Weltverbesserer (7)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Dr. J. O. Holsch
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Weltverbesserer. VII. Die moderne Philosophie als Weltverbessrerin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 44, S. 744, 746–747
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Johann Gottlieb Fichtes „Der geschlossene Handelsstaat“ als Ideengeber für Marx’ „ökonomischen Materialismus“
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[744]

Weltverbesserer.[1]

Von Dr. J. O. Holsch.
VII.
Die moderne Philosophie als Weltverbessrerin.

Von den praktischen Versuchen eines Cabet, Owen und Rapp drüben in der Neuen Welt der nordamerikanischen Freistaaten wenden wir den Blick wieder zurück aufs europäische Festland. Hier war man um dieselbe Zeit, gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts, an einem entscheidenden Wendepunkt angekommen. Die neuere Philosophie, insbesondere die deutsche, welche schon in Kant begonnen hatte, sich mit Eifer in das liebe Ich des Menschen selbst, in seine Anlagen und Kräfte zu versenken, suchte mit nie zuvor erreichter Gründlichkeit bis auf die tiefsten Wurzeln des menschlichen Daseins und der menschlichen Geschichte hinabzudringen. In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts setzten die bedeutendsten Geister, insbesondere auch Deutschlands, ihre Kraft für diese Arbeit ein. Das Ergebniß ihres Forschens war nicht bloß eine klarere, bestimmtere Erfassung der treibenden Ursachen der gesamten geistigen Entwicklung, man langte schließlich an bei einer umfassenden Kulturgeschichte des Menschengeschlechts überhaupt und schärfte so den Blick ganz besonders auch für die rein wirthschaftlichen Lebensvorgänge.

Schon Johann Gottlieb Fichte, der unmittelbare Nachfolger Kants, hat in seiner Staatslehre – insonderheit in dem genialen Werke „Der geschlossene Handelsstaat“ – mit vollem Bewußtsein sich daran gemacht, gerade auch die materiellen Lebensbedingungen seines Volkes zu überblicken; Hegel vollends, der klassische Zeuge des ganzen inneren Umschwungs um die Wende unseres Jahrhunderts, ist mit seinem Satze: „Alles Wirkliche ist vernünftig“ nicht bloß der Vater eines wahrhaft großartigen Aufschwungs der Geschichtsauffassung und Geschichtsdarstellung geworden, er hat auch die wirthschaftlichen Schranken der Wirklichkeit, insbesondere des Staates, deutlich dem Auge der Zeitgenossen enthüllt. Es ist daher weder die Thatsache ein Zufall, daß von Hegel die glänzendsten Namen unserer zeitgenössischen Historiker ihren Ausgang nehmen, noch die andere, daß von ihm ebenso unsere bedeutendsten Vertreter der Wirthschaftslehre, insbesondere auch diejenigen sozialistischer Färbung, ihr Bestes gelernt haben. Karl Marx und sein noch lebender Geistesverwandter Friedrich Engels waren ebenso verständnißvolle wie begeisterte Schüler des berühmten preußischen Staatsphilosophen Hegel, und Ferdinand Lassalle hat seine dicksten wissenschaftlichen Werke unter dem unmittelbaren Eindruck der Hegelschen Geschichtsauffassung niedergeschrieben.

Noch eine ganze Reihe von Namen und charakteristischen Erscheinungen könnte hier angezogen werden, um diesen geistigen Umschwung zu kennzeichnen, der gleichzeitig durch die anthropologischen Entdeckungen eines Darwin und anderer einen neuen Anstoß erhielt – allein für den Rahmen, den wir uns abgesteckt haben, genügt es, den Verlauf im großen Ganzen angedeutet zu haben.

So kann man sagen, daß die ganze soziale Bewegung, in welcher wir heute stehen, zwar ihren äußeren Anlaß und Untergrund der eigenartigen und namentlich seit Einführung der verschiedenen Kraftmaschinen reißend schnellen Umgestaltung der Produktionsbedingungen entnahm und entnimmt, daß aber die Formulierung ihrer Gedanken und die Begründung ihrer Forderungen aus der modernen Philosophie stammen. Sie ist es, welche die letzten Ursachen bloßlegt, sie ist es, welche die Ziele bestimmt, sie ist es auch schließlich, welche die Massen in Bewegung zu setzen unternimmt, sei es nun durch Anpassung der bestimmten Forderungen an die Gedankenkreise der Menschen, sei es durch den Versuch, eine „neue“ Weltanschauung zu bilden. Bei der führenden Rolle, welche dem deutschen Sozialismus in Europa zukommt und welche sich erst vor kurzem wieder auf dem internationalen Kongreß in Zürich (August 1893) erwiesen hat, erscheint es nothwendig, die edelsten Typen, auf die sich seine Weltverbesserungspläne stützen, in kurzen Umrissen vorzuführen. Wir sehen dabei zunächst von den rein politischen Zielen und Forderungen ab und halten uns lediglich an die wirthschaftlichen Ideen und Ideale.

Der deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte hat in seinem Werke „Der geschlossene Handelsstaat“ schon im Jahre 1800 ein vollkommenes sozialistisches System entworfen. Er weist zunächst nach, daß das Eigenthumsrecht im tiefsten Grunde nicht das Recht auf bestimmte „Sachen“ sondern auf bestimmte „Handlungen, Thätigkeiten“ sei, daß der Zweck aller menschlichen Thätigkeit der ist, leben zu können, und zwar so angenehm als möglich, und daß ein „Vernunftstaat“ derjenige Staat sei, welcher jedem Einzelnen dies nach Möglichkeit gewährleiste. Das Leben nach seiner wirthschaftlichen Seite hin besteht nun in Hervorbringung und gleichzeitigem Verbrauch von unbearbeiteten wie bearbeiteten Stoffen, welche jedem Einzelnen in gewissen Mengen zugeführt werden. Demgemäß sind nach Fichte der „Produzent“, dann der „Künstler“ – d. h. Verarbeiter jeder Art – und endlich der „Kaufmann“ die Grundbestandtheile der Nation; selbstverständlich zerfällt jeder dieser drei Stände wieder in mancherlei Unterabtheilungen. Der erste Stand, derjenige der Produktengewinner, ist die naturgemäße und nothwendige Grundlage des Staats, der höchste Maßstab, wonach alles übrige sich richtet. Ist die Leistungsfähigkeit desselben noch in der Kindheit, so darf der Staat nur wenige „Künstler“, d. h. Verarbeiter aller Art haben. Und so wie die Zahl der „Künstler“ – heutzutage würden wir sagen: der Gewerbetreibenden – von derjenigen der Urproduzenten abhängig ist, so die Zahl der „Kaufleute“ – d. h. der im Warenverkehr Thätigen – von der Zahl der beiden ersten Kategorien. Es ist nicht bloß ein frommer Wunsch, sondern es ist die unerläßliche Forderung des Rechts der Menschheit, daß sie so leicht, so frei, so gebietend über die Natur, so echt menschlich auf der Erde lebe, als es die Natur nur irgend verstattet. In einem gemäß dem Rechtsgesetze geordneten Staate müssen daher nach Fichte die drei Hauptstände der Nation gegeneinander genau berechnet und jeder auf eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern eingeschränkt, jedem Bürger muß ferner sein verhältnißmäßiger Antheil an allen Naturprodukten und Fabrikaten des Landes gegen seine ihm aufzuerlegende Arbeit ebenso wie den öffentlichen Beamten zugesichert sein. Zu diesem Behufe soll der Werth aller Dinge gegeneinander festgesetzt sein und jeder unmittelbare Handel der Bürger des Inlands mit dem Auslande wegfallen. Dieses Recht, andere von einer gewissen uns allein vorbehaltenen freien Thätigkeit auszuschließen, ist demnach für Fichte die einzige Grundlage alles Eigenthumsrechtes; er schließt daraus geradlinig, daß die Anordnung der wirthschaftlichen Thätigkeiten, d. h. der Arbeit im weitesten Sinn des Wortes, die von dem modernen Staat zu lösende Aufgabe sei. Während der Staat bisher nur einen abgesonderten [j]uridischen und politischen Körper bildete, setzt ihm [746] Fichte das Ziel, nun auch ein abgesonderter und namentlich nach außen hin geschlossener Produktions- und Handelskörper zu werden, so daß innerhalb seiner Grenzen auch das ganze wirthschaftliche Leben der Staatsbürger einer genauen staatlichen Erfassung und Regelung unterliege. Und das erst ist nach Fichte ein Staat, der den Namen „Vernunftstaat“ verdient.

Fichte hat diesen seinen Entwurf des „Vernunftstaates“ dem damaligen preußischen Finanzminister von Struensee gewidmet; er stellte sich den wirklichen Staat als im allmählichen Fortschritt zum Vernunftstaate begriffen vor. Somit verband er eine vollkommen ruhige Würdigung des Bestehenden mit den weitestgehenden Ansichten über den zukünftigen Staat. Gerade dies ist die wahrhaft philosophische Art seiner ganzen Betrachtungsweise und erinnert uns an die geistige Höhe der Ausführungen eines Thomas Morus. Wir sehen in Fichte einen „Weltverbesserer“, der sich voll bewußt bleibt der Schranken der Wirklichkeit, der aber diese Wirklichkeit nicht als etwas Vollendetes, sondern als etwas erst zur Vollendung Hinzuführendes betrachtet und gleichzeitig mit Hand anlegt zu diesem Fortschritt.

Man kann fast ohne Einschränkung behaupten, daß der Verfasser der „Reden an die deutsche Nation“, daß Fichte der eigentliche geistige Vater des nationalen Sozialismus im heutigen Deutschland ist. Dieser „nationale“ Sozialismus bildet von Ferdinand Lassalle an bis zu Georg von Vollmar jene mehr oder weniger deutlich hervortretende Unterströmung der ganzen sozialen Bewegung, welche mehr durch den Werth als durch die Menge ihrer Anhänger bedeutsam ist.

Weitaus die Mehrzahl der gegenwärtigen Sozialisten bekennt sich jedoch zur internationalen Sozialdemokratie. Diese ist unmittelbar durch Karl Marx ins Leben gerufen worden; ihr geistiger Vater aber ist Hegel, dessen ganze Art und Schule Marx in seinem Hauptwerke erkennen läßt.

Marx hat der gegenwärtigen politischen Sozialdemokratie Deutschlands ihre Glaubenslehre gegeben; das Dogma dieses Hohepriesters ist der „ökonomische Materialismus“, die Bibel aber sein umfangreiches Buch „Das Kapital“.

Es ist unvermeidlich, an dieser Stelle hierauf etwas näher einzugehen; ist doch jüngst bei den aufgeregten Verhandlungen des internationalen Sozialistenkongresses zu Zürich der alte Friedrich Engels (der „Aaron“ Marxens), nachdem er wie ein Patriarch von den versammelten Genossen aus aller Herren Ländern gefeiert worden war, auf die Tribüne gestiegen, hat auf das an der Wand hängende Bildniß von Karl Marx hingedeutet und gesagt: „Die ehrenvolle Aufnahme, die Ihr mir bereitet, nehme ich an, aber für den großen Mann, der von da oben auf uns herabblickt!“

Was ist denn nun eigentlich die Theorie des sogenannten „ökonomischen Materialismus“?

Man hatte früher die Begebenheiten der Geschichte und der Gegenwart, wenn auch nicht ganz, so doch zum größten Theil aus rein geistigen Triebfedern und Strömungen zu erklären gesucht. Karl Marx und mit ihm sein Freund Friedrich Engels, welche eine Zeitlang gewissermaßen einen einzigen Denkapparat zu bilden schienen, traten mit der Behauptung auf, daß alle geistigen Bewegungen einer Zeit, und zwar von den politischen Redeturnieren an bis zu den charakteristischen Aeußerungen der Dichtkunst, keinerlei „metaphysische“ Hintergründe und Ursachen hätten, daß sie vielmehr einzig und allein durch den wirthschaftlichen Charakter der Gegend, der Thätigkeit eines Zeitalters bestimmt würden. Diese Anschauung wird in die Geschichte zurückverfolgt und aus ihr weiterhin geschlossen, daß die leitenden Gedanken und Grundsätze jedes Zeitalters und Volkes lediglich bedingt seien durch die „wirthschaftliche Unterstruktur“ der betreffenden Zeit, des betreffenden Volkes, daß also alle übrigen geistigen Aeußerungen nur als „Ueberbau“, gewissermaßen als zweites Stockwerk zu betrachten seien. Die Gegenwart, so wird weiterhin gesagt, trage „kapitalistischen“ Charakter, d. h., das bewegliche Geld- und Sachkapital beherrsche die Gütererzeugung, beherrsche daher auch die Gütererzeuger und eben damit bilde es die Denkapparate derselben in ganz bestimmte Formen. Der Einzelne erscheint hierbei als durchaus unselbständiges Erzeugniß seiner Umgebung, und für diesen Begriff der „Umgebung“ haben die Anhänger der Theorie den eigenthümlichen Ausdruck „Milieu“ gefunden. Keiner kann aus seinem „Milieu“, d. h. aus den wirthschaftlichen Bedingungen, in denen er lebt, herauskommen. Da der Besitz von Kapital in der gegenwärtigen Periode die unerläßliche Grundlage für die Produktion ist, eine Produktion, die sich als Marktproduktion bezw. Weltmarktproduktion kennzeichnet, so ist der Kapitallose von vornherein von jeder Betheiligung an derselben ausgeschlossen und der jeweils größere Kapitalist schlägt den kleineren aus dem Markte. Schließlich werden bei diesem Verdrängungskampfe die Kapitalbesitzer ganz groß, es existiert ihrer nur noch eine Handvoll, und ihnen gegenüber steht eines schönen Tages das ganze Heer kapitalloser, lediglich auf ihrer Hände Arbeit angewiesener „Proletarier“ der Hand-, Maschinen- und Geistesarbeit. Dann aber – dreht sich nach Marx plötzlich wieder der Stiel um, die seitherigen „Expropriateurs“ (Enteigner) werden ihrerseits durch das politisch und wirthschaftlich geschulte Proletariat expropriiert, mit anderen Worten, die jetzt noch bestehende sogenannte kapitalistische Gesellschaftsordnung wird abgelöst durch die sozialdemokratische, durch die wahrhaft „gesellschaftliche“, oder wie gewöhnlich gesagt wird, durch die „kollektivistische“.

Der wirthschaftliche Entwicklungsgang selbst wäre es demnach, der die Kräfte heranschult, welche die neue Zeit heraufführen sollen. Das Proletariat wird nach Marx um so „klassenbewußter“, je weiter die kapitalistische Entwicklung fortschreitet, und da alle Staaten der Gegenwart mehr oder weniger in die „kapitalistische Produktionsperiode“ eingetreten sind, so ist die logische Folgerung die, welche jener Mann auch bei der Gründung der sogenannten „Internationalen Arbeiterassoziation“ ausgesprochen hat: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“

Der Weltverbesserungsplan, den die moderne Sozialdemokratie mit dieser Grundanschauung hegt, geht also dahin, durch „Aufklärung“ der Massen über ihre wirthschaftliche Lage vermittelst des allgemeinen Wahlrechts die politische Macht in die Hand zu bekommen, um dann erst die jetzige kapitalistische Gesellschaft in die neue sozialistische zu verwandeln. Es genügt, in diesem Zusammenhange die Namen Bebel, Liebknecht und Singer als die Führer einer nunmehr 45 Köpfe starken, politisch sehr einflußreichen Partei im Deutschen Reichstage zu nennen, um anzudeuten, welche Entwicklung die „Internationale“ im Laufe ihres erst dreißigjährigen Bestehens genommen hat.

Die Vertreter der Sozialdemokratie erheben in ihren wissenschaftlichen Werken wie in ihrer Presse den Anspruch, nicht als „Weltverbesserer“ im schlimmen Sinn dieses Wortes behandelt zu werden. Sie weisen darauf hin, daß sie nicht bloß die „Bourgeoisie“, d. h. die von ihnen so ehrlich gehaßte „herrschende“ Klasse, sondern auch sich selbst und ihre ganze Auffassung der Lage als ein nothwendiges Erzeugniß der wirthschaftlichen Entwicklung ansehen und daß sie wohl wüßten: ehe nicht das Großkapital alle Schichten der überwiegenden Mehrheit eines Volkes zerrieben habe, sei von einem Siege ihrer Sache keine Rede. Allein dieser Einwand ist deshalb gegenstandslos, weil die Frage sich darum dreht, ob denn überhaupt diese ihre Ansicht über das Entwicklungsgesetz der „Gesellschaft“ richtig ist. Selbst wenn man annähme, daß die Zusammenziehung des Kapitals und die Verwandlung der Mehrheit der Bevölkerung in besitzlose Proletarier durch die Statistik in dem Maße bewiesen werden könnte, wie es die Vertreter der sozialdemokratischen Partei durch vielfach recht ungenügende Zahlenzusammenstellungen versuchen – selbst dann müßte man in höchstem Maße bezweifeln, daß dieses bisher rücksichtslos niedergedrückte und expropriierte Proletariat nun plötzlich sollte die wirthschaftliche und geistige Kraft besitzen, um eine gesellschaftliche Produktion zu üb[e]rblicken und einzuführen. Ganz abgesehen davon, daß von einer in allen Staaten gleichzeitig eintretenden Reife der kapitalistischen Produktionsweise und daher auch des Proletariats nun und nimmer die Rede sein kann, daß also die neue „Gesellschaftsordnung“ stets von irgend einem national abgegrenzten Gebiete ihren Ausgang nehmen müßte – – – ganz abgesehen davon giebt es einen Faktor, der jedem Versuch, ihn in eine demokratisch-internationale Schablone zu zwingen, stets Hohn sprechen wird.

Dieser Faktor ist die Landwirthschaft. Weitaus der größte Theil aller Erzeugnisse auch in den höchst entwickelten modernen Staaten ist vorläufig noch gar nicht einer maschinellen, vollkommen berechenbaren Erzeugungsweise zugänglich. Das Deutsche Reich beispielsweise hat im Jahre 1890 etwa 16 Millionen Tonnen Getreide aller Art im Werthe von etwa 2600 Millionen Mark, 23 Millionen Tonnen Kartoffeln im Werthe von etwa 1200 Millionen Mark und etwa 19 Millionen Tonnen Wiesenheu [747] im Werthe von vielleicht 600 Millionen Mark erzeugt; das sind allein 4 bis 5 Milliarden Mark Jahreseinkommen in nur 3 der wichtigeren landwirthschaftlichen Waren. Diese Mengen allein übertreffen schon den Werth der ganzen auswärtigen Handelsbewegung. Nun ist es zweifellos, daß auf dem Gebiete der Landwirthschaft, bei Anwendung genau derselben menschlichen Arbeitskraft und auch bei der höchst entwickelten Technik, infolge ungünstiger Temperaturen etc. im einen Jahre vielleicht Tausende von Millionen weniger an Werthen erzeugt werden als im anderen Jahre. Auch dann also, wenn die „antikollektivistischen“ Bauern sich heute schon der Lehre des rheinischen Advokatensohnes Karl Marx geneigter zeigen würden, als sie es thun – auch dann stieße eine „gerechte“ Behandlung der vorläufig noch den Ausschlag gebenden landwirthschaftlichen Warenerzeugung von Jahr zu Jahr auf so große Schwierigkeiten, daß jedenfalls nicht die menschliche „Arbeit“ das Entscheidende bei Bemessung des Antheils am gemeinsamen Produktionserfolg sein könnte. Nicht einmal für die Beurtheilung der Handarbeiter unter sich würde jener Maßstab ausreichen. Diese Voraussetzung liegt aber der ganzen Marx’schen Theorie zu Grunde, eben weil sie nichts anderes ist als eine voreilige und auf einseitiges Thatsachenmaterial aufgebaute Verallgemeinerung der industriellen Entwicklung Englands in den Jahren 1800 bis 1860.

Wir können also sagen: das Utopische, das Vergebliche in den Weltverbesserungsplänen unserer heutigen Sozialdemokratie liegt darin, daß die Führer die Vorstellungen, Begriffe und Wahrheiten, die sie der industriellen Wirthschaftsentwicklung entnommen haben und entnehmen, ohne weiteres auf die ganz anderen Gesetzen und Thatsachen unterworfene Landwirthschaft anwenden. Wer nur immer die Gewerbe- und Bevölkerungsstatistik der letzten fünfzig Jahre verfolgt, wird binnen kurzem finden, daß während die Erzeugung in gewissen industriellen Artikeln sich um das fünf-, zehn-, ja zwanzigfache gesteigert hat, die der Landwirthschaft sich vielfach gleichgeblieben ist oder nur sehr unwesentliche Fortschritte gemacht hat. Wer aber sein ganzes Leben innerhalb der Pflastersteine einer modernen Fabrikstadt zugebracht hat und nur ihr riesiges Anschwellen vor sich sieht, der ist leicht geneigt, das zu übersehen, was draußen im Lande geschah oder nicht geschah – – – und so dürfte die Weltanschauung des „ökonomischen Materialismus“ auch nichts anderes sein, als was so manche Weltanschauung vor ihr gewesen ist, nämlich eine einseitige und daher zur Erklärung des Ganzen unfähige Verallgemeinerung gewisser Theilwahrheiten und Entwicklungserscheinungen.

Es verdient hervorgehoben zu werden, daß die Zukunftsbilder der offiziellen Sozialdemokratie im allgemeinen ziemlich optimistisch angehaucht sind. Und doch könnten manche Erscheinungen der Gegenwart viel eher zu einer anderen, weit weniger erfreulichen Ansicht über die Zukunft der Völker Europas verleiten. Man könnte, im Rückblick auf den riesenhaften Verfaulungsprozeß des alten römischen Weltreiches, zu der Befürchtung geneigt sein, daß wie die „Großgrundbesitze Rom ins Verderben gestürzt haben“ – latifundia perdidere Romam – so die Zusammenballung des industriellen und sonstigen beweglichen Reichthums in wenigen Händen bei uns in anderer Form die Kultur zersetzen müsse.

Von diesen überängstlichen Bedenken werden in der That manche heiße Vaterlandsfreunde gepeinigt: ihr Blick richtet sich daher hinaus in eine andere Welt, aber nicht in eine solche des phantastischen Nirgendwo, nicht in eine blasse Zukunft – sondern in erreichbare noch unkultivierte Erdtheile und Landstriche.

Die landlosen Kinder einer überfeinerten Kultur sehnen sich hinaus nach einem neuen, nach einem „freien Land“!