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Die Gartenlaube (1893)/Heft 7

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[101]

Nr. 7.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Freie Bahn!

Roman von E. Werner.
(6. Fortsetzung.)

Mit einer kurzen Verbeugung lud Egbert die Baroneß ein, ihm zu der Sprengstätte zu folgen, und gab dann die von ihr gewünschte Erläuterung der Arbeiten sehr ausführlich; während er jedoch die schon vorbereitete Mine in dem noch aufrecht stehenden Theile der Felswand zeigte und erklärte, wendete er seine ganze Aufmerksamkeit dem Gestein zu und hatte kaum einen Blick für seine schöne Zuhörerin, die jetzt lächelnd sagte:

„Wir haben die Sprengung von dort drüben aus mit angesehen, es machte sich äußerst wirkungsvoll. Sie thronten droben auf der Anhöhe wie der Berggeist in höchst eigener Person – die anderen alle wie dienende Erdgeister zu Ihren Füßen – ein Wink Ihrer Hand, und mit dumpfem Donner spalteten sich die Felsen und sanken in Trümmer – ein echtes Märchenbild!“

„Kennen Sie denn die Sagen und Märchen unserer Berge?“ fragte Egbert kühl. „Ich habe das wirklich nicht vorausgesetzt.“

Vor dem Kommando „Friß!
Originalzeichnung von A. Specht.

[102] „Das ist auch nur Majas Verdienst. Sie hat mich eingeführt in die Sagenwelt ihrer Heimath, und ich habe die Kleine im Verdacht, daß sie noch in vollem Ernst daran glaubt. Maja ist bisweilen noch ein rechtes Kind.“

Die letzten Worte klangen sehr überlegen. Der schlanken jungen Dame, die da im knappen silbergrauen Reitkleide, ein graues Federhütchen auf dem dunklen Haar, an der Felswand lehnte, konnte man allerdings nicht den Vorwurf machen, noch ein Kind zu sein. Sie blieb selbst hier die vornehme Weltdame, der es Spaß machte, sich auch einmal die arbeitenden Menschenkinder anzusehen. Und doch war sie berückend schön in dieser übermüthigen selbstbewußten Haltung; strahlend, siegesgewiß stand sie vor dem Manne, der allein kein Auge und Ohr zu haben schien für einen Zauber, welcher doch sonst nie versagte. Vielleicht reizte gerade diese Unempfindlichkeit das verwöhnte Mädchen, das jetzt in neckischem Tone fortfuhr:

„Ich habe bei jenem Märchenbilde, dessen Mittelpunkt Sie bildeten, an die alte Sage von der Springwurzel denken müssen. Das ist ja der geheimnisvolle Zauberstab der Berge, dem jeder Riegel weicht und jeder Fels sich öffnet. Und dann leuchten die versunkenen Schätze in der Tiefe und winken dem Erwählten, der sie erlösen soll:

‚Er hebt aus Nacht und Dunkel
Den goldnen Wunderschrein,
Und all das Schatzgefunkel
Und all das Gold ist sein!‘

Was meinen Sie – bin ich nicht Majas gelehrige Schülerin gewesen?“

Sie blickte ihn lächelnd an, als sie den Vers des alten Liedes wiederholte, das von der allmächtigen Springwurzel berichtet; aber die starre Haltung des jungen Ingenieurs veränderte sich nicht trotz all ihrer Liebenswürdigkeit. Sein von Sonne und Wind gebräuntes Gesicht war um einen Schein bleicher als sonst, allein seine Stimme klang kühl und beherrscht, als er antwortete:

„Unsere Zeit bedarf keiner Zaubermittel mehr. Sie hat eine andere Springwurzel gefunden, die auch Felsen spaltet und die Erde öffnet – Sie sehen es ja!“

„Ja wohl, ich sehe öde Felstrümmer, Schutt und zersplittertes Gestein, aber die Schätze bleiben versunken in der Tiefe.“

„Die Tiefe ist leer und tot – es giebt keine versunkenen Schätze mehr.“

Die Antwort klang herb und freudlos, und der Ton, in welchem sie gesprochen wurde, milderte nicht ihre Schroffheit.

„Vielleicht ist nur das Zauberwort verloren gegangen, ohne welches die Wurzel machtlos bleibt,“ erwiderte Cäcilie leichthin, ohne scheinbar seine abweisende Haltung zu bemerken. „Meinen Sie nicht, Herr Runeck?“

„Ich meine, gnädiges Fräulein, daß die Zauber- und Märchenwelt längst hinter uns liegt. Wir verstehen sie nicht mehr, wollen sie nicht mehr verstehen.“

Es lag etwas beinahe Drohendes in den anscheinend so bedeutungslosen Worten. Cäcilie biß sich auf die Lippen, und mitten durch die sonnige Liebenswürdigkeit brach ein feindseliger Strahl ihrer Augen, dann aber lachte sie hell auf.

„Wie grimmig das klingt! Die armen Gnomen und Zwerge haben einen schlimmen Feind an Ihnen. Höre nur, Erich, wie Dein Freund die ganze Sagenwelt in Acht und Bann thut!“

„Ja, mit solchen Dingen darf man dem Egbert nicht kommen,“ sagte Erich, der eben herzutrat. „Mit der Poesie giebt er sich nicht ab, die kann man nicht messen und berechnen, also ist sie in seinen Augen ein höchst überflüssiges Ding. Ich habe es ihm noch heute nicht vergeben, wie er die Nachricht meiner Verlobung aufnahm, mit einem förmlichen Mitleid! Und als ich ihm entrüstet vorwarf, er kenne die Liebe überhaupt nicht, wolle sie gar nicht kennenlernen – was glaubst Du wohl, Cäcilie, was ich zur Antwort erhielt? Ein eisiges ‚Nein‘!“

Cäcilie richtete die großen dunklen Augen auf den jungen Ingenieur, und wieder blitzte der dämonische Funke darin auf, als sie lächelnd sagte:

„Und das war wirklich Ihr Ernst, Herr Runeck?“

Es vergingen einige Sekunden, ehe er antwortete. Er schien noch bleicher als vorhin, aber sein Auge begegnete voll und finster jenem Blick, während er kalt entgegnete: „Ja, mein gnädiges Fräulein.“

„Du hörst Du es selbst,“ rief Erich, ärgerlich lachend. „Er ist so hart wie diese Felsen.“

Die junge Dame schlug mit der Reitpeitsche leicht gegen die Felstrümmer, die vor ihr lagen.

„Mag sein. Aber auch Felsen können zum Weichen gebracht werden, wie diese hier. Hüten Sie sich, Herr Runeck, Sie haben die geheimnißvollen Mächte gehöhnt und geleugnet – sie rächen sich!“

Die Worte sollten wohl scherzhaft klingen, und doch wehte es wie Hohn daraus hervor, Egbert erwiderte keine Silbe, während Erich verwundert vom einen zum anderen blickte.

„Wovon ist denn die Rede?“ fragte er.

„Von der Springwurzel, welche Felsen spaltet und die Schätze der Erde öffnet, wir sprachen soeben davon. – Aber ich denke, wir brechen jetzt auf, wenn es Dir recht ist.“

Erich stimmte bei und wandte sich dann zu Runeck.

„Es soll weiter gesprengt werden, wie ich sehe, Du wartest wohl damit, bis wir außer dem Bereich der Schlucht sind. Unsere Pferde wurden vorhin schon sehr unruhig dabei, der Reitknecht konnte sie kaum halten.“

Um Cäciliens Lippen spielte wieder das böse verächtliche Lächeln, sie hatte es sehr gut bemerkt, daß ihr Bräutigam vorhin bei den dumpfen Schlägen der Explosion zusammengezuckt war und den Reitknecht an seine Seite gerufen hatte. Auch ihr Pferd war sehr unruhig dabei geworden, aber sie hatte es fest im Zügel gehalten, Indessen unterdrückte sie jede Bemerkung und sagte nur, während Egbert sie und Erich nach dem Platz geleitete, wo die Pferde standen:

„Unseren Dank für die freundliche Führung und Erklärung! Sie werden froh sein, die störenden Gäste wieder los zu werden.“

Runeck verneigte sich tief und förmlich, „O, ich bitte! Erich steht ja hier als Herr auf seinem eigenen Boden, da kann von einer Störung wohl nicht die Rede sein.“

„Und doch schien es so, Sie waren ja förmlich bestürzt, als Sie uns am Eingange der Schlucht gewahrten.“

„Ich? Haben Sie so scharfe Augen, gnädiges Fräulein?“

„O ja, Erich neckt mich oft wegen meines ‚Falkenblicks‘.“

„In diesem Falle hat der Blick Sie aber doch getäuscht. Ich war nur besorgt, als ich Sie in solcher Nähe erblickte – man kann nie wissen, was geschieht.“

Die Reitpeitsche schlug ungeduldig gegen die Falten des silbergrauen Reitkleides. Glitt denn alles ab an diesem „Fels“?

Sie hatten inzwischen die harrenden Pferde erreicht, Cäcilie und Erich stiegen auf, Cäcilie neigte noch mit leichtem Gruße das Haupt, dann traf ein heftiger Schlag mit der Gerte ihren schönen Goldfuchs – das feurige Thier bäumte sich auf und setzte sich sofort in Galopp, so daß das andere ihm kaum zu folgen vermochte. Sie waren noch etwa fünf Minuten lang auf dem Waldweg sichtbar, der nach Radefeld führte. Wie ein luftiger Spuk flog die schlanke Mädchengestalt auf dem flüchtigen Rosse dahin, mit dem wallenden Reitkleid und den wehenden Federn des Hutes. Noch einmal tauchte sie an der Biegung dort auf, dann schloß sich hinter ihr der Wald.

Egbert stand noch unbeweglich an seinem Platze und blickte mit heißen starren Augen auf den Waldweg. Seine Lippen waren fest zusammengepreßt, und in seinen Zügen stand ein seltsamer Ausdruck, wie von verbissenem Schmerz oder Zorn; endlich richtete er sich empor und wandte sich zum Gehen.

Da gewahrte er etwas zu seinen Füßen, weiß und duftig wie hingewehter Blüthenschnee. Der junge Mann stockte plötzlich, dann beugte er sich langsam nieder und hob es auf. –

Es war ein feines spitzenbesetztes Taschentuch, aus dem ein leiser süßer Duft hervordrang; schmeichelnd und berückend umfing er Egbert und unwillkürlich schlossen sich seine Finger fest und fester um das zarte Gewebe.

„Herr Ingenieur!“ sagte eine Stimme hinter ihm.

Runeck fuhr auf und wandte sich um. Es war der alte Mertens.

„Die Leute möchten wissen, ob sie nun weiter sprengen dürfen, es ist alles fertig.“

[103] „Gewiß, ich komme sogleich. – Mertens, Sie gehen ja wohl heute abend nach Odensberg?“

„Ja, Herr Ingenieur, ich will den Sonntag bei meinen Kindern verleben.“

„Gut, so nehmen Sie –“ Runeck hielt inne, und der Alte sah ihn verwundert an. Es war ja gerade, als ob der Herr Ingenieur mühsam nach Athem ringen müsse. Doch das dauerte nur eine Sekunde, dann fuhr dieser mit eigenthümlich rauher Stimme fort: „Nehmen Sie das Tuch hier mit und geben Sie es im Herrenhause ab. Baroneß Wildenrod hat es verloren.“

Mertens nahm das dargereichte Tuch und steckte es in seine Tasche, während Egbert zu den Arbeitern zurückkehrte, die auf sein Erscheinen warteten. Er gab das Zeichen, und die „Springwurzel“ der neuen Zeit that ihre Schuldigkeit. Unter dumpfen Schlägen spaltete sich der noch unversehrte Fels, der so hoch und trutzig dagestanden. Er erzitterte, wankte und stürzte dann, Bäume und Gesträuch mit sich reißend, in Trümmern zu Runecks Füßen.




„Wie ich Ihnen sage, mein Fräulein, die Nerven sind eine bloße Angewohnheit und zwar eine der allerschlimmsten. Seit die Damen die Nerven erfunden haben, sind wir Aerzte die geplagtesten Menschen auf der ganzen Welt. Es mag ja Ehemännern gegenüber eine recht nützliche Erfindung sein, aber ein hartgesottener Junggeselle wie ich hat nicht den mindesten Respekt davor.“ Mit diesen Worten schloß Doktor Hagenbach eine längere Auseinandersetzung, die im Zimmer des Fräulein Friedberg stattfand. Leonie, die blaß und angegriffen aussah, hatte um seinen ärztlichen Besuch bitten lassen und sich auf seine Fragen für „durch und durch nervös“ erklärt. Dergleichen pflegte den Doktor aber stets in Harnisch zu bringen und auch heute rief es sofort jenen Ausfall hervor, den das Fräulein mit einem Achselzucken beantwortete.

„Ich glaube, Herr Doktor, Sie sind der einzige Arzt, der das Dasein der Nerven ableugnet,“ versetzte sie. „Ich dächte, die Wissenschaft –“

„Was die Wissenschaft ‚Nerven‘ nennt, hat meine vollkommene Hochachtung,“ wurde sie von Hagenbach unterbrochen. „Was die Damen dafür ausgeben, existiert gar nicht. Warum lassen Sie sich nicht von dem Sanitätsrath in der Stadt behandeln, der vor jedem einzelnen Nerv seiner Kranken eine tiefe Verbeugung macht, oder von einem meiner jungen Kollegen hier in Odensberg, die auch noch mit einer gewissen Schüchternheit an die Geschichte herangehen. Wenn Sie sich in meine Hände geben, geschieht es auf Gnade und Ungnade, das wissen Sie doch.“

„Ja, das weiß ich!“ Die Antwort klang ziemlich gereizt. „Und nun bitte ich um Ihre Verordnungen.“

„Die Sie sich natürlich vornehmen, nicht zu befolgen. Aber das hilft Ihnen nichts, ich übe strenge Aufsicht. Zunächst also, die Luft in Ihrem Zimmer taugt nichts, sie ist viel zu dumpf und schwer, öffnen wir vor allen Dingen die Fenster.“

„Ich bitte,“ widersprach Leonie mit Heftigkeit. „Wir haben scharfen Nordwind, den ich durchaus nicht vertrage.“

„Wundervolle Luft!“ sagte Hagenbach, indem er ohne weiteres an das Fenster ging und beide Flügel aufsperrte. „Sind Sie gestern im Freien gewesen?“

„Nein, wir hatten ja Sturm und Regen.“

„Dafür giebt es Regenschirme und Regenmäntel, die ich unbedenklich gestatte. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrem Zögling – da unten im Park segelt Fräulein Maja ganz lustig gegen den Sturm, und das winzige Ding, der Puck, segelt ebenso vergnügt mit, obgleich er beinahe fortgeweht wird.“

„Maja ist jung, ein glückliches Kind, das noch nichts kennt als Lachen und Sonnenschein,“ sagte Leonie mit einem Seufzer. „Sie weiß noch nichts von Trauer und Thränen, von all dem Schweren und Bitteren, das vom Schicksal uns auferlegt wird und unsere Kraft zerstört.“ Ihr Auge suchte dabei unwillkürlich den Schreibtisch, über dem eine größere Photographie in dunklem Rahmen den Hauptplatz an der Wand einnahm. Es mußte sich wohl irgend eine theure und schmerzliche Erinnerung an das Bild knüpfen, denn es war mit einer Trauerschleife von schwarzem Flore geschmückt, und eine Schale voll duftender Veilchen stand wie eine Opfergabe zu seinen Füßen.

Den scharfen Augen des Doktors war jener Blick nicht entgangen, er trat wie zufällig an den Schreibtisch und begann die dort befindlichen Bilder zu mustern, während er trocken bemerkte: „Schicksale hat jeder Mensch, aber sie tragen sich weit besser mit einem gesunden Humor als mit Trauer und Thränen. – Ah, da ist ja das Bild von Fräulein Maja – sehr ähnlich! Und daneben ihr Bruder – merkwürdig, daß er dem Vater so gar nicht gleicht. – Wen stellt denn diese Photographie vor?“

Er wies auf das Bild mit der Trauerschleife. Die unerwartete Frage schien Leonie in Verlegenheit zu setzen, sie erröthete und antwortete mit etwas unsicherer Stimme: „Einen – einen Verwandten!“

„Ihren Herrn Bruder vielleicht?“

„Nein, einen Vetter – ganz entfernte Verwandtschaft.“

„So?“ fragte Hagenbach gedehnt. Die entfernte Verwandtschaft schien ihn zu interessieren, er besah sich die Züge des blassen und schmächtigen jungen Mannes mit den glattgescheitelten Haaren und den schwärmerisch aufgeschlagenen Augen sehr genau und fuhr dann in gleichgültigem Tone fort: „Das Gesicht hat etwas Bekanntes für mich, ich muß es schon irgendwo gesehen haben.“

„Da sind Sie im Irrthum.“ Die Stimme Leonies bebte hörbar. „Er weilt längst nicht mehr unter den Lebenden. Schon seit Jahren deckt ihn das Grab: der heiße Wüstensand Afrikas.“

„Gott hab’ ihn selig!“ sagte der Doktor mit empörender Gleichgültigkeit. „Aber wie ist er denn nach Afrika und in den Wüstensand gerathen? Als Forscher vielleicht?“

„Nein, er starb als Märtyrer einer heiligen Sache. Er hatte sich einer Heidenmission angeschlossen und erlag dem Klima.“

„Da hätte er auch was Gescheiteres thun können!“

Leonie, die eben in tiefster Rührung ihr Taschentuch an die Augen führte, hielt entrüstet inne. „Herr Doktor!“

„Ja, ich kann mir nicht helfen, mein Fräulein. Ich halte es zunächst für sehr überflüssig, die schwarzen Heiden da hinten in Afrika zu bekehren, während so viele weiße Heiden hier in Deutschland herumlaufen, die nichts vom Christenthum wissen wollen, obgleich sie getauft sind. Wenn Ihr Herr Vetter als wohlbestallter Pfarrer seiner Gemeinde das Wort Gottes gepredigt hätte –“

„Er war nicht Theologe, sondern Lehrer,“ warf das Fräulein gereizt ein.

„Gleichviel, dann hätte er der lieben Schuljugend die Gottesfurcht beibringen sollen. Die Rangen haben heutzutage wenig genug davon.“

Leonies Gesicht verrieth, wie empört sie über diese Ausdrucksweise war, die Antwort jedoch blieb ihr erspart, denn in diesem Augenblick ließ sich ein schüchternes Klopfen an der Thür hören, und gleich darauf trat Dagobert ein, war aber kaum imstande, seinen Gruß anzubringen, denn der Onkel rief ihm mit seiner dröhnenden Stimme entgegen: „Heute wird kein Englisch getrieben! Fräulein Friedberg hat sich eben für ‚durch und durch nervös‘ erklärt, und die Nerven und die Grammatik vertragen sich nicht.“

Dem jungen Manne mußte wohl sehr an dem Unterricht gelegen sein, denn er wurde bei dieser Ankündigung ganz bestürzt. Leonie aber sagte mit aller Bestimmtheit: „Bitte, bleiben Sie, lieber Dagobert! Unsere englischen Studien sollen nicht darunter leiden, wir halten die gewohnte Stunde. Ich hole nur unsere Bücher.“ Damit stand sie auf und ging ins Nebenzimmer.

Der Doktor sah ihr ärgerlich nach. „Ich habe noch nie eine so widerspenstige Patientin gehabt! Immer der verkörperte Widerspruch! Höre, Dagobert, Du weißt ja hier ziemlich genau Bescheid – was ist das für ein Mensch, der dort drüben hängt?“

„Hängt? Wo?“ fragte Dagobert entsetzt, indem er schaudernd nach den Bäumen des Parkes hinüberblickte.

„Nun, an einen Strick brauchst Du nicht gleich zu denken,“ fuhr ihn der Onkel an. „Ich meine das Bild da über dem Schreibtisch, mit der verrückten Trauer- und Veilchenumrahmung.“

„Das ist ein Verwandter des Fräuleins, ein Vetter –“

„Ja wohl, ein ganz entfernter! Das hat sie mir auch gesagt, ich glaube es aber nicht – es wird wohl der selig verstorbene Bräutigam sein. Langweilig genug sieht er dazu aus. Weißt Du vielleicht seinen Namen?“

„Das Fräulein hat ihn mir einmal genannt – Engelbert.“

[104] „Nun heißt der Mensch auch noch Engelbert!“ rief der Doktor ärgerlich. „Der Name ist gerade so sentimental wie das ganze unausstehliche Gesicht. Engelbert und Leonie – das paßt ja ausgezeichnet zusammen! Die beiden werden wohl in schwermuthsvoller Sehnsucht miteinander gesäuselt haben wie ein paar Trauerweiden.“

„Er ist ja tot, der Arme,“ warf Dagobert ein.

„Wird wohl im Leben auch nicht viel Gescheites angefangen haben,“ grollte Hagenbach, „Und besonders gute Nahrung scheint er auch nicht gehabt zu haben, ehe er in den Wüstensand gerieth. Es ist eine wahre Jammergestalt! Uebrigens muß ich jetzt fort, ich lasse mich dem Fräulein empfehlen. Viel Vergnügen zu der ‚nervösen‘ englischen Stunde!“

Damit nahm der Doktor Hut und Stock und ging. Mißmuthig stieg er die Treppe hinunter, der „sentimentale Wüstenmensch“ schien ihm die Laune gründlich verdorben zu haben. Plötzlich blieb er stehen.

„Ich habe dies Gesicht schon irgendwo gesehen, dabei bleibe ich. Aber merkwürdig – es sah ganz anders aus!“ Mit diesem geheimnißvollen Ausspruch schüttelte er unmuthig den Kopf und verließ das Haus.

Das Wetter draußen nahm sich in der That nicht sehr einladend aus, es war einer jener kalten stürmischen Frühlingstage, wie sie in den Bergen so häufig sind. Zwar sah es nicht mehr winterlich öde aus wie vor einigen Wochen, die Bäume hatten sich schon mit frischem Grün umkleidet und auf Feldern und Wiesen erblühten die ersten Blumen, aber es ging recht langsam vorwärts mit diesem Blühen und Wachsen, denn der Sonnenschein fehlte.

Dunkle Wolkenzüge jagten am Himmel dahin, die Baumwipfel beugten sich sausend im Winde, aber das kümmerte das junge Mädchen nicht, welches mit leichten Schritten auf einem schmalen Waldpfad vorwärts eilte. Maja wußte zwar, daß der Vater es nicht liebte, wenn sie allein so weite Spaziergänge unternahm, sie war auch anfangs nur an der Grenze des Parks umhergestreift, allein dann jagte Puck über die Wiesen und sie jagte ihm nach, und dann ging es in den Wald hinein, nur eine kleine Strecke, aber es war so schön dort unter den brausenden Tannen, es lockte sie weiter und weiter in die grüne Einsamkeit. Welche Lust, einmal so ganz allein umherzulaufen, mit dem bellenden Puck um die Wette! Maja vergaß über diesem Vergnügen vollständig die Rückkehr, bis sie etwas unsanft daran gemahnt wurde.

Die dunklen Wolken, die schon den ganzen Tag gedroht hatten, schienen endlich Ernst machen zu wollen, es fing zu regnen an, erst leise, dann immer stärker, und bald stürzte ein Guß vom Himmel herab, der an Heftigkeit einem echten Gewitterregen nicht das Mindeste nachgab.

Maja hatte sich unter eine große Tanne geflüchtet, aber sie fand doch nur für den Augenblick Schutz. Es dauerte nicht lange, so tropfte und rieselte es von allen Zweigen, sie stand wie unter einer Dachtraufe. Und dabei wurde der Himmel immer dunkler. Das war kein schnell vorübergehender Regenschauer, da blieb nichts übrig, als in möglichster Eile nach dem Waldhäuschen zu laufen, das nur zehn Minuten entfernt war und ein sicheres Obdach bot. Gedacht, gethan! Das junge Mädchen stürmte dahin über Stock und Stein, auf dem nassen Moosboden, zwischen triefenden Bäumen, endlich über eine Waldlichtung, wo Wind und Regen sie mit voller Gewalt überfielen, bis sie endlich athemlos und durchnäßt mit ihrem kleinen vierfüßigen Begleiter in dem Waldhäuschen ankam.

Das Häuschen gehörte zu der Odensberger Försterei, lag aber fast eine halbe Stunde von dieser entfernt, mitten im Walde. Zur Winterszeit, wenn tiefer Schnee gefallen war, fütterte man hier das hungernde Wild und barg ebenda die Vorräthe für die Thiere. Es war eine kleine, nur aus Brettern und Baumstämmen zusammengefügte Hütte, mit einem wetterfesten Dach und zwei niedrigen Fenstern, jetzt im Frühjahr gänzlich leer und unbenutzt, aber ein willkommener Zufluchtsort für die beiden Flüchtlinge.

Maja schüttelte sich, daß die Tropfen nach allen Richtungen sprühten. Ihrem Regenmantel hatte der Guß nichts geschadet, obgleich das Wasser aus den Falten floß, aber ihr Hütchen, das sie jetzt vom Kopfe nahm, war um so übler zugerichtet. Das zierliche Ding mit seinen Spitzen und Federn war nur noch eine formlose Masse, und nicht viel besser nahm sich Puck aus. Sein weißes Fellchen triefte, die langen, sonst seidig glänzenden Haare hingen in nassen Strähnen herab, und er bot in seinem völlig durchweichten Zustand einen so trübseligen Anblick, daß seine Herrin laut auflachte.

„Siehst du Puck, das haben wir nun davon!“ sagte sie mit komischer Verzweiflung. „Warum sind wir nicht gescheit gewesen und im Parke geblieben. Wie sehen wir aus und wie wird der Papa schelten! Aber du bist schuld, du bist zuerst in den Wald gelaufen. Gott sei Dank, daß wir wenigstens im Trockenen sitzen, sonst wären wir alle beide nach Radefeld hinuntergeschwemmt worden, und der Egbert hätte uns auffischen müssen.“

Sie warf das gänzlich verdorbene Hütchen auf die niedrige Bank, die sich an der Seitenwand hinzog, ließ sich nieder und sah durch das kleine Fenster in das Unwetter hinaus. Der Regen stürzte noch immer mit unverminderter Gewalt vom Himmel und der Wind sauste um das Häuschen, als wollte er es fortwehen. An die Heimkehr war vorläufig nicht zu denken. Maja ergab sich in das Unvermeidliche, zog die Kapuze ihres Regenmantels über den Kopf und beobachtete Puck, der seine Nase durch den Spalt der offen gebliebenen Thür steckte und mißmuthig die fallenden Tropfen verfolgte.

Da erschien drüben am Waldesrand eine Gestalt, die einen Augenblick stehen blieb und sich suchend umschaute, dann aber im Laufschritt über die Lichtung eilte, geradeswegs auf das Waldhäuschen zu. Jetzt erreichte es der Fremde, der offenbar auch auf der Flucht vor dem Wetter war; er setzte mit einem kühnen Sprung über den kleinen See, der sich bereits vor der Thür gebildet hatte, und stieß diese so heftig auf, daß der neugierige Puck entsetzt zurückfuhr, dann aber mit lautem Gebell auf den Eindringling losstürzte, der sich unterfing, ihm und seiner Herrin den Alleinbesitz der Hütte streitig zu machen.

„Nicht so zornig, du kleiner Kläffer!“ rief der Fremde lachend. „Bist du etwa Herr und Meister hier in dem verwunschenen Häuschen oder ist’s das graue Wichtelmännlein, das auf der Bank dort kauert?“

Er hatte sich niedergebeugt, um das Thierchen zu greifen, das ihm schleunigst entwischte und in die Ecke flüchtete, aus der sich jetzt ein halbunterdrücktes Lachen und ein feines Stimmchen vernehmen ließ.

„Das Wichtel bedankt sich für die gute Meinung.“

Der Fremde wurde aufmerksam, die Antwort verrieth ihm, daß es nicht, wie er im ersten Augenblick geglaubt hatte, ein Köhler- oder Bauernkind war, das dort im Halbdunkel des dämmerigen Raumes kauerte. Er blickte schärfer hin, aber die tief herabgezogene Kapuze ließ nichts weiter sehen als einen kleinen rosigen Mund, ein zierliches Näschen und ein Paar großer brauner Augen, die nun auch neugierig und erstaunt den Eindringling musterten.

(Fortsetzung folgt.)



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Alle Rechte vorbehalten.

Eine muthige Frau

Es sind fast beängstigende Eindrücke, welche ein Blick auf das Getriebe der Gegenwart in uns hinterläßt. Ein unentwirrbar scheinender Knäuel großer und ernster Fragen harrt der Lösung, Altes, Ueberlebtes versinkt, Neues, Unerprobtes taucht empor, dem es doch an der rechten Weihe, der rechten Stetigkeit fehlt. Allüberall ein Ringen und Kämpfen, ein sich Stoßen und Befehden! Und sehnsüchtig blickt manches Auge umher, ob nicht ein hervorragender Geist erstehe, ein erlösendes Wort zu sprechen.

Und in diesem scheinbaren Wirrwarr unserer Gegenwart arbeiten, schaffen und forschen stille, freundliche, aufopfernde Naturen; jene leisen Kräfte im Menschenleben, welche vielleicht mehr zum Fortschritt in der Menschheit beitragen als die gewaltigen Gestalten, die so mächtig, aber auch oft so zerstörend einwirken.

Eine solche Erscheinung ist auch die Frau, mit der die folgenden Zeilen sich beschäftigen sollen, Miß Kate Marsden.

Wer ist Miß Marsden? Wenige wissen wohl von ihr.

Es giebt Frauengestalten, welche den Blick sofort auf sich ziehen, welche kein „Vorbeisehen“ gestatten. Jedermann fragt:

[105]

Genesung.
Nach einem Gemälde von A. Toulemouche.

[106] „Wer ist dies?“ und entscheidet sich dann sofort mit einem Für oder Wider.

Das erstere wird wohl gewöhnlich bei Miß Marsden der Fall sein. Schon allein ihre äußere Erscheinung ist eine Freude, gleichsam der Abglanz eines reichen Innenlebens.

Ernst freundliche Gesichtszüge, ein klarer Blick und entschlossener Ausdruck nehmen sofort günstig für sie ein. Man kann wohl verstehen, daß die Herzen der Jugend Miß Marsden immer zufliegen; denn die Jugend hat ein sicheres Gefühl für das Ideale. Ueberall, wo Miß Marsden die Hütten der Armen und Elenden betritt, da erscheint sie allen bald als ein Engel des Friedens und der Versöhnung.

Das ist Miß Marsdens Arbeitsfeld – diese Stätten der Armen, Verstoßenen und Verlassenen. Sie bringt dem sogenannten Abschaum der Menschheit hingebende Theilnahme entgegen, sie findet auch bei ihm noch die Spuren eines göttlichen Funkens und weiß ihn zu wecken.

Sehr früh schon nahm Miß Marsden ihre ernste Lebensrichtung. Unbewußt, schon als Kind, hielt sie sich fern von den Spielen der andern, oft deshalb verkannt und gescholten von ihren nächstem Angehörigen. Als die Tochter eines englischen Advokaten wuchs sie mit acht Geschwistern auf. Sie steht jetzt ungefähr im 35. Lebensjahr.

Im 15. Jahr schon begann sie ihre schwere Laufbahn. Sie verließ das Elternhaus und lernte im Hospital die Krankenpflege mit überraschender Schnelligkeit. Schon damals fiel es auf, wie sie die Aermsten und Unglücklichsten zu verstehen wußte.

Im Jahre 1878 machte sie den russisch-türkischen Krieg mit, und hier zum ersten Male trat ihr das grauenhafte Bild des Aussatzes entgegen, welches sie nie mehr vergessen konnte. Damals reifte in ihr der Entschluß, sich diesen Kranken besonders zu widmen und alles aufzubieten, ihnen Hilfe zu bringen. Wohl führte sie das Leben erst noch zu andern Stätten; aber jenem einen Ziel blieb sie treu und immer kam sie wieder darauf zurück.

Als sie nach England zurückgekehrt war, widmete sie sich in Liverpool, einer Stadt mit viel roher Bevölkerung und entsetzlicher Verbrecherwelt, dem Dienste der Krankenpflege; selbst da, wo die Polizisten sich nur zu zweien zu zeigen wagen, schritt sie sicher und ruhig dahin, sie trat an die Stätte des Verbrechens und in die Hütte der Armuth – unbehelligt, ja oftmals sogar beschützt von den zuchtlosesten Gesellen. Sie war Schwester des Rothen Kreuzes geworden, und dieses Kreuz und seine Trägerin müssen wohl selbst den Frechsten wie etwas Heiliges erschienen sein. Wir finden sie dann in Australien, wo sie Oberin eines Hospitals war, eine Gesellschaft zur Ausbildung von Pflegerinnen gründete und auf Bitten der Goldgräber in den Bergen zu ihnen hinauszog, um dort die Kranken unter ihnen zu pflegen. Mitten im Gebirge, ganz einsam, fern von allen Menschen unter dieser verlorenen Bande, lag sie wiedernm ihrem stillen edlen Wirken ob, verehrt von den rohen Gesellen, über die sie eine fast wunderbare Macht ausübte.

Da fiel ihr eine Zeitungsnotiz in die Hände, daß in Sibirien der Aussatz in entsetzlicher Weise wüthe und daß für die Kranken keine Rettung sei; und nun faßt sie den heldenmüthigen Entschluß, dorthin zu eilen, um ihren Vorsatz endlich auszuführen, den Aussatz genauer kennenzulernen und wenn irgend möglich Heilung für ihn zu finden. Wie ein Märchen klingt es wohl, daß sie von einer Pflanze hörte, die hoch im äußersten Norden von Sibirien wachsen sollte und der man die Kraft zuschrieb, die entsetzlichste aller Krankheiten zu bezwingen. Diese Pflanze zu suchen und mit ihr den Unglücklichen Hilfe zu bringen, das war der Plan, den sie nunmehr mit allem Eifer verfolgte.

Aber woher die Mittel nehmen?

Der Engländer hat ein Sprichwort: „Where is a will, there is a way“, „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.“ Das bewahrheitete sich auch hier wieder.

Miß Kate Marsden.

Der muthigen Frau öffneten sich überall die Thüren. Durch eine Empfehlung von Englands Herrscherin thaten sich sogar die sonst so fest verschlossenen Pforten des Palastes der Czarewna auf. Aus der Gunst der russischen Kaiserin erwuchs Miß Marsden eine mächtige Unterstützung, so daß sie im Geleite eines Polizisten 1890 den endlosen Weg nach Sibiriens Schnee- und Eissteppen unternehmen konnte. Eingehüllt in dreifache Pelze, eilte sie weiter und weiter, ohne Rast und Ruh, nur eine Strecke weit noch begleitet von einer Engländerin, Miß Field, welche des Russischen mächtig war, dann allein, ganz allein.

Hier und da wurde angehalten an den elenden Wohnstätten der Eingeborenen oder an jenen furchtbaren Höhlen, welche die Unglücklichsten der Unglücklichen beherbergen – Rußlands Verbannte. Und wo sie erschien, da scharten sich die Menschen um sie, und sie brachte ihnen Brot oder sonst etwas Nahrung und spendete ihnen Trost in ihren furchtbaren Leiden.

Wochen und Monate hörte man nichts mehr von der muthigen Wallfahrerin. Schon fürchteten ihre Freunde das Schlimmste. Da erschien sie wieder, freilich am Körper matt und müde, schwere Wunden von Frostbeulen an ihrem Körper, aber mit jener Heiterkeit und mit jenem erquickenden Gleichgewicht der Seele, das nur großen Naturen eigen ist, die nichts mehr kennen als warme hingebende Menschenliebe.

Was ist nun das Ergebniß all dieser unendlichen Arbeit und Gefahr, all dieses aufopfernden Mühens?

Es ist Miß Marsden gelungen, in der Nähe von Veluisk in Sibirien eine Kolonie zu gründen, wo sechs Krankenschwestern, griechisch-katholische Nonnen, ihren Aufenthalt nehmen sollen, um dort unter den Aussätzigen zu wirken. Der Kaiser von Rußland hat sich bereit erklärt, aus seiner Privatschatulle 5000 Rubel für die Reise dieser Schwestern zu geben; die griechische Kirche wird für ihren Unterhalt Sorge tragen. Vornehme russische Frauen haben sich mit großem Eifer dieser Sache angenommen, an der Spitze Gräfin Tolstoi und die Gemahlin des Generals Costende in Moskau. Mehrere Vereine unter Leitung von Frauen haben sich gebildet, um das edle Unternehmen weiter zu fördern. Miß Marsden hat in Rußland selbst auch Geld gesammelt und mehr als 20000 Rubel für ihren Zweck erhalten.

Sie war bei ihrer Durchreise nach England auch in Berlin. Wenn es ihr hier nicht in dem Maße, wie sie gehofft hatte, gelang, Theilnahme für ihre Sache zu gewinnen, so mag das in politischen und anderen Schwierigkeiten seinen Grund gehabt haben. Die deutsche Frauenwelt ist ja überhaupt nicht leicht für solche weit ausschauenden Kulturaufgaben zu begeistern, sie sucht sich das Ziel ihres gemeinnützigen Wirkens gerne auf näherliegendem Felde.

Die Rückkehr nach England war für Miß Marsden eine sehr ehrenvolle. Englands Königin zeichnete sie in hohem Grade aus, die „Royal Society of Nurses“ überreichte ihr einen Orden, und rasch bildeten sich auch hier Vereine, die sich die Unterstützung ihrer Sache zur Aufgabe machten.

Miß Marsden benutzte ihren Aufenthalt in England auch dazu, ihre Erfahrungen und Erlebnisse in Sibirien aufzuzeichnen. Das Buch, welches jetzt zur Ausgabe gelangt, soll einerseits dazu dienen, die Menschen für diese neue Kulturaufgabe zu erwärmen, und andrerseits dazu, neue Geldmittel aufzubringen.

Der nächste Schritt, den die edle Wohlthäterin vorhat, ist nun der, Amerika zu besuchen und dort durch Vorträge die reichen Amerikanerinnen zu gewinnen, denn Miß Marsden hat die Absicht, eine zweite Kolonie in Sibirien zu gründen. Hoffentlich wird ihr das Glück zu theil, jenseit des Oceans offene Herzen und Hände zu finden.

Ob Miß Marsden die Wunderpflanze gefunden, welche die Aussätzigen heilen soll, das weiß ich nicht; aber ein anderer, werthvollerer Gewinn ist ihr geworden: sie hat die Pflanze des Vertrauens und der Liebe in die Herzen der Unglücklichen und Verlassenen senken dürfen.
Minna Cauer.




[107]

Böhmische Granaten.

Von Th. Gampe.
Mit Zeichnungen von H. Kaufmann.

Granatsucher auf freiem Felde. 

Bei der Wäsche.

Man hat Böhmen das sangesfreudigste Land der Erde genannt. Mag das richtig sein oder nicht – eines muß man dem Böhmen lassen: er ist immer bemüht, sich das Leben zu schmücken, auf allerlei Art, wie und wo er’s kann. Man könnte Böhmen auch das Land der Kleinodien nennen, selten schmückt sich ein Volksstamm so gern wie der böhmische mit Edel- oder Halbedelsteinen, und nirgends trifft man so viele alte Schmucksachen als Familienerbstücke wie im Böhmerland.

Böhmen ist aber auch ein an Edel- und Halbedelsteinen reich gesegnetes Land, und wer sich davon überzeugen will, braucht nur die Wenzelskapelle am St. Veitsdom auf dem Hradschin zu besuchen. Hier kann er große hohe Wandflächen bewundern, die aus eitel einheimischen Edelsteinen bestehen von einer Pracht und einer Größe, wie sie sonst nur in Kindermärchen vorkommen.

In einem Lande, wo die Frauen so gern Schmuck anlegen, wo das letzte Gänsemädchen ihre träumerische Sehnsucht auf schimmernde Kleinodien richtet, da mußte auch die Gold- und Silberschmiederei und die Juwelierkunst früh zu hoher Blüthe gelangen. Schon unter Karl IV. war darin Böhmen urkundlich den übrigen Ländern Mitteleuropas weit voran. Freilich, der Dreißigjährige Krieg, der das unglückliche Land bis in den letzten Winkel verwüstete, fegte alle Luxusindustrien wie Spreu hinweg. Der Siebenjährige Krieg förderte das Emporblühen auch nicht, erst gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts begann ein neuer Aufschwung. Damals zählte man nach einem Handwerksprotokoll in Prag allein 341 Edelsteinschleifer mit 88 Gehilfen und 4 Fabriken mit 109 Gehilfen, 52 Lehrlingen und 15 Granatbohrern. Man wolle hierbei ins Auge fassen, daß diese zahlreiche Arbeiterschaft eigentlich nur die Vorarbeiter der Großindustriellen waren, über welche alle Angaben in jenem Protokoll fehlen.

Die mächtige Umwandlung der böhmischen Schmuckwarenindustrie in eine große Ausfuhrindustrie fällt mit dem Heranwachsen der böhmischen Bäder zu Weltbädern zusammen. Die fernhergereisten Badegäste fanden ganz besonderes Wohlgefallen an den hübschen Schmucksachen mit den kleinen rothblitzenden Karfunkelsteinen. Sie waren die ersten Exporteure, sie nahmen die billigen, schönen, herrlich leuchtenden Zierrate mit in ihre Heimath. Ein Wunder war’s nicht, daß zunächst die Frauen im benachbarten Deutschland großen Gefallen daran fanden, und was einmal den Beifall der Frauen hat, das erobert sich bekanntlich mit unwiderstehlicher Kraft die Welt.

Gegenwärtig beschäftigt die böhmische Granatindustrie gegen 3000 Granatschleifer, einige hundert Granatbohrer und in etwa 500 Gold- und Silberwerkstätten sind an die 3500 Granatschmuckarbeiter thätig. Hierzu kommen noch die berufsmäßigen Granatsucher, die Vermittler, die Steinhändler und die Hilfsindustriellen. Insgesamt dürften 9000 bis [108] 10000 Menschen bei der böhmischen Granatindustrie ihr Brot verdienen.

Das Schleifen und Polieren
der Granaten.

Die Hauptfundstätten für Granaten liegen in den paradiesischen Gründen des böhmischen Mittelgebirges verstreut. Die bekanntesten Fundorte sind Lobositz, Trebanitz, Triblitz, Laskowitz, Podseditz, Chrastow und Nelluk. Die Schleiferei der Steine wird in Prag, in Revensko, in Semil, Sobotka und Lomnitz betrieben, Hauptort aber ist Turnau in der Nähe von Reichenberg. Hier hat auch der Staat eine Fachschule für Edelsteinbearbeitung und Gold- und Silberschmiedekunst errichtet. Ein Besuch dieser Fachschule ist im hohen Grade lohnend, noch mehr aber ist es der Besuch eines Großhauses in Edelsteinen, wie etwa das von Franz Schlechta. Hier sieht man geschliffene und ungeschliffene Edelsteine in Fässern, Kisten, Säcken, Schränken, etwa wie bei einem Kaufmann die Erbsen, Linsen und Bohnen. Zur Linken steht vielleicht ein Faß, dessen Inhalt man für kleine Knörpelkohlen halten könnte, zur Rechten steht ein anderes Faß mit Steinen derselben Art, aber die glühen und funkeln, veredelt durch den Schliff, wie die Leuchtkäfer des Südens. Eine seltsame, eine beschauliche Ware, die uns mit geheimnißvollen Reizen anmuthet.

Der Karfunkelstein oder der Granat, wie er jetzt ausschließlich genannt wird, ist der harte Ueberrest eines weicheren verwitterten Urgesteins. Im Sande von Flüssen und Bächen, im Schwemm- und Schuttland finden sich die schönsten Exemplare. Auch in der Ackererde wird er häufig gefunden, namentlich nach starken Regengüssen, die ihn von seiner unedlen Umgebung freiwaschen und für den Sucher bloßlegen. In festem Gestein findet er sich seltener und dann meist in kleinen unbrauchbaren Exemplaren. Bei Pötschau, in der Nähe von Karlsbad, liegt so ein nichtsnutziger Granatberg, der wohl Granaten in großen Mengen, aber dabei gar nichts Verwendbares enthält. Der Mensch ist beim Granatsuchen auf die vieltausendjährige Hilfsarbeit der Naturkräfte angewiesen, die das Muttergestein zersetzten und die Steine in gewisse Schwemmschichten einbetteten, wo sie leicht gewonnen werden können.

Auch in diesen Schichten sind die kleinen Steine noch in ungeheurer Ueberzahl, solche von Reiskorngröße sind schon gern gesehene Funde und erbsengroße kommen nicht alle Tage zum Vorschein. Die Granaten sind überhaupt, was die Größe anlangt, keine bevorzugten Edelsteine. Der größte bekannte böhmische Granat ist viel kleiner als die größten Diamanten, er wiegt 96 Gramm, ist 35 Millimeter lang, 27 hoch und 18 breit; er schmückt einen Orden des Goldenen Vließes im Grünen Gewölbe zu Dresden.

Die Granatschleiferei unterscheidet sich in keiner Weise von aller anderen Edelsteinschleiferei; sie wird nach Urväter Weise auf sich drehenden Bleischeiben geübt, und es ist auch nicht einzusehen, wie der einfache und höchst praktische Schleifmechanismus jemals noch eine weitere Vervollkommnung erfahren könnte. Man beginnt mit dem Abschliff der oberen Fläche. Mit einem Kitte aus Brauerpech, Schellack und Ziegelmehl befestigt man den Stein an einen Kittstock zur besseren Handhabung. Zuerst wird er auf einer Bleischeibe mit Schmirgel und Wasser „rundiert“, d. h., man giebt ihm die oberflächlichen Umrisse, um damit die Flächen für den eigentlichen Schliff vorzubereiten. Damit die Facettierung des Steines eine ganz gleichmäßige werde, benutzt der Schleifer ein Instrument, einen sogenannten Quadranten; mit Hilfe dieses mathematischen Werkzeuges wird der Kittstock mit dem Steine in ganz bestimmte Lagen zu der Schleifscheibe gebracht, und ist er gut eingestellt, dann können ungleiche Leuchtflächen, wie man die Facetten auf Deutsch recht wohl nennen könnte, nicht entstehen. Hat der Stein seine endgültige Form erhalten, so beginnt das Polieren, genau eine Arbeit wie das Schleifen selbst, nur daß die Bleischeiben durch solche aus Zinn, Kupfer oder Bronze ersetzt werden, und daß statt des Schmirgels Trippel zur Verwendung kommt. Die bekannten kugel-, halbkugel- oder linsenförmigen Steine, welche meist die Mittelstücke in den größeren Schmucksachen darstellen, werden von besonders geschickten Händen geschliffen und dann auf gewöhnlichen Holzscheiben poliert.

Der Schleifer, sofern er nicht in der Fabrik, sondern als Hausindustrieller thätig ist, bringt nun die nach der Größe sortierten Steine nach dem Großhandlungshaus oder auch unmittelbar auf den Granatmarkt.

Das Ausstanzen der Fassungsbleche.

In Turnau und Prag giebt es Gasthäuser, die man Granatbörsen nennt und wo die Worte „Sechzehner“, „Zweiunddreißiger“, „Achtziger“, „Hunderter“ ebenso eindringlich an das Ohr der Fremden schlagen wie etwa an der Wiener Börse der Name eines bekannten Spekulationspapiers. Mit diesen Worten bezeichnet man nämlich die Größe der Steine und meint damit, daß 16, 32, 80 oder 100 auf ein Loth (162/3 g) gehen. Der höchste Preis, der für einen Stein je erzielt worden ist, war 500 Gulden, doch das ist schon eine lange Reihe von Jahren her, ein solcher Fund ist in letzter Zeit nicht mehr gemacht worden. Die großen Steine, die neuerdings immer mehr beliebt werden, sind meist aus anderen Ländern, besonders aus Tirol, bezogen, sie sind jedoch unedler als die böhmischen, ihre Leuchtkraft ist geringer, auch erreicht ihre Härte nicht diejenige der böhmischen Granaten. Im Feuer werden sie schwarz und gewinnen auch nach dem Erkalten ihr Roth nicht wieder zurück, während die böhmischen Granaten im Feuer roth bleiben oder doch, wenn sie schwarz werden, ihre Leuchtkraft und ihr Roth nach dem Erkalten aufs neue entfalten.

Außer Tirol liefern noch Ostindien, Ceylon, Grönland, Kleinasien, Arizona und Australien Granaten nach Böhmen, über sie alle übertreffen nur in der Größe die Erzeugnisse der böhmischen Erde. Interessant sind einige Spielarten; man kennt violette, gelbliche, bläuliche, auch grüne und selbst schwarze Granaten. Die letzteren, Melanite genannt, werden zu Trauerschmuck verarbeitet. Die grünen, die Stachelbeersteine, sind mehr ihrer Seltenheit als ihres Aussehens wegen geschätzt. Der schönste Granat bleibt der tiefroth aufblitzende böhmische mit seinem echten unvergänglichen Feuer.

Der bergmännische Grubenbetrieb auf unsere Steine ist ein sehr einfacher. Man räumt beim Einschlag einer Grube die Ackererde und den Schotter beiseite, bis die angeschwemmte granathaltige Schicht ein Stück freiliegt. Hier gewinnt man die granathaltige Masse mit der Spitzhaue und begnügt sich mit dem Tagebau, das heißt, man schürft von oben nieder, bis die Grube versagt oder unbequem im Abbau wird. Nur wenn die Schicht besonders reich ist, geht man in die Tiefe, legt ein Leiterwerk an, setzt einen Rollbaum in Betrieb und schlägt wohl gar Schächte und Stollen ein. In den meisten Fällen aber verläßt man die Grube, „muthet“ [109] an einer anderen Stelle und beginnt da von neuem.

Das Verlöthen der Kasteln und Stiftchen.

Beim Tagbetrieb wirft der Arbeiter die gewonnene Masse in eine Futterschwinge und trägt sie in dieser auf eine Halde neben der Grube. Ist Wasser in der Nähe, so vereinigt man den Bergbau mit der Wäsche, andernfalls rollt man die Gangmassen an irgend einen Bach oder Teich, und nun beginnt ein gründlicher Waschprozeß. Die Steine, von ihrer lehmigen Umhüllung befreit, werden ausgelesen und durch Siebe sortiert. Man muß aber nicht glauben, daß sie hier dem Sucher schon entgegenfunkeln und blitzen, sie sehen noch recht unscheinbar aus, und es gehört wirklich ein Kennerauge dazu, um die edlen Steine von den unedlen zu scheiden. Unglaublich zahlreich sind die ganz kleinen Steinchen, von denen etwa 400 aufs Loth gehen; sie haben nur einen sehr geringen Werth, man benutzt sie wohl als Ziersand in Gärten oder liefert sie an die Apotheken, wo sie die Schrote beim Geschäft des Abwägens ersetzen. Uebrigens leuchten gerade die kleineren Steine nach dem Schliffe mit einem ganz besonderen Feuer, da das Licht das dünnere Massiv ungeschwächter durchdringt und sich deshalb auch lebhafter spiegelt.

Ueber den ungefähren Werth der in Böhmen gegrabenen Rohgranaten schwanken die Angaben so stark, daß wir besser thun, hierüber nichts mitzuteilen. Die gelegentlichen Funde nach starken Regengüssen, von denen ich bereits berichtet habe, sollen nicht unbedeutend sein und sehr oft die besten Steine liefern, und diese Funde sind dem Werthe nach völlig unabschätzbar. Die Bauern, die auf jeden Gewitterregen warten, lieben es, die Funde zu verheimlichen, und sprechen noch weniger gern von den Fundorten.

Es giebt wohl keinen zweiten Edelstein, der eine so ausgebreitete und vielseitige Verwendung fände wie der Granat, die Formen der Granatschmucksachen sind Legion geworden, und gewiß werden es die Leser verständlich finden, wenn ich mich bei Beschreibung der Granatarbeiten an wenige aber typische halte.

Der erste Eindruck beim Betreten einer Granatwarenfabrik ist ein ganz fremdartiger. Die Arbeiter sitzen meist nicht auf gewöhnlicher Stuhlhöhe, sondern tiefer am Fußboden auf niedrigen Schemeln. Die mit je einem halben oder auch einem ganzen Dutzend Menschen besetzten Werkbänke sind breite niedrige Tische mit höchst phantastischen Umrissen. Für jeden Arbeiter ist nämlich in der breiten Tischplatte ein Platz ausgeschnitten, so daß er ein Stück im Tische drinnen sitzt und nur mit dem Oberkörper aus diesem hervorragt. Zudem bedeckt seinen Schoß ein Stück Leder, das auch am Tische befestigt ist und die Verbindung zwischen Tisch und Mensch noch mehr vervollständigt.

Die alten Goldschmiede kannten bis ans Ende des vorigen Jahrhunderts nur eine einzige Form der Granatfassung, die sogenannte Zargen- oder Kastelarbeit. Man bildete für jeden Stein eine Umfassung aus Goldblech, einen kleinen Behälter, den man sehr richtig auch als „Kastel“ bezeichnete. Dieses Kastel wurde auf die Grundfläche des Schmuckgegenstandes aufgelötet, der Stein eingedrückt und der Rand des Kastels leicht übergebogen. Diese Art der Fassung, die heute noch viel geübt wird, ist sehr haltbar, läßt aber wenig Abwechslung zu und beeinträchtigt die Phantasie der nach neuen Formen suchenden Fabrikanten. Die reichen Blatt- und Blüthenformen namentlich in Perlen und Türkisen, wie sie besonders aus dem Orient und Italien kamen, ermunterten die böhmischen Granatarbeiter zu Reformen; sie führten die Pavéarbeit ein, bei welcher für jeden Stein ein Loch in das Metall gebohrt wird. Vor etwa vierzig Jahren kam ein Prager Goldschmied auf den Gedanken, diese Art der Fassung sehr zu vereinfachen, ohne dabei die Vorzüge der Pavéarbeit zu beeinträchtigen; er bohrte keine Löcher mehr für die Steine, sondern lötete kleine „Stiftel“ auf den Grund des Schmuckgegenstandes. Zwischen diese durch Bohrung sehr fest verbundenen Stiftel klemmte er die Granaten, was sich als eine sehr haltbare Fassung erwies. Die Hauptsache war, daß er damit einem fast unbeschränkten Formenreichthum Thür und Thor öffnete. Seit jener Zeit hat sich die böhmische Granatindustrie darin fast unerschöpflich erwiesen – Himmel, Erde und Meer, Pflanzen- und Thierreich, alle Völker haben die Vorbilder dazu liefern müssen. Die Einführung der Stiftelarbeit hat sich nach jeder Richtung hin fruchtbar erwiesen, sie hat den Erfindergeist der Arbeiter belebt und den Absatz ins Großartige gesteigert.

Das Polieren der fertigen Schmuckstücke

Um den Leser mit der Beschreibung umständlicher Arbeiten zu verschonen, schildere ich die Herstellung einer einfachen Kravattennadel in Kleeblattform und in alter einfacher Fassung. Diese Beschreibung wird genügen, um eine Vorstellung von der Fabrikation des Granatschmuckes zu ermöglichen.

Der Arbeiter biegt über ein Drahtzängelchen zunächst drei Ringelchen aus Goldblech genau in der Größe der zur Verwendung kommenden Granaten. Diese drei Ringel legt er in Form eines Kleeblattes mit der Kante nach oben auf ein Stückchen Goldblech, das in Zukunft die Rückseite der Nadel darstellen wird. Mit einer Lösung aus Borax bereitet er das Metall zum Löthen vor und bestreut dann das Ganze mit klarem Silberloth. Auf einer feuerbeständigen Unterlage aus Asbest führt er das noch sehr locker aneinander gefügte Werkchen an eine Löthflamme, die es rasch zu einem Körper vereinigt. Mit einem Drillbohrer wird jetzt ein Loch an einer Stelle gebohrt, wo zwei Ringel zusammenstoßen, der Arbeiter sticht ein Stückchen Golddraht hinein und verlöthet ihn in gleicher Weise. Der Golddraht bildet den Stiel des Kleeblattes. Ganz das Gleiche geschieht auch mit einer langen Nadel, welche in Zukunft den ganzen Schmuck im Halstuch seines Besitzers festhalten soll.

Der Arbeiter beschneidet und verfeilt das metallene Gehäuse und drückt dann in die drei Kasteln oder Zargen je einen Stein. Die leicht angedrückten Ränder dieser Kasteln halten die Steine fest und bilden die eigentliche Fassung. Doch noch ehe die Steine eingesetzt werden, erhalten sie zwei Unterlagen; die eine besteht aus Messing und ist bestimmt, dem Goldblech etwas mehr Halt zu geben. Bei den nach und nach gesunkenen Preisen des Granatschmuckes sind die Goldbleche immer dünner [110] und dünner geworden, bis sie jene Verstärkung durch Messing, die fest eingelöthet wird, gebieterisch forderten. Die zweite Einlage dient auch dem Moloch Schein, sie besteht aus Silber- oder Kupferfolie und ist bestimmt, durch den Stein hindurchzuschimmern und seinen natürlichen Glanz zu erhöhen.

Die Hauptaufgabe bei der Fassung aller Edelsteine ist, diese möglichst unverlierbar festzuhalten und doch dabei so wenig als möglich von ihnen zu verdecken. Diese beiden Dinge vereinigen sich schlecht, müssen aber vereinigt werden. Der Arbeiter nimmt zu diesem Zwecke eine feine Laubsäge zur Hand und schneidet von den Rändern der Fassung alles hinweg, was ihm nur irgend entbehrlich erscheint. Das nennt man den Stein „freilegen“. Das kleine Werkchen erhält nun eine letzte Feile, und dann hat der Goldarbeiter nichts mehr damit zu thun. Das Polieren ist nicht seine Sache, das wird meist von jungen Burschen oder Mädchen besorgt, die kleine leichte Drehbänke mit verschiedenartigen Polierscheiben in Bewegung setzen (siehe die Abbildung auf S. 109 unten). Diese Scheiben bestehen aus Filz oder Tuch und sind mit Mischungen aus Oel, Stearin und feinen Poliererden getränkt. Die Winkel und Verzierungen, in welche man mit dem Polierrädchen nicht eindringen kann, werden mit der Hand poliert. Man streicht die Poliermittel auf dicke Zwirnzöpfe und fährt mit den Schmucksachen daran auf und nieder.

Bei der Stiftelarbeit bildet die Grundform des Schmuckes eine ziemlich kräftige Messingplatte, welche „Patrone“ genannt wird. Die zukünftige Lage der Steine ist genau darauf „angerissen“, das heißt aufgezeichnet. Mit dem Drillbohrer werden feine Löcher gebohrt, die Stiftel hineingestellt und mit dem Ganzen verlöthet. Bei sogenannten Stiftel-Ajourarbeiten bohrt man zwischen den Stifteln größere Löcher in die Patrone, auf welche die Steine mit der Rückseite zu liegen kommen. Diese letztere Fassung läßt das natürliche Licht des Steines zur vollsten Geltung kommen. Selbstverständlich wird diese bevorzugte Fassung nur solchen Steinen zu theil, die sich durch schöne Lichtbrechung hervorthun.

Neuerdings ist man soweit fortgeschritten, alle Schliff- und Fassungsarten zu vereinigen. Wer sich einen vollen Einblick in den Reichthum der Formen verschaffen will, der muß schon eines jener besonderen Geschäfte für böhmischen Granatschmuck besichtigen, wie sie im letzten Jahrzehnt fast in jeder Großstadt Deutschlands gegründet worden sind.

Ein vielbeklagter Uebelstand bleibt es für die schöne Industrie, daß die Menge der Käufer den Werth einer Granatarbeit schwer beurtheilen kann. Ein Granatarmband für 2 Gulden kann im Aeußeren einem solchen für 7 Gulden völlig gleich sein. Ja, der Laie wird oft versucht sein, das Billigere für das Bessere zu halten, weil grade die billigen Sachen gern hübsch herausgeputzt werden. Erst in einigen Monaten kommt der hinkende Bote nach, die Steine fallen aus, der zart wie ein Lufthauch über dem Reife liegende Goldüberzug ist verschwunden und die enttäuschte Schöne trägt am Arm einen zweiten Reif aus Metalloxyden, den sie aber keineswegs als einen Schmuck betrachtet, sondern gemeiniglich mit Seife rasch beseitigt.

Hätte sich jenes Mädchen, das Kind aus dem Volke, mit einem etwas schmäleren Reife, mit halb so viel, aber besseren Steinen begnügt, hätte sie eine achtkarätige Goldfassung, wie sie in soliden Fabriken einzig üblich ist, genommen, so hätte sie Zeit ihres Lebens einen Schmuck besessen, an dem sie bei jedem neuen Anlegen ihre Freude haben konnte.


Auf Geben und Nehmen.

Novelle von Johannes Wilda.

 (6. Fortsetzung.)

Im Zimmer ihres Vaters stand Hilde mit bleichen Wangen. „Und jetzt, mein Kind, darf nicht mehr gezögert werden! Geh’ hinauf in Deine Stube und schreibe, was Du mußt! Die Ansichten Deiner Eltern kennst Du, hast auch Zeit gehabt, sie zu überlegen. Du bist vollständig frei in Deinem Entschluß!“

Minutenlange Stille folgte den Worten des Lehrers. Bekümmert schaute dieser auf die im heftigsten Seelenkampf Ringende. Nichts hätte ihn tiefer ergreifen können, als Zeuge ihrer Qual zu sein und dabei fest bleiben zu müssen.

Die Tochter sah seinen Kummer und stürzte an seine Brust. „Vater, ich will ja verzichten!“ rief sie bebend.

„Nein, nein, nicht so! Thue, was Pflicht und Gewissen Dir sagen!“

„Und meine Liebe,“ ergänzte sie tonlos. „Mich würde ja alle Unsicherheit der Zukunft nicht schrecken, aber ich darf sein Opfer nicht annehmen um seinetwillen!“

Heftig drückte der Lehrer sie an sich. „Zu Deinem Glücke, mein Kind!“

Schmerzlich schüttelte sie den Kopf. „Zur Strafe für meinen Leichtsinn, Papa, zu Euerem Frieden und – zu seinem Heile!“

Dann ging sie und machte sich ans Werk.

Sie stützte das schmerzende Haupt in ihre Hand und starrte auf das weißglänzende Papier, auf die Feder, die schreiben mußte und nicht wollte. Was sollte sie durch diesen Abschiedsbrief alles verlieren! Nie würde sie den Geliebten wiedersehen, nie mehr ihm ins Auge schauen, nie mehr seine Lippen küssen. Einer anderen würde er einst gehören, während sie selbst abseits stehen mußte, dürstend nach dem versagten Glück, fremd und einsam im Leben. Großer Gott, das war unerträglich! Wer durfte verlangen, daß sie solche Qual sich selber auflud! O, warum waren sie nicht in jener grauenvollen Nacht zusammen gestorben!

Doch nein, dieser Wunsch war Sünde! Wie klein, nur an sich zu denken, nicht an ihn! Mußte sie dem Himmel nicht ewig dankbar sein, der dem Geliebten das Leben bewahrt hatte? – Und auch seinem Beruf sollte er erhalten bleiben! O, wie genau erinnerte sie sich noch der ernsten Miene, mit der er damals im Boot von diesem Beruf gesprochen hatte: „Sollte ich ihn einmal aufgeben müssen – ich glaube, nichts in der Welt könnte mich für diesen Verlust entschädigen!“

Entschlossen, aber mit zitternder Hand setzte sie die Feder an und begann zu schreiben:

 „Geliebter!

Zum ersten und zum letzten Mal schreibe ich heute an Dich. Zum letzten Mal, Herbert! Das vermag ich nicht zu fassen, und doch muß es so sein. Ich darf, ich will Dich nicht mehr sehen. Du bist frei, Herbert, hast keine Verpflichtungen gegen mich. Es ist der größte Schmerz meines Lebens, Dir das sagen zu müssen, aber ich handle vollständig freiwillig, dies versichere ich Dir bei allem, was uns theuer ist. Ich weiß jetzt, daß Du als Offizier mich nicht heirathen darfst. Warum? begreife ich zwar nicht, allein es ist einmal so. Daß Du aber um meinetwillen Deinen Beruf aufgiebst und Dein Leben dadurch unglücklich machst, das nehme ich nie und nimmer an, selbst wenn Deine Liebe leugnen möchte, daß darin ein schmerzliches Opfer liege. So lebe denn wohl, Geliebter! Es war ein kurzer, schöner schöner Traum. Wie glücklich hat mich Deine Liebe gemacht, die in jener Schreckensnacht stärker gewesen ist denn der Tod, und wie sehr danke ich Dir für alles!

Noch eine Bitte, Herbert! Erschwere uns die Entscheidung nicht noch mehr! Komm’ nicht wieder hierher, antworte nicht! Es hilft doch nichts – mein Entschluß ist unabänderlich. Und nun leb’ wohl! Wenn es Dir einst gut geht im Leben, dann denke zuweilen, daß mein tägliches Flehen Deinem Glücke gilt und gelten wird bis zu meinem letzten Athemzug.

Deine Hilde.“ 

Tief aufathmend siegelte sie den Brief, sorglich darauf achtend, daß keine der hervorquellenden Thränen auf das Papier falle und [111] das Uebermaß ihres Leidens verrathe. Dann überbrachte sie das Schreiben ihrem Vater, der, selbst aufs tiefste erschüttert, das wankende Mädchen in seine Arme schloß. – – – – – –

Inzwischen hatte Herbert in Begleitung von Frettwurst sein Kommando auf dem „Falken“ antreten müssen. Der Tag der Abreise nach Radegast stand vor der Thür, und noch immer ließ Hildes Antwort auf sich warten. Herbert war außer sich, zumal ihm sein Versprechen dem Vater gegenüber die Hände band.

In dringenden beschwörenden Worten setzte Herbert endlich dem Lehrer seine Lage schriftlich auseinander, und nachdem der Brief abgesandt war, stürzte er sich mit leidenschaftlichem Eifer in seine dienstlichen Obliegenheiten, um die Qual seiner Seele zu übertäuben. So verstrich unter hastiger Arbeit der nächste Tag. Die Stunde des Ankerlichtens näherte sich, und noch stand jede Antwort aus.

Endlich, endlich brachte die letzte Briefordonnanz, die vom Lande kam, auch ein Schreiben an Herbert mit. Seine Hand zitterte, als er es in Empfang nahm und in der Brusttasche barg. Dann gab er mit klarer Stimme beim Ankerlichten, bei dem er Dienst thun mußte, die Kommandos.

Dem Ankermanöver folgte die erste, ihm zufallende Abendwache in See. Auch während dieser Zeit richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf die verantwortliche Aufgabe, die er zu erfüllen hatte, aber er glaubte den Brief an seinem Herzen körperlich zu fühlen.

Erst um Mitternacht wurde er abgelöst. Er eilte in seine Kammer, wo er im Schein der in ihren Ringen schwankenden Lampe mit zitternder Hast das Schreiben erbrach, das ihm sein Glück verkündigen sollte. –

„Unmöglich!“

Er las und las, als ob er nicht fassen könne, was er lese. Plötzlich warf er den Brief auf den Tisch, setzte sich auf den Bettrand und starrte finster vor sich hin.

Was war geschehen, was hatte Hilde so verwandelt? Wo blieb ihre leidenschaftliche Hingabe, wo die überwältigende Kraft der Erinnerung an jene Todesfahrt, die ihr Geschick auf ewig an das seine band! Wie konnte sie sich so von ihrem Vater beeinflußen lassen, so geringes Vertrauen zu der Opferfreudigkeit seiner Liebe haben! O, jetzt mochte der König immer seinen Offizier behalten, jetzt würde das Abschiedsgesuch eine Posse sein!

Er sann und sann.

Die Lampe schwankte und das Holz knarrte. Durch den ganzen Rumpf zitterte der gleichmäßige dumpfe Schlag der Schraubenwelle; wenn das Schiff sich neigte, gurgelte das Wasser vor dem runden Kammerfensterchen. Hier und da drang auch das Heulen des Windes in der Takelage herunter, oder ein Kommandoruf, schwerer Laufschritt, das Dröhnen niedergeworfener Taue.

Herbert hörte von alledem nichts, aber der Sturm in seinem Innern begann sich zu legen. Die reine Gestalt Hildes trat vor seine Augen. War das Kleinlichkeit und Selbstsucht, was aus diesen Zügen sprach? Zeigte nicht auch ihr Brief ein Herz voll Demuth, voll Selbstlosigkeit, voll Liebe, voll unbeschreiblich reicher Liebe – ein Herz, das still verbluten wollte für den Freund? Allein das sollte, das durfte nicht sein! Unter keinen Umständen durfte er sich ihrer Bitte fügen!

Er sprang empor und stemmte sich gegen den Tisch. O, wenn er jetzt zu ihr eilen, sich ihr zu Füßen werfen könnte, um ihren Entschluß zu erschüttern! Aber ließ dieser Brief überhaupt noch eine Sinnesänderung erhoffen? War nicht ein Umschwung bloß dann möglich, wenn er selbst Thatsache gegen Thatsache stellte, ohne Rücksicht darauf, daß er dadurch seinen Freunden, seiner Familie doppelt unbegreiflich erscheinen mußte?

Bisher hatte er nur mit Hildes Zusage gerechnet, der Gedanke, daß er auch seinen Abschied nehmen könne und müsse auf ein Nein hin, war ihm überhaupt nicht gekommen. Der Brief öffnete ihm die Augen. Die scheinbare Thorheit, ein Opfer zu bringen, das zurückgewiesen wurde, bildete in Wahrheit die einzige Möglichkeit, die Geliebte doch noch zu erlangen und seine Schuldigkeit ihr gegenüber zu thun. Hatte er sich eine bürgerliche Stellung verschafft, so konnte er, dessen Entschlüsse dann von keiner fremden Rücksicht mehr abhängig waren, vor Hildes Vater treten, ein freier Mann!

Entschlossen setzte er sich an den kleinen Tisch, holte seine Schreibmappe hervor und begann auf wiegender Unterlage sein Abschiedsgesuch zu entwerfen. Wie er seinem Chef vorausgesagt hatte, verschmähte er dabei jeden Vorwand, sondern gab in kurzen Worten als Grund an, er beabsichtige eine Verbindung einzugehen, die als unstandesgemäß gelte.




5.

Der „Falke“ hatte die prächtige Waldecke gefunden, wo die Prinzessin August heute ein Picknick abzuhalten gedachte. Die einsame Stelle war ziemlich weit entfernt von Radegast, und gewöhnliche Sterbliche, denen kein Kriegsdampfer zur Verfügung stand, vermochteu sich den kostspieligen Ausflug selten zu gestatten. Wegen Störungen durch allzu loyale Badegäste konnte man also hier unbesorgt sein.

Die Spätsommersonne meinte es gut; allein die Prinzessin nebst ihren Töchtern und die beiden Damen, die noch von der Partie waren, die Erzieherin und ein Hoffräulein, hatten sich darauf eingerichtet. Alles war in Weiß oder doch in sehr helle Farben gekleidet und schützte sich durch Sonnenschirme und breite Hüte vor den sengenden Strahlen. Nur die zwei jüngsten Prinzessinnen ließen sich ruhig Hals und Aermchen noch brauner brennen, als es in dem bisherigen Strandleben ohnehin schon geschehen war, während die dritte, die älteste, sich diese Naturwüchsigkeit nicht mehr gestatten durfte.

Nachdem der Anker des „Falken“ in der klaren Waldbucht gefallen war, ging die Ausschiffung vor sich, an der sich von Herren die beiden Hofkavaliere sowie der Kommandant des Schiffes und die von Bord abkömmlichen Offiziere betheiligten.

Die für das Lager bestimmten Geräthe und Lebensmittel wurden unter Obhut des Kammerdieners und einiger Matrosen in der Jolle verstaut, die Herrschaften nahmen im Kutter Platz, der unter den kräftigen Ruderschlägen rasch dem Ufer zueilte.

Unter den Offizieren im Kutter befand sich auch Herbert, an dem die Frau Prinzessin ein besonderes Wohlgefallen gefunden zu haben schien, denn sie behandelte ihn bei jeder Gelegenheit als ihren bevorzugten Kavalier. An dieser Gunst nahm in seiner Art der gute Frettwurst theil, der drüben in der Jolle hockte. Seine Riesengestalt, seine Biederkeit, seine komische Sprache erweckten ihm namentlich die Freundschaft der beiden kleinsten Hoheiten, die gar nicht von ihm wegzubringen waren.

Der junge Offizier und sein Bursche durften daher nur in den dringendsten Fällen an Bord zurückgehalten werden, schienen aber trotz dieser Bevorzugung nichts weniger als in gehobener Stimmung zu sein. Herberts Züge vor allem lagen fast immer im Bann eines tiefen Ernstes. Wenn er auch mit Festigkeit in die Zukunft sah, so quälte ihn doch der Schmerz über Hildes Ablehnung und die Aussicht auf eine lange Trennung von ihr. Frettwurst aber konnte nicht recht froh werden angesichts der Trauer, die seinen Herrn erfüllte.

Gerade heute stand Herberts Sinn am wenigsten nach Lustbarkeiten, denn auf sein Gesuch war Antwort eingetroffen und zwar – eine abschlägige! Seine Majestät, hieß es darin, habe sich ausnahmsweise in der Lage gesehen, die Bewilligung hinauszuschieben. Gebhardt möge seinen Entschluß doch noch einmal prüfen; wenn er dann zu keinem anderen Ergebniß komme und sicher sei, den Konsens zur Heirath nicht erbitten zu dürfen, da dieser allerdings nur für eine standesgemäße Ehe in Aussicht gestellt werden könnte, so werde es ihm anheimgegeben, das Gesuch zu wiederholen.

Sonst pflegte man mit jungen Offizieren, die des Dienstes überdrüssig waren, nicht viel Federlesens zu machen. Das Entgegenkommen, das in jener Antwort lag, bewegte Herbert tief, und doch vermochte er seinem Chef, der zweifellos diese Entscheidung bewirkt hatte, nicht dankbar zu sein. Nun war er erst recht in eine schiefe Lage gerathen! Ganz abgesehen davon, daß wohl an die Ertheilung des Konsenses nach wie vor nicht zu denken war, wie ja das Schreiben selbst andeutete – Hildes Brief hatte ihm gar kein Recht gelassen, um den Konsens nachzusuchen! Und so bedeutete die scheinbare Wohlthat für ihn nur eine grausame Verzögerung. Es blieb nichts anderes übrig, als einfach die Bitte um Entlassung zu wiederholen.

Unter solchen peinlichen Erwägungen hatte Herbert sich dem Ausflug anschließen müssen. Er litt unter diesem Zwang, obgleich in der frohen Gesellschaft von der Steifheit des Hoflebens wenig [112] zu merken war. Die Prinzessin neigte ohnehin schon zu bürgerlicher Einfachheit, und dieser Zug machte sich hier auf dem Lande doppelt geltend. Nur die Anreden und die Ehrerbietung von seiten der Begleitung zeugte von dem Rangunterschied innerhalb der munteren Gesellschaft.

Die allgemeine Lustigkeit steigerte sich noch hei der Landung. Denn zwischen Boot und Ufer blieb ein Raum, der durch keine Laufplanke zu überbrücken war. Man mußte also wohl oder übel die Arme der Matrosen oder in weniger ceremoniellen Fällen deren Rücken in Anspruch nehmen. Die Leute vollzogen willig den ebenso leichten als heiteren Dienst, nachdem sie, die Beinkleider hoch hinaufgestreift, in die durchsichtige Fluth gesprungen waren.

„Mama, Mama, dürfen wir auch so ins Wasser gehen?“ flehten die beiden Nesthäkchen von Prinzessinnen und wollten sich schon daran machen, Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Zu ihrer Betrübniß ward ihnen diese Anpassung an die Marine nicht gestattet, und so mußte Frettwurst den Christophorus für sie spielen. Das war auch nicht übel. Auf seinen Schultern saß man unermeßlich hoch, und außerdem ließ er sich’s gerne gefallen, wenn man dabei kräftig sein kurzes Haar zerzauste.

Einen der Hofkavaliere, der wegen seiner Eitelkeit und storchartigen Grandezza überhaupt oft Gegenstand harmloser Scherze war, ließen die heimtückischen Träger vorzeitig niedergleiten. Plötzlich sah sich der Arme mit seinen unzeitgemäßen Lackstiefeln und weißen Steghosen mitten in einet zurückrollenden Welle stehen, aus der er sich durch einen verzweifelten Sprung in den tiefen Sand retten mußte. Allgemeines Gelächter erscholl, und die scheinbar betrübten Matrosen entschuldigten sich aufs eifrigste damit, daß die allzulangen Beine des Herrn Grafen vorzeitig auf den Grund gestoßen seien.

Nach vollzogener Ausschiffung begab sich die Karawane ins Innere des unbekannten Landes, um Brombeeren und Haselnüsse einzusammeln. Die Dienerschaft aber machte sich daran, den Proviant auf einen idyllisch zwischen hochragenden Buchen gelegenen grasbewachsenen Lagerplatz zu schaffen. Frettwurst durfte, als besonders verwendbar für hochragende Haselnußbüsche und müdgewordene Kinderbeinchen, die Herrschaften begleiten.

Lachend und scherzend zogen diese durch das Grün. Die Frau Prinzessin, eine hochgewachsene Blondine mit schönen klugen Augen, schritt voran, begleitet von dem Grafen mit den nassen Lackstiefeln und von Herbert, die sie beide an ihre Seite gerufen hatte. Die fürstliche Frau besaß eine große Gewandtheit, in solchen Fällen eine angeregte Unterhaltung mit dem einen Begleiter zu führen, ohne im anderen das Gefühl der Ueberflüssigkeit wachzurufen. So bekam der Graf fortwährend Gelegenheit, auf huldvolle Bemerkungen zu antworten, während sie sich aufs freundlichste mit Herbert über seine Familie, seine Reisen, seine Vorliebe für den Segelsport unterhielt.

Von Zeit zu Zeit schaute die Prinzessin den jungen Offizier prüfend von der Seite an. Das Einzige, was sie an ihm auszusetzen fand, war sein steter Ernst. Nicht, daß ihr dieser an sich mißfallen hätte, durchaus nicht. Nur das Uebermaß davon an dem jugendlichen Mann, der oft so traurige Blick seiner braunen Augen, in dem sie Weltschmerz sah, das wollte ihr nicht am Platze scheinen. Dazu trat bei ihm gelegentlich eine auffällige, im Hofleben sehr wenig beliebte Zerstreutheit. Als Menschenkennerin hatte die Prinzessin die Ursache für das gedrückte Wesen Herberts ziemlich richtig errathen, und ihre Absicht war, bei der ersten Gelegenheit der Sache auf den Grund zu gehen, um dem jungen Manne womöglich aus seinem thörichten Schmerze herauszuhelfen.

„Sind Sie auch der Ansicht, Herr Lieutenant,“ fragte sie nach einer Pause in dem Gespräch, „daß das Leben auf dem Meere melancholisch macht?“

„Nein, Königliche Hoheit! Das Seeleben für sich macht bestimmt nicht melancholisch. Das verschulden nur zuweilen Verhältnisse, die bei der völligen Abgeschiedenheit an Bord schärfer als sonst fühlbar werden.“

„Aber ich denke, einem Mann, einem Offizier vollends, bliebe immer noch der Ehrgeiz, rastlos vorwärts zu streben, und damit ein ausreichendes Gegengewicht gegen ein weltschmerzliches Ueberwuchern des Gefühlslebens.“

„Gewiß, Königliche Hoheit! Allein auch die Männer sind nun einmal verschieden beanlagt, und was bei dem einen der Ehrgeiz thut, muß bei dem andern die Zufriedenheit mit stillem Wirken vollbringen.“

„Aber solche Zufriedenheit schädigt, weil sie der Kraft ein allzuenges Ziel setzt. Der Ehrgeizige dagegen, mag er auch aus Eigennutz handeln, wirft die Menschen durcheinander, regt anderer Thätigkeit durch die seinige an. Er betheiligt sich an dem vollen Umsatz der Kräfte; also an dem, was überhaupt den Inhalt des Daseins bildet.“

„Es liegt viel Wahrheit in den Worten Eurer Königlichen Hoheit; mir aber bleibt jener andere doch die Erscheinung, mit der ich mich besser befreunden könnte.“

„Weil Sie selber ein Träumer sind.“

„Ich glaube, das ist keine besondere Schmeichelei für einen Soldaten, Königliche Hoheit.“

„Nein,“ erwiderte die Prinzessin ehrlich. „Ich halte Sie aber trotzdem für einen tüchtigen Offizier; Ihre Art im Dienste hat mir das gezeigt – unsereins lernt ja, dergleichen zu beobachten. Sie sind nur zu Zeiten ein Träumer und stehen dann wohl unter romantischen Einflüssen, unter tiefgreifenden gemüthlichen Erregungen. Oder sollte ich mich darin täuschen?“

Herberts Herz schwoll bei dem theilnehmenden Klang dieser Frage. In etwas aufgeregtem Ton entgegnete er: „Königliche Hoheit haben sich nicht getäuscht. Gerade jetzt – – “

„Sind Ihre Füße, wieder trocken, lieber Graf?“ wandte sich die Prinzessin, die Rede ihres jungen Begleiters abschneidend, an den Kavalier zur Linken.

Herbert biß sich auf die Lippen.

Der Graf erklärte, wieder ganz angenehm einherzuwandeln, und wehrte sich mit feierlicher Ehrfurcht gegen die Neckereien der Prinzessin, über die geschädigten Lackstiefel und den sicher bevorstehenden Schnupfen.

So plaudernd, langte man bei einem Gebüsch an, wo die Nüsse in dichten Trauben aus dem Laube sahen. Eifrig betheiligten sich die Herren am Pflücken, sogar der Graf ließ sich durch die freundlichen Warnungen, bei seinen dünnen Stiefeln vor dem Angriff von Igeln, Schlangen und ähnlichem schlimmen Gethier auf der Hut zu sein, nicht abschrecken, in die knackenden rauschendes Büsche einzudringen.

Als die mitgebrachten Säckchen genügend vollgestopft waren, begab man sich auf den Rückweg. Das jüngste Prinzeßlein hatte auf Frettwursts Arm Platz genommen, weniger aus Müdigkeit als in dem Wunsch, auf diese Weise besser mit ihm spaßen zu können. Der lange Bursche fühlte sich ganz wohl unter dem wilden, aber gutmüthigen Regiment des kleinen Volkes, nachdem er biedersten Schwierigkeiten der Anredeform durch kühne Selbsthilfe überwunden hatte. „Kleine Prinsessin, Sie müssen nich so mit die Beine strampeln,“ mahnte er gelegentlich, oder: „Hoheit Prinsessin dürfen mich die Brummelbeeren aberst nich aufs Hemd smeißen, das giebt Placken, die nich auszukriegen sünd.“ Das übermüthige Ding steckte ihm nämlich jubelnd eine Brombeere nach der andern in den Mund, der ebenso wie der ihrige schon eine gehörige Einfassung zeigte.

Als man wieder auf dem Lagerplatz eintraf, waren die über ein Reisigfeuer gesetzten Kartoffeln noch nicht weich. Man setzte sich daher im Kreise ins Gras und hielt den Hunger einstweilen mit Nüssen hin.

„O, ich hab’ ein Vielliebchen!“ rief das jüngste Prinzeßchen, das eine Doppelnuß geknackt hatte, freudig aus. „Das muß Frettwurst mit mir essen!“ Und schnell enteilte sie zu dem jetzt am Herde beschäftigten Kameraden.

Völlig im Unklaren über den Brauch des Vielliebchens, ließ sich Frettwurst willig den Kern zwischen die Zähne schieben; im nächsten Augenblick drückte ihm die Kleine einen Löffel in die Hand und schrie triumphierend: „Guten Morgen, Vielliebchen! Gewonnen, gewonnen! Nun müssen Sie mir etwas schenken! Wissen Sie was? Sie müssen mir ein Schiff mit drei Masten machen, das ordentlich segeln kann! Wollen Sie das? Bitte, bitte!“

Frettwurst versprach, sein Bestes zu thun, obgleich er von dem Rechtsgrund seiner Verpflichtung sehr wenig überzeugt schien.

Herbert war wieder an die Seite der Frau Prinzessin gerufen worden. Er handhabte zwei Feldsteine, zwischen denen er die Nüsse seiner Gönnerin zertrümmerte. Und auch hier wurde ein Doppelkern gefunden.

In der Zwanglosigkeit des Augenblicks, angeregt durch das

[113]

Mentone.
Nach einem Gemälde von C. Wuttke.

[114] Beispiel ihrer Jüngsten, bot die in fröhlichster Laune befindliche Fürstin dem Offizier ein Vielliebchen an. Mit tiefer Verbeugung nahm dieser den Kern entgegen.

„Also wie soll’s gelten, Herr Lieutenant? Machen wir’s bei der ersten Begrüßung morgen aus ober sofort aus die hinterlistige Art des Gebens und Nehmens?“

„Wie Königliche Hoheit befehlen.“

„Natürlich auf Geben und Nehmen, Mama, das ist viel lustiger!“ entschieden die Prinzessinnen.

„Fügen wir uns denn dem Verlangen der Kinder, Herr Lieutenant. Auf Geben und Nehmen! Doch eines mache ich zur Bedingung: der gewinnende Theil bestimmt das Geschenk, das er zu haben wünscht! Und nun – ehrlich Spiel!“

Herbert verbeugte sich zustimmend. Er durchschaute seine hohe Partnerin. In der Annahme, er werde sie gewinnen lassen, wollte sie ihn von vornherein an der Thorheit einer kostbaren Gabe hindern. Allein er gedachte keineswegs, diese Entwicklung zu unterstützen. Ein Gedanke, ein unverschämt kühner Gedanke hatte ihn durchzuckt.

Das Spiel begann, und offenbar trachtete die Prinzessin thatsächlich nach dem kleinen Triumph, ihn zu überrumpeln, denn als er zu ihrem Erstaunen stets ein pünktliches „Ich denke dran“ in Bereitschaft hatte, wurde sie förmlich eifrig in ihren Versuchungen und rief schließlich halb scherzhaft, halb ärgerlich: „Ach gehen Sie, Sie sind langweilig aufmerksam!“

„Ich bin eben kein Träumer, Königliche Hoheit,“ erlaubte sich Herbert zu bemerken.

Inzwischen war das einfache Mahl fertig geworden und wurde in der bequemsten Lage verzehrt. Für die Prinzessin war ein Tischchen aus Steinen hergestellt worden, die übrigen setzten den Teller in den Schoß oder speisten liegend unmittelbar vom grünen Rasen aus. Dabei ertönte das Lachen und Scherzen weithin durch den Wald.

Die Kartoffeln in der Schale mit frischer Butter und Schinken mundeten herrlich und wurden noch gewürzt durch das groteske Bild, das der Graf der Gesellschaft bot. Mit seinen langen Beinen etwas unglücklich, sonst freilich in freundlicher Gemüthsverfassung, im Grase sitzend, betrieb er mit Würde die ungewohnte Arbeit des Kartoffelschälens; sein Monocle, das er dazu nicht entbehren konnte, stand ihm in diesem Augenblick ganz prachtvoll.

Auf den ersten Gang sollten noch Eierkuchen folgen, allein ihre Herstellung hatte sich bei den äußerst mangelhaften Hilfsmitteln verzögert, und so wurde zur Ausfüllung der Kunstpause ein Pfänderspiel eingeschoben, dem sich die Auslösung der Pfänder sofort anschloß.

Als die Reihe, die Art der Einlösung eines Pfandes zu bestimmen, an Herbert kam, bemerkte er ein besonders schlaues Lächeln in den Mienen der Prinzessin, die den Rest der Pfänder unter einem Tuche aufbewahrte. Rasch erklärte er: „Der, dem das Pfand gehört, soll für Euere Königliche Hoheit eigenhändig einen Eierkuchen backen.“

„Also bitte – Sie selbst, Herr Lieutenant!“

Allgemeiner Jubel folgte.

Mit einem leichten „Ich denke dran“ nahm er das ausgelöste Federmesser entgegen und begab sich dann zur Ausführung seiner Aufgabe wohlgemuth an die Pfanne, denn seiner auf Expeditionen im Ausland öfter geübten Kunst im Backen von Eierkuchen durfte er vertrauen. Ob freilich auch das andere gelingen würde, das er im Sinne hatte, mußte er vorläufig mit einigem Herzklopfen dahingestellt sein lassen. Kunstgerecht bereitete er das Gebäck, legte es auf einen Teller und reichte es Frettwurst, indem er dem Vertrauten dabei zuflüsterte: „Frettwurst, Sie tragen jetzt den Eierkuchen zu Ihrer Königlichen Hoheit hinüber und überreichen ihn! Sobald aber die Prinzessin zugreift, halten Sie den Teller plötzlich wie aus Ungeschicklichkeit so schief, daß es aussieht, als ob der Eierkuchen herunterfallen wolle, Für das übrige lassen Sie mich sorgen. Verstanden?“

„Zu Befehl, Herr Leutenant.“

Der junge Offizier klemmte sich nun nach Kellnerart eine Serviette unter den Arm und schritt, von den lachenden Prinzessinnen umdrängt, neben Frettwurst zum Lagerplatz. Vor der Fürstin, die nachlässig im Grase ruhte, machte er Halt.

„Nun, ist das Werk gerathen, Herr Oberkoch?“ fragte sie heiter.

„Königliche Hoheit wollen selbst urtheilen – Frettwurst!“

Frettwurst trat heran und kippte den Teller so vorzüglich, daß der Eierkuchen um ein Haar auf die weiße Robe der Prinzessin geglitten wäre. Noch eben rechtzeitig griff Herbert, einen Laut des Schreckens ausstoßend, zu, um mit verblüffender Geschwindigkeit selbst den Teller zu übergeben. Und überrascht durch die kaum abgewendete Katastrophe vergaß die Prinzessin bei der Annahme die rettenden Worte „Ich denke dran.“

„Guten Morgen, Vielliebchen, Königliche Hoheit!“

„Ah, Verräther!“

Betroffen hielt sie den Eierkuchen in den Händen, während ihre Töchter händeklatschend vor Vergnügen umhersprangen und Frettwurst sich wohlweislich aus dem Staube machte.

Ernst schaute Herbert auf die überlistete Gegnerin herab. „Verzeihung, Königliche Hoheit, Verzeihung!“

Der leichte Aerger der Prinzessin hatte schon einer verständigeren Regung Platz gemacht. Mit dem Finger drohend rief sie: „Warten Sie, mein Herr! Das hätt’ ich Ihnen wahrhaftig gar nicht zugetraut.“

„Ich mir auch nicht, aber –“

„Sie wollten um jeden Preis gewinnen?“

„So ist es!“

„Und selbst den Lohn bestimmen?“

„Nach Eurer Königlichen Hoheit eigenen Anordnung!“

„Ja, wenn ich das gewußt hätte! Und das schuldige Geschenk ist?“

„Eine Gnade, eine große Gnade –“

„Ich dachte es schon. Nun wir wollen später darüber reden!“ Sie warf einen Streifblick auf ihre Töchter, die den plötzlichen Umschlag des komischen Vorganges in einen beinahe feierlichen mit neugierigen Gesichtern verfolgten.

Herbert zog sich mit tiefer Verbeugung zurück.

„Er schmeckt übrigens prachtvoll – schade, daß ich Sie nicht für die Hofküche gewinnen kann!“ rief ihm seine hohe Gönnerin noch nach, indem sie das knusperige Ding wacker in Angriff nahm. –

(Schluß folgt.)




Frühlingsaussichten.


Die Menschen beschäftigen sich gern mit dem Wetter, eilen in Gedanken Wind und Wolken voraus und gefallen sich in Wetterprophezeiungen. Der eine hält sich dabei an die alten Lostage: die Siebenschläfer, die Lichtmeß etc. sind seine Leitsterne; der andere wartet auf Falbs kritische Tage – nur die wenigsten geben sich die Mühe, den allerdings etwas umständlichen und einen gewissen Grad von Kenntnissen voraussetzenden Apparat der meteorologischen Wissenschaft zu Rathe zu ziehen. Freilich, auch die Wissenschaft kann irren und im Wettervoraussagen irrt sie sogar häufig, aber ihre Grundsätze sind im allgemeinen zuverlässig, und so weist sie unter allen Systemen der Wetterprophezeiungen die meisten Treffer auf. Sie hat von den Räthseln des Wetters recht viele gelöst, und eine ihrer schönen Errungenschaften in der neuesten Zeit betrifft die Aufdeckung der geheimen Beziehungen, die zwischen dem Winter und dem Frühling bestehen. Auf Grund derselben sind wir unter Umständen wohl in der Lage, den allgemeinen Charakter des nächsten Frühlings aus dem Verlaus des Winters vorauszusagen. Nach dem harten heurigen Winter sehnen wir uns sicher nach der Zeit, da milde Frühlingslüfte zu wehen pflegen. Versuchen wir zu erforschen, wie sich der Frühling 1893 gestalten wird!

In alten Zeiten feierten unsere Vorfahren den Einzug des Frühlings in Deutschland u. a. durch ein Spiel, in welchem ein Ringkampf zwischen zwei vermummten Gestalten aufgeführt wurde. Die in Pelz, Stroh und Moos gehüllte Maske stellte den Winter dar; eine lichte weißgekleidete und buntbebänderte oder laubgeschmückte Gestalt pflegte als Darstellung des Sommers den Sieg davonzutragen und den Winter seiner Verhüllung zu berauben. Die Wissenschaft unserer Zeit hat gezeigt, daß dieses allegorische Spiel trefflich das Wesen des Frühlings charakterisiert. Ja, auch nach den Lehren der Meteorologie ist der schöne Lenz ein Kampf, den zwei Mächtige auf unseren Gefilden miteinander ausfechten, und diese Mächtigen sind das große Festland Asiens und der Atlantische Ocean.

Ueber dem asiatischen Festland und dem europäischen Rußland befindet sich im Winter ein Gebiet hohen Luftdruckes, welches seine Arme bis in das Herz von Europa ausstreckt; zu gleicher Zeit lagert über dem [115] Atlantischen Ocean ein Gebiet niedrigen Luftdrucks, und so kommt es, daß im Winter in Mitteleuropa Festlandwinde vorherrschen, die uns starke Kälte und klare Tage bringen.

Im Sommer ist die Luftdruckvertheilung gerade entgegengesetzt; unter dem Einfluß der höher steigenden Sonne erwärmt sich das Land rascher als das Meer; ein Luftdruckmaximum liegt alsdann über dem Atlantischen Oecean, ein Minimum ist in Asien zu finden. Nun wird Mitteleuropa von den Winden des Oceans getroffen, und die Zeit, in welcher diese Luftströmungen bei uns die Oberhand gewinnen, bedeutet des Frühlings Einzug.

Man sollte meinen, daß der Frühling, dem scheinbaren Aufsteigen der Sonne am Himmel entsprechend, von Süd nach Nord fortschreiten sollte; denn je mehr wir uns von der Winterzeit entfernen, desto länger werden die Tage, desto mehr Licht und Wärme empfangen die Länder von der Sonne, und die südlicher gelegenen sind dabei im Vorsprung im Vergleich zu den nördlicheren. Die Erfahrung lehrt aber, daß der Frühling in Deutschland nicht von Süd nach Nord, sondern mehr von West nach Ost fortschreitet. Schon die Beobachtung des aufsprießenden Pflanzenlebens lehrt uns das. Reisen wir durch Deutschland Ende April oder Anfang Mai in der Richtung von Nordost nach Südwest, von Königsberg nach Basel, so ziehen wir sozusagen in den Frühling hinein. Die Roßkastanie sei für uns das Wahrzeichen! Im äußersten Norden schwellen erst ihre glänzenden Knospen, dort erwacht erst das Leben; im mittleren Deutschland sind um dieselbe Zeit bereits die ersten Blätter entfaltet und am Oberrhein spenden die Blätter bereits reichlichen Schatten. Ein Wahrzeichen des vollen Frühlings ist auch das Blühen des Flieders (Syringa vulgaris). In dem wärmsten Theile Deutschlands, in den Thälern des Oberrheins, duftet der Flieder schon in der zweiten Hälfte des April, in Nordwest- und Mitteldeutschland in der ersten Hälfte des Mai, während die nordöstlichen Gebiete, Ost- und Westpreußen, Posen, Pommern, Mecklenburg und Schleswig-Holstein erst in der zweiten Hälfte des Mai mit diesem Blüthenflor sich schmücken.

Klarer noch zeigt uns das Thermometer das Vorrücken der Wärme von West nach Ost. Der Winter gilt als gebrochen, wenn die Durchschnittstemperatur der Tage nicht mehr über 0 Grad sinkt, denn alsdann tritt das beständige Thauwetter ein.

Jahrelange Beobachtungen haben nun ergeben, daß im Westen Deutschlands das Thauwetter viel früher als im Osten eintritt, ohne daß die südlichere oder nördlichere Lage eines Ortes dabei ausschlaggebend wäre. So haben das südliche Basel und das im Norden gelegene Hamburg die Durchschnittstemperatur von 0 Grad in der Regel um dieselbe Zeit, etwa um den 1. Februar, obwohl sie nahezu um 7 Breitengrade voneinander entfernt sind. Danzig hat bei normalem Verlauf der Jahreszeiten diese Temperatur erst 11/2 Monat später, und im Memel pflegt das Eis erst in der letzten Woche des März aufzuthauen.

Der Frühling zeigt aber nicht immer den programmmäßigen Verlauf; bald tritt er früher ein, bald verspätet er sich, bald ist er freundlich, warm, bald unwirthlich und kühl. Unser Klima ist eben wetterwendisch, und seine Schwankungen werden vor allem durch die Vertheilung der Luftströmungen auf dem Festlande und dem Meere verursacht; außerdem aber kommen noch andere Erscheinungen zur Geltung, die nicht in der Ferne schweben, sondern an unserm Grund und Boden haften. Einen ungemein großen Einfluß auf das Klima und auch auf die Gestaltung des Frühlings hat der Winterschnee. Es ist noch nicht lange her, daß die Klimatologen die Bedeutung der Schneedecke für die Entstehung der Klimate der Erde erkannten; abgesehen von einigen vorübergehenden Versuchen in früheren Zeiten wurden erst seit dem Jahre 1886 durch Lang in München systematische Beobachtungen der Schneedecke für Bayern organisiert; aber auch aus den allgemeinen, noch lückenhaften Aufzeichnungen früherer Zeiten konnten die Klimatologen, namentlich Woeikoff und Hann, wichtige Schlüsse ziehen.

Auf Grund dieser Arbeiten können wir hervorheben, daß die Schneedecke die Erwärmung der Luft durch die Sonnenstrahlen hindert. Die Luft wird erst warm, wenn der Boden erwärmt worden ist, der Schnee aber wirft einen großen Theil der Sonnenstrahlen zurück und erwärmt sich niemals über 0 Grad; hat er diese Temperatnr erreicht, so beginnt er zu schmelzen und verbraucht dabei ungeheure Mengen Wärme. Mit der Wärme, die genügt, um 1 Kilogramm Schnee von 0 Grad in Wasser von gleichfalls 0 Grad Temperatur zu verwandeln, könnte man die Temperatur von 791/4 Kilogramm Wasser um 1 Grad erhöhen, oder 1 Kilogramm Wasser geradezu heiß machen. So verschluckt die Schneedecke, die sich im Winter angesammelt hat, sowohl die Wärme, welche die Sonne spendet, als die der oceanischen Winde, und man kann wohl behaupten daß, je höher und ausgebreiteter die Schneedecke ist, die Erwärmung der Luft, der Einzug des Frühlings um so später erfolgen wird. Natürlich hat die Schneedecke nur dann größere Bedeutung, wenn sie sich über größere Gebiete der Erde, über ganze Länder erstreckt.

In der That ist auch durch Beobachtungen festgestellt worden, daß auf sehr kalte, aber schneearme Winter sehr warme Frühlingsmonate folgen können, während schneereiche Winter, in denen sich die Schneedecke gut ausbilden konnte, einen kalten Frühling nach sich ziehen. Woeikoff stellte derartige Untersuchungen für Rußland an. Wir heben aus ihnen nur zwei Beispiele hervor:

Der Frühling des Jahres 1848 war der wärmste des Jahrhunderts in Rußland; ihm aber war ein so schneearmer Winter vorangegangen, daß die Erinnerung an ihn sich jahrzehntelang im Landvolke erhielt, und dabei war dieser Winter kalt gewesen. In einer Beobachtungsreihe von 140 Jahren war der Frühling, namentlich der Mai, von 1867 der kälteste in Rußland gewesen. Der Winter 1866 bis 1867 war aber ungewöhnlich schneereich. Genauere Messungen der Schneedecke liegen aus jener Zeit nicht vor, aber die Ueberschwemmungen, die in jenem Jahre stattfanden, lassen auf die Menge des gefallenen Schnees schließen. Damals hatte die Wassehöhe der Wolga bei Astrachan ihren höchsten bekannt gewordenen Stand erreicht, und das Hochwasser war so stark und andauernd, daß der Spiegel des Kaspischeu Meeres sich um 2 Fuß hob.

Wir hatten in diesem Jahre einen strengen Winter und er war auch nicht arm an Schneefällen, die andauernde Kälte des Januar begünstigte die Bildung der Schneedecke, aber Ende Januar trat ein andauerndes Thauwetter ein, und dieses räumte unter dem Schnee so gehörig auf, daß es Hoffnungen auf einen milden Frühling wecken kann. C. Falkenhorst.     



Blätter und Blüthen.



Mentone. (Zu dem Bilde S. 113.) Unter den Genesungsorten der köstlichen Riviera hat Mentone seinen Kolumbus verhältnißmäßig spät gefunden. Es war der französische Arzt Bennet de Malherbe, der in den fünfziger Jahren Klima und Landschaft von diesem Theil der Riviera in so poesievoller und verlockender Weise darstellte, daß sofort eine Völkerwanderung von Engländern nach Mentone begann. Diese erzählten Wunder von dem schönen Fleck Erde, und nun zogen auch die Deutschen dahin. Mancher, der früher seine kranken Lungen nach Montreux oder Meran geflüchtet, kam jetzt nach Mentone, und die Entwicklung des Ortes begann. Mentone ist aber französisch, und so wird es von Deutschen gegenwärtig weniger besucht, nur England ist ihm treu geblieben, und mit Fug und Recht nennt man den Ort eine englische Kolonie. Auch zwei Stunden im Umkreise, auf allen Höhen, in allen Thälern, auf allen Promenaden der Stadt hört man nichts als Englisch sprechen. Kein noch so unscheinbares Motivchen ohne mehrere malende englische Junggräulein und Frauen; kein einziger Hotelgarten ohne einen wohlabgesteckten Lawn-Tennisplatz, und die Gasthöfe dutzendweise mit englischen oder England schmeichelnden Namen: Iles Britanniques, Albion, Londres, Westminster, Prince de Galles, Viktoria, Anglais, Grande-Bretagne, Britannia und wie sie sonst noch heißen mögen!

Dafür kann aber die gute Mutter Natur nichts, sie will alle erfreuen durch die Landschaft, die sie hier um die blaue Fluth her aufgebaut, und aus der Vogelschau dürfen wir diese uns wohl anblicken.

Das Meer bildet von der Punta St. Hospice bei Villefranche an bis zum Kap St. Ampeglio, wo Bordighera, die Palmenstadt, liegt, eine in weitem Bogen verlaufende sanfte Küsteneinbiegung. Der Rand dieser Küste erfährt jedoch wiederum verschiedene Gliederungen durch hervorspringende Landspitzen, mittels deren neue kleinere Golfe gebildet werden. Zwischen Kap St. Hospice und Kap d’Aglio liegt der reizende Busen von Eza, zwischen d’Aglio und Kap Martin der Busen von Monaco, zwischen Kap Martin und Kap della Murtola der mentonesische Busen, und dann folgt der von Ventimiglia, wo die französische Herrlichkeit ein Ende hat.

Der Golf von Mentone erfährt ungefähr in der Mitte eine stark ausgeprägte Unterbrechung durch einen bis ganz dicht ans Meer herantretenden Ausläufer der den Norden abschließenden Berge; er theilt den Golf in eine Westbucht und eine Ostbucht, von denen jede ihre klimatischen Eigenthümlichkeiten und Vorzüge haben soll, über welche Mentoneser Doktoren und Gasthofbesitzer noch heute im Streite liegen. Die alten Mentoneser wählten klugerweise die goldene Mitte und bauten im 8. Jahrhundert ihr Städtlein staffelsörmig den Bergrücken hinan, dessen Spitze vor Zeiten ein Schloß krönte. Jetzt liegt hier der herrliche weithinschauende Camposanto, der Friedhof. Er ist es, der uns, wenn wir vom Westen herüberwandern, mit seinen dunklen Cypressen zuerst ins Auge fällt und unsere Seele, bei aller Pracht des Meeres und des Himmels, beim Prangen der südländischen Rosen, beim üppigen Duft der Orangenbäume, mit einem „Memento mori“ begrüßt. Sentimentale Seelen brechen in den geseufzten Wunsch aus: „Ach, dort muß es sich süß ruhen!“

Ein Achselzucken sei dem lebenslustigeren Wanderer erlaubt: er öffnet lieber die lebendigen Augen, um die Herrlichkeiten, die rings um ihn her sich aufthun mit den Blicken zu fassen. Woldemar Kaden.     

Ein pietätvoller Sohn. Der jüngstverstorbene New-Yorker Millionär Jay Gould, der ein großes Original, ein versteinerter Geldmann war von fast sagenhaftem Geiz, hat in allen Zonen der Erde Nachrufe und Leichenreden erhalten, wie sie sonst kaum den allerberühmtesten, um die Menschheit hochverdienten Männern zutheil werden. Sein Sohn hat nun durch eine Agentur diese litterarischen Totenkränze, welche die Presse Amerikas und Europas seinem Vater gewunden hat, sammeln lassen, und der Erfolg dieser Bemühungen war ein überraschender. Es sind Ausschnitte aus mehr als 12000 kanadischen und nordamerikanischen, 3000 britischen und 5000 deutschen, französischen, holländischen, italienischen, schwedischen, türkischen Blättern gesammelt worden; sie würden aneinandergereiht, einen Streifen von sechs englischen Meilen Länge bilden. Das heißt in der That die Erde mit seinem Ruhm erfüllen – wenn es nur um diesen Ruhm besser stände; denn es ist von Papa Gould nicht viel Rühmens gemacht worden, und es raschelt von sehr vielen welken Blättern in diesem Kranze. †     

[116] Der Segelschlittschuh-Sport. Das Schlittschuhsegeln, welches sich bei uns einzubürgern beginnt, ist offenbar ein Kind des Eissegelns. Die Leser, welche Gelegenheit hatten, sich eine Eisjacht in der Natur oder im Bilde – vergleiche „Gartenlaube“ 1887, Seite 29 – anzusehen oder gar eine allerdings etwas frostige Fahrt auf einem derartigen Fahrzeuge mitzumachen, wissen, daß dieses aus einem Balkendreiecke besteht, welches auf drei Kufen ruht und einen Mast mit einem oder zwei Segeln trägt. Die Mannschaft sitzt in dem Raume zwischen den Schenkeln des Dreiecks, und die hintere, drehbare Kufe dient als Steuerruder.

Der Schlittschuhsegler ist nun eigentlich nichts als eine Miniatureisjacht. Der Körper des Läufers ersetzt den Mast, und seine beiden stahlbewaffneten Füße vertreten die vorderen Kufen. Es fehlt allerdings die Steuerkufe. Diese ersetzt der Läufer durch die Bewegung seiner Füße. Auch vermag das menschliche Fahrzeug keine Passagiere mitzunehmen, und es ist für das Manöverieren einzig und allein auf seine Geschicklichkeit angewiesen.

Das älteste Schlittschuhsegel stellt Nr. 3 unserer Abbildung vor. Es besteht aus zwei kreuzweise angeordneten und an der Kreuzungstelle verbundenen Bambusstangen und aus zwei Raaen, zwischen welche ein Stück Leinwand gespannt ist. Darüber erhebt sich ein Beisegel, welches man den Topsegeln der Segeljachten abgeguckt hat. Es dient bei schwachem Winde zur Vergrößerung der Segelfläche. Weht es stärker, so wird es heruntergeklappt. Riemen zum Anschnallen des Segels an den Leib des Läufers vervollständigen die Ausrüstung.

Der Segelschlittschuh-Sport.
Zeichnung von R. Starcke.

Weniger gebräuchlich ist die in Nr. 2 veranschaulichte Segelausrüstung. Sie besteht aus zwei durch eine Bambusstange verbundenen leichten Rahmenwerken, über welche ein leichter Stoff gespannt ist. Eine größere Geschwindigkeit läßt sich damit kaum erzielen, weil die Segelfläche zu klein ist. Weit besser ist offenbar das Segel in der oberen Abbildung (1), welches überhaupt neuerdings entschieden bevorzugt wird. Es ist leichter herzustellen, weil dazu nur zwei an der Kreuzungsstelle verbundene Stangen gehören, über welche man ein Segel spannt. Der Läufer steht, wie ersichtlich, zwischen den Stangen und dem Segel und hält eine Stange mit den Händen fest.

Die drei Stellungen der Segel sind annähernd die gleichen wie beim Segeln auf dem Wasser. Bald läuft der Segler vor Wind, indem er sein Segel nach hinten dreht; bald mit halbem Winde, wenn die Brise von der Seite kommt; bald endlich hart am Winde, wenn es gilt, der Windrichtung in Zickzacklinien entgegenzufahren. Das letztere nennt man Aufkreuzen. Bedingung für den Erfolg dieses Aufkreuzens ist, daß der Träger des Segels nicht „abtreibt“, also nicht vom Wind seitwärts gedrängt wird, sonst nähert er sich dem Ziele nicht oder entfernt sich gar von demselben. Dazu ist es aber erforderlich, daß der Träger des Segels an einem Körper – beim gewöhnlichen Bootsegeln an dem Wasser – einen Halt findet. Damit ist ausgesprochen, daß der Schlittschuhsegler nicht so leicht aufkreuzt wie ein Segelboot, weil er mit seinen Stahlschuhen in das Eis nicht tief genug eingreift. Er treibt deshalb leichter ab. Dieses Abtreiben möglichst zu verringern, benutzt man daher bei diesem Sport sehr lange, 7 bis 8 Centimeter über den Fuß hinaus reichende Schlittschuhe, die den Halt erhöhen. Gewöhnliche Schlittschuhe mit Halifaxkurve eignen sich deshalb nicht. Räthlich ist es, man sucht irgend einen Punkt durch Aufkreuzen zu erreichen und 1äßt sich dann vom Winde mit dem Segel auf dem Rücken nach dem Abgangspunkt zurücktreiben. So lernt man das Handhaben des Segels am bestem Auch ist es gut, bei leichtem Winde anzufangen und sich erst dann bei frischer Brise aufs Eis zu wagen, wenn man eine gewisse Fertigkeit erlangt hat. Weht es hart, so gehört eine Geschwindigkeit von 20 bis 30 Kilometern in der Stunde nicht zu den Unmöglichkeiten. G. van Muyden.     


Vor dem Kommando „Friß!“ (Zu dem Bilde S. 101.) Der Elefant ist ein kluges Thier und in unseren zoologischen Gärten sammelt er stets ein großes Publikum um sich, welches unermüdlich dem Kunststück zusieht, wie geschickt ein solcher Koloß ein 5- oder ein silbernes 20-Pfennigstück aufheben und seinem Wärter reichen kann. Die Elefanten, welche auf unserer Abbildung in Reih und Glied treu nach dem Leben erscheinen, sind nicht zu solchen müßigen Kunststücken verdammt; sie sind Mitglieder einer Elefantenbatterie, wie sie die englische Armee in Ostindien besitzt, und somit höchst nützliche Thiere, welche wohl einexercirt auf jedes Kommando hören und über steile Gebirgspässe und anderes schwieriges Gelände Geschütze kleineren Kalibers auf ihrem Rücken tragen.

Unser Zeichner führt sie uns aber in einer friedlichen Thätigkeit vor, denn sie treten gerade zum Frühstück an. Die übliche Ration besteht aus fünf Päckchen zu je 2 Pfund rohen Reises für jeden Elefanten. Die Batteriethiere stürzen sich nicht auf das Futter, sondern bleiben hübsch in Reih und Glied stehen, bis das Kommando „Friß!“ ertönt; aber selbst dann greifen sie nicht mit dem Rüssel nach dem Reis, sondern sperren nur die Mäuler auf, damit ihnen der Reis hineingeworfen werde, und zwar in einzelnen Zweipfundbissen. Sie werden so gefüttert, damit sie den Reis nicht unnöthigerweise zerstreuen.

Schon seit alten Zeiten wurden die Elefanten zu kriegerischen Zwecken verwendet: sie kämpften bereits gegen die griechischen Phalangen und gegen die römischen Legionen. Heutzutage wird nur der indische Elefant gezähmt; die Karthager aber führten auch afrikanische Elefanten gegen die Römer ins Feld. Die Kunst, sie zu zähmen, ist inzwischen in Afrika vernachlässigt und völlig vergessen worden. In neuester Zeit, als man an die Erschließung des Dunklen Welttheils ging, führte man in Ostafrika und am Nil indische Elefanten ein, um mit deren Hilfe die afrikanischen zu zähmen. Aber die Versuche verliefen im Sande, und wir werden schwerlich jemals wieder in Afrika gezähmte Elefanten sehen oder über deutsch-ostafrikanische Elefantenbatterien verfügen. Der afrikanische Elefant ist der Ausrottung preisgegeben, und man braucht ihn auch nicht mehr als Lastthier, denn das Dampfroß schickt sich an, den Dunklen Welttheil zu erobern.*     



Inhalt: Freie Bahn! Roman von E. Werner (6. Fortsetzung). S. 101. – Vor dem Kommando „Friß!“ Bild. S. 101. – Eine muthige Frau. Von Minna Cauer. S. 104. Mit Bildniß S. 106. – Genesung. Bild. S. 105. – Böhmische Granaten. Von Th. Gampe. S. 107. Mit Abbildungen S. 107., 108, 109 und 110. – Auf Geben und Nehmen. Novelle von Johannes Wilda (6. Fortsetzung). S. 110. – Mentone. Bild. S. 113. – Frühlingsaussichten. Von C. Falkenhorst. S. 114. – Blätter und Blüthen: Mentone. S. 115. (Zu dem Bilde S. 113.) – Ein pietätvoller Sohn. S. 115. – Der Segelschlittschuh-Sport. Mit Abbildung. S. 116. – Vor dem Kommando „Friß!“ S. 116. (Zu dem Bilde S. 101.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Veröag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.