fröhliches: „Auf Wiedersehen also! Schon um neun Uhr morgens! Verspäten Sie sich nur nicht!“
Mit dem festen Vorsatze, dem Assessor so kalt und abweisend wie nur möglich zu begegnen, fuhr Dora am übernächsten Tage in die Stadt, wo in den Straßen bunte Fahnen flatterten und überall schon Scharen von Neugierigen in gespannter Erwartung sich drängten. Emil war bereits anwesend, als Dora bei der Generalin eintrat. Seine Augen grüßten sie, aber er hielt sich ihr ferne. Sie bemerkte dennoch, daß er sie unablässig beobachtete und sich nur deshalb stumm von der Gesellschaft in eine Fensterecke zurückzog, um jeder ihrer Bewegungen folgen zu können. Das machte sie verwirrt; sie wußte kaum, was sie redete.
Jetzt begann auf der Straße die Musik, die ersten Schützenfahnen flatterten lustig heran. Man stellte sich an die Fenster. Emil hatte es so einzurichten gewußt, daß er hinter der Frau des Hauses und Dora seinen Platz fand. Die Generalin aber war zu lebhaft, um an derselben Stelle zu verweilen, und als nun die künstlerisch geschmückten Wagen mit den kostümierten Gruppen vorüberkamen, eilte sie bald zu diesem, bald zu jenem ihrer Gäste, um eine Bemerkung auszutauschen. Laut schmetterte die Musik, die Menge rief „hoch“ – ein tosender Jubel drang in die Zimmer herauf. Dora faßte einen plötzlichen Entschluß. Sie wollte die Gunst dieser Minuten benutzen, wollte ein Ende machen mit den Kämpfen der letzten Wochen, mit dieser rastlosen Sehnsucht, die er ihr Abend für Abend aufdrängte durch seine stumme Gegenwart.
„Warum kommen Sie jeden Abend in später Stunde in die Gegend, in der ich wohne?“ fragte sie hastig; ihre Augen glühten. „Wie können Sie es wagen, stundenlang vor meinem Garten zu [771] stehen? Mein Ruf sollte Ihnen zu heilig sein, um mich durch Ihr auffälliges Benehmen dem Gerede preiszugeben!“
„Ihr Ruf ist mir heilig, gnädige Frau. Auffällig, sagen Sie, sei meine scheue Bewunderung? Aber ich schwöre Ihnen, kein Mensch hat mich gesehen. Wenn ein Tritt sich nahte, wenn nur ein Laut vernehmbar wurde, schlich ich fort in das tiefste Dunkel.“ Er sprach hastig wie sie, mit leiser Stimme, die in dem anwachsenden Straßenlärm nur an ihr Ohr dringen konnte. „Wie ein Schatten betrete ich die Gegend, in der meine Gedanken unausgesetzt weilen. Wenn Sie darüber zürnen, muß ich wohl fürchten, daß meine Nähe Sie stört, Excellenz – denn nur Sie wußten von ihr.“
„Nun denn – Sie stören mich in der That! Ich will nicht, daß Sie wiederkommen!“
Sie sah, wie er zusammenzuckte. Mit fest aneinander gepreßten Lippen stand er neben ihr und schwieg. Er schwieg hartnäckig, auch als die Generalin wieder erschien und zu plaudern begann. Stumm trat er dann in eine Ecke des Gemachs und hielt sich mit einer düsteren Miene von Dora fern. Sie sagte sich, daß diese schroffe Abweisung ihre Pflicht gewesen sei, daß diese weite Kluft zwischen ihnen sein müsse, aber sie konnte doch nicht anders als immer wieder nach der Stelle blicken,m wo er stand. Sie gehörte zu den Menschen, die es nicht ertragen, jemand wehgethan zu haben, die alle Dissonanzen abgleichen möchten, auch die unauflösbaren. Als er nach dem Frühstück, das man in dem stillen, kühlen Eßzimmer eingenommen hatte, eine Sekunde in ihre Nähe kam, schaute sie ihn fragend an, mit guten traurigen Augen. Es war nur ein kurzer Blick, aber er genügte, um dem Assessor zu zeigen, daß er richtig gerechnet, daß seine beleidigte Miene sie weicher gestimmt habe.
Ein lauter Lärm auf der Straße lockte die übrigen Gäste an die Fenster; sie blieben allein in dem leeren Speisezimmer.
„Man lacht sehr vergnügt da unten“ sagte er in einem gedämpften leidenschaftlichen Ton. „Mir erweckt diese Feststimmung einen Groll, als wäre sie ein Hohn auf mich. Sie schauen mich an, Excellenz – Sie wollen sehen, welche Miene ein Mensch zeigt, den man mit einem kurzen kühlen Wort von dem einzigen armseligen Fleckchen verbannt hat, das ihm eine schmerzliche Seligkeit gewährte? Nicht einmal dieses dunkle bescheidene Glück, dieses Bettlerglück gönnen Sie mir!“
Dora hatte die Selbstbeherrschung verloren. Ihr Herz, das sie so lange niedergekämpft hatte, klopfte wild, unbändig. „Glück!“ wiederholte sie. „Das nennen Sie Glück?“
Er sah den träumerischen Glanz in ihren Augen, das schmerzliche Zucken um ihre Lippen. Nun hatte er erreicht, was er wollte: sie verrieth, daß sie litt. Nun wollte, nun mußte er das Aeußerste wagen. „Ja, ein Bettlerglück – ich sagte so. Und steht es dem Bettler nicht frei, auf Stunden sein Elend zu vergessen, wenn er Phantasie genug besitzt, um sich in den Traum zu wiegen, er sei reich und mächtig, sei König – was er nur immer will? Der Bettler am Gitter Ihres Gartens hatte solch berückenden Traum, wenn er in der süßen Sommernacht da draußen stand. Er sagte sich: nichts trennt mich von der geliebten Frau, die dort im Lampenschimmer sitzt, nichts! Wenn ich nur will – ein einziger Griff und diese Pforte öffnet sich; wenige Schritte, und ich bin auf jenen Stufen dort, die zum Paradiese führen! Sie hört einen Laut, sie springt empor – ich aber stürze hin zu ihren Füßen, und endlich, endlich sage ich ihr in tausend heißen Worten, was ich verschweigen, vergraben mußte, bis zum Ersticken!“
Er schwieg. Seine lodernden Augen redeten eine noch glühendere Sprache als sein Mund. Sie wußte nicht, was die ihrigen antworteten, sie hatte die Gewalt über ihre Blicke verloren, aber ihre Lippen entgegneten zitternd, tonlos: „Ein tolldreister Traum! Das Märchen eines Fieberkranken! Ich wußte nicht, daß Sie dichten, Herr Assessor!“
„Welches Märchen hat Ihnen dieser böse Mensch erzählt?“ fragte plötzlich eine scharfe Stimme hinter ihnen; es war die der Generalin, die forschend von einem zum andern blickte.
Sie erschraken beide, keines konnte seine Verwirrung verbergen. Sie fühlten erst jetzt, wie weit sie während dieser einsamen Minuten von ihrer Umgebung fortgewesen waren, wie gänzlich sie die Welt um sich her vergessen hatten. (Schluß folgt.)
Die Wüstenburg Dschodpur. (Zu dem Bilde S. 769.) Südöstlich von dem Indusstrome erstreckt sich die weite Landschaft Radschputana, die in ihrer Flächenausdehnung dem Königreich Preußen nahezu gleichkommt, aber, dünner bevölkert, nur 10 Millionen Einwohner beherhergt. Kein Wunder, denn dieses Gebiet ist nicht so fruchtbar wie die gesegneten Ufer des Gangesstromes; die indische Wüste greift in die Landschaft hinein und vielfach ist die Bevölkerung beim Bebauen des Bodens auf künstliche Bewässerung angewiesen. Das Land hat den Namen von dem Stamme der Radschputen erhalten, der zu den tapfersten und kühnsten der Hinduvölker zählt. Die Reiterscharen dieser Nomaden hatten sich einst über die Nordebenen Indiens ergossen und gründeten eine Reihe kleiner Fürstenthümer, die sich untereinander befehdeten und mit den Nachbarn in ewigen Kriegen lebten. Sie selbst nennen sich „Sonnenkinder“, „Söhne des Gottes Indra“, und blicken noch heute als Mitglieder der Kaste der Kschatriyas, als indischer Kriegeradel, geringschätzig auf die friedlicheren Bewohner herab, zu deren Beherrschern sie sich aufgeschwungen haben. Trotz dieser angeborenen Tapferkeit mußten die Radschputen wiederholt ihren Nacken unter fremde Herrschaft beugen, denn die Uneinigkeit, die zwischen den kleinen Fürsten herrschte, schwächte ihre Macht. So sind auch heute die neunzehn zwischen Gebirgen und auf weiten Steppenebenen zerstreuten Radschputenstaaten England tributpflichtig.
Zu der Burg eines dieser Vasallen der Kaiserin von Indien möchten wir heute die Leser führen. Auf Flügeln des Dampfes eilen wir an die Grenzbezirke der Salzwüste Marwar, der „Gefilde des Todes“; dort erhebt sich über einer indischen Stadt, auf einem nackten gewaltigen Felsen, die Adlerburg des Fürsten von Dschodpur, hinter den schützenden Mauern eine Stadt von Palästen, die wie so viele Bauten Indiens von entschwundener Macht erzählt.
Es ist eine Fürstenburg im vollsten Sinne des Wortes. Sie war bis jetzt in Europa wenig bekannt, aber im Jahre 1891 erschien vor ihren Thoren ein glänzender Aufzug. Der Großfürst-Thronfolger von Rußland stattete auf seiner Weltreise dem Fürsten von Dschodpur einen Besuch ab, und man trug den Sohn des weißen Zaren in einer mit silbernen Pfauen geschmückten Sänfte die steilen Treppen zu der alten Burg hinauf. Trotz des zahlreichen Besuches war es lautlos und menschenleer im Adlerhorst der „Nachkommen des Tagesgestirnes“ und die Schritte der Fremden hallten dumpf auf dem Flur im Schatten der majestätischen, braungoldigen Prunkgemächer wieder. Aber welche Erinnerungen weckte der Anblick dieser langen Flucht von verödeten Sälen und Schlafgemächern mit einsamen Thronsesseln, seidengepolsterten Ruhelagern und zahlreichen Pfeilern, mythologischen Wandgemälden, Spiegeln und geschmackloser Vergoldung!
Einst waren hier, von Purpurschirmen beschattet, beim Dröhnen riesiger Trommeln, umgeben von Leibwächtern mit Gold- und Silberwaffen, die Fürsten der Wüste geschritten. Glänzende Feste hatte man hier gefeiert, da vor dem Namen der Radschputen die Nachbarn in Furcht und Schrecken erzitterten. Durch die Pforten kamen barfuß die huldigenden Vasallen, zogen aber auch kraft eines unwiderruflichen Richterspruches der Gemeinde die allzu eigensinnigen und frevelhaften Fürstensöhne für immer in die Verbannung. Es wurde ihnen ein schwarzes Roß vorgeführt, das einfachste Gewand angelegt, ein Schild umgehängt und ein Schwert umgegürtet, worauf sie sich entfernen mußten.
Manchmal ereigneten sich in der Feste schaurige Dramen anderer Art. Ein Thronerbe rüstete sich gegen einen Nebenbuhler, oder ein durch Beleidigungen zur Empörung getriebener Lehnsmann wurde in eine Falle gelockt, um in einem der Burghöfe meuchlerisch niedergestreckt zu werden. Aber auch dann baten die Ueberfallenen nur um die Gnade, mit der blanken Waffe getödet zu werden, nicht mit einer Kugel aus der Ferne. Den Vornehmsten wurde ein Giftbecher gereicht, den sie ohne Zagen an ihre Lippen führten, nur mußte der Todeskelch aus Gold sein.
Wie oft wurden im Laufe der Jahrhunderte durch diese Thore die toten Fürsten von Dschodpur mit freiem Antlitz und bloßen Füßen, in einer Art Kahn ausgestreckt, von den trauernden Vasallen zum Scheiterhaufen getragen! Wie oft wandelten auf diesem Stege die holden Gemahlinnen des Toten zu dem ihnen aus wohlriechendem Holze, Baumwolle und Kampfer bereiteten Feuergrabe! An dem Thore der düsteren Burg sind gar viele silberne Hände angebracht, Erinnerungsmäler an die Fürstinnen, die getreu ihren Männern in den Tod gefolgt sind!
Auf dem Hofe der Burg erhebt sich ein weißer Stein, die „Gadi“; der rechtmäßige Nachkomme eines gestorbenen Herrschers setzte sich auf ihm nieder und ergriff die Regierung. Von den Fenstern seines Schlosses schaute er in die weite Ferne. Da sah er die Stadt Dschodpur zu seinen Füßen; da lagen wie heute nach Jahrhunderten bunt durcheinander Heidentempel, Wasserbehälter, kleine weiße Häuser der Landesvornehmen, enge Straßen mit Wohngebäuden und die düstern jähen Abhänge der Burg selbst; und weiter schweifte der Blick über die tote, schmutzig braune Wüste bis zu der rauhen Kette kahler Anhöhen, die im Nebel der öden Ferne verschwammen. Dieser stete Umblick auf die traurige Scenerie mußte in den „Söhnen des Tagesgestirnes“ eine unbefriedigte Sehnsucht nach etwas [772] anderem wecken; die erhabene Wüste mag auch hier jenen kampflustigen Schlag von Männern erzeugt haben, die, nach Gefahren und Abenteuern ausspähend, von der Seligkeit träumen, einst in einem wunderbaren Paradiese zu erwachen, wohin irdische Helden im Augenblick des Todes von schönen Walküren getragen werden. –
Aber die ungebundene Freiheit der Wüstenfürsten erlitt schon schwere Einbuße, als der Halbmond siegreich in Indien vordrang. Wohl stürzten sich die Todesmuthigen von der Höhe der Burg auf die Feinde, angefeuert von den Barden – „unter dem Klange der Speere und Schilde, beim Aufblitzen der Schwertstreiche, als blutrothe Lotosblumen auf dem Ocean der Wahlstatt zum Sonnenpalaste zu schwimmen und sich des Anblicks zu freuen, wie Siwa sich einen Rosenkranz aus Totenschädeln fertigt“; aber die Ueberlebenden wurden zu Vasallen des Großmoguls; nun war die stolze Burg von Dschodpur zu groß für die zusammengeschmolzene Macht.
In den Felsen der Burg ist eine Schatzkammer ausgehauen, die noch heute die reichste von ganz Indien sein und Kostbarkeiten im Werthe von 30 Millionen Mark bergen soll. Auch eine Rüstkammer fehlt nicht in dem Sitze der ritterlichen Fürsten; dort sind die prachtvollsten Rüstungen und Waffen aus alten Zeiten aufgehäuft. Aber seit der Sepoy-Empörung vom Jahre 1857, an der auch Dschodpurs Reiterscharen theilgenommen hatten, ist die Gegend bezwungen; der Maharadscha zahlt England den schuldigen Tribut und die Kanonen der Burg schweigen. Dafür blüht ein anderes Leben am Rande der Wüste auf. Der seit 1873 regierende Fürst sorgt für die Wohlfahrt seines 21/2 Millionen Einwohner zählenden Landes; er hat dem Räuberwesen ein Ende gemacht, überall kommt die Gerechtigkeit zur Geltung, die Fehden des Adels sind beigelegt worden; es giebt regelrechte Postverbindungen, die großen Staatsschulden sind getilgt, Wasserwerke werden angelegt und der Maharadscha hat eine schmalspurige Eisenbahn bis an seine Residenz bauen lassen.
Das ist die Geschichte der Burg von Dschodpur, die auf den
„Gefilden des Todes“ emporgeblüht ist wie eine Märchenblume im
Wüstensande. Wir sind in unserer Darstellung zum großen Theil dem
Prachtwerke „Orientreise Sr. Kaiserl. Hoheit des Großfürsten-Thronfolgers
Nikolaus Alexandrowitsch von Rußland“ gefolgt, das von einem der
Begleiter des Thronfolgers, dem Fürsten E. Uchtomskij, verfaßt, von
dem russischen Maler Karasin, einem Schüler Dorés, in trefflicher Weise
illustriert worden ist und von dem eine deutsche Ausgabe nach der Uebersetzung
von Dr. Hermann Brunnhofer im Verlage von F. A. Brockhaus
in Leipzig erscheint. Es ist ein prachtvolles Werk, das uns in eine Welt
von Wundern einführt: Griechenland , das alte und moderne Aegypten,
Indien mit seinen Wunderbauten und seiner grandiosen Natur, Ceylon,
Java, Siam, das Reich des weißen Elefanten, China, das heiter schöne
Japan und das unermeßliche Sibirien gleiten in glänzenden Bildern an
unseren Augen vorüber. *
Photographie auf dem Meeresgrund. (Zu dem Bilde Seite 757.) Im überraschender Fülle und Mannigfaltigkeit haben wissenschaftlicher Sammeleifer und Forschungstrieb in den letzte Jahrzehnten neue, der Wissenschaft bisher unbekannte Thiere aus dem Schoße des Meeres heraufgeholt, und wer die umfänglichen, reich illustrierten zoologischen Reisewerke der letzten Zeit durchsieht, den mag wohl der Wunsch beschleichen, diese sonderbar gestalteten, oft in den leuchtendsten Farben prunkenden Geschöpfe des Meeres auch einmal im Leben zu belauschen, sie in ihrer Heimath aufzusuchen. Freilich – die gewaltigen Abstürze des Meeres, die „purpurne Finsterniß“ bleibt dem körperlichen Auge des Menschen stets verschlossen, nur mittelbar erlangen wir Kunde von den Tiefen, in denen in schlammigem Grund mit schwankem Stiel als lebende Zeugen längst vergangener Erdperioden die Haarsterne wurzeln, während bizarr gestaltete Fische das Wasser durcheilen, mit eigenem Licht das ewige Dunkel erhellend. Die Fülle des Lebens aber, die das Meer in geringerer Tiefe entwickelt, ist dem Menschen zu sehen erlaubt; die hierzu übliche Toilette ist nicht gerade bequem oder elegant, aber der sichere Taucheranzug, dessen sich der Reisende bedient, gestattet ihm, gefahrlos und in Ruhe die Wunder der Tiefe zu betrachten. Um das Haupt des unterseeischen Wanderers spielen neugierig die Fische und während vielleicht der bleisohlenbeschwerte Fuß über die zerfallenen Mauern eines Prunkhauses der römischen Kaiserzeit dahinschreitet, das einst an der Küste gestanden ist, nun aber mit der Senkung des Landes in die Fluthen untergetaucht ist, greift seine Hand nach einem Tintenfisch, der sich wie derjenige auf unserem Bilde das zerfallene Gemäuer als Raubritterburg ausersehen hat, oder pflückt vom benachbarten Felsen die Blumen des Meeres, zierliche Korallenzweige.
Ganz von selbst tritt da der Wunsch auf, die mannigfachen Eindrücke dauernd zu fassen und das eigenartige Bild wenigstens in seinen Hauptzügen festzuhalten. Ein junger französischer Gelehrter, Dr. Bouton, hat den Gedanken zur That gemacht, die Photographie in den Dienst auch dieses Zweiges unterseeischer Forschung zu stellen; der Aufenthalt an der französischen zoologischen Station Banyuls-sur-Mer, am Mittelmeer nahe der spanischen Grenze, bot ihm Gelegenheit, eine Reihe unterseeischer photographischer Aufnahmen zu machen. Die Hilfsmittel, welche der Gelehrte benutzte, waren sehr einfach. Nächst dem photographischen Apparat ist das weitere Haupterforderniß eine mit Sauerstoff gefüllte Tonne, mit welcher eine Glasglocke verbunden ist, in der eine Spiritusflamme brennt; eine einfache Vorrichtung gestattet, nach Belieben an der Flamme Magnesiumpulver zu zerstäuben, bei dessen blitzartigem Aufleuchten die Momentphotographien gewonnen werden. Löcher in der Tonne gewähren dem Seewasser Zutritt zur Druckregulierung bei der allmählichen Abnahme des Sauerstoffs.
Mit Hilfe dieses Apparates hat Dr. Bouton eine Reihe Aufnahmen an der Küste von Banyuls gemacht und damit für einen neuen Zweig der wissenschaftlichen Forschung wie des Liebhabersports Anregung gegeben. Vielleicht bekommen wir einmal ein Album in die Hand, das uns eine Reihe unterseeischer photographischer Bilder vorführt, ähnlich wie wir jetzt eine Zusammenstellung von Reisebildern aus der Schweiz, aus Norwegen und aus anderen Zielpunkten des Reiseverkehrs durchblättern. Und mit dem, was uns die Oberfläche des Landes bietet, dürfen sich an Mannigfaltigkeit und malerischer Gestaltung die unterseeischen Landschaften, die „Meerschaften“, wie ein schon hier und da gebrauchter, aber noch sehr ungewohnt klingender Ausdruck lautet, kecklich messen. Wohl mag es auch hier manche langweilige Partie geben; wo das Ufer sich sanft abflacht und auf Seemeilen hinaus der Boden sich ganz allmählich senkt, da bietet er keinen fesselnden Anblick; wo aber die Ufer steil in das Meer abfallen, wo vielleicht auch ein Fluß in seiner Mündung dazu beiträgt, das Ufer zu zernagen, wo die stete Brandung am trotzig entgegenstehenden Fels Höhlung auf Höhlung ausnagt, da wechselt die Scenerie mit jedem Schritt, da giebt das Bild einer Meerschaft dem einer wildromantischen Landschaft nichts nach und allüberall kommen die mannigfachen Gestalten der Thierwelt als belebendes Element hinzu; stattliche, becherförmige Schwämme und Korallen haben sich auf den Vorsprüngen der Felsen angesiedelt, Seesterne, Seeigel und Krabben klettern mit verblüffender Gewandtheit in den Spalten der Gesteine herum und Fische und Scharen bunter Quallen erfüllen, wie der Künstler dies uns auf dem Bilde zeigt, das Wasser.
Immer mehr verallgemeinert sich auch die Anwendung des elektrischen
Lichtes bei unterseeischen Forschungen, schon ist dasselbe in größeren Tiefen
zum Fang von Meeresbewohnern zur Anwendung gelangt, und so mag
der Gedanke nicht allzu kühn sein, daß es menschlicher Erfindungsgabe
noch gelingt, mit Hilfe des elektrischen Lichtes und des photographischen
Apparates auch von scheinbar verschlossenen Tiefen der Meere ein
wahrheitsgetreues Abbild zu erhalte. L.
Eine neue billige Ausgabe von Grillparzers sämtlichen Werken. Auf die vierte Auflage der Werke des großen österreichischen Dichters ist jetzt nach sechs Jahren die fünfte gefolgt, wieder wie die letzte in vortrefflicher Weise von August Sauer herausgegeben. Sie umfaßt, da der Text erheblich bereichert werden konnte, statt der früheren sechzehn Bände deren zwanzig, ist aber trotzdem bedeutend billiger geworden, dank dem Bestreben der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung, den Schöpfungen dieses Klassikers der neueren Zeit die weiteste Verbreitung und die verdiente volksthümliche Geltung zu sichern. Eine Fülle von dramatischer Kraft, einen Reigen packender erhebender Gestalten bringen uns diese Dichtungen in einer Sprache entgegen, deren Tiefe, deren klangvoller Schwung seither von keinem mehr erreicht wurde. Da ziehen sie an uns vorüber, jene mächtigen Bilder tragischer Größe, allen voran Sappho und Medea, Hero und Leander. Und hinter den Werken seiner Phantasie zeigt uns der Dichter sein eigenes Wesen. Grillparzer hat das Leben nicht leicht getragen. Er, der mit seinem ganzen geistigen Sein in seinem poetischen Wirken aufging, dem die Dichtkunst nach seinem eigenen Ausspruch Philosophie und Physik, Geschichte und Rechtslehre, Liebe und Neigung, Denken und Fühlen war, konnte es nie verwinden, daß nach dem vollen Erfolg seiner Jugend sein Name durch widrige Umstände zwei Jahrzehnte lang fast in Vergessenheit gerieth. Erst 1848 machte das berühmte Gedicht an den Feldmarschall Radetzky:
„Glück auf, mein Feldherr, führe den Streich,
Nicht bloß um des Ruhmes Schimmer!
In Deinem Lager ist Oesterreich,
Wir andern sind einzelne Trümmer“ ...
sein Vaterland wieder auf ihn aufmerksam, das nun seinen Werth in immer steigendem Maße erkannte. Sein achtzigster Geburtstag am 15. Januar 1871 wurde mit Festen gefeiert, wie sie selten einem Dichter dargebracht wurden, und als er bald darauf, am 21. Januar 1872, starb, da geleiteten Tausende seinen Sarg. Sein Ruhm ist nicht mit ihm zu Grabe gegangen, er hat die Zeit, die das Echte vom Nichtigen scheidet, überdauert und wird sie überdauern, denn was Grillparzer so gewaltig schildert, die großen Räthsel menschlichen Lebens und Liebens, das wird wirksam sein, so lange empfängliche Herzen sein schönes Wort begreifen:
„Und in der Welt voll offenbarer Wunder
Sind wir das größte aller Wunder selbst.“
Ein Volksgericht im Mittelalter. (Zu dem Bilde S. 760 u 761.) Im Mittelalter legte sich die Gemeinde vielfach gegenüber ihren Mitgliedern eine Strafgewalt bei, die in ihrer Wirkung viel mächtiger war als Gesetzesbestimmungen und Rathsverordnungen. Wer gegen die ungeschriebenen Gesetze von des Landes Brauch und Sitte sich verstieß oder sich sonst mißliebig gemacht hatte, der verfiel einer Art Lynchjustiz des Volkes genau so, wie in Oberbayern heute noch der Rache der „Haberer“. Im mittelalterlichen Frankreich geschah dies insbesondere bei solchen Ehebündnissen, welche den Anschauungen des Volkes zuwiderliefen. Wenn eine Witwe sich aus unlauteren Beweggründen zum dritten oder vierten Male oder mit einem ihr an Alter gar zu ungleichen Mann verheirathete, so mußte sie sich darauf gefaßt machen, daß man ihr ein „Charivari“, das heißt auf deutsch eine Katzenmusik brachte, oder sie gar rücklings auf einen Esel setzte und unter betäubendem Gejohle und Getöse von ihrem Mann vors Dorf hinaus ziehen ließ. Der Maler unseres Bildes stellt einen solchen Auftritt in drastischer Weise dar. Der Gebrauch hatte etwas Rohes an sich, es mag aber sein, daß er doch ab und zu eine heilsame Wirkung ausübte.
Inhalt: [ Inhalt der Nummer 45/1893 ]
- ↑ Ausschließlich aus solchen Rekruten zusammengesetzt, die schon vor ihrer Einberufung gemeiner Verbrechen halber bestraft worden waren.