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Die Gartenlaube (1893)/Heft 52

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[877]

Nr. 52.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.


Jahreswende

Die Uhr rückt vor. Es geht ein Jahr zur Neige
Und Totenlieder singt ihm die Natur.
Der Nachtwind braust durch die entlaubten Zweige
Und über die entfärbte Flur.

Da horch … der Glockenschlag zur Jahreswende!
Ein Segenswunsch ertönt von jedem Mund,
Und Lieb’ und Freundschaft reichen sich die Hände,
Und sie erneu’n den alten Bund.

Du, trauernd Herz, mögst all dein Weh’ begraben –
Verzage nicht, ob auch dein Stern verblich!
Das neue Jahr wird seinen Frühling haben,
Es hat auch einen Lenz für dich!
 Carl Rudolf.


Nachdruck verboten. Copyright 1893
by Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig.

Sabinens Freier.

Von W. Heimburg.
 (Schluß.)

Morgen wird Bine schon ganz gesund sein,“ tröstete mich Hella, als sie meine Bestürzung gewahrte.

„Darf ich denn auch Großmama nicht sprechen?“ fragte ich.

„Sie sagte ausdrücklich, sie erwarte Dich erst morgen mittag, lieber Onkel. Ich kann Dir auch im Vertrauen sagen, daß es heute nicht sehr empfehlenswerth ist, sich ihr zu nahen; sie ist so steifnackig und so hartmäulig wie der ‚Hans‘, seitdem ihn die Gemüsefrau vor den Gärtnerkarren spannt, er beißt und schlägt sogar. An Deiner Stelle, Onkel, drängelte ich mich nicht zu einer Audienz.“

„Was ist denn eigentlich los?“ fragte ich verstimmt.

Hella stand an einer Straßenecke still, wo es just recht angenehm windig war. Sie zuckte die Schultern. „Gute Nacht, Onkel,“ rief sie mir ins Ohr, „oder soll ich Dir Gesellschaft leisten heute abend?“

Ich schüttelte nachdrücklich den Kopf.

„Nicht? Dann wollen wir uns jeder für sich langweilen. Gute Nacht, schlaf’ nur recht schön! Was los ist bei uns? Durchaus nichts Besonderes, Großmama hackt eben auf die Bine ein – es ist die höchste Zeit, daß sie aus dem Hause kommt, die Bine. Das beste wäre, Du könntest sie gleich mitnehmen – gute Nacht, Onkel!“ Sie war, als sei sie vom Winde davongetragen, um die Ecke verschwunden, und wie kleine Kobolde rasten die Hunde hinter ihr her.

Langsam schritt ich weiter. Ich hatte es mir allerdings anders vorgestellt, dieses Kommen; ich war niedergeschlagen bis zum äußersten und sorgte mich um Sabine. Gott mochte wissen, was es da zwischen Großmutter und Enkelin gegeben hatte. Planlos ging ich dahin durch die schlecht erhellten Straßen, die, trotzdem es erst Spätnachmittag und vor Weihnachten war, öder und menschenleerer schienen als je. Die Auslagen der Kaufleute waren indes heller beleuchtet und mit mehr Sorgfalt geordnet als früher, und in der Buchhandlung prangte zwischen allerhand allgemein beliebten schön gebundenen Büchern sogar ein kerzenhelles Weihnachtsbäumchen.

[878] Ich stand ein Weilchen davor, weiß aber nicht, was ich eigentlich gesehen habe. Dann schritt ich abermals weiter, immer weiter, unter dem alten Thorbogen des Städtchens hindurch und längs des Wassers an der Stadtmauer hin, bis ich vor dem Gartenpförtchen des Brenkenhauses anhielt. Der Wind verstummte hier ganz, die Mauer hielt ihn völlig ab. Jenseit derselben ächzten und klapperten die dürren Zweige der Bäume, und die Wetterfahne auf dem Dache der Laube gab einen klagenden unheimlichen Ton von sich, wenn der Wind sie um ihre rostige Achse drehte.

Ich hatte ganz mechanisch auf die Klinke der Pforte gedrückt und fand diese unverschlossen. Einen Augenblick schoß es mir wie Aerger durch den Kopf: es war doch über alle Begriffe leichtsinnig, das Grundstück so unverwahrt zu lassen! Dann hatte ich nur noch Sinn für die zwei matt erleuchteten Fenster drüben im Hause – ihre Fenster!

Da stand ich in dem windigen dunkeln Dezemberabend und starrte hinauf. Mit der Hand hatte ich den Stamm eines jungen Obstbaumes umklammert, als ob ich mich selbst halten müsse, um nicht emporzueilen und sie in meine Arme zu nehmen, meine Leni!

Droben ward jetzt ein Fenster geöffnet und eine Gestalt beugte sich heraus, wie horchend, einen Augenblick nur – dann verlöschte das Licht. Sie ging wohl zur Ruhe. Würde es die finden, das arme erregte kleine Herz? Es überkam mich ein inniges Mitleid mit ihr. Am Ende wäre es doch besser gewesen, ich hätte sie heute abend noch gesehen, ihr noch ein paar liebe Worte gesagt, sie versichert, daß sie dem alten Onkel seine Jugend zurückgezaubert habe, daß er sie dafür zu einer glücklichen geliebten Frau machen wolle, welche die Noth und Plage des Lebens nicht mehr kennen solle.

Was mochte ihr nur sein? Diese Ohnmachten! Sie sah neulich gar nicht nach schlechten Nerven oder Kränklichkeit aus! Aber freilich, Leni war auch so blühend als junges Mädchen und trug doch den Keim des Todes in der Brust. Eine namenlose Sorge ergriff mich plötzlich. Wenn sie, wenn sie auch – – es war ja gar nicht unmöglich, die schreckliche Krankheit war so oft erblich! Ich starrte in peinvoller Angst zu dem Fenster empor wie damals. Stirb nicht! Du darfst nicht sterben – zum zweiten Male! Ich trüge es nicht! Wie damals forderte ich es und wie damals fühlte ich die Machtlosigkeit des Menschen gegen sein Schicksal.

Wie lange ich da stand, weiß ich nicht. Jeder frohe Zukunftsgedanke war entschwunden. Der Sturm hatte sich mittlerweile ein wenig vermindert, aber nun schlugen große Regentropfen hernieder und ich wandte mich zum Gehen. Ich schritt hinter einem Boskett herum, denn es lag eine eigenthümliche Helligkeit in der Luft, obgleich der Mond nicht schien, und ich fürchtete, Hella oder die Tante könnten mich erkennen; sie brauchten mich gerade nicht bei meinem Schmachten vor Sabinens Fenster zu ertappen. Hella, das garstige Ding, hätte jedenfalls reichlichen Stoff zu lebenslänglichen Neckereien gehabt.

Auf einmal blieb ich stehen; dicht an mir vorüber war etwas gegangen; nein, nicht gegangen – gelaufen, geflogen, eine schlanke schwarze Frauengestalt. Unter den leichten Schritten knirschte der Kies – ich hatte auch etwas gehört – ein Stöhnen, dann war sie wie ein Spukgebilde entschwunden. Dort unten an der Mauerpforte mußte sie sein! Rasch ging ich nach. Hella? Aber sie konnte es nicht gewesen sein, sie war kleiner und – um Gotteswillen, was wollte Bine hier?

Als ich an der Pforte anlangte, war sie fest ins Schloß gefallen und der eiserne Schnapper wich meinen Bemühungen nicht. Ueber mir peitschten im Winde die kahlen Reben des wilden Weines die Mauer und die Wetterfahne seufzte noch melancholischer als zuvor; ich aber stand wie zu Eis erstarrt, denn draußen, dicht vor der Pforte, hörte ich Binens süße weiche Stimme: „Denke nicht schlecht von mir – ich könnte nicht weiter leben ohne ein Abschiedswort, ohne zu wissen, daß Du mir nicht zürnst. – Ach, vergieb mir, Georg, vergieb mir, daß ich – ach, Du weißt ja nicht!“

Eine Antwort kam nicht.

„Georg!“ Sie schrie es fast zornig. „Hast Du denn kein Mitleid mit mir? Fühlst Du denn nicht, daß ich tausendmal unglücklicher bin als Du? Ach, wenn ich wüßte, was ich anfangen sollte – wenn ich sterben dürfte! Sterben, das wäre das Beste!“

Die Stimme erstarb, wie überwältigt von Angst und Weh.

„Sprich doch ein Wort, Georg,“ flehte sie weiter, „ein einziges! Denke doch, wie ich gekämpft habe und gerungen. Ach, der fürchterliche Tag heute und – ich kann ja nicht anders, ich weiß keinen Ausweg!“

Da endlich sprach er: „Nein, Du kannst nicht anders, natürlich nicht!“ Es war eigentlich nur ein Gemurmel. „Und wenn man so ein Bettelmann ist –“ setzte er bitter hinzu.

„Ach, um mich allein, Georg, ist es nicht, aber die alte Frau und Hella –“ Und nun kam kein verständliches Wort mehr, nur Schluchzen, krampfhaftes Schluchzen, heiße Küsse. „Nie wieder, nie!“ sagte sie, „leb’ glücklich, Georg, vergiß mich!“

„Glücklich!“ Ein kurzes hartes Auflachen. „Vergessen?“

Sie schluchzte wieder. „Ich muß zurück!“ stieß sie endlich hervor.

„Du mußt?“ fragte er laut. „Ja, mußt Du? Dann leb’ wohl!“

„Sieh nicht so furchtbar starr aus, Georg!“

Nun ein Rütteln an der Thür, ein banges: „Um Gotteswillen, sie ist zugefallen!“ Dann wieder ein ängstlicher Versuch, ein neuer Ausbruch des Abschiedsschmerzes. „Ach, ich kann nicht leben ohne Dich, Georg!“

„Aber Du sagst doch, Du mußt, Sabine?“

„Ja, aber ich kann nicht lügen – und nun soll mein Leben nur noch eine einzige Lüge sein!“

Ich hatte auf einmal die Kraft, den Riegel zurückzuschieben, und lehnte mich gegen die Mauer.

„Es ist ja offen,“ sagte er dann.

„Noch einmal, leb’ wohl – auf immer!“

„Ich ertrag’ es nicht, ich will es nicht ertragen,“ stöhnte plötzlich der Mann. „Du darfst mich nicht verlassen, Bine – Doch geh’ nur, geh’!“ Und wieder ein Kuß, der kaum enden wollte. Dann flog die Pforte so heftig zurück, daß sie mir fast gegen die Stirn schlug, und Sabine schwankte in den Garten.

Sie sah mich nicht. Die Gartenthür wurde von außen zugezogen; das Mädchen ging langsam mit gesenktem Kopf weiter; eine Ewigkeit dauerte es, bis sie im Hause verschwand.

Ich richtete mich langsam auf, wischte mir die Regentropfen aus dem Gesicht und zog den Riegel wieder zurück; dann trat auch ich ins Freie. Niemand mehr hier, so finster und verlassen dieser öde Weg, als habe sich nicht eben das Schicksal dreier Menschenherzen hier entschieden.

Im Gasthof angelangt, saß ich in der warmen Stube am Ofen, und Böhme, der gute Kerl, stand vor mir und sah mich mit ganz entsetztem Gesicht an.

„Der Herr Major fühlen sich doch nicht krank?“

„Nein, nein! Bloß die verdammte Reise und das Hundewetter!“ murmelte ich.

„Es ist ein Briefchen da für den Herrn Major.“

Ich öffnete es und fand eine Einladung von meinem alten Bekannten, dem Kommandeur. Er habe erfahren, ich sei angekommen, und ob ich ihm und den übrigen Kameraden nicht die Freude machen wolle, an dem Austernessen theilzunehmen, das heute abend stattfinde. Ich kannte diese Mode von früher her; das Offizierscorps ließ von Hamburg ein Fäßchen Austern kommen und aß sie in vollzähliger Sitzung drunten im Speisesaal.

Ich hielt den Brief gedankenlos in der Hand.

„Befehlen, daß ich bestelle, der Herr Major seien zu angegriffen?“

„Nein, ich werde kommen! Bestelle, ich würde die Ehre haben. Dann hilf mir, mich umzuziehen!“

Eine halbe Stunde später saß ich auf dem Ehrenplatz inmitten einer liebenswürdigen Gesellschaft; ich sprach, ich trank, ich frischte mit dem Kommandeur alte Jugenderinnerungen auf – es ist mir noch heute schleierhaft, wie ich das konnte, aber ich fühlte nichts mehr, es war, als ob mit einem Male alles in mir tot sei.

„Wo ist denn Felsenberg?“ fragte plötzlich der Oberstlieutenant, und jedermanns Augen richteten sich auf den leeren Stuhl am unteren Ende der Tafel.

„Er war vorhin schon auf dem Wege hierher,“ berichtete einer der Herren, „ich begreife nicht, wo er bleibt!“

„Da kommt er ja!“

Die Thür hatte sich geöffnet und der Vermißte trat ein. [879] Er begrüßte die Anwesenden, kam dann zu uns herauf und bat den Kommandeur um Entschuldigung seiner Verspätung wegen, vollkommen ruhig und beherrscht, als hätte er nicht eben – natürlich, er war es – als hätte er nicht eben –

An mir sah er vorbei. Ich nahm es nicht übel, hätte eher das Gegentheil übelgenommen. Er setzte sich auf seinen Platz da unten und begann zu essen. Ich konnte nicht anders, ich sah ihn immerfort an. Er aß sehr rasch; nach jeder zweiten Auster trank er sein Glas aus. Plötzlich hörte er auf und saß da mit blassem Gesicht, an seinem Schnurrbart zupfend.

Die schon lustig gewordenen jungen Kameraden neckten ihn.

„Der Kerl sieht aus wie der Fliegende Holländer!“ sagte einer.

„Prosit, Georg!“ rief ein anderer.

Er that Bescheid und saß dann wieder stumm da, nur die Augen brannten düster. Er versuchte öfter zu mir herüberzusehen, aber unterwegs lenkte er seine Blicke doch wieder an mir vorbei. Dann trank er jedesmal sein Glas hastig aus und nach jedem Glase wurde er bleicher.

Ich konnte es nicht mehr mit ansehen, stand auf, empfahl mich, indem ich etwas von Reisemüdigkeit sprach, und verließ den Saal. Droben saß ich dann wieder Mutterseelenallein mit dem armen leeren Kopf und Herzen – so leer, so arm – ich kann’s nicht beschreiben! Ja, was denn nun? Ach, es war ja so einfach! Es giebt Dinge, die so einfach, so furchtbar einfach, schlicht und wahr sind, daß den Leuten das Herz darüber bricht!

Nein, Leni, nein – das hatte ich nicht gewollt! Wir beide wissen, was es heißt, jene Schmerzen zu erleiden, die ihr beiden jungen Menschenherzen jetzt durchkämpft. Nein, so hatte ich es nicht gemeint! Da ist’s natürlich das Beste – das Beste –

Ich stand auf und zog die Klingel.

„Böhme, erkundige Dich ’mal, ob Lieutenant von Felsenberg noch unten ist!“

Er kam zurück: Lieutenant von Felsenberg sei schon seit einer halben Stunde nicht mehr anwesend.

Na, dann morgen früh! sagte ich zu mir, fing an, in der Stube umherzugehen, und betrachtete die Bilder, die an den Wänden hingen, als nähme ich den größten Antheil an ihrem zweifelhaften Kunstwerth, Und dabei dachte ich doch nur immer an den armen Kerl, der so blaß ausgesehen hatte, und wie er jetzt im Zimmer herumrasen mochte und den morgenden Tag nicht mehr zu erleben wünschte. Ach, ich kannte ja das alles, ich kannte es ja, und in der Jugend, da sind die Schmerzen noch großer – ich erlebte es ja einst! Und heute? Ich fühlte nichts, ich fühlte nur die Leere. Die Leute, denen in der Schlacht ein Glied abgerissen wird, die sollen auch im ersten Augenblick nichts merken; sie sehen mit Entsetzen und Mitleid ihren verstümmelten Kameraden neben sich an und vergessen die eigene Wunde.

Und das verzweifelte Kind, das sich in seine Kissen vergräbt und weint und weint und sich fürchtet vor dem kommenden Tag, der sie dem ungeliebten Bräutigam in die Arme treibt!

Wie spät war es denn? Zehn Uhr!

Ich klingelte abermals. „Böhme, fragen Sie doch ’mal, wo der Lieutenant von Felsenberg wohnt!“

Er kam zurück. „Gleich hier im Gasthof, im Anbau nach dem Garten zu.“

„Aha!“ Ich kannte die Baracke, die der Wirth als Lieutenantswohnung eingerichtet hatte, schon von früher her; es wohnten da immer zwei von uns. Die Stuben waren miserabel, die Ställe vorzüglich.

„Ob der Lieutenant von Felsenberg zu Hause ist?“

„Zu Befehl, Herr Major – es brennt Licht in seinem Zimmer.“

Ich nahm meinen Reisemantel um und ging die Treppe hinunter über den Hof nach dem Garten, der durch ein niedriges Mäuerchen vom Hof getrennt war. Richtig, in der Stube des Erdgeschosses brannte Licht hinter den Läden. Es war ein ganz niedriges Erdgeschoß, und die Läden hatten so große Spalten, daß man, ohne besonders den Spion zu machen, die Stube übersehen konnte, Warum ich hier stand und hineinschaute? Ja, wer kann ermessen, welchem Antrieb der Mensch zuweilen folgt? Unsere Handlungen in solchen Stunden sind wie von einer geheimnißvollen Macht beeinflußt. Ich stand also da und sah hinein.

Er saß an seinem Tisch in der Nähe des Fensters und schrieb. Das ist ja nun nichts Besonderes, aber neben ihm lag etwas, das ließ mir das Herz stille stehen vor Schreck – etwas, das in gar keiner Beziehung zu einem Schreibtisch steht und das doch so furchtbar deutlich die Briefe illustriert: Abschiedsbriefe!

Ich eilte im nächsten Augenblick in den Hausflur – ein einziges lautes Klopfen an der Thür, ein Druck auf die Klinke, und ich stand drinnen.

Er war aufgesprungen und hatte blitzgeschwind sein Taschentuch über das bewußte Ding geworfen. Als er mich erkannte, stützte er sich mit der Rechten fest auf den Tisch, und durch seinen schlanken Körper ging’s wie ein Schüttelfrost.

„Guten Abend, Herr Kamerad,“ sagte ich, „verzeihen Sie, daß ich so eindringe, so unangemeldet; Sie überhörten wohl mein Klopfen im Eifer des Schreibens?“

Er maß mich von oben bis unten mit einem Blick voll tödlicher Kälte:. „Was befehlen Sie, Herr Major?“

„Nichts, lieber Felsenberg, ich habe nur eine Bitte.“

Er verbeugte sich leicht.

„Kassieren Sie jenen Brief!“

„Herr Major!“ fuhr er auf.

„Und schreiben Sie einen anderen an die alte Frau – es ist wohl an Ihre Frau Mutter? – einen, in dem Sie nicht um Verzeihung bitten, daß Sie ihr einen Schmerz anthun wollten, wie er größer nicht gedacht werden kann! Melden Sie ihr, daß –“

Er sah mich an wie irrsinnig. „Meine Mutter“, sagte er, „meine Mutter!“ Dann lachte er auf.

Ich blickte ängstlich in sein zuckendes Gesicht und folgte mit meinen Augen den seinigen. Und da bemerkte ich an dem linken Arm einen schmalen schwarzen Kreppstreifen.

„Meine Mutter ist tot! Vor acht Tagen habe ich sie begraben,“ sagte er klanglos.

Armer Junge, so viel auf einmal! Ja freilich, da mag Dir das Leben keinen Pfifferling mehr werth scheinen! dachte ich, und das Wort, das ich hatte sprechen wollen, erstarb mir auf den Lippen.

„Was befehlen der Herr Major?“ fragte er wieder scharf und laut.

„Nun, Herr von Felsenberg,“ sagte ich, „und wenn auch die alte Frau der Schlag nicht mehr treffen kann, so doch vielleicht ein anderes Herz, ein junges, schon halb verzweifeltes Herz. Sie haben wohl nicht daran gedacht, wie es weiter leben soll in dem Bewußtsein: Deinetwegen, da – da ist einer fortgegangen – na, wir verstehen uns, Herr Lieutenant. Also verbrennen Sie jenen Brief! Sabine würde sterben, müßte sie ihn lesen. Sagen Sie ihr lieber morgen mündlich: ‚Mein geliebtes Mädchen, meine Braut, wir brauchen uns nicht zu trennen, denn da ist so ein Onkel ein alter thörichter Onkel, der – der hat die Geschichte in Ordnung gebracht und läßt Dich grüßen.‘ – Also Ihr Wort, Herr Lieutenant – verbrennen Sie den Brief! Und nun gute Nacht! Wenn Sie morgen mittag in das Brenkenhaus kommen, so finden Sie offene Thüren,“ Ich nickte ihm zu und schritt über den Hof in mein Zimmer zurück.

Mein Gott, wenn ich nicht zu ihm gegangen wäre – der Heißsporn! Na, ich war ja auch einmal beinahe so weit gewesen, und gegen den genommen – man brauchte ja nur seine Augen zu betrachten – war ich die Gelassenheit selber.

Nun saß ich da am Sofatisch neben der brennenden Lampe, eine Tasse schwarzen Kaffees vor mir und eine Cigarre zwischen den Lippen, und schrieb, Und währenddem packte Böhme wieder ein, was er bereits ausgepackt hatte und bestellte das Wecken auf sechs Uhr früh; um sieben Uhr ging der Schnellzug.

Ein Brief an Tante Klara – das war der schlimmste – ein Brief an mein Pathenkind, einer an Felsenberg, abzugeben um acht Uhr! Und dann mochten sie sehen, wie sie fertig wurden.

Ich schlief noch ein paar Stunden, dann fuhr ich in dunkler Morgenstunde aus Wardelingens Thor. Drüben lag der Kirchhof – – Leni, hab’ ich es recht gemacht?

Eben war ich in den Eisenbahnwagen gestiegen, da stand vor der noch offenen Thür eine große Gestalt im Mantel, an dem der Wind zerrte. Eine Hand streckte sich mir entgegen und umfaßte mit heftigem Druck die meinige.

„Herr Major – –“ Die Stimme versagte ihm.

[880] „Schon gut, mein lieber Felsenberg! Grüßen Sie Sabine, wenn Sie heute mittag hingehen und ihr Jawort holen! Mein Brief wird Ihnen nachher gegeben werden. Leben Sie wohl!“

Die Thür wurde zugeschlagen, und dahin brauste der Zug. Gottlob, als es hell wurde, da waren wir nicht mehr in der Mark, und ich fing an, mich zu sammeln.

An Leeden schrieb ich von Berlin aus ein paar Worte, die ihn aufklärten; er wäre sonst am Ende ganz wirr geworden beim Lesen der Verlobungsanzeige von Sabine Bayer mit dem Lieutenant von Felsenberg. Als ich in meine Garnison kam, war schon ein Brief von ihm da.

„Im ganzen bin ich nicht böse, alter Freund, ich habe Dich behalten. Aber nun wirst Du ja doch eine Familie haben, denn so, wie die Verhältnisse nach Deinem Schreiben zu liegen scheinen, stattest Du eine Tochter aus und bekommst einen Schwiegersohn. Gratuliere zum künftigen Großpapa!“

Ich lächelte ein wenig über seinen Scherz und ging in den drei gemüthlichen Zimmern meiner Junggesellenwohnung umher. Da lag noch alles so, wie ich es verlassen hatte an jenem Tage, wo ich so eilig nach Wardelingen fuhr; Lenis verblichene Photographie stand auf dem Schreibtisch und sah mich an, als wollte sie sagen wie einst: „Nicht wahr, Du nimmst Dich meines Kindes an in schweren Stunden?“

Ich hab’s gethan, Leni!

Dann ging ich in die Ställe und klopfte den Pferden den spiegelglatten Hals. Der Goldfuchs wieherte leise, er erkannte mich. Die Kinder des Hauswirthes kamen gelaufen und blickten mich an mit verlangenden Blauaugen. „Ihr armen Schelme, diesmal habe ich euch vergessen, ich habe nichts mitgebracht als leere Hände und ein leeres Herz – aber wartet nur, der Böhme holt Euch etwas!“

Ach, und so allmählich, da wird’s ja werden, der Mensch gewöhnt sich an alles. Da wird’s ja wieder weitergehen, das Leben, auch mit dieser Wunde.

Und es ging weiter. Zur Hochzeit nach Wardelingen luden sie mich nicht ein, natürlich nicht, obgleich ich sie meinem Pathenkinde ausrichtete. Vierzehn Tage später bekam ich ein Päckchen von der jungen Frau.

„Lieber Onkel! Vielleicht macht es Dir Freude, Mamas Tagebuch zu lesen, das sie für mich schrieb.“

Weiter nichts. Ich schlug die Blätter auf; es waren Lenis liebe kleine Schriftzüge, und da fiel mein Auge auf eine Stelle, die durch ein bräunliches krauses Fleckchen, wie ihn Thränen auf dem Papier zu hinterlassen pflegen, bezeichnet war, und da las ich:

„Lasse Dich nicht bestimmen, eine Ehe einzugehen ohne echte wahre Liebe, mein Herzenskind! Du ahnst nicht, wie trostlos, wie jammervoll, wie erniedrigend das ist für eine Frau! Setze Deinen ganzen Widerstand denen entgegen, die Dich überreden wollen, äußerer Vortheile oder sonstiger Gründe wegen! Bleibe lieber allein, bleib’ arm und verlassen – Du wirst Dich glücklicher fühlen als mit einem Gefährten, den die Liebe Dir nicht zugeführt hat. Und wenn Du Dich nicht stark genug fühlst, Dich vor einer Ehe ohne Liebe zu schützen, so wende Dich an Onkel Viktor! Er wird Dir allezeit ein treuer Berater sein, ein zärtlicher Freund – er versprach es mir einst in einer Stunde, die die traurigste und glücklichste meines Lebens war.“

Ich las nicht weiter.

Arme kleine Bine – der Dich schützen sollte, war zugleich der Freier, den Du nicht liebtest! Aber es ist ja dennoch gut geworden, er hat Dich vor sich selbst geschützt – wie schwer es ihm fiel, brauchst Du und niemand zu wissen.

Und nach wieder zwei Jahren packte ich doch ’mal meinen Koffer – sie hatten mich ja schließlich mürbe gemacht mit ihren ewigen Quälbriefen – und fuhr nach Wardelingen.

Am Bahnhofe standen Felsenberg und Hella. Sie war ein schönes Mädchen geworden, aber noch immer die Alte. „Donnerwetter“ und „Parapluie“ lebten noch; sie gingen vielleicht ein wenig wackliger und ihre Augen waren ein bißchen trübe, aber im ganzen war man wohlauf. Felsenbergs schönes Zigeunergesicht strahlte vor Freude, als er mich sah.

„Er ist ganz toll vor Seligkeit über den Schreihals, Onkel,“ berichtete Hella achselzuckend, „die Bine und er knien abwechselnd vor dem Bett der Prinzessin und würden ihr die Sterne vom Himmel holen, wenn sie danach verlangen würde; ’s ist kaum zum Ansehen!“

„Und wie geht es Tante Klara als Urgroßmutter?“ fragte ich, zwischen beiden hinschreitend.

„Sie macht keinen Anspruch auf diesen Titel,“ erklärte Hella. „Wenn Du’s mit ihr verderben willst, brauchst Du sie nur so zu nennen; sie hat Dir ohnehin Deinen damaligen Streich nicht vergeben, Onkel Viktor.“

Und das unartige große Mädel drängte sich an mich heran und flüsterte mir ins Ohr: „Er läßt sich ja gar nicht dreinreden von ihr, weißt Du, und ein bißchen knapp geht’s ja doch zu, wenn auch Bine prachtvoll einzutheilen versteht. Wenn Bine die Frau Major von Brenken geworden wäre, hätte es Großmutter doch besser gepaßt. Uebrigens,“ fügte sie laut hinzu. „übrigens, Onkel, Du hast ja graue Haare und siehst so gemüthlich aus, zum Küssen nett, Onkel!“

Das mußte wohl auch im alten Brenkenhause eine schöne junge Frau finden. Eine liebe lichte Gestalt kam mir entgegengeflogen die Treppe hinunter, durch den dämmerigen Flur. „Onkel! Lieber, lieber Onkel!“ Und die frischen Lippen berührten die meinen, und tiefe thränenschimmernde Augen blickten mich an. Mein Gott, mein Gott, wie glich sie doch ihrer Mutter!

Und droben zog sie mich an das einfache blau verhängte Bettchen, und er und sie standen da mit so seligem Stolz, daß einem das Herz weich werden mußte vor soviel Menschenglück.

Was that es denn, daß Tante Klara grämlich und alt in ihrem Stübchen unten saß und über Entbehrungen klagte, die sie sich in ihren alten Tagen auferlegen mußte. „Siehst Du, Viktor,“ sagte sie, „wenn Du Sabine geheirathet hättest, dann wäre alles besser; Du wärst glücklich geworden und wir mit!“

„Tante, vielleicht hätte sich Bine schon zu Tode gegrämt neben mir.“

„Ach, so ein dummer sentimentaler Schnack,“ sagte sie ärgerlich, „gerade, als hörte ich Leni sprechen!“

„Na, sei gut, Tantchen,“ bat ich, „und mach’ Dich zur Taufe morgen recht fein; weißt Du, so fein wie damals, als Bine getauft wurde!“

„Hat sich was – das lohnte!“ murmelte sie. „Wer kommt denn? Der Kommandeur, weil Felsenberg Regimentsadjutant ist, und der Rittmeister Werner, das ist alles! Und auf Trüffelpüree brauchst Du Dich nicht zu spitzen; sei froh, wenn Du Kälberbraten bekommst!“

„Ich würde es den Kindern sehr übelnehmen, wenn sie Trüffeln geben würden, und müßte ihnen als Papa die Zulage beschneiden. Ist der Werner ein netter Mann?“

„Auch so einer, der denkt, er könne heirathen mit seinem Gehalt als Rittmeister. Wenn Hella so dumm ist, mir kann’s recht sein, ich lebe nicht mehr lange genug, um das ganze Elend mit anzusehen.“

Na, wenigstens vorläufig war von Elend nichts zu merken.

Die jungen glücklichen Eltern hatten ihr einfaches Tauffest so allerliebst angeordnet, daß man sich wohl fühlen mußte. Die Rede des Pastors war schlicht und herzlich, die Bine sah in ihrem weißen Kleide frisch und überselig aus, und die kleine Leni guckte mit lustigen blauen Aeuglein in die Welt. An schwarze Schatten war gar nicht zu denken.

Und nach Tische trommelte Hella einen Walzer, und Felsenberg nahm seine Bine in die Arme und schwenkte sie herum. Kein anderer kam und saß mit ihr an der Wiege ihres Kindes und sah sie heiße Thränen weinen und las ihr das Geständniß ihres Unglücks aus den Augen – nein, sie liefen beide zusammen in die Kinderstube, und eng umschlungen kamen sie zurück.

Und da dachte ich, wie ich einst am Bettchen dieser jungen Mutter mit ihrer Mutter gesessen, und dachte, wenn ich Sabinens Gatte wäre und das Kind mein Kind und wenn sie plötzlich sich an die Wiege der kleinen Leni geflüchtet hätte mit dem Manne, dem sie meinetwegen entsagte, und dort heiße Thränen geweint um ein verlorenes Glück – Herr Gott, das hätte schlimm werden können!

Aber er wäre ja nicht mehr unter den Lebenden! Und ich dachte an den Abend, wo er sein Taschentuch über die Pistole warf.

Nein es war besser so – ich hatte mein Versprechen gehalten.


[881]

Sylvesterpunsch.
Nach einer Originalzeichnung von E. Wagner.

[882]

Weltverbesserer.[1]

Von Dr. J. O. Holsch.
VIII.
Die Weltverbesserer der Gegenwart.

Seitdem die Druckerschwärze so billig und das Papier so geduldig und „endlos“ geworden ist, schießen auch die Weltverbesserungsphantasien üppiger als je ins Kraut. Es gehört sozusagen Zum „guten Ton“, über die soziale Frage zu schreiben; jeder „löst“ sie in irgend einer Weise „endgültig“, selbstverständlich gewöhnlich gerade da am wenigsten, wo er allein sollte und könnte, nämlich in seiner eigenen unmittelbaren Umgebung. Und doch sind all die Tausende, ja Hunderttausende, welche gegenwärtig ihre Gedanken nach dieser Richtung wenden, nur Atome in einer großen sachgemäßen und kulturgeschichtlich hochbedeutsamen Wendung des Zeitgeistes und des modernen Menschenlebens überhaupt: die Epoche des losgelassenen und gewaltig emporgestiegenen Individualismus, die jeden auf sich selbst stellt und für sich selber sorgen läßt, geht ihrem Ende entgegen, eine neue Zeit beginnt sich zu entwickeln, eine Zeit, die, ohne sozialdemokratisch zu sein, doch in den Grundlagen ihrer Rechtsordnung sozialistische Eckpfeiler haben wird. Wir müssen es uns versagen, die Fülle der noch lebendigen papierenen Weltbeglücker auch nur zahlenmäßig zu umschreiben, wir begnügen uns, zwei der klügsten und begeistertsten Propheten kommender glücklicher und goldener Tage herauszugreifen.

Der eine dieser Männer ist drüben auf dem fruchtbaren Boden der Neuen Welt gewachsen, Edward Bellamy; er hat 1888 seinen „Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887“ („Looking Backward“) veröffentlicht, ein Buch, das seinen Weg bald in die Alte Welt gefunden hat und nunmehr wohl in einer Million von Exemplaren über die civilisierte Erde verbreitet ist. Ihm hat die „Gartenlaube“ schon früher (Jahrgang 1890, Nr. 50) ihre Aufmerksamkeit zugewendet. Der andere, Theodor Hertzka, ist ganz ein Kind der alten europäischen Kultur, ein nüchterner aber glänzender Zeitungsmann, der als Redakteur österreichischer Zeitungen die Kolonialbewegung mit Verständniß und Interesse verfolgt hatte, ehe er sein Werk „Freiland, ein soziales Zukunftsbild“ im Oktober des Jahres 1889 von Leipzig aus vom Stapel ließ.


„Nach langem Studium der Weltgeschichte und der Entwicklung unseres industriellen Systems“ – so lesen wir in Bellamys Vorrede – „kam ich zu der Ueberzeugung, daß die große Masse des amerikanischen Volkes die Gefahren, welchen wir entgegen gehen, nicht sieht. Ich wollte meine Mitmenschen warnen und ihnen ein Mittel zeigen, mit Hilfe dessen eine bessere Civilisation als die heutige geschaffen werden kann, ohne daß die Straßen mit Blut getränkt werden.“

Das „Mittel“, welches Bellamy in Gestalt eines Romanes seinen etwas starke Anregungen liebenden Zeitgenossen einflößt, ist denn auch ein recht wirkungsvolles. Julian West aus Boston, ein vornehmer Junggeselle, nimmt unmittelbar vor der Hochzeit mit seiner schönen und hochgebildeten Braut Edith Bartlett ein wenig zu viel von seinem Schlafmittel. Die Folge davon ist, daß er genau 113 Jahre 3 Monate und 11 Tage schläft, dann in dem Boston des Jahres 2000 im Hause eines sehr verständigen Arztes, des Dr. Leete, aufwacht, um nach kurzer Frist in die Frage auszubrechen: „Welche Lösung haben Sie für die Arbeiterfrage gefunden?“

Die Antwort erhält er in der Form, daß man ihn eine Woche lang im „neuen“ Boston herumführt. Edith Leete, die wunderliebliche Jungfrau des Jahres 2000, nimmt den armen Jüngling des 19. Jahrhunderts zunächst mit in das „Warenhaus des Bezirks“, welches Muster sämtlicher Waren enthält. Das Bestellte wird samt Rechnung durch Rohrpost dem „Centralwarenlager“ gemeldet, von dort in Leetes Wohnung befördert und der Betrag auf der „Nationalcreditkarte“ der Familie Leete angeschrieben. Julian West erfährt im Laufe der Woche, daß es eine Stufenleiter von öffentlichen Arbeitspflichten und Nutzungsrechten giebt, während der Begriff des „Arbeitslohnes“ der kapitalistischen Aera nicht mehr bekannt ist, selbst der Kellner des großartig eingerichteten Speisehauses erfüllt seine Obliegenheiten mit dem Bewußtsein, einer öffentlichen Aufgabe zu dienen. Die Einzelheiten der Einrichtungen, welche im Laufe der Erlebnisse unseres Helden vorgeführt werden, sind im großen Ganzen nicht neu; sie zeigen jedoch insofern guten Geschmack, als nichts technisch geradezu Unmögliches erscheint. Mit besonderer Spannung liest man dagegen die Schilderung der Umwandlung der alten kapitalistischen Gesellschaft in diejenige des Jahres 2000.

Im Anfang des letzten Jahrhunderts – also etwa um 1900 – so hören wir, hatte der Entwicklungsprozeß mit der Konsolidation, d. h. Zusammenlegung des gesamten Nationalvermögens geendet; das Volk richtete sich ein als Handelsgesellschaft, in der alle anderen Gesellschaften aufgingen, es war der einzige Kapitalist, der einzige rechtmäßige Unternehmer, an dessen Gewinn jeder Bürger seinen Theil hatte. Die öffentliche Meinung war voll dafür herangereift und die ganze Masse des Volkes stand hinter ihr. Man erkannte, ohne gegen einzelne Glieder und Gruppen der seitherigen Gesellschaft gehässig zu sein, daß die Aufgabe des Staates nicht mehr die sogenannte Politik, sondern die Volkswirthschaft sei. Das Arbeiterproblem wurde demgemäß nach dem Muster der allgemeinen Wehrpflicht durch die geordnete Arbeitspflicht aller arbeitsfähigen Personen beider Geschlechter gelöst. Bei voller Beibehaltung der Möglichkeit, von einer Stufe zur andern zu steigen, wurde unter Wahrung der freien Berufswahl die vollkommene Gleichstellung der Mitglieder der Gesellschaft durchgeführt.

Die bewegende Kraft, welche bei dem Inslebentreten dieser neuen Arbeits- und Gesellschaftsverfassung wirksam war, das waren keineswegs die sogenannten „Arbeiterparteien“, wie uns der Dr. Leete des Jahres 2000 ausdrücklich versichern kann. „Dazu war ihr Gesichtskreis nicht weit genug.“ Erst als es zum öffentlichen Bewußtsein geworden war, daß eine Neubildung der Gesellschaftsordnung im Interesse aller Klassen sei, der Reichen wie der Armen, der Gebildeten wie der Ungebildeten, der Männer wie der Frauen – erst da war die Umwälzung möglich. „Die ‚Nationalpartei‘ war es, welche die Durchführung erstrebte und vollendete, eine Partei, die ihre Aufgabe darin erblickte, Produktion und Warenvertheilung zu nationalisieren.“0 „Sie faßte die Nation nicht auf als eine Vereinigung zu politischen Zwecken, sondern als eine einzige Familie, einen einzigen, lebensvollen, reichgegliederten Organismus, als einen mächtigen zum Himmel aufragenden Baum, dessen Blätter aus den Wurzeln Kräfte saugen und eben dahin zurückströmen lassen. Die denkbar patriotischste aller Parteien, suchte sie dem Patriotismus eine tiefere Bedeutung zu verleihen und ihn vom bloßen Gefühl zu einer vernunftgemäßen Hingabe zu erhöhen, indem sie das Geburtsland erst wahrhaft zu einem Vaterlande, den Götzen, für den man gegebenenfalls zu sterben hatte, zum Fürsorger und Ernährer machte.“

Das Zukunftsbild, welches Bellamy hier in der Form der Rückschau entwickelt, ist eine Utopie, wie so viele andere, die wir in den früheren Kapiteln kennenlernten; aber sie hat stellenweise etwas bestechend Wahrscheinliches, und wenn auch bei dem Verfasser der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen ist, so war es keineswegs jenes Wünschen und Hoffen, das nach den Sternen schlägt, sondern ein solches, welches aus den Ansätzen und Richtungslinien der Gegenwart mit Ernst und Scharfsinn die Fortsetzungen zu ermitteln sucht. Der beispiellose Erfolg, den dieser Roman errungen hat und der wesentlich auch daher rührt, daß auch die oberen Klassen, diejenigen, die an Reichthum und Bildung obenauf stehen, sich daran begeistert haben – dieser Erfolg ist eine Art von innerem Beweis für die Möglichkeit, daß die Sonne des Jahres 2000 wenn auch nicht auf die von Bellamy geschilderten, so doch vielleicht auf andere Zustände herableuchten wird, als diejenigen der Gegenwart sind. Aber freilich, vorläufig – und damit kehren wir zu Julian West zurück – war das erste [883] Erwachen Wests nur ein achttägiger Traum – erst sein zweites Erwachen giebt ihn der Wirklichkeit thatsächlich zurück; und da liest er in der Morgenzeitung des 31. Mai 1887 – wir könnten ebenso gut das Datum des 31. Dezember 1893 hersetzen – von Hungersnoth unter den Arbeitslosen Londons, von Ausständen da und dort etc. Wenn er in der „Gesellschaft“, die ihn erzeugt und großgezogen hat, mit den Grundsätzen Dr. Leetes wirklich hervortritt, dann wird er als taktloser Schwärmer vor die Thür gesetzt, und er steht als einzige fühlende Brust inmitten der Larven des ausgeheuden neunzehnten Jahrhunderts, einsam und verlassen, Thränen überströmen seine Wangen, wenn er des Wunderlandes und der Uebermenschen gedenkt, die er im Traume geschaut.

*      *      *

Nicht so sentimental wie Julian West ist Dr. Karl Strahl, der unternehmende Held, der zur Gründung von „Freiland“ auffordert. Dr. Strahl, d. h. Theodor Hertzka, schließt keinen Kompromiß mit der alten Kultur, er reißt sich vielmehr von ihr vollständig los und fordert muthige Männer und noch muthigere Frauen dazu auf, unter dem Aequator, auf dem fruchtbaren Hochplateau des Keniagebirges, ein neues Gemeinwesen zu gründen, 1200 bis 2200 Meter über dem Meeresspiegel und ebenso hoch über dem Meeresspiegel der europäischen „niederen“ Kultur. Hertzka hat seinem Zukunftsbild „Freiland“, in dem er die Geschichte seiner Kolonie vorweg schildert, noch eine „Reise nach Freiland“ folgen lassen; hier führt er den Leser nach Freiland, als ob es schon bestände; die Vorführung aller Einrichtungen, die hier als vorhanden ausgemalt werden, soll ausgesprochenermaßen in dem Leser „den Entschluß erwecken, das Seinige zu möglichst rascher und großartiger Verwirklichung dieses Gemeinwesens der Freiheit und Gerechtigkeit beizutragen“.

Hertzka ist ein Freund ganz bestimmter Zahlen, mit denen er den wißbegierigen Leser reichlich bewirthet. Schon nach einem Jahre findet man auf der fruchtbaren Keniaplatte 95 000 Menschen, worunter 27000 eigentliche Arbeiter, die in 218 „Assoziationen“ oder Erwerbsgesellschaften vereinigt ihre Thätigkeit entfalten. Die Assoziation, verbunden mit unumschränkter Freizügigkeit und bedingungslosem Zwang öffentlicher Rechnungslegung, ist der Kernpunkt der Hertzkaschen Freilandgemeinschaft. Hertzka wird nicht müde, die Vortheile dieser freien Verbindungen zu wirthschaftlichen Zwecken zu schildern, und er giebt in seiner neuesten Schrift ein Muster für die Satzungen einer derartigen „freiländischen Erwerbsgesellschaft“. „Der Beitritt,“ so lautet § 1, „steht jedermann frei, gleichviel, ob er zugleich Mitglied anderer Gesellschaften ist oder nicht; auch kann jedermann die Gesellschaft jederzeit verlassen. Ueber die Verwendung der Mitglieder entscheidet die Direktion.“ § 2. „Jedes Mitglied hat Anspruch auf einen seiner Arbeitsleistung entsprechenden Antheil am Nettoertrage der Gesellschaft.“ Das Kapital, welches diese freien Vereinigungen nöthig haben, sowie den Boden schießt der Staat d. h. die Gesamtheit ein, in der Weise, daß die Vereinigungen wie die Einzelnen Nutzungs-, Bau-, Transport-, Wohnrechte etc. erhalten. Diese Zuwendungen werden alle nach Mehrheitsbeschlüssen von der allgemeinen Steuer bestritten, die 35 Prozent vom Bruttobuchertrag der Arbeit ausmacht. Zwölf Fachcentralstellen entscheiben die wichtigsten Fragen der Erwerbsgesellschaften; Präsidium, Versorgungswesen, Unterricht, Kunst und Wissenschaft, Statistik, Straßen- und Verkehrswesen, Post und Telegraph, Auswärtiges, Lagerhaus, Centralbank, gemeinnützige Unternehmungen, Gesundheitspflege und Justiz.

Die „Freiländer“ Hertzkas sind also – wie dies auch ausdrücklich ausgesprochen wird – keine Kommunisten, sie gehen nicht von der Ansicht aus, daß alle Menschen schlechthin gleich seien, aber sie halten alle Menschen für gleichberechtigt, und unter dieser Berechtigung ist vor allem zu verstehen „das allen gleichmäßig zu sichernde Recht, zu leben“. Der Grundsatz der sogenannten „bürgerlichen“ Welt, daß sich durch das freie Spiel der wirthschaftlichen Kräfte (auf jener Grundlage) die möglichste Harmonie aller wirthschaftlichen Interessen ganz von selber einstelle, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen Hertzkas, eine Voraussetzung, deren Nothwendigkeit er die besondere Streitschrift „Sozialdemokratie und Sozialliberalismus“ – so bezeichnet er seinen Standpunkt – gewidmet hat. Indem so auf der einen Seite Boden und Kapital dem einzelnen Menschen auf Freiland stets zu freier Verfügung stehen, auf der anderen Seite die volle Entfaltung seiner Arbeitskraft durch die mitstrebenden und mitarbeitenden Genossen in jedem Augenblick gefördert wie kontrolliert zu werden vermag, ist „Freiland die endliche Bewahrheitung alles dessen, was die Kulturwelt sich bisher selber vorgelogen hat“.

Es ist von hohem Interesse, den Wortlaut des „Freiländischen Grundgesetzes“ kennenzulernen, welches nur aus folgenden fünf Artikeln besteht:

1. Jeder Bewohner Freilands hat das gleiche unveräußerliche Anrecht auf den gesamten Boden und auf die von der Gesamtheit beigestellten Produktionsmittel.

2. Frauen, Kinder, Greise und Arbeitsunfähige haben Anspruch auf auskömmlichen, der Höhe des allgemeinen Reichthums billig entsprechenden Unterhalt.

3. Niemand kann, sofern er nicht in die Rechtssphäre eines anderen greift, in der Bethätigung seines freien, individuellen Willens gehindert werden.

4. Die öffentlichen Angelegenheiten werden nach den Entschließungen aller mehr als zwanzigjährigen Bewohner Freilands ohne Unterschied des Geschlechts verwaltet, die sämtlich in allen das gemeine Wesen betreffenden Angelegenheiten das gleiche aktive und passive Stimm- und Wahlrecht besitzen.

5. Die beschließende sowohl als die ausübende Gewalt ist nach Geschäftszweigen getheilt, und zwar in der Weise, daß die Gesamtheit der Stimmberechtigten für die hauptsächlichen öffentlichen Geschäftszweige gesonderte Vertreter wählt, die gesondert ihre Beschlüsse fassen und das Gebahren der den fraglichen Geschäftszweigen vorstehenden Verwaltungsorgane überwachen.

Die Anschaulichkeit, mit welcher Hertzka in seiner zweiten Schrift die Vorgänge des wirklichen Lebens schildert, die sich seiner Ansicht nach auf diesem Grundgesetz aufbauen lassen müssen, hat etwas Einschmeichelndes; insbesondere bezeichnet er es als seine ausdrückliche Absicht, durch die Einwände des nach Freiland verschlagenen Professors der „bürgerlich-westeuropäischen“ Nationalökonomie, „Tenax“, absichtlich alle seine bis jetzt ihm bekannten Kritiker in einer Person vorführen und widerlegen zu wollen. Nachdem alles aufs genaueste geschildert ist, vom Stiefelputzen im Gasthof bis zu den vertraulichsten Vergnügungen der neuländischen Familien, von der Rentenversicherung bis zu den Gründungsvorgängen beim Inslebentreten neuer Erwerbsgesellschaften – erklärt Tenax, daß er mit der Vergangenheit nunmehr fertig sei; nach einer öffentlichen Verhandlung, bei der er eine nicht gerade hervorragende wissenschaftliche Rolle gespielt hat, ruft er aus: „Meine ganze Zukunft gehört der Verbreitung jener Ideen, die ich hier in mich aufgenommen!“ Spricht’s und lehrt von Stunde an nur noch „freiländische Nationalökonomie“.

Es ist eine Reihe von Angriffen, witzigen und unwitzigen, gegen das „Ostafrikanaan“ des „Karl Strahl“ und gegen seine glückliche Hauptstadt „Edenthal“ aufgetaucht; mit Unrecht würde man aber die Originalität des Verfassers bestreiten oder seine Begeisterung bezweifeln. Man darf im Gegentheil glauben, daß es ihm Ernst ist, wenn er am Schluß seiner ersten Schrift sagt: „Nicht die wesenlose Schöpfung einer ausschweifenden Phantasie ist dies Buch, sondern das Ergebniß ernsten, nüchternen Nachdenkens. Alles, was ich als thatsächlich geschehen erzähle, es könnte geschehen, wenn sich Menschen fänden, die, erfüllt gleich mir von der Unhaltbarkeit der bestehenden Zustände, sich zu dem Entschluß aufrafften, zu handeln, statt zu klagen; die Hochlande im äquatorialen Afrika entsprechen durchaus dem im Vorstehenden entworfenen Bilde. Wer dies bezweifelt, der kontrolliere meine Erzählung durch die Reiseberichte Speekes, Grants, Livingstones, Bakers, Stanleys, Emin Paschas, Thomsons, Johnsons, Fischers, kurz aller derer, welche jene paradiesischen Gegenden besucht haben. Um ‚Freiland‘, so wie ich es darstelle, zur Thatsache werden zu lassen, bedarf es in jeder Hinsicht bloß einer genügenden Anzahl thatkräftiger Menschen. Werden sich solche finden? Wird diesen Blättern die Kraft innewohnen, mir die Genossen und Helfer zuzuführen, die zur Durchführung des großen Werkes erforderlich sind?“

In der That: der Anfang zur Durchführung des Werkes ist längst gemacht. Dutzende von Lokalgesellschaften in allen Theilen der Erde haben sich im Lauf der letzten vier Jahre gebildet und besitzen in der Zeitschrift „Freiland“, die in Wien erscheint, ein „Organ der Freilandvereine“. Aus den paar tausend Anhängern ist eine internationale Gesellschaft gebildet worden, die seit Frühjahr 1891 durch das „Freiländische Aktionskomitee“ [884] zusammengehalten wird. Schon hat die Gesellschaft an der Mündung des Tana, der so oft in der Schilderung Hertzkas erwähnt ist, eine bedeutende Landschenkung erhalten, ganz erhebliche Summen sind zum Theil von bedeutenderen Geldleuten gezeichnet; am 8. Mai 1893 konnte Hertzka zu Berlin im Architektenhause vor der Berliner Freiland-Ortsgruppe den Zeitpunkt für die erste Exkursion nach dem Hochlande des Keniagebirges ankündigen, und vor einigen Wochen ging durch die öffentlichen Blätter die Mittheilung, daß im Februar nächsten Jahres die erste Freiland- Expedition mit zweihundert Theilnehmern von Hamburg aus in See gehen werde.

Damit sind wir bei der unmittelbaren Gegenwart angelangt. Wird das Unternehmen des Freiländischen Aktionskomitees erfolgreich sein? Und wenn ja, wird es möglich sein, auf der im Vorhergehenden geschilderten Grundlage wirklich diejenigen Gemeinschaften von Menschen heranzubilden, welche dem Geiste des Organisators vorschweben? Sollte wirklich gerade derjenige Erdtheil, der den Namen des „schwarzen“, des „dunklen“ führt, dazu berufen sein, der Alten Welt das Wichtigste zu geben, was überhaupt der Menschheit gegeben werden kann, eine neue und höhere Gesellschaftsordnung?

Es ist sehr schwer, diese Fragen ruhig und sachlich zu beantworten. Warum sollte nicht dem Oesterreicher Hertzka in Afrika möglich sein, was dem Württemberger Rapp einsteus in Amerika gelang? Warum sollte es undenkbar sein, daß ein paar Hunderte oder ein paar Tausende mit zäher Ausdauer und vollem Bewußtsein der civilisatorischen Tragweite ihres Versuches auf das Hochplateau des Kenia wandern, um dort der athemlos harrenden Menschheit das Beispiel eines Gemeinwesens vorzuleben, das die bisherigen an wirthschaftlichen Erfolgen, an irdischem Wohlbehagen und an vernunftgemäßen Einrichtungen übertrifft?

Man wird ja wohl allen diesen Versuchen gegenüber zweifelsüchtig sein können, ja müssen, aber man wird nicht ohne weiteres sagen dürfen, daß es eine unbedingte Utopie ist, welcher die Anhänger der Freilandbewegung sich verschreiben und verschrieben haben. Es kommt alles auf die Eigenschaften der Menschen an, die sich betheiligen. Werden die Freiländer und Freiländerinnen die Ausdauer und die Begeisterung haben, um allen Schwierigkeiten, allen Mühseligkeiten und unerwarteten Gefahren, die sich der Verwirklichung der glückverheißenden Assoziationen entgegenstemmen, in ruhiger Ueberlegenheit die Spitze zu bieten? Wird es möglich sein, die jahrhundertealten Vorurtheile und wirklich verschiedenartigen Eigenschaften der verschiedenen Völker und Rassen zu überwinden? Die Hoffnung jedenfalls ist dafür vorhanden, und wer möchte sich anmaßen, sie zu zerstören?

Es wird gesagt werden können, daß unter den verschiedenen Täuschungen und Wahnvorstellungen, die in so breitem Umfange auch in der modernen Zeit noch ihre Herrschaft ausüben, die Hoffnung zweifelsohne nicht die schlechteste und aussichtsloseste ist, es möchte gelingen, auf der Keniaplatte ein unternehmendes Völklein körperlich und geistig normaler und strebsamer Europäer festzusetzen; nur werden auch im besten Fall die Dinge im Raume bedenklich träger sich gestalten als in der beweglichen Phantasie des Leiters der Freilandbewegung. Auch muß jeder, der mit demselben in die Ferne zieht, sich darüber klar sein, daß er sich einer Unternehmung anschließt, deren Ausgang im höchsten Grade unsicher ist.

Aber wenn nun auch wirklich durch ein Zusammentreffen günstiger Umstände dieser Versuch in kleinerem Maßstab gelänge – wäre damit der Beweis geführt, daß diese neue Gesellschaftsordnung sich allgemein bewähren würde? Diese Frage wird wohl unbedingt mit „Nein“ zu beantworten sein, wenn das Gelingen auch jeden Menschenfreund mit hoher Befriedigung erfüllen müßte.

*      *      *

Wir schließen hier unsere Betrachtungen über die „Weltverbesserer“. Geniale Denker wie Plato, Thomas Morus und Fichte, schwärmerische Sonderlinge wie Fourier, begabte Praktiker wie Owen und Rapp, eifrige Agitatoren wie Marx, phantasievolle Dichter wie Bellamy und unternehmende Köpfe wie Hertzka sind an unserem Geiste vorübergezogen. Und was war oder ist für alle diese Männer der Endpunkt ihres Denkens, Strebens oder Träumens? Eine ideale Verfassung der menschlichen Gesellschaft, ein vollkommenes Dasein! Dem Glauben an die Erreichbarkeit dieses Ideals sind die Gebilde ihres Geistes entsprungen, und das fordert unsere Achtung, auch wo diese Gebilde vor dem prüfenden Verstande nicht Stich halten, wo sie als „Utopien“ sich erweisen. Wohl ist es ein „Ziel, aufs innigste zu wünschen“, daß die Menschheit fortschreite zu immer höheren Entwicklungsstufen. Aber an einem Punkte werden alle Wünsche eine Grenze finden: das Menschengeschlecht ist und bleibt unvollkommen, und es wird seine Unvollkommenheit mit hineinnehmen auch in die denkbar besten Schöpfungen menschlicher Staatskunst. „Es irrt der Mensch, so lang er strebt“ – das ist eine Wahrheit, die uns bescheiden machen muß, auch wenn wir mit dem Dichter des Glaubens sind:

Es ist kein leerer, schmeichelnder Wahn,
Erzeugt im Gehirne des Thoren.
Im Herzen kündet es laut sich an:
Zu was Besserm sind wir geboren;
Und was die innere Stimme spricht,
Das täuscht die hoffende Seele nicht.




Unter fahrenden Leuten.

Von Alexander Tille.0 Mit Zeichnungen von O. Herrfurth.

Unruhig schauen die Kinderaugen aus dem Schulzimmer hinaus nach der Straße, dorthin, wo die Schankwirthschaft liegt. Gleich, den Augenblick, muß die Uhr schlagen und dann geht’s hinaus, das große neue Ereigniß in näheren Augenschein zu nehmen. Der Lehrer bemerkt die Unruhe wohl, die in den kleinen Köpfen herrscht, aber er kennt ihren Grund nicht, denn er hat ja nicht vor einer Viertelstunde den großen roth angestrichenen Wagen mit den drei grünverhängten Fenstern auf jeder Seite und dem Mann im rothen Halstuch auf dem Bocke vorbeifahren sehen. Die Kinder aber beschäftigt die Frage: Wird der Wagen vor der Schenke halten? Sind es Seiltänzer? Zauberkünstler? Puppenspieler? Werden sie die „Genovefa“ spielen?

Da hebt die Glocke auf dem Kirchthurm gegenüber zu schlagen an, der Lehrer schließt, und fort stürmt die Kinderschar, um zunächst den „Wohnwagen“ in näheren Augenschein zu nehmen, der wirklich vor der Schenke hält. Menschen, die in einem Wagen wohnen! Und nicht wie andere in Häusern! Ob sie wohl Kinder haben? Ob diese mit in die Schule kommen werden wie letzten Winter die Kinder des Zauberers, dessen älteste Tochter mit zum Pfarrer in die Konfirmationsstunde ging?

Neugierig umdrängt die Kinderschar das geheimnißvolle Gefährt. Die Pferde fressen aus der Holzkrippe an der Thür der Schenke, um dann wieder zurückgeführt zu werden in das Dorf, wo sie gemiethet worden sind; denn sie sind nicht Eigenthum des Wagenbesitzers. Es kommt ja doch auch vor, daß der Wohnwagen weite Strecken auf der Eisenbahn befördert wird, während die Familie zu Fuße ihres Weges zieht. Jetzt sind sie eben beschäftigt mit Auspacken. Die Pfosten und Bretter, welche an Ketten unter dem Wagen in der Schwebe hingen, sind bereits abgenommen. Der Besitzer des Gasthofes war schon vorher verständigt, und jetzt werden die Böcke, Leisten und Latten oben in dem kleinen Saale, dessen Dielen freilich schon bedenklich durchgetanzt sind, zur Bühne zusammengestellt; denn Puppenspieler sind es, welche hier ihre Künste zeigen wollen. Früher mußte die Bühne jedesmal zusammengenagelt werden, so noch bei dem Vorgänger des jetzigen Besitzers, dem Vater der Frau, bei dem der Mann als Gehilfe in Arbeit stand. Damals waren noch andere Zeiten! Heute ist längst alles praktischer eingerichtet, und wenige Schrauben halten das Gerüst besser zusammen als dreimal soviel Nägel. Zwei kleinere Kinder helfen eifrig mit, während die erwachsene Tochter schon auf dem Wege durchs Dorf ist, um Zettel zu vertheilen; denn morgen soll bereits gespielt werden, und dazu bedarf es einer sorgfältigen Vorbereitung „eines geehrten Publikums“.

Vor den Augen der staunenden Dorfjugend, die sich nur bis an die Treppe wagt, wandern drei große Kisten in den Saal hinauf. Oben entwickeln sich aus der einen die Coulissen mit

[885]

Vor dem Wagen der Puppenspieler.

ihren Nahmen und eine Menge Puppenkleider. Die andere birgt zwei Reihen Holzpuppen, mit samt ihrem Fädengewirre, alle splitternackt, denn sie müssen ja zu jeder Aufführung besonders angekleidet werden.

Die dritte endlich enthält den kostbarsten aller Schätze, die Manuskripte der Stücke, alte, in allen Farben schimmernde, schmutzige Hefte und Bücher, manche mit eingebrannten Löchern, andere mit abgerissenem Deckel, alle mit Stearinflecken. Das eine diente früher einem Kaufgeschäft zum Rechnungsbuch, daher sein Leinwandband, und das andere ist ein ehemaliges Notenheft, seinem roth und weiß geblümten Umschlag nach zu schließen aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts. Alle aber tragen außen auf dem Deckel neben der Nummer noch den Titel des Stückes, das sie enthalten, und sind mit großen deutlichen Buchstaben geschrieben, „so daß man es auch lesen kann“. Die Rechtschreibung ist in den meisten Fällen mehr als mangelhaft und, namentlich wo Fremdwörter wiederzugeben oder mundartliche Formen schriftlich festzuhalten sind, bis zum Komischen entstellt. „Der Kampf mit dem Drachen oder das goldene Vließ“, „Anne Liese und Fürst Leopold“, „Kunigunde, Fürstin von Waldeck“, „Gräfin Elfrida oder der Selbstmord aus Liebe“, „Griseldis“, „Genovefa“, „Der verlorene Sohn“ und „Rinaldini“ – das sind die Stücke, die sich hier finden. Daneben viele alte, die nicht mehr oder selten gespielt werden, auch Stücke aus dem neueren Volksleben wie das Wildschützenstück „Karl Stülpner“ oder „Der Fabrikarbeiter oder der Krieg in Amerika“, Märchen und Zauberstücke wie „Aschenbrödel“ und „Sneewittchen“, oder der Kunstbühne entlehnte Dramen „Die Wolfsschlucht“ (Freischütz) und „Philippine Welser“. Auch der „Faust“ findet sich noch hier und da, wird aber verhältnißmäßig selten gegeben.

Derselbe Kasten birgt dann noch einen zweiten Schatz, die Theaterzettel, die höchstens alle zehn Jahre neu gedruckt werden. Für ihre Erhaltung sorgt der Satz, der sich an ihrem Ende findet: „Man bittet die Zettel aufzubewahren, da sie am Schlusse der Spielzeit wieder abgeholt werden.“ Einige gehen gleichwohl in jedem Dorfe zu Grunde, und nach Jahren ist der Haufen beträchtlich zusammengeschmolzen, so daß sich ein Neudruck nöthig macht. Oft haben die Zettel mit dem gespielten Stück wenig mehr als den Namen gemein. Das Personenverzeichniß und die Inhaltsangaben, die man hier noch findet wie auf den Theaterzetteln der Kunstbühne des achtzehnten Jahrhunderts, weichen stark ab von dem, was der Zuschauer dann wirklich zu sehen und zu hören bekommt. Aber das Gedruckte stellt in diesen Fällen meist die ältere Fassung des Stückes dar.

Nahezu alle Stücke haben eine lustige Person, die durchweg „Kasper“ heißt. Häufig weist der Zettel besonders auf sie hin, so in „Doktor Faust“ mit den Worten: „Kasper wird heute nicht ermangeln, dem geehrten Publikum einen recht genußreichen Abend zu verschaffen, erstens als Schneidergeselle, zweitens als Diener bei Faust, drittens als Geisterbeschwörer, viertens als Nachtwächter.“ Seine Scherze, die nach Zeit und Ort sehr wechseln und meist auf grobem Wortwitz beruhen, finden gemeiniglich ungeheuren Anklang.

Die Stücke, welche zur Aufführung kommen, sind zum großen Theil ziemlich alt. Mit verschwindenden Ausnahmen haben alle Puppenspieler, trotzdem sie das Gegentheil versichern, Niederschriften derselben im Besitze. Nur bei einigen Familien, in denen Puppenbühnen lange erblich waren, und bei denjenigen jetzt selbständigen Besitzern von Puppentheatern, die ehedem bei solchen Truppen Gehilfen waren, ist dies nicht der Fall. Die alten Stücke wie „Genovefa“, „Griseldis“ gehen auf frühe Dramatisierungen von Volksbüchern zurück, das Fauststück meist auf Marlowes „Faust“, der seit dem Beginn des siebzehnten Jahrhunderts von den englischen Komödianten in Deutschland vielfach gespielt wurde.

Wenn die Bühne errichtet ist und alles oben im Saale hinter derselben bereit liegt, dann zieht sich die Familie zum Essen und Schlafen in den Wohnwagen zurück. Der Wagen wird immer so aufgestellt, daß die Thür von der Windrichtung abgekehrt ist; wechselt diese, so wird auch der Wagen gedreht. Er [886] zerfällt im ganzen in zwei Räume, in den Wohnraum, der zugleich einem erwachsenen Kinde oder einem Gehilfen zur Schlafstätte dient, und in das große Familienbett, das den hinteren Theil einnimmt und dem Besitzerehepaar nebst den kleineren Kindern zum gemeinsamen Lager dient.

Puppen an ihren Fäden.

Kojenbetten finden sich nirgends. Niemals ist mehr als ein erwachsenes Kind bei der Truppe, die anderen müssen sich selbst ihr Brot suchen; nur eines kann die Kunst der Eltern erben. Denn es herrscht Armuth in diesen Kreisen der Fahrenden, bittere Armuth. Wohl sind noch manche so stolz wie Walther von der Vogelweide, der von sich singt:

„Getragene Kleider nahm ich niemals an,“

aber es sind ihrer nicht mehr viele. Oft sieht man Männer, Frauen und Kinder in Gewändern, die einst bessere Tage geschaut haben. Wenn das Geschäft schlecht geht, dann bleibt eine Kiste, auch zwei, ja sogar der Wohnwagen dem Wirth zum Pfande, und die Besitzer können von Glück reden, wenn sie 30 deutsche Reichsmark dafür geborgt bekommmen. Die Spielkosten selbst sind nicht bedeutend. Aber der Gewerbeschein kostet 150 Mark das Jahr! In Dörfern und kleineren Städten bekommen die Puppenspieler den Saal meist frei, weil ihre Aufführungen ordentlich Gäste herbeiziehen, die vergnüglich ihr Bier dabei trinken – in manchen Städten aber muß der Unternehmer für die Erlaubniß, des Abends zu spielen, jedesmal drei Mark in die Armenkasse zahlen. Nicht jeden Abend wird gespielt; sondern meist nur an vier Tagen, Sonntags, Dienstags, Donnerstags und Sonnabends; am Sonntag kommt noch eine „Nachmittagsvorstellung für Kinder“ hinzu mit dem Hauptzugstück „Kasper in tausend Aengsten“, in dem der Held schwer unter den Stößen eines Ziegenbockes zu leiden hat. Dann faßt Furcht und Mitleid ganz nach Aristoteles das Herz der Kleinen an, und mit geballter Faust droht ein kleiner Bube mit lauter Stimme: „Wart’, Du alter Geißbock!“

Hinter den Coulissen.

Beim Beginn der Vorstellung ist hinter der Bühne alles wohl vorbereitet, die Puppen sind sorgsam angekleidet, Noch einmal werden sie gemustert, ob auch kein Knopf offen geblieben ist. Rechts und links stehen je zwei Coulissen, dahinter die Rückwand. Zwischen dieser und den hintersten beiden Coulissen ist oben eine starke Leiste quer über die ganze Breite der Bühne gelegt, verdeckt durch ein von oben herabhängendes, den Himmel darstellendes Tuch. An der Leiste befinden sich eiserne Ringe, in die jede Puppe vermittelst eines Hakens eingehängt wird, und zwar so, daß in ruhigem Zustande ihre Füße genau den Boden berühren. Hände und Füße lassen sich durch besondere Fäden bewegen. Nur „Kasper“ kann außerdem mit dem Munde und den Augen wackeln, ein Vorrecht, von dem er denn auch häufig genug Gebrauch macht.

Die Puppen, welche bei Beginn des Stückes sich auf der Bühne zu befinden haben, baumeln bereits an ihren Haken, die übrigen, welche später „auftreten“ müssen, liegen oder hängen angekleidet hinter den Coulissen. Hinter der Rückwand, etwa einen Meter über dem Fußboden, läuft ein festes breites Brett, worauf während der Aufführung die das Spiel leitenden Personen Posto fassen. Meist sind es deren zwei oder drei. Für mehr ist kaum Platz. Von da aus können sie die Puppen bequem an den Fäden regieren, hinauf- und hereinführen. In der Nähe ist ein kleines Lesepult angebracht, aus dem zwischen zwei dünnen brennenden Stearinkerzen der Text des Stückes aufgeschlagen liegt. Von hier aus wird auch das Blitzen und Schießen besorgt, das nicht selten die Glanzpunkte des Stückes ausmacht, während das Buntfeuer seitlich hinter den Coulissen angezündet wird.

Die Vorstellung.

An den Wänden hängen Puppen und Puppenkleider, eine papierne Hirschkuh für die „Genovefa“, jener Ziegenbock für „Kasper in tausend Aengsten“, kleine Waffen, Schilde und Helme, allerlei Hausrath für die Bühne, Bank, Tisch, Stühle und Paradebett, letzteres ein besonders schätzbarer und effektvoller Artikel. Dort steht ein Altar und da ein kleiner Heuwagen. Kurz, alles, was auf den Brettern zu erscheinen hat, welche die Welt vergangener Jahrhunderte bedeuten, das findet sich hier aufgestapelt. Auf dem Fensterbrett steht die Klingel, die zum Schweigen mahnt, und in der Ecke der Leierkasten, neuerdings auch „Drehpiano“ genannt, der in den Pausen seine alten Weisen erklingen läßt.

Von Ende August bis Ende Mai etwa reicht die Spielzeit dieser Fahrenden. Da sind sie auf Jahrmärkten wie in stillen Dörfern zu finden und spinnen durch ihre Thätigkeit die alten Volksüberlieferungen weiter. Wohl sind die alten Texte oft ins Unverständliche, ins Lächerliche verzerrt; aber es ist doch, als ob die Spieler etwas von der Wichtigkeit ihrer Aufgabe empfänden und sich dem Laien gegenüber fühlten als Träger unveräußerlicher Güter des Geistes, welche man wohl bewundern, nicht aber in seine profanen Hände bekommen kann.




[887]

Geburtstag.

Humoreske von Charlotte Niese.
(Schluß.)

Eine Zeitlang sprachen wir Kinder viel über die Geschichte von dem Haifisch, besonders mit Line, die niemals genug davon hören konnte, obgleich sie jedesmal vorher drohte, „beswiemeln“ zu wollen, ohne es aber jemals zu thun.

„So’n netten Mann!“ sagte sie dann mit lautem Seufzen. „So’n furchtbar netten Mann und was is er hübsch! So dick und rund, grad’ wie ein klein’ Engel!“

Und dann dauerte es nicht allzu lange, daß unser Jüngster, der Lines Obhut anvertraut war und schon ziemlich gut sprechen konnte, auch seine Meinung äußerte. „Furchtbar netten Mann!“ sagte er eines Tages, als Line wieder von Herrn Weber sprach, und dabei lutschte er an einem riesigen Stück Gerstenzucker, das wir ihm natürlich wegnahmen, denn es war nicht gut für ihn. Er schrie in allen Tönen, tröstete sich aber bald.

„Morgen netten Mann mich Zucker geben. Line Kuß!“

Letztere Worte wiederholte er wohl zehnmal und lachte dabei so schelmisch, bis Line dunkelroth und wir sehr aufmerksam geworden waren. Das Kindermädchen schalt. Zuerst unsern unschuldigen Jüngsten, was wir sehr übelnahmen, und darauf uns, was uns kalt ließ, und dann vergaßen wir Herrn Weber und seine Frau über einer neuen Sorge.

Wir hatten wieder eine Einladung zum Geburtstag erhalten, und nicht allein Großvater war verreist, sondern auch unsere Eltern hatten die Insel verlassen, um einen kurzen Ausflug zu machen. Was sollten wir schenken und aus wessen Mitteln wollten wir die Gabe bezahlen? Da war guter Rath theuer, denn das Geburtstagskind, Fritz Iwersen, hatte jedem von uns eine Flasche mit „Rükels“, wie er sagte, geschenkt, die wicklich recht gut roch. Wir wußten natürlich auch, was das Parfüm gekostet hatte und daß es durchaus nicht billig gewesen war - da durften wir uns nicht lumpen lassen.

Schon dachten wir daran, bei Herrn Metzger „anschreiben“ zu lassen, was wir eigentlich durchaus nicht durften, da fiel mir der Federkasten ein, den der Propst noch immer in Verwahrung hatte. Da er so schön und nun auch tadellos war, konnten Jürgen und ich ihn wohl zusammen schenken, besonders da Fritz Iwersen im Laufe der Einladung erwähnt hatte, daß er sich keine Papeterie und auch kein Eau de Cologne wünsche.

Der Federkasten war weder das eine noch das andere und ich beschloß sofort, zum Propst zu gehen und mir das kostbare Geschenk zu holen. Es war dämmerig geworden und ich lief eilig über den Kirchhof, um nach dem Garten der Propstei zu gelangen, der an einer Seite hart an den Friedhof stieß. Man brauchte nur von der Friedhofmauer an einer bestimmten Stelle hinunter zu springen, dann befand man sich mitten im Garten. Wir benutzen diesen Weg meistens und auch heute wollte ich ihn einschlagen, als ich gerade dort, wo die Mauer niedrig war, einen Mann und eine Frau erblickte, die sich starr ansahen und mich gar nicht bemerkten. Sie saßen eng aneinander geschmiegt, drückten sich die Hände und manchmal küßten sie sich. Einen Augenblick betrachtete ich sie schweigend - dann besann ich mich, ob ich plötzlich vor sie springen und sie auf diese Weise zart erschrecken oder ob ich lieber einen andern Weg nehmen sollte. Ich wählte das letztere - nicht aus Zartgefühl, sondern weil ich die eben gesehene Neuigkeit sofort und ohne Störung ausposaunen wollte.

Der Propst war dieses Mal sofort für mich zu sprechen. Er kam mir in seiner mit blauem Qualm angefüllten Studierstube sehr freundlich entgegen und fragte nach meinem Begehr. Ja, er hatte den Federkasten, mußte ihn aber suchen, weil er ihn so gut verwahrt hatte, daß er sich seines Platzes nicht mehr entsann.

„Warten Sie einen Augenblick!“ sagte er zu einer Frau, die neben der Thür saß und deren Anwesenheit ich erst jetzt bemerkte. Sie trug ein schwarz und weiß karriertes Umschlagtuch und schien geweint zu haben, wie ich aus ihrer häufigen Benutzung des Taschentuchs entnahm. Frauen, die weinten, saßen auch bei uns häufig; entweder im Hausflur oder bei unserem Vater. Sie blieben oft sehr lange, und wenn sie eine kleine Unterstützung oder sonst einen Trost erhielten, kamen sie manchmal alle Tage wieder. Deshalb nickte ich dieser Frau auch zu wie einer alten Bekannten, obgleich ich sie nie gesehen hatte, und dann platzte ich mit meiner Neuigkeit heraus.

„Denke Dir, Herr Propst, Line küßt draußen auf dem Kirchhof einen Mann!“

„So?“ sagte der Propst. Er wühlte in einem Wandschrank und schien nicht so erschüttert von dieser Nachricht, wie ich es erwartet hatte. „Nun, dann will sie wohl heirathen. Kennst Du denn den Mann?“

„Gewiß, Herr Propst! Es ist der Mann mit dem Haifisch. Du weißt doch, der Haifisch, der von der Decke hängt und der seine Frau aufgefressen hat! Jürgen sagt, die Frau ist nicht mehr drin – ich aber meine –“

„Der Mann mit dem Haifisch?“ unterbrach mich der Propst. Ihm schien die Sache sehr gleichgültig zu sein; ich aber nahm ihm diese Geschmacksrichtung in meinem Eifer übel. Es that mir zu leid, daß er die schönsten Geschichten unserer Stadt so schlecht kannte. „Nun ja, Herr Kapitän Weber ist doch der Mann mit dem Haifisch. Ein furchtbar netter Mann, der viel Geld hat und sonst auch sehr gut ist. Aber seine Frau ist von einem Haifisch aufgefressen worden und zur Strafe dafür muß der Fisch immer hängen, und er selbst ist so allein. Ich meine, der Kapitän ist allein, der heute abend die Line küßte, und ich glaube –“ hier fiel mir manches andere wieder ein - „er hat sie wohl schon oft geküßt!“

„Du mein Heiland!“ sagte die Frau in dem karrierten Umschlagtuch; sie hielt ihr Taschentuch schon lange unbenutzt in der Hand und hatte mir starr zugehört: „Du großen Gott im Himmel!“ fuhr sie fort und dann stand sie auf. „Sehen Sie, Herr Propst, hab’ ich es Sie nich gesagt? So is er nu! Das nennt er nu den Ehestand, wo er hier auf die Insel andere Fruensminschen küßt und mir ganz allein in Altna in die kleine Brauerstraße sitzen läßt! Und denn verzählt er noch schenierliche Dinge von mich - daß ich von’n Haifisch aufgefressen bin, wo ich doch in mein ganzes Leben anständig gewandelt habe und so’n Diert niemalen zu Gesicht gekriegt hab’! Nich mal in’n soologischen Garten in Hamburch, wo ich an die billigen Tagens woll gewesen bin. Hab’ ich es Sie nich gesagt, Herr Propst? So is er nu und spielt sich hier auf’n Wittmann, wo er mir doch in die kleine Brauerstraße in Altna wußte, wo ich hingezogen bin, als ich mir so über ihm ärgerte!“

Sie hielt erschöpft inne und der Propst seufzte mit dem Seufzer desjenigen, der schon eine Stunde lang dasselbe vernommen hat.

„Sie müssen nicht auf die Worte eines Kindes hören,“ bemerkte er jetzt. „Es kann alles ganz anders zusammenhängen und die Geschichte mit dem Haifisch kenne ich überhaupt nicht. Besinnen Sie sich, liebe Frau, und kehren Sie nicht lieblos zu Ihrem Manne zurück, der wohl seine Fehler hat, den Sie doch aber sehr bestraften, da Sie so lange von ihm fortblieben. Eheleute sollen Geduld miteinander haben!“

Die Frau antwortete nicht, sondern weinte bitterlich. Der Propst aber drückte mir den Federkasten in die Hand unb schob mich sanft aus der Thür. Schweigend ließ ich mir alles gefallen, denn mein einziges Bestreben war, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Athemlos stürzte ich in die Kinderstube, wo der Jüngste von den großen Brüdern unterhalten wurde; denn Line war noch nicht erschienen, um ihn zu Bett zu bringen.

Hinter mir trat sie langsam ins Zimmer. Sie schien heiß zu sein, sah aber sonst aus wie immer; sie schalt uns alle der Reihe nach aus und sagte dann, wir sollten nur hinausgehen, der Kleine würde sonst so aufgeregt.

„Ich weiß was Neues!“ rief ich nun, und Line sah mich starr an.

„Is woll was Rechtes!“ meinte sie dann in einem Tone der Verachtung, der mich stets reizte.

„Ist auch was Rechtes!“ erwiderte ich trotzig. „Kapitän Webers Frau sitzt gar nicht im Haifisch –“

„Als wenn ich das geglaubt hätte!“ unterbrach sie mich höhnisch. „Die alte Person liegt irgendwo in den südländischen Ocean tot und begraben!“

„Sie wohnt in der kleinen Brauerstraße in Altona und ist gar nicht tot!“ schrie ich triumphierend; „und heute ist sie beim Propst; und als ich sagte, daß Du und der Kapitän Euch eben immerlos geküßt habt –“

[888]

Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.
Ein guter Rath.
Nach einem Gemälde von E. v. Blaas.

[889] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [890] Weiter kam ich nicht, da Line, die viele Kräfte hatte, nicht allein mich, sondern auch die Brüder aus der Thür warf, wobei es viel Geschrei und Gelächter gab. Denn eine kleine Prügelei war doch immer das Allerschönste im Leben.

Aber am nächsten Tage liefen wir doch alle nach dem Norderende zum Häuschen des Kapitäns. Er sah gar nicht aus der Thür, und als wir sie vorsichtig aufklinkten, erschien auch nicht seine dicke kleine Gestalt, sondern die lange magere einer Frau, die uns wenig freundlich betrachtete. Als sie nach unserem Begehr fragte, murmelte Jürgen, daß er sich nach dem Befinden erkundigen sollte. Ihm fiel gerade ein, daß wir mit dieser Frage öfters dorthin, wo Kranke lagen, geschickt wurden, Frau Weber machte aber ein sehr saures Gesicht.

„Vielen Dank for die Erkundigung, und sag’ man wieder, daß ich von keine Krankheit in diesen Haus wußte und daß Du nich wieder zu kommen brauchst. Denn was mein Mann, der Kaptein Weber, is, der is gesund wie’n Fisch und was ich, die Frau Kapteinin, bin, so hab’ ich woll jeden Tag Smerzen in’n Kopp und beis Herz – das abers wird von Fragen nich besser!“

So zogen wir denn wieder ab und auf der Geburtstagsfeier, die an diesem Tage erfolgte, machten wir aus, daß es doch sehr merkwürdige Menschen gäbe, Warum hatte der Kapitän gesagt, seine Frau wäre vom Haifisch gefreffen worden, wenn sie in Altona lebte? Aber hatte er es denn gesagt? Darüber waren die Meinungen getheilt und niemand konnte behaupten, diese Nachricht von ihm selbst erhalten zu haben.

Line war in dieser Zeit sehr schlechter Laune und wurde erst wieder vergnügt, als der Commis beim Krämer sie jedesmal durch uns grüßen und dann zum Ball einladen ließ.

Es dauerte eine längere Zeit, ehe wir den Kapitän wieder sahen. Aus seiner Hausthür schaute er nicht mehr und von seiner rothkarrierten Zipfelmütze war erst recht nichts mehr zu erblicken. Als ich ihm eines Tages begegnete, war der erste Schnee gefallen und er trippelte vorsichtig darin herum. Ich sagte ihm freundlich Guten Tag; er nickte halb zerstreut.

„Nun, Kind, machst Du noch immer so viel Geburtstagsgeschenke?“

In dieser Zeit seien keine Geburtstage, versicherte ich ihm, und er lachte ein wenig.

„Geburtstage sind jetzt doch auch – morgen ist der Geburtstag meiner Frau.“ Er seufzte.

„Trinkt Ihr da Chokolade?“ erkundigte ich mich; aber er schüttelte den Kopf. „Sie is ein von die Strengen - so was mach sie nich - ich hab’ sie gar nich gratteliert in die letzten Jahrens -“

„Sie war ja auch in der kleinen Brauerstraße und Du –“

Er ging vorsichtig neben mir her während ich versuchte, einige Schneebälle zu machen.

„Ja, ja, da war ja ein büschen was zwischen uns gekommen,“ murmelte er. „Sie is ein von die Strengen – ich bin gar nich strenge - abers sie sorgt gut for mir und kocht gut und is sparsam und liest mich auch was vor, wo meine Augens swach sind - ‚Itzehoer Nachrichten‘, wo so viel Geschichtens ein stehen, abers grattelieren thu ich sie doch nich – da schenier ich mir. Von Geburtstag und so was is bei uns gar nich mehr die Rede. Schon lange nich. Sie mag mir ja eigentlich nich leiden, weil ich ja mannichmal ein büschen leicht war –“ er hustete. „Abers ich mein es nich böse, und wenn ich gewußt hatt, daß sie auch so nett sein konnte – abers dazumalen in Altna, als wir uns verzürnten, da war sie gräßlich, ganz gräßlich, bloß weil daß ich –“ er räusperte sich wieder. „Ja, da sagt’ meine Frau zu mich, sie wollt nix nich mehr mit mich zu thun haben, und sie blieb in die kleine Brauerstraße in Altna und ich konnt gehen, wo ich hin wollt. Na, da wurd ich denn auch doll; denn Mann bleibt Mann und in die Bibel steht ‚Er soll Dein Herr sein!‘ was ich in meinen ganzen irdischen Leben noch nich bemerkt hab’, daß so was wahr is. Abers stehen thut es doch ins erste Buch Moses, und da bin ich denn darum auch nich in Altna geblieben und bin hierher gegangen mit all mein Sachens, und wenn die Leute sagten, mein Frau wär tot, denn hab ich kein Wort dawider gesprochen!“

Er schwieg und zog das bunte Taschentuch mit dem Untergang „Christians des Achten“ hervor. Zu meiner Verwunderung bemerkte ich, daß er sich die Augen trocknete. Da ich aber gerade mit Mühe und Noth einen sehr schmutzigen Schneeball zusammengeklebt hatte, konnte ich nicht weiter darüber nachdenken.

„Nu is sie denn hierher gekommen, und zuerstens war es ja nich weiter schön, weil daß sie mir so auslümmelte und mich kein gutes Wort gab; abers mit die Zeit is sie gemüthlicher geworden. Und neulich hat sie an ihr Tante ein Brief geschrieben, wo ich einkuckte, als sie nich in die Stube war und da schrieb sie ein, daß sie in Altna ümmer Sehnsucht nach mich gehabt hätt’ und daß sie nu anfing einzusehen, daß ich doch kein slechten Kurakter hatt’!“

Der Kapitän putzte sich lange die Nase, ehe er fortfuhr zu reden, und in dieser Zeit fiel mein Schneeball wieder auseinander. Das war sehr ärgerlich und ich klagte laut; Herr Weber achtete aber gar nicht auf meinen Schmerz.

„Nu mocht ich sie woll ein büschen zum Geburtstag schenken und sie auch grattelieren, bloß, daß ich das partuh nich anfangen kann!“

Während ich mich bis dahin gelangweilt hatte, machte mich das Wort „Geburtstag“ wieder sehr aufmerksam. „Natürlich mußt Du ihr gratulieren!“ sagte ich mit Bestimmtheit. „Bei den Erwachsenen fängt das Gratulieren um zwölf Uhr mittags an. Da kommen alle – der Bürgermeister und der Propst, der Amtsverwalter und der Zollverwalter und alle mit ihren Frauen. Die Damen kriegen Chokolade und Kuchen und die Herren Pasteten und Wein. Um Drei ist es zu Ende. Das ist der Geburtstag für die Erwachsenen,“ setzte ich hinzu, als ich bemerkte, wie aufmerksam Friedrich Franz Weber mir zuhörte, „oder willst Du einen Kindergeburtstag feiern? Der fängt um vier Uhr an und -“

Der Kapitän unterbrach mich: „Nein, mein Kind; das laß man!“ Er fing wieder an hochdeutsch zu sprechen. „Aber ich will Dir etwas sagen. Komm’ Du morgen und gratuliere meiner Frau, wann Du Zeit hast; denn wir sind immer zu Hause! Sie wird sich freuen, daß ein Mensch ihren Geburtstag weiß.“

„Muß ich ihr dann nicht etwas schenken?“ fragte ich bedenklich, und Weber blieb stehen.

„Ich weiß was! Ich kauf’ Dich heute ein Pfund Schokkolade oder wie das alt Kram heißt, und Du schenkst sie das denn morgen! Denn hat sie ein klein Spaß, und vielleich daß wir Dir denn später einladen!“

Dieser letzte Satz verfehlte nicht seine Wirkung. Im Grunde genommen hatte ich eigentlich wenig Lust, Frau Weber zu gratulieren – sie war doch unfreundlich gegen mich gewesen. Aber mit einem Pfund Chokolade in der Hand sah die Sache schon anders aus, besonders wenn in der Ferne die Aussicht winkte, diese Gabe auch selbst mit vertilgen zu dürfen. So ließ ich mich denn willig zu dem Kaufmann geleiten, dessen Chokolade ich mit warmem Herzen empfehlen konnte, und erschien am nächsten Tage vor der Hausthür des Kapitäns.

Jürgen war natürlich mit. Ich wüßte mich keiner besonderen Gelegenheit zu erinnern, wo Jürgen mich nicht begleitet und wo er nicht Theil an meinen Erlebnissen gehabt hätte. Manchmal nahm ich mir allerdings vor, ihm von diesen und jenen Dingen nichts zu sagen; meine Vorsätze dauerten aber selten länger als eine Stunde. Deshalb war es auch ganz natürlich, daß Jürgen an diesem Tage mit vor Frau Weber erschien, die nur die halbe Hausthür öffnete und ihre Arme fest auf die untere Hälfte legte.

„Nu, Kinners,“ sagte sie scharf, „was wollt Ihr denn bei mich? Zu sehen is da nix mehr! Der Haifisch häng auch nich mehr hier, weil daß er so furchtbar stank, was kein Christenmensch aushalten konnt’! Ich hab’ ihm in Garten eingegraben, vielleicht daß da nächstes Jahr ordentlich Sellerie und Suppenkraut aus wächst. Nu, was kuckt Ihr mir noch an?“

„Wir wollten Dir gratulieren, Frau Weber!“ sagte ich nun feierlich. „Heute ist ja Dein Geburtstag und ich bringe Dir ein Geschenk! – Wir sollen etwas davon ab haben!“ setzte ich hastig zu, als Frau Weber mir das Paket ohne weiteres aus der Hand nahm und die untere Hausthür doch noch nicht öffnete.

„Mein Geburtstag?“ fragte sie mißtrauisch und dann roch sie an dem Paket. „Was wißt Ihr davon? Steht das bei Euch in Schornstein, wann ich geboren bin, oders –“ und hier wurde ihre Stimme drohend, „weiß Line, das häßliche alte Ding. das vielleich?“

Nun aber wurde ich beleidigt.

[891] „Frau Weber, Dein Mann hat mir das von Deinem Geburtstag gesagt und Line weiß gar nichts davon. Nicht das Allergeringste. Und häßlich ist sie auch nicht; der Commis bei Ahrt hat noch neulich gesagt, sie wäre hübsch und ich sollte sie vielmals grüßen, was ich gleich gethan habe. Und die Chokolade hat der Kapitän gestern gekauft - beste Sorte; vier Mark das Pfund. Er mochte es Dir nicht selbst geben - ich weiß nicht warum, aber er mochte nicht!“

„Ein Geschenk von mein Mann? Und er dachte an mein Geburtstag?“ Die untere Hausthür ging plötzlich wie von selbst auf und wir standen auf dem kleinen Flur, der nicht mehr so komisch roch wie ehemals.

„Ja, er sagte, Du wärest eigentlich ganz nett und Du läsest so gut vor, aber er möchte es nicht sagen!“ berichtete ich, und Jürgen nickte fortgesetzt mit dem Kopfe, als wenn er alles gehört hätte, was der Kapitän mit mir gesprochen hatte.

Das ärgerte mich etwas, wie jedermann begreifen wird; Frau Weber sah uns beide aber gar nicht an.

„Von mein Friedrich?“ sagte sie wie zweifelnd. „Würklich? hat er an mein Geburtstag gedach und schenk mich was? Oh, wo lange is es her, daß er mich was schenkte! Und nu denk er an mein Geburtstag, wo keiner an dachte, all die langen Jahrens!“

„Wir bekommen aber von der Chokolade etwas ab!“ rief ich noch einmal und Jürgen sagte dasselbe, was mich wiederum ärgerte. Er wußte doch eigentlich gar nichts davon und deshalb mußte ich ihm einen derben Rippenstoß geben, den er mit überraschender Promptheit erwiderte. Vermuthlich hatte er sich schon lange über mich geärgert, weil ich ganz allein die Unterhaltung führte. So kam es, daß mir uns ein wenig erzürnten und gar nicht merkten, daß Frau Weber plötzlich verschwunden war. Als sie wieder vor uns stand, wischte sie sich die Augen

„Liebe Zeit, Kinners,“ sagte sie und ihre Stimme war viel milder geworden, „man keine Streiterei! Da kommt bloß was Slimmes bei heraus, wo kein Mensch gut von hat! Und nu kommt ein in Stube, damit Ihr ein Sluck Wein kriegt, weil daß die Schokkolade noch nich fertig is. Abers heute nachmittag könnt Ihr man wiederkommen!“

Als wir in die kleine saubere Stube traten, kam der Kapitän uns entgegen. Er räusperte sich mehrere Male und gebrauchte öfters das schöne bunte Taschentuch mit den Schiffsbildern; sonst aber war er ganz unverändert. Nur als seine Frau die kleinen Spitzgläser mit gelbem Wein gefüllt hatte, hob er sein Glas mit etwas zitternder Hand. „Mein klein Frau, mein Friederike soll leben, und noch viele Jahrens! Nich wahr, mein Rike? Und nach die kleine Brauerstraße in Altna ziehst nich wieder, nich wahr?“

„Ganzen gewiß nich!“ sagte Frau Weber, während große Thränen ihr über die Wangen rollten. „Ganzen gewiß nich! Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden!“ Und dann gaben die beiden Eheleute sich einen Kuß und saßen Hand in Hand und so versunken nebeneinander, daß sie gar nicht merkten, wie Jürgen sich noch einmal verstohlen einschenkte. Denn er behauptete, er hätte zuerst kein volles Glas bekommen.

Als wir dann nach Hause gingen, war er sehr heiter und sagte, daß ein Geburtstag doch immer der schönste Tag im Jahre sei.

Dagegen protestierte ich eifrig; schon aus Aerger, weil ich das zweite Glas Wein nicht erhalten hatte; aber Frau Weber hat später immer Jürgens Ansicht beigepflichtet. Und sie mußte es eigentlich wissen.

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BLÄTTER UND BLÜTHEN.


Brennender Frost. Die äußersten Gegensätze berühren sich, sind sich wenigstens oft in ihren Wirkungen ähnlich, und so ruft auch das Berühren äußerst kalter Gegenstände auf der Haut eine Art von Verbrennungserscheinung hervor. In Berlin befindet sich unter Leitung von R. Pictet ein Laboratorium, in welchem zu verschiedenen Zwecken eine Kälte bis –200° C. erzeugt wird, und in diesem Laboratorium sammelten die Forscher sehr lehrreiche Erfahrungen über Verbrennungen der Haut durch Frost, indem sie absichtlich oder unabsichtlich die Metallwände der Gefrierschächte berührten.

Vor allem fanden sie, daß diese Verletzungen durchaus nicht derselben Natur sind wie Verbrennungen, die durch Berühren heißer Gegenstände erzeugt werden. Trotzdem möge der einmal eingebürgerte Name beibehalten werden!

Es giebt zwei Arten von Frostverbrennungen, solche ersten und andere, schwerere, zweiten Grades.

Berührt man die auf etwa –80° C. oder darunter abgekühlte Metallwand eines Gefrierschachtes, so empfindet man an der betreffenden Hautstelle einen heftigen Schmerz gleich dem von einem Wespenstiche. Hat die Berührung nur einen Augenblick gedauert, so tritt eine Frostverbrennung ersten Grades ein. Die Haut röthet sich an der betroffenen Stelle lebhaft und nimmt am anderen Tage eine bläuliche Färbung an. Dabei empfindet man ein äußerst unangenehmes Jucken. Dieser Zustand dauert 5 bis 6 Wochen, wonach in der Regel Heilung eintritt.

Dauert die Berührung der Haut mit dem abgekühlten Metall etwas länger oder wird dieselbe mit stark abgekältetem Alkohol, Aether oder flüssiger atmosphärischer Luft benetzt, so entwickelt sich die Frostverbrennung zweiten Grades. Die betreffende Stelle der Haut wird augenblicklich abgetötet und löst sich ab. Es entstehen langwierige Eiterungen; die Wunden vernarben erst nach langer Zeit und zeigen stets einen bösartigen Charakter. Eines Tages fiel ein Tröpfchen flüssiger atmosphärischer Luft von einer Temperatur unter –200° C. Pictet auf die Hand und in demselben Augenblicke brachte sich der Forscher an derselben Hand eine starke Abschürfung der Haut bei. Die Abschürfung heilte in zwölf Tagen; die Frostwunde aber begann erst nach sechs Monaten zu vernarben.

Diese heftigen Erscheinungen zeigen sich dann, wenn die Abkühlung durch Leitung, d. h. durch Berührung mit kalten, nur Wärme gut leitenden Stoffen, erfolgt. Wird der Körper durch Strahlung allein abgekühlt, so tritt die Frostwirkung langsamer ein. So versenkte Pictet eines Tages versuchshalber den nackten Unterarm in einen auf –105° C. abgekühlten Gefrierschacht, ohne dessen Wände zu berühren. Der Arm war rings von der kalten Luft umgeben und kühlte sich ab, indem er seine Wärme ausstrahlte. Im Beginn des Versuches verspürte Pictet eine Empfindung, die sich schwer beschreiben läßt, aber von ihm durchaus nicht als unangenehm bezeichnet wird. Dann wurde die Haut unempfindlich, aber in der Tiefe stellte sich ein heftiger Schmerz ein, dessen Sitz in der Knochenhaut oder im Knochenmark zu suchen sein dürfte. Nach drei bis vier Minuten wurde die Haut blau und der Schmerz so heftig, daß Pictet seinen Arm zurückziehen mußte,

Aus anderen Versuchen, welche Pictet über die Einwirkungen des Frostes auf die Lebensprozesse anstellte, möchten wir noch die nachhaltige Widerstandskraft gewisser Thiere und Samen gegen hohe Kältegrade hervorheben. Süßwasserfische konnten bis auf –20° C. abgekühlt werden, so daß ihr Leib festgefroren war und beim Anschlagen in Eisstückchen zersplitterte. Thaute man dagegen derartig behandelte Fische vorsichtig auf, so kamen sie wieder zu sich und schwammen im Wasser umher; auch Frösche vertragen eine Abkühlung bis auf –28° C. Froscheier zeigten sich noch zäher; sie büßten ihre Entwicklungsfähigkeit selbst dann nicht ein, wenn man sie auf –60° C. abgekühlt hatte. Eier des Seidenschmetterlings vertrugen eine Kälte bis –40° C. Am widerstandsfähigsten aber erwiesen sich die Keime verschiedener Mikroorganismen, Algen und Bakterien; sie erwachten zum Leben selbst nachdem man sie der stärksten Kälte von etwa –200° C. tagelang ausgesetzt hatte.*      

Ein guter Rath. (Zu dem Bilde S. 888 und 889) Sylvester ist die Zeit der Fragen an das Schicksal. Ueberall spuken in der Nacht, da das alte Jahr einem neuen den Platz räumt, jene tausendfältigen Weissagespiele, mit deren Hilfe der Mensch den Schleier der Zukunft ein wenig lüften möchte, um zu sehen, welch ein Bild dahinter steckt. Und wo man all die Beweiskraft jener geheimnißvollen Zeichen und Andeutungen nicht mehr glaubt, da treibt man doch die alten Spiele als launige Belustigung. – Auch die eine der venetianischen Schönheiten auf unserem Bilde hat eine „Frage an das Schicksal“. Aber für sie giebt es in dem Zauberschatz des alten Aberglaubens kein Rezept, für sie dreht es sich nicht mehr um so allgemeine Fragen wie: „Werd’ ich in diesem Jahre einen Mann bekommen?“ oder: „Ist mein Zukünftiger groß oder klein, reich oder arm, gerade oder krumm?“ Für sie handelt es sich um eine ganz bestimmte, mit allgemeinen Winken nicht mehr zu erledigende Angelegenheit, für sie gilt es eine runde klare Lösung in dem nagenden Zweifel: „Was antwort’ ich ihm auf seinen Brief?“ Und da ist guter Rath theuer!

Nun, wo die Noth am größten, ist die Hilfe am nächsten! Die gute Freundin, der sie den Handel vorgetragen, weiß offenbar ganz genau, was man in solch einem Falle zu sagen hat. Mit italienisch lebhafter Gebärdenbegleitung entwickelt sie die Fäden eines äußerst diplomatisch gehaltenen Bescheids, ergeben lauscht ihr Gegenüber, verstummend vor so viel Schlauheit. Ob er aber befolgt werden wird, der gute Rath? Ja, das ist eben auch noch eine „Frage“!

Aus dem musikalischen Vogtland. Zu den eigenartigsten Zweigen der sächsischen Industrie gehört die Fabrikation musikalischer Instrumente im Vogtland. „Aus unbedeutenden Anfängen,“ so schreibt über sie Heinrich Gebauer in seinem ungemein reichhaltigen und schätzbaren Werke „Die Volkswirthschaft im Königreiche Sachsen“ (Dresden, W. Baensch), „in einem weltverlorenen Winkel des Gebirgs entstanden, hat sie sich zu einer Ausdehnung und Vielseitigkeit entwickelt, die ihresgleichen sucht, und beherrscht jetzt von ihrem abgelegenen Sitze aus den Weltmarkt.“

Um das Jahr 1580 flüchteten Protestanten, die um ihres Glaubens willen verfolgt wurden, aus ihrer böhmischen Heimath auf das nahe [892]

Neujahrspost.

sächsische Gebiet, wo ihnen Kurfürst August I. gerne Aufnahme gewährte. Sie ließen sich in dem damals Neukirchen, jetzt Markneukirchen genannten Städtchen nieder, bereitwillig empfangen von der wenig zahlreichen Bevölkerung. Unter diesen böhmischen Flüchtlingen waren auch einige Geigenmacher, die ihr Gewerbe in der neuen Heimath fortsetzten. Sie fanden in der waldreichen Gegend im Ueberflusse die Hölzer, welche sie für den Bau ihrer Instrumente brauchten; von der Bevölkerung, welche sich bis dahin von Waldarbeit und Bergbau nur kümmerlich genährt hatte, wandten sich viele dem neuen Beschäftigungszweige zu, und schnell wuchs die Anfertigung von Geigen und Bässen zum Haupterwerbszweige der Stadt und ihrer Umgebung heran, bis der Dreißigjährige Krieg eine gewaltsame Unterbrechung herbeiführte. Neue Verfolgungen nach dem Kriege veranlaßten in Böhmen aufs neue viele Handwerker zur Flucht, und diese wandten sich theils ebenfalls nach Markneukirchen, theils ließen sie sich in dem Thale der Zwota nieder, unweit der Stelle, wo dieselbe aus Sachfen nach Böhmen tritt. In dem von dunkel bewaldeten Bergen umgebenen Thalkessel der „Höllengrund“ genannt, lag ein Eisenhammer, der „Höllenhammer“, welcher 1580 von böhmischen Bergleuten errichtet worden, während des Dreißigjährigen Krieges aber wieder eingegangen war. Nach dem Besitzer des Hammers, Klinger, nannten die Böhmen, die sich hier niedergelassen hatten, den Ort „Klingenthal“ und führten hier dasselbe Gewerbe ein wie in Markneukirchen. Aus diesen Anfängen entwickelte sich die blühende Geigenindustrie des Vogtlandes, Markneukirchen und Klingenthal traten einem Cremona und Mittenwald zur Seite.

Ein großer Erfolg für die Markneukirchener Geigenmacher war es, als sie 1873 auf der Wiener Weltausstellung den Sieg über die Mittenwalder davontrugen, Sie verdankten dies hauptsächlich dem Umstand, daß auch sie, wie ihre Nebenbuhler, angefangen hatten, die alten italienischen und tirolischen Meister zu studieren und von ihnen zu lernen.

Außer Geigen und anderen Streichinstrumenten, Cellos, Bässen etc., werden im Vogtland auch Guitarren, Zithern, Mandolinen verfertigt. Ja es versieht sogar die Neger Afrikas und Amerikas mit einem „nationalen“ Saiteninstrument, dem „Banjo“, und dieses letztere, ein Mittelding zwischen Guitarre und Mandoline, hat noch das Merkwürdige an sich, daß es sich einer besonderen Beliebtheit in den vornehmen Salons von London erfreut, seit der Prinz von Wales eine Vorliebe dafür an den Tag legte. Auch Gladstone und der russische Kaiser spielen Banjo, zum großen Vergnügen ihrer Umgebung und – der Fabrikanten von Markneukirchen.

Selbstverständlich mußte sich neben der schwunghaften Geigenmacherei auch die Fabrikation von Fidelbogen und Darmsaiten entfalten. Auffallenderweise geschah dies zum Theil erst spät; die Bogenmacherei wurde in Markneukirchen nicht vor der Mitte, in Klingenthal erst am Ende des achtzehnten Jahrhunderts eingeführt, während man den Bedarf bisher aus Schmalkalden bezogen hatte, und ähnlich ging es mit den Darmsaiten, die man sich lange aus Böhmen, Bayern, Tirol und Italien schicken ließ, bis man sie endlich 1730 in Markneukirchen selbst zu fertigen begann. Jetzt steht gerade dieser Fabrikationszweig dort in besonderer Blüthe.

Aber mit den genannten Instrumenten ist das Orchester der vogtländischen Industrie noch immer nicht erschöpft, auch die Blech- und Holzblasmusik bezieht einen großen Theil ihres Bedarfs aus dieser Gegend; Markneukirchen und sein Gebiet hat z, B. im Jahre 1876 nicht weniger als 17000 Flöten geliefert. Und so sind wir bereits nicht mehr überrascht, wenn wir vernehmen, daß man dort auch Harfen, Trommeln, Pauken, Tamburins, Aeolsharfen, Becken, Triangeln, Glockenspiele, Schellenbäume und Kastagnetten macht. Als besondere Eigenthümlichkeit hat endlich Klingenthal seit etwa siebzig Jahren seine Harmonikafabrikation, welche Mund- und Ziehharmoniken in Massen in die Welt sendet. Auch Kindermusikinstrumente gehen von dort aus, und als Krone und Zusammenfassung für alles wurde 1889 in Klingenthal sogar eine Orchestrionfabrik errichtet.

Wer also ein Orchester auszurüsten hat, der ziehe ins sächsische Vogtland; dort findet er auf dem Umkreis von ein paar Quadratkilometern alles beisammen, was er braucht: von der feinsten Violine bis zum Kolophonium, vom mächtigen Bombardon bis zum Notenpult.



Zopfrittergesellschaft. Der Zopf stammt nicht erst aus dem vorigen Jahrhundert, in welchem er einer ganzen Zeitperiode seinen Namen verlieh – schon viel früher gab es männliche Zöpfe, die sich aber von den späteren dadurch unterscheiden, daß sie nicht allgemein Mode waren, sondern nur von einer bestimmten Anzahl Männer, von den Angehörigen einer bestimmten Gesellschaftsklasse als Abzeichen getragen wurden. Im 14. Jahrhundert ward von dem Herzog Albrecht III. von Oesterreich, der von 1365 bis 1395 regierte und den Beinamen „mit dem Zopfe“ trägt, eine ritterliche Gesellschaft gegründet, deren Mitglieder als Ordensabzeichen einen hinten im Genick hängenden Zopf trugen; derselbe befand sich in einer Hülle, die, wenn die Ordensangehörigen bürgerliche Tracht trugen, aus Stoff, theilweise mit Metall beschlagen, bestand, während sie ganz aus Metall gefertigt war, wenn die Ritter in Rüstung erschienen. Auf alten Wandgemälden des Klosters Königsfelden in der Schweiz, auf alten Glasgemälden und in alten Handschriften finden sich Zopfritter mit ihrem Abzeichen dargestellt; in Original hat sich eine Zopfhülle dieses Ordens nicht erhalten.

Ueber die eigentliche Bedeutung des Zopfes als Ordensabzeichen gehen die Ansichten auseinander. Nach einer Nachricht soll eine schöne Dame sich ihres Haarschmuckes beraubt und ihn dem Herzog gegeben haben; von andern wird behauptet, daß der Herzog selbst sich sein Haar zu einem Zopfe habe wachsen und flechten lassen; nach einer dritten Darstellung soll er, als er aus dem gelobten Lande heimkam, seine Gemahlin Beatrix, Tochter des Burggrafeu von Nürnberg, in ihrer Kemenate überrascht und ihr, ehe sie sich dessen versah, den Zopf abgeschnitten haben. Im Jahre 1377 unternahm der Herzog eine Preußenfahrt, auf welcher er sich die Ritterwürde erwarb. Mit diesem Zuge und dem erhaltenen Ritterschlage dürfte die Stiftung der Zopfgesellschaft vielleicht in Zusammenhang stehen Viele Mitglieder der Gesellschaft sind mit Erzherzog Leopold von Oesterreich 1386 in der Schlacht bei Sempach gefallen und zusammen im Kloster Königsfelden begraben worden. Lange hat der Orden wohl nicht geblüht, denn die Nachrichten über ihn fließen im 15. Jahrhundert spärlicher als im vorhergehenden.

Zu Anfang des 17. Jahrhunderts findet man auf Bildnissen von Fürsten und Herren aus dieser Zeit die Köpfe mit einem kleinen Zöpfchen versehen, das, aus den natürlichen Haaren geflochten, vor dem linken Ohre von den Schläfen etwa bis zum Halse herabhing; Es ward am Ende durch ein seidenes Schleifchen manchmal auch mit Perlen und Juwelen, Andenken ihrer Damen (Faveurs), geziert. Es ist dieser Zopf vielleicht ebenfalls ein Gesellschaftsabzeichen, da er nur bei hohen Herren, allerdings auch bei den Gigerln jener Zeit, den Alamodeherren, vorkommt, während er, wenn er Mode gewesen wäre, sicher recht bald in alle Kreise Eingang gefunden hätte, wie dies dann im 18. Jahrhundert geschah. Jetzt soll es Männer mit Zöpfen nicht mehr geben; mit sichtbaren wohl sicher nicht, aber diejenigen, die nicht gesehen, sondern nur empfunden werden, dürften wohl kaum jemals alle werden.


Sylvesterpunsch. (Zu dem Bilde S. 881)) Sie versteht es ausgezeichnet, die blonde Lise, den festlichen Punsch so zu bereiten, daß er für die ganze vielköpfige Familie die richtigen Verhältnisse besitzt: nicht zu schwach für den Papa und doch nicht so stark, daß nicht auch die bejahrte Großmama behaglich ihr Gläslein mitschlürfen könnte, nicht zu süß für den rauheren Männergaumen und doch süß genug für die jugendlichen Leckermäuler und für ihren eigenen in diesem Punkte sehr gewählten Geschmack. Aber – sollte doch ein „Aber“ hinter diesem Erzeugniß raffiniertester Braukunst lauern, welches die Liebliche eben aufzutragen sich anschickt? Fast müssen wir es argwöhnen – denn warum hätte sonst der Künstler seiner holden Hebe ein niedliches kleines Käterchen auf die Schulter gesetzt? Also der duftende Trank in der stattlichen wohlverschlossenen Schüssel ist doch nicht ganz so harmlos! Indessen, viel ist nicht von ihm zu fürchten. So lange ein Käterchen solch schmeichelnde Gebärden zeigt wie das auf unserem Bilde, so lange ist’s nicht gefährlich mit ihm, und wir dürfen getrost darauf rechnen, daß unsere fröhliche Familie in behaglichster Stimmung den ersten Morgen des neuen Jahres genießen wird - trotz des kleinen Käterchens.

Prosit Neujahr!





Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.   Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.   Druck von A. Wiede in Leipzig.
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An unsere Leser!

Zum einundvierzigsten Male ist es nun, daß die „Gartenlaube“ am Abschluß eines Jahrgangs steht und sich anschickt, mit ihren zahlreichen, allüberall im deutschen Vaterland und in der ganzen Welt verbreiteten Lesern in ein neues Jahr einzutreten. Das ist die Zeit wo jedermann - und sei es auch nur in flüchtigem Gedenken - zurückblickt auf das hinter ihm Liegende, auf das von ihm Vollbrachte, und wo er vorwärts schaut in die Zukunft, auf die neuen Aufgaben, die seiner harren. Um wie viel ernster aber ist ein solcher Rück- und Ausblick für ein Blatt, welches jahraus jahrein zu Hunderttausenden redet, welches sich das Ziel gesteckt hat, Männern und Frauen nicht minder wie der erwachsenen Jugend aller Lebenskreise gemüthliche Anregung und geistige Nahrung nach den Mühen der Tagesarbeit zu bieten!

Die „Gartenlaube“ ist sich der verantwortungsvollen Bedeutung dieser ihrer Aufgabe immer bewußt gewesen. Sie wird es auch ferner bleiben. Unverrückt wird sie ihr seit vier Jahrzehnten verfolgtes Ziel im Auge behalten:

„ein Vereinigungspunkt zu sein für die besten, volksthümlichsten Erzähler, Dichter und Denker Deutschlands, ein frischer, reiner Quell nützlicher Belehrung und edler Unterhaltung für das deutsche Haus, ein treuer Spiegel des geistigen Lebens unseres Volkes, ein warmer verständnißvoller Freunddesselben in Freud und Leid!“

Bei gewissenhafter Durchführung dieses ihres alten bewährten Programms wird ihr auch künftig die thatkräftige Unterstützung aller Berufenen so wenig wie die treue Anhänglichkeit ihres weiten Leserkreises fehlen.

Den nächsten, den zweiundvierzigsten Jahrgang der „Gartenlaube“ wird eröffnen der neue große Roman

„Die Martinsklause“ von Ludwig Ganghofer,

dem unseren Lesern wohlbekannten gefeierten Verfasser des „Klosterjägers“ und so vieler anderer geist- und gemüthvoller Erzählungen. - Gleichzeitig beginnt eine farbenreiche Geschichte aus dem modernen Leben:

„Die Perle“ von Marie Bernhard,

der im Kreise der „Gartenlaube“ rasch beliebt gewordenen Novellistin.

Außerdem stehen fesselnde Romane, ernste und heitere Novellen in Aussicht von hochgeschätzten Autoren wie

Hans Arnold, Ernst Eckstein, Stafnie Keyser, A. von Klinckowstroem, Ernst Lenbach, Anton von Perfall, Gerhard Walter, E. Werner, Ernst Wichert, Claus Zehren u. a.

und endlich sind wir in der angenehmen Lage, den neuesten Roman eines ausgesprochenen Lieblings der Gartenlaubegemeinde ankündigen zu können:

„Um fremde Schuld“ von W. Heimburg.

Dürfen wir somit annehmen, daß für eine fesselnde und gediegene Unterhaltung im kommenden Jahrgang reichlich gesorgt sei, so liegt uns nicht minder daran, der bewährten Ueberlieferung getreu das Bedürfniß unserer Leser nach Anregung und Fortbildung auf den verschiedenen Gebieten des Wissens, nach Einführung in die wichtigsten Fragen des öffentlichen Lebens, in die neuesten Errungenschaften der Wohlfahrtspflege, der Industrie und Technik auch für die Folge zu befriedigen. Wir haben uns dabei andauernd der Unterstützung einer Reihe von hervorragenden Schriftstellern und Fachmännern zu erfreuen, die den reichen Schatz ihrer Kenntnisse und Erfahrungen gerne für die weitesten Kreise nutzbar machen. So seien u. a. genannt:

R. Artaria.0 W. Berdrow.0 Anton Bettelheim.0 Hans Boesch.0 Carl Brandt.0 H. Brugsch-Pascha.0 V. Chiavacci.0 Rud. Cronau.0 Felix Dahn.0 Friedr. Dornblüth.0 Ernst Eckstein.0 C. Falkenhorst.0 Ludwig Ganghofer.0 Rud. v. Gottschall.0 Ferd. Groß.0 Eduard Grosse.0 Cornelius Gurlitt.0 Max Haushofer.0 L. Heck.0 F. Helbig.0 Woldemar Kaden.0 Theodor Kirchhoff.0 E. Heinrich Kisch.0 H. J. Klein.0 Rud. Kleinpaul.0 Paul Lindenberg.0 M. Wilh. Meyer.0 Adolf und Karl Müller.0Heinr. Noë.0 Elise Polko.0 W. H. Riehl.0 P. K. Rosegger.0 Karl Ruß.0 Paul Schellhas.0 Eduard Schulte.0 B. Schulze-Smidt.0 Friedr. Spielhagen.0 Alex. Tille.0 Rud. Virchow.0 Karl Vogt.0 Georg Winter.

Auf dem Gebiete der Illustration ist es unser unausgesetztes Bemühen, stetig mit der Zeit und der Verbesserung der technischen Hilfsmittel voranzuschreiten. Eine neue, besondere Beilage, welche mit dem Jahrgang 1894 ins Leben tritt, wird uns in den Stand setzen, den Ereignissen des Tages mit Bild und Wort besser, als dies seither möglich war, zu folgen. Gewiß werden unsere Leser es verstehen, daß wir durch diese wesentliche Vermehrung des Abbildungs- und Lesestoffes uns genöthigt sehen, für die Nummernausgabe – welche dadurch ebenfalls auf den schon seit Jahren bestehenden Preis der Heft- und Halbheftausgabe gestellt wird – eine kleine Erhöhung der Abonnementsgebühr um 15 Pfennig vierteljährlch eintreten zu lassen. –

Indem wir auch mit dem neuen Jahrgang den Beweis zu liefern hoffen, daß eine immer größere Vervollkommnung unseres Blattes das höchste, rastlos verfolgte Ziel unseres Strebens ist und bleiben wird, begrüßen wir alle unsere Freunde im deutschen Vaterlande und draußen in der Ferne mit einem herzlichen

Glückauf zum neuen Jahre!
Leipzig, im Dezember 1893.
Redaktion und Verlag der „Gartenlaube“.