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Die Gartenlaube (1894)/Heft 11

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[165]

Nr. 11.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Martinsklause.
Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(10. Fortsetzung.)


Am Ufer stand Wicho und löste den Waldschragen; er wollte auf Mutter Mahtilts Geheiß hinausfahren in den Weitsee und Umschau nach Sigenot halten. Schon setzte er den Fuß auf den Schragen; da klang aus dem Fichtenwald der Lockruf eines Sperbers. Betroffen lauschte Wicho ... noch zweimal klang der Ruf, und da lief der Knecht den Bäumen zu; denn er wußte, wer sich mit diesem Ruf zu melden pflegte, wenn es Ursache gab, den Laut der Stimme zu meiden. Als Wicho den Schatten des Waldes erreichte, blieb er stehen und spähte umher, doch er gewahrte niemand; leise ahmte er den Ruf des Sperbers nach, und aus dem tieferen Walde kam die Antwort. Wicho sprang über die Fallstämme und moosigen Steinblöcke. Da sah er im tiefsten Schatten seinen Herrn an einen Baum gelehnt, schwer atmend, wie erschöpft von raschem Lauf.

„Aber Herr! Wie kommst Du nur daher in den Wald? Bist doch ausgefahren auf dem Einbaum. Und warum ...“ da stockte dem Knecht die Sprache; er hatte Sigenot erreicht und stand erschrocken bei seinem Anblick. Naß hing das Haar über Sigenots Schläfe, seine Augen lagen tief und brannten, seine Lippen zuckten, und fahle Blässe bedeckte seine Wangen. Sein ganzes Gewand, von den Schuhen bis zum Halse, war schwer von Nässe. Auf der linken Schulter war das Wams zerfetzt und dünnes Blut rann in Fäden über den nackten Arm, an welchem die Haut zerschunden war.

„Herr! Herr!“ jammerte den Knecht und schlug die Hände ineinander. „Was ist denn geschehen ...“

Sigenot streckte die Hand, gegen Wichos Mund, und da verstummte der Knecht. Der Fischer richtete sich auf, und leise mit bebender Stimme sagte er „Wicho! Ich bin dein Herr“


Eine Kindervolksküche in Berlin.
Nach einer Originalzeichnung von F. Müller-Münster.

[166] Flüsternd klang die Antwort. „Und ich Dein Knecht, Dir eigen auf Tod und Leben.“

„Mein ist Dein Leib, Dein Gebein und Haar, mein ist Dein Aug’ und Ohr ... aber ich laß Dir alles und will nur Deine Treu’. Leg den Schweigschwur in meine Hand!“ Wicho berührte mit den Fingern die Lippen und legte die Hand in Sigenots Rechte. „Unsere Händ’ liegen ineinander, Wicho, wie Stein in Stein. Steh’ Du für mich, wie ich stehen will für Dich!“

„Herr!“ stammelte der Knecht. „Wenn ich Dich anschau’, wird mir kalt ums Herz. Was ist denn geschehen?“

Sigenot löste die Hand. „Das sollst Du hören. Jetzt geh’ hinein ins Haus. Heut’ in der Nacht hab’ ich das Schwert meines Vaters von der Wand genommen, und in meiner Kammer hab’ ich’s geborgen unter der Wolfshaut auf dem Lager. Geh’ hinein ... und daß es Mutter und Schwester nicht merken, schieb’ das Schwert zum Fenster hinaus und bring’ mir’s her!“

Wicho wollte davoneilen, aber er wandte sich wieder um und fragte: „Was soll ich denn sagen im Haus? Sie haben sich gesorgt um Dich!“

„Sag’, ich wär’ gekommen und hätt’ einen Weg ... zum Richtmann in die Schönau.“

Während der Knecht dem Hagthor zusprang, ließ sich der Fischer auf einen Steinblock nieder, löste einen Ballen Moos vom Grund, faßte eine Handvoll der schwarzen kühlen Erde und drückte sie auf die brennenden Schürfwunden seines Armes. Er wußte kaum, daß er es that; seine Blicke gingen ins Leere, seine Lippen waren herb geschlossen, und zwischen seinen Brauen lag eine Furche, scharf wie ein Messerschnitt.

Als Wicho über die Hofreut emporstieg, eilte ihm Edelrot entgegen. „Kommt er? Kommt er?“

Der Knecht meldete, was Sigenot ihm aufgetragen, und bei dem Jubel mit welchem Edelrot diese Botschaft ihrer Mutter zutrug, konnte Wicho unbemerkt in die Kammer schlüpfen. Er brachte das Schwert in den Wald. Sigenot zog die breite Klinge, prüfte ihre Schärfe, stieß sie wieder zurück ins Leder und legte das Schwert über den Schoß. „Von Stund’ an geht mein Weg unter Eisen!“ Er blickte auf. „Wicho! Sie wollen mir ans Leben!“

Der Knecht erbleichte.

„Komm’, setz’ Dich zu mir und hör’ an! Vor zwei Tagen ist Hennings Pfeil vorbeigeflogen an meinem Hals, und heut’ auf dem Weitsee hat der Steinblock mich gestreift, den seine Händ’ gelöst haben. Ich bin mit dem Einbaum zugefahren unter den Moospalfen, um die Legangel zu heben. Wie ich die Hand streck’, hör’ ich ein Rollen über mir ... ich schau’ noch auf und seh’ den Block schon niedersausen. Aber da ist einer zu mir gestanden, den ich gerufen hab’ in der Not, und der hat mir Kraft gegeben! Wie ein Wolf unter der Baumfall’, so hab’ ich einen Sprung zur Seit’ gethan. Schulter und Arme hat mir der Stein gestreift, und derweil ich hinausflieg’ ins Wasser, saust der Fels gegen den Spiegel des Einbaums, daß der Hohlbalken hingesurrt ist über den See wie ein Pfeil. Mich hat der Wasserschwall unter die überhängende Wand geschwemmt ... schier hätt’ mich das Ringhemd, das ich trag’ unter dem Wams, hinuntergezogen. Aber zur rechten Zeit noch hab’ ich die Angelschnur gefaßt, die am Fuß des Palfens eingeklemmt war in einen Steinriß. Und der Faden hat ausgehalten ... es war eine feste Schnur, die mein Rötli geflochten! Um zu merken, daß nicht der Zufall den Stein gelöst, hätt’ ich nicht erst noch von der Höh’ des Palfens herunter Hennings Gelächter hören brauchen. Nur das Gesicht und die Hand noch über dem Wasser, so bin ich gehangen im See und hab’ mich still gehalten und gewartet, bis ich von Henning, der hinaufgestiegen ist über die Seewand, keinen Tritt und Laut mehr gehört hab’. Dann hab’ ich versucht, daß ich zwischen dem steil ins Wasser fallenden Gewand’ ein Flecklein erreich’, wo ich aussteigen könnt’. Es ist mir hart geworden, Wicho, gezogen hat’s an meinen Füßen, als hätt’ mich schon der Bid gefaßt und möcht’ mich hinunterreißen, dorthin, wo mein Vater liegt.“ Tief atmend verstummte Sigenot.

Wicho sprang auf und hob die Fäuste gegen den Himmel. „Hauset denn keiner mehr im Gewölk, der den Hamwer wirft und die Donnerkeil’? Fahrt denn nicht bald ein Blitz herunter über Wazemanns Haus? Thut nicht die Erd’ sich auf und verschlingt die Mordbrut?“

„Laß gut sein Wicho, und schilt nicht!“

„Ich soll nicht schreien in der Not? Wer hilft uns denn, wenn’s die nicht thun, die über uns sind und unter uns? Stehen wir nicht gegen die Wazemannsleut’ wie die Geißen gegen die Wölf’? Meinst, sie werden ablassen von Dir? Wer soll Dir denn helfen? Wie willst Dich wehren?“

Sigenots Augen blitzten, und seine Faust umklammerte den Schwertgriff. „Wenn es herging’ um mich allein ... ich wüßt’ schon was ich thät’. Aber an mir hängen Mutter und Schwester, die mich brauchen.“ Seine Stimme verlor sich in Murweln. „Ein einzigmal hab’ ich vergessen, daß ich meiner Schwester Bruder bin ... und zur Straf’, das spür’ ich, soll ich keine frohe Stund’ mehr haben im Leben.“

„Herr?“ stammelte Wicho.

Da faßte Sigenot die Hände seines Knechtes, und in heißer Qual lösten sich die Worte von seinen Lippen. „Wicho! Wicho! Ich bin wie ein Ferch, der ans Land gesprungen nach einer roten Blum’. Jetzt liegt er im Sand und muß verschmachten und verdursten ... und kann den Heimweg nimmer finden ins Wasser, dem er zugehört.“

„Ich versteh’ Dich nicht. Deine Red’ ist wie eine Nuß, die meine Zähn’ nicht beißen können. Schlag’ sie auf und zeig’ mir den Kern!“

Sigenot schüttelte den Kopf und streifte mit der zitternden Hand über die Stirne. Rach einer Weile sagte er: „Weißt Du, warum sie mir ans Leben wollen?“

„Ich denk’ mir’s.“

„Sie fürchten, ich halt’ zu den Klosterleuten, die gekommen sind und Herrenrecht haben an unser Thal.“

„So? Wohl wohl, das kann schon sein! Aber der Grund, den ich mir gedacht hab’, liegt noch ein lützel näher. Denk’ an Deine Schwester, wie süß und lieb ihr Gesicht ist ... und nachher denk’ an die Wazemannsbuben. Sie wollen das Lamm reißen – da ist ihnen der Hüter im Weg.“

„Wicho!“ Mit zornigem Schrei war Sigenot aufgesprungen.

Hastig erzählte der Knecht, was er gehört und gesehen, als Henning vor dem Hagthor stand.

Sigenots Gesicht war fahl, jeder Zug in seinem Antlitz hart wie Stein. Durch das dunkle Gewirr der Zweige spähten seine Augen hinauf gegen Wazemanns Haus und mit zuckender Hand griff er an seine Brust, als könnte er gewaltsam von sich abreißen, was ihm das Herz bedrückte. „Ein Wasser soll sein zwischen mir und ihnen, ein Wasser, so breit, daß kein Baum gewachsen ist für einen Steg. Nichts anderes will ich, als meiner Schwester Bruder sein und meiner Mutter Sohn!“ Er wandte sich zu dem Knecht. „Wicho! Dein Wort hat Feuer in mich geworfen, aber ich dank’ Dir! Jetzt hat der Ferch wieder heimgefunden ins Wasser!“ Tief atmend schlang er das Gehäng des Schwertes um seine Hüfte. „Geh’ hinein ins Haus! Schick’ die Heilwig zur Alben ... sie soll das Vieh betreuen und meine Sennen heimschicken. Wir brauchen Männer im Hof. Eh’ die Dirn’ zur Alben steigt, soll sie auf dem Schragen in den Weitsee fahren und den Einbaum holen. Laß ihn nicht liegen an der Länd’, sondern schleif’ ihn hinter den Hag. Dann schließ’ das Thor und leg’ die Sperrbalken ein. Und meine Schwester laß keinen Schritt aus der Hofreut thun ... hörst Du, keinen Schritt!“

„Keinen Schritt, oder sie müßt’ weggehen über mich!“

„Solang’ es sein kann, laß die Mutter nichts merken! Ich selber will reden mit ihr, wenn ich heimkomm’ zur Nacht! Jetzt geh’!“

„Und Du, Herr? Oder soll ich nicht wissen, wohin Du gehst?“ „Ich geh’, wohin ich muß! Wohin das Recht mich ruft, wohin die eigene Not mich treibt, zum Lok’stein! Wahr’ mein Haus, Wicho, bis ich wiederkomm’!“

„Verlaß Dich auf mich!“

Ihre Hände faßten sich; dann nickte der Fischer und eilte waldeinwärts, dem Thal der Ache entgegen. Wicho sprang hinaus auf die offene Lände; hier spähte er nach allen Seiten, doch alles war ruhig. nur von Wazemanns Haus herab tönte das Gekläff der Hunde. Als Wicho die Hofreut erreichte, kam Heilwig gerade von den Ställen her. Kopfschüttelnd hörte sie den Auftrag, den der Knecht ihr überbrachte. Sie hätte wohl gerne die Neugier gestillt, die in ihr lebendig wurde, aber Wicho machte sie schweigen mit einem zornigen Wort. Er schob sie vor den Hag hinaus und schloß hinter ihr das Thor.

[167] Da nahm es ihn Wunder, daß Edelrot nicht zu sehen war. „Sie wird im Haus bei der Mutter sein!“ Er eilte über den Hügel empor und trat unter die Thür der Halle. Neben dem Herd saß Mutter Mahtilt im Lehnstuhl und schlummerte; die Nachricht, daß Sigenot zurückgekommen sei, hatte ihre Sorge beschwichtigt, und nach der ruhelosen Nacht, in der dumpfen Schwüle des Nachmittags war in der ersten ruhigen Stunde der Schlaf auf ihre müden Lider gesunken.

„Rötli!“ rief Wicho mit leiser Stimme. Nichts rührte sich in der Halle. Leise schlich sich der Knecht zur Frauenkammer und öffnete die Thüre; die Kammer war leer. Erschrocken eilte er ins Freie und rief den Namen des Mädchens über die Hofreut. Keine Antwort ließ sich hören. Wicho verfärbte sich und griff mit den Händen an die Schläfe. „Ich muß sie finden! Ich muß! Ich muß!“

Er rannte über den Hügel hinunter und riß das Hagthor auf. Gegen das Ufer lief er, gegen den Wald zur Linken, gegen die Ache zur Rechten und schrie mit hallender Stimme: „Rötli! Rötli!“ Doch keine Antwort klang. Nur die Falkenwand schickte den Ruf zurück mit hohlem Echo.




15.

Vor dem Hag des Schönauers schlug eine Faust an das geschlossene Thor und eine Stimme rief: „Thut auf!“ Ein Knecht, der in der Nähe schaffte, lief, um das Thor zu öffnen; er machte verwunderte Augen, als er den Fischer erkannte und ihn gewappnet sah mit langem Schwert, in dem nassen verwüsteten Gewand, mit dem bleichen Gesicht und dem blutbefleckten Arm.

„Wo ist Dein Herr, der Richtmann?“ fragte Sigenot.

„Da drüben unter den Eichen liegt er und schlaft.“

„Schlaft?“ wiederholte der Fischer, als hätte er falsch gehört.

„Er ist außer Haus gewesen die heutige Nacht und die gestrig’ auch.“

Sigenot schritt den Eichen zu. Lang ausgestreckt lag der Schönauer im Schatten der Bäume und hielt im Schlummer das Gesicht auf die Arme gedrückt. Als er geweckt wurde, blickte er mit müden Augen auf. „Du, Fischer?“

„Heb’ Dich auf, Schönauer, jetzt ist nimmer Schlafenszeit!“

Diese Worte waren wohl anders gemeint, als der Schönauer sie verstand. „Ich hab’ zwei Nächt’ nicht geschlafen. Wir haben den Huze gesucht, den armen Buben, der dem Schapbacher die Geißen hütet. Er ist eingestiegen in Wazemanns Bannberg und nimmer heimgekommen. Erst haben wir gemeint, der Bub’ hätt’ sich verstiegen, und haben ihn gesucht zwei Nächt’. Aber heut’ am Morgen, wie wir heimgekommen sind, haben wir hören müssen, was geschehen ist mit ihm. Einer von Wazemanns Knechten hat es ausgeredet. Der Bub’ ist gefangen worden und liegt unter Wazemanns Haus im Bußloch. Die Flechsen haben sie ihm abgestochen ...“

Sigenot lachte zornig auf. „Einen besseren Anfang hätt’st nimmer finden können für die Zwiesprach’, zu der ich gekommen bin. Herr Waze hat fleißige Händ’. Der Bub’ ist abgethan – – jetzt hat er mich in der Arbeit, und wart’ noch einen Tag, Richtmann, so kommt die Reih’ an Dich!“

Erschrocken starrte der Schönauer den Fischer an. „Sigenot,“ stammelte er, „was soll Deine Red’? Und alle guten Mächt’, wie siehst Du aus! Red’ doch, red’, was hat’s denn gegeben?“

„Komm ins Haus!“ sagte Sigenot und schritt dem Schönauer voran, der ihm zögernd folgte, mit scheuem Blick und verstörten Zügen.

In goldenem Glanze lag die Nachmittagssonne über Hof und Haus, die Wiesenblumen dufteten und bunte Schmetterlinge gaukelten über den Hag. Eifrig flogen die Schwalben ab und zu, auf dem Dache girrten die weißen Tauben, und manchmal setzte sich eine der Schwalben zu kurzer Rast und zwitscherte ein leises Lied. Blau und leuchtend wölbte sich die Himmelsglocke über die schimmernden Zinnen der Berge, und der sachte Windzug, der die warmen Lüfte rührte, war wie ein Hauch des traulichen Friedens, den die Erde atmete. In diese Stille der Natur klang zuweilen aus dem Hause der Laut einer heftigen Stimme. Es schien erregte Zwiesprach zu sein, welche die beiden Männer hielten. Immer lauter wurden ihre Worte. Der Knecht im Hof ließ die Arbeit ruhen und lauschte, doch nicht lange; denn Sigenot erschien unter der Thür, mit finsterem Gesicht. Der Schönauer kam ihm nachgeeilt und suchte ihn am Arm zurückzuhalten. „Bleib’, Fischer, bleib’,“ stammelte er. „und bei allem, was Dir lieb und heilig ist ... ich bitt’ Dich, thu’s nicht! Geh’ nicht hinaus zum Lok’stein.“

„Ich thu’, was ich muß!“ erwiderte Sigenot mit bebender Stimme. „Ich hätt’s gethan, auch wenn mir nicht wie jetzt die eigene Not bis an den Hals gestiegen wär’.“

„Thu’s nicht, Fischer! Es wird nichts besser damit, nur alles schlimmer!“

„Ob besser oder schlimmer, das frag’ ich nicht. Ich weiß nur eins: Herr Waze will mir den Weg zum Lok’stein verwehren – so muß es ein Weg sein, der zum Guten führt.“

„Er wirft seinen Zorn auf Dich und Dein Haus. wie er’s mir gedroht hat und meinem Buben. Fischer, Fischer, wie willst Du denn stehen gegen ihn und seine Knecht’?“

„Das laß meine Sorg’ sein! Und ob ich steh’ oder fall’, ich will mich nicht ducken und Umweg suchen wie Du! Wie lang’ mein Weg im Licht noch dauert, das weiß wohl keiner ... aber grad’ soll er sein bis zum letzten Schritt. Ich rat’ Dir nicht; thu’ Du nach Deinem Willen und sorg’ nur, daß keine Reu’ Dich ankommt! Mir aber laß meinen Weg! Der geht hinaus zum Lok’stein!“

„Sigenot! Sigenot!“ jammerte der Schönauer und umklammerte den Arm des Fischers.

„Laß mich! Ich geh’ hinaus! Von ihnen selber muß ich hören, ob sie mit Recht die Herren im Gadem sind. Und sind sie's, so steh’ ich zu ihnen mit Leib und Leben. Ob’s mir hilft, das frag’ ich nicht ... ich hab’ für mich wohl selber noch eine Hilf’“ – er schüttelte die starken Arme – „aber eins weiß ich: den andern wird’s zum Guten sein. Merken sie, daß mein Weg der rechte ist, so gehen mir zwanzig nach, einer zieht den andern, hundert stehen zu den Klosterleuten ... und dann, Herr Waze“ – er hob die Faust und seine blitzenden Augen suchten in der Ferne den Falkenstein – „dann wollen wir sehen, wer Du noch bist mit Deinen Buben!“

„Ich bitt’ Dich, red’ nicht so laut!“ stammelte der Schönauer und blickte mit scheuen Augen nach dem Knecht, der im Hof arbeitete. „Die Lüft’ haben Ohren im Gadem und tragen jedes Wort hinauf in Wazemanns Haus.“

„Fürchtest Du Deinen eigenen Knecht? Richtmann, es ist weit gekommen! Und derselbig’ mag wohl recht haben, der den Spruch gefunden:

‚Lützel Treu ist allenthalben,
Tief im Thal und hoch auf Alben.‘

Aber einen Richtmann, einen muß es doch noch geben, bei dem die Treu’ ist und eine starke Hand wider alle Not. Und den einen muß ich suchen. Ob ich ihn find’ beim Lok’stein ... ich weiß nicht. Aber suchen muß ich, denn wär’ nicht die Hoffnung in mir, daß ich ihn find’ – ich müßt’ ja mit eigener Faust die Mutter erschlagen und mein lieb Geschwister, daß ich ihnen die Schand’ und den Jammer spar’, und müßt hinunterspringen in den See, damit alles ein End’ hat. Wären Not und Neid, Untreu’ und Unehr’ die einzigen, die über uns Macht haben, und gäb’s über ihnen keinen Stärkern mehr, so gäb’s auch für uns keinen Tag nimmer, der den Schnaufer wert ist.“

Der Schönauer starrte den Fischer an und fand kein Wort.

„Warum schaust mich an wie einen Fremden?“ fragte Sigenot. „Weil Du mich so noch nie hast reden hören? Ich will Dir sagen, wie solche Red’ in mich gekommen ist. Schau, Richtmann, an die hundertmal bin ich mit der Angel schon hinaufgestiegen zur Ramsauer Achen. Und da hab’ ich wohl diemal zugesprochen beim alten Hiltischalk und er hat zu mir geredet von seinem guten Himmelsherrn, derweil wir auf der Hausbank in der Sonn’ gesessen. Und einmal, da hat er mir erzählt, wie sein guter Gottesherr ihn gehoben hätt’ aus arger Not. Droben über dem Windacher See hat er eine kranke Alberin heimgesucht, und wie er niedergestiegen ist an der Windach, hat sich der Gründ gelöst unter seinen Füßen. Hinunter in die tiefe Klamm ist sein Fall gegangen, das wilde Wasser hat ihn gefaßt, und da war für ihn kein Retten nimmer und keine Hilf’. Das weißt wohl selber, Richtmann ... die Nachtalfen der Windach haben feste Händ’, wenn sie greifen.“

Der Schönauer nickte und murmelte: „Wen die Windacher Alfen fassen, den lassen sie nimmer aus!“

[168] „Der Hiltischalk aber, wie ihn die Alfen schon haben schlingen wollen, hat noch aufgeschrieen im letzten Schnaufer: ‚Mein guter Herre, Du mein Gott!‘ Da hat ihn das Wasser auf einen Stein geworfen, zu dem eine turmhohe Ficht’ heruntergefallen war aus der Höh. Wie mit Armen haben die Aest’ ihn aufgefangen, und über den Baum ist der Hiltischalk hinausgestiegen aus der Klamm wie auf einer Leiter. Ich hab’ weinen müssen, Richtmann, so hat mich das gepackt in meiner Seel’! Und heut’, wie ich den Stein über mir hab’ rollen hören, wie ich gesehen hab’: jetzt ist kein Ausweg mehr, der Stein erschlagt mich und mit mir die Mutter und mein Geschwister, mein Haus und Heim und alles ... schau, Richtmann, ich weiß nicht, wie’s gekommen ist, aber da hat meine Seel’ geschrieen wie der Hiltischalk: ‚Mein guter Herre, Du mein Gott!‘ Und mich hat der Stein nicht erschlagen, mich hat das Wasser nicht geschlungen.“

Ueber die Lippen des Schönauers ging ein müdes Lächeln. „Wider den Stein hat Dein Sprung geholfen, wider das Wasser die feste Schnar und Dein starker Arm.“

Sigenot schüttelte den Kopf. „Ich hab’ geschrieen in der Not, und wohin meine Red’ geht, dahin gehen auch meine Füß’. Ich muß zum Lok’stein!“

„Ich merk’, da ist kein Halten nimmer! So geh’ halt![“] Der Richtmann atmete schwer. [„]Zeit lassen, Fischer!“

„Ich hab’ keine Zeit mehr! Jetzt hab’ ich Eil’.“ Sigenot reichte dem Schönauer die Hand und schritt dem Hagthor zu, während der andere ihm nachblickte mit kummervollen Augen.

Der Glanz der Nachmittagssonne hatte schon rötlichen Schein, als Sigenot den Wald beim Lokistein erreichte. Die hallenden Axtschläge wiesen ihm den Weg. Während er dahinschritt zwischen den Bäumen, hörte er seinen Namen schreien, und durch brechendes Gezweig kam ein Reiter auf ihn zugesprengt. Otloh war es, Wazemanns Jüngster. Er verhielt das schnaubende Roß. „Wohin, Fischer?“

Sigenot stand und sah mit finsteren Augen zu dem Knaben auf. „Was kümmert’s Dich? Gieb meinen Weg frei!“

„Kehr’ um, hier ist kein Weg!“

„Weg ist, wo ich mir einen such’.“

„In meines Vaters Namen: kehr’ um, hier ist Bannwald!“

„Davon weiß ich nichts. Und Dein Vater mag bannen für seine Knecht’ – ich bin ein Freier und steh’ nicht unter Deines Vaters Faust.“

Dunkle Zornröte färbte Otlohs Gesicht. „Hüt’ Deine Zung’, Fischer! Oder meinst Du, Deine Keckheit an mir üben zu können, weil ich der Jüngste bin? Irr’ Dich nicht in mir!“

An Sigenots Schläfen schwollen die Adern. „Noch einmal: gieb meinen Weg frei!“

„Noch einmal: hier ist kein Weg für Dich!“ schrie Otloh. „Und ich will Dir weisen, daß mein Wort so viel gilt, als hätt’ mein Vater gesprochen!“ Er sah, daß sich die Hand des Fischers an den Schwertgriff legte, und mit kreischender Stimme höhnte er: „Laß doch ein andermal die Wehr daheim! Das thut dem Bauer nicht gut, wenn er geht wie ein Ritter! Die Wehr schlagt Dir blaue Fleck’ an die Waden. Oder willst Du Ferchen stechen damit? Oder die Würm’ graben für Deine Angel? Sonst wüßt’ ich nicht, wozu Du das Eisen brauchst!“

„Frag’ Deinen Bruder Henning, wenn Dich die Neugier plagt! Wir zwei haben ausgeredet. Weich’, sag’ ich, oder ich schaff’ mir freien Weg!“ Sigenot schritt voran und scheuchte mit erhobenem Arm das Pferd, daß es schnaubend aufbäumte.

Unter zornigem Fluch stieß Otloh dem weichenden Roß den Stachel in die Flanke und riß den Wildfänger aus der Scheide. „Wart’, Fischer, Dir verleg’ ich den Weg!“ Doch er fand nicht Zeit, zum Streiche auszuholen. Blitzschnell hatte Sigenot mit der einen Faust den Reiter an der Brust gefaßt und mit der anderen das Gelenk der bewaffneten Hand umklammert. Otloh stöhnte unter diesem Griff, und da hob ihn auch schon die Faust des Fischers aus dem Sattel. Während das ledige Pferd davonstob durch den Wald, setzte Sigenot den Knaben ins Moos, wand ihm den Fänger aus der Hand und trieb die Klinge mit wuchtigem Stoß in einen Baum.

„Jetzt lauf’ Deinem Roß nach, Otloh, daß Du wieder reiten kannst! Bis heim zu Deines Vaters Haus, das wär’ ein langer Weg für Deine kurzen Füß’.“ Mit diesen Worten wandte Sigenot sich ab und schritt durch den Wald davon dem Lokistein entgegen. In bebender Wut sprang Otloh auf und suchte den Fänger zu lösen, aber die Klinge haftete im Baum wie festgewachsen; fluchend riß er und zerrte, da brach der Stahl und Otloh taumelte zurück, mit dem Stumpf der Waffe in der Hand.

„Fischer, das sollst Du mir büßen!“

Sigenot hörte die drohenden Worte noch; ohne die Augen zu wenden, verfolgte er seinen Weg. Näher und näher klang ihm der Hall der Aexte, das dumpfe Gepolter der rollenden Bäume, das Krachen der brechenden Aeste und der laute Ruf, mit dem die Knechte die Balken hoben. Unter den Bäumen trat er hervor auf die von rötlichem Sonnenglanz übergossene Lichtung. Er sah die Rastplätze der Saumtiere, die Reisighütten der Knechte und die Feuerstätte, von welcher Bruder Wampo mit einer Kanne hinwegeilte, um Wasser bei der Quelle zu holen. Er sah die beiden Zelte und das wachsende Balkenhaus; übermannshoch erhoben sich schon die Holzmauern der Klause und des Kirchleins, dessen steigende Wände den Heidenstein umschlossen, so daß über den Saum der Mauer das aus der halbverbrannten Eiche gehauene Kreuz nur mit dem Querholz noch hervorragte.

Sigenot betrachtete mit erstaunten Augen das freundliche Bild, und der sonnige Frieden dieser Stätte redete ihm warm ins Herz. Er atmete auf, als wäre ihm leichter um die Seele geworden, und raschen Schrittes ging er den Zelten zu. Den Eingang suchend, umschritt er das eine derselben, doch plötzlich verhielt er den Fuß, gebannt von einem unerwarteten Anblick. Aufrecht in menschlicher Lebensgröße stand das vollendete Kreuzbild vor ihm, mit dem Holzpflock, an welchem die Füße noch hafteten, in der Erde befestigt. Die Sonne schimmerte auf den trocknenden Farben des mit schlichter Kunst geschaffenen und rührend wirkenden Bildes; die strenge Nacktheit des bleichen Leibes mit seinen roten Malen redete die stumme Sprache der Schmerzen, doch sanft und freundlich blickte das zur Schulter geneigte Antlitz. Mit ausgebreiteten Armen stand das stille Bild vor Sigenot, als möcht’ es ihn grüßend umfangen und sprechen zu ihm: „Bei Dir ist Not, bei mir ist Hilfe! Komm an meine Brust!“ Ein Zittern hatte den Fischer befallen und seine Lippen rührten sich unter stummen Worten; langsam hoben sich seine Arme, und während er mit der einen Hand das Haupt entblößte, bekreuzte er mit der anderen die Stirne und den Mund, wie es Hiltischalk, der alte Pfarrherr in der Ramsau, den fünfzehnjährigen Täufling einst gelehrt. Da bewegte sich der Vorhang des Zeltes und Eberwein trat ins Freie; als er den Fischer gewahrte, verwandelte sich der müde Ausdruck, der auf seinen Zügen lag, in jähe Freude, und in stummer Bewegung streckte er zum Gruß beide Hände aus. „Oft in diesen Tagen dachte ich, wann und wo ich Dich wieder finden würde. Nun bist Du gekommen aus freiem Willen ... und ich grüße Dich!“

Sigenot faßte die Hände des Mönches und nickte einen stummen Gruß, langsam wandte er den Blick über die Schulter und suchte wieder das heilige Bild. „Wie gut er mich anschaut, und er muß doch leiden!“ sprach er leise vor sich hin. „Ich glaub’ schon selber, das muß ein Gott sein!“

Es leuchtete in Eberweins Augen. „Weshalb glaubst Du das?“

„Leiden müssen und gut sein ... Herr, das ist eine schwere Sach’, das bringt wohl nimmer ein Mensch zuweg.“

Meinst Du nicht, Sigenot, daß Du es lernen könntest von ihm, der auch für Dich gestorben? Sieh’ seine Wunden an, sieh’, wie die Dornen seine Stirne drücken, und dennoch segnete er im letzten Atemzug seine Peiniger und bat seinen himmlischen Vater: ‚Vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!‘ Solltest Du diesem Beispiel nicht folgen können?“

„Das wird sich hart machen, Herr! Ich bin doch nur ein Mensch!“ Mit langsamer Hand strich Sigenot das Haar in die Stirne.

Da gewahrte Eberwein das Blut und die Wunden am Arm des Fischers und fragte erschrocken: „Du bist verletzt? Was ist Dir geschehen?“ Und ohne die Antwort abzuwarten, eilte er in das Zelt.

Verwundert blickte Sigenot ihm nach. „Was hat er denn?“

Mit Balsam und Linnen kehrte Eberwein zurück. „Komm, setz’ Dich auf diesen Block und reich’ mir Deinen Arm, daß ich ihn verbinde!“

„Aber Herr!“ Sigenot wurde rot wie ein Mädchen. „Die paar Kratzer und Riß’, die spür’ ich ja nicht!“

„Ich bitte Dich, dulde meine Hilfe!“

[169]

Eine Barrikade zu Paris im Juli 1830.
Nach einem Gemälde von Georges Cain.

[170] Da ließ sich der Fischer nieder, streckte den Arm hin und lächelte. Nach einer Weile sagte er: „Du hast eine linde Hand ... die müßt’ auch gut sein und gar arg nicht drücken als Herrenhand.“

Eberwein blickte auf. „Wie meindt Du diese Worte?“

„Grad’ herausgesagt – ich bin gekommen, weil ich Dich hab’ fragen müssen, mit welchem Recht seid Ihr in unser Thal gekommen? Seid Ihr die Herren im Gadem oder nicht?“

„Zuerst Deine Wunde, und dann Deine Frage!“ erwiderte Eberwein ruhig und wand das weiße Linnen um Sigenots Arm.

Da kam Bruder Wampo von der Quelle, die gefüllte Kanne schleppend. Schon von weitem gewahrte er den Gast, und als er näher kam und den Fischer erkannte, schoß eine helle Freudenröte in sein rundes Gesicht. In der Vorahnung all des Guten, das dieser Besuch ihm zu verheißen schien, schnalzte er mit der Zunge und spitzte die Lippen. Gerne wäre er geradeswegs auf den Fischer zugeeilt, doch er sah, daß Pater Eberwein sich an Sigenots Seite niederließ und zu reden begann; da wagte er nicht, die Zwiesprach zu stören. Er ging zur Feuerstätte, um sein heißes Werk zu beginnen. Doch immer wieder schielte er hinüber zu den beiden und spähte nach allen Seiten, ob er die Angelrute nicht zu entdecken vermöchte, denn wo die Angel war, da konnte das Lägel nicht weit sein. Eine geraume Weile verstrich und immer noch redeten die Beiden. Ueber der Lichtung erlosch der Sonnenglanz und die Schatten des Abends webten ihren dunklen Teppich auf allem Grunde, nur die Zinnen der Berge leuchteten noch in rotem Gold. Endlich erhob sich der Fischer; sein Antlitz brannte in Erregung und seine Augen glänzten.

„Und das alles, Herr, das alles darf ich den Gademleuten sagen im Thing, auf Treu’ und Glauben?“

„Ja, Sigenot! Und was ich versprach, das will ich halten. Ich gelob’ es mit Herrenwort in Deine freie Hand.“

Ihre Hände faßten sich und der Fischer sagte. „Dir glaub’ ich ohne Zeugen und Siegel. Deine Augen sind wie das lichte Wasser ... ich schau’ hinunter und seh’: Dein Wort ist Eisen. Wenn bei Dir die Treu’ nicht ist, dann ist sie bei keinem mehr. Ich bin der Deinig’ auf biegen und brechen. Wenn Thing gehalten ist, so komm’ ich.“

„Eines noch sage mir! Du hast für die Leute im Thal geredet wie ein rechter Mann; ich habe gehört, was sie hoffen und wünschen ... warum verschwiegst Du, was sie leiden und fürchten? Man hat mir Uebles berichtet von Wazemann und seinem Haus.“

Ein Schatten legte sich über Sigenots Gesicht, und leise, mit bebender Stimme, sagte er: „Ich bin zu einer Frag’ gekommen, zu keinem Gericht und will nicht Kläger sein. Auch steht mir das Reden nicht zu, eh’ nicht das Thing gesprochen hat.“

„Ich sehe, Du willst nicht Antwort geben, und ich frage nicht weiter. Doch ein Zweites noch! Für all die anderen hast Du Worte gefunden, nur nicht für Dich. Hast Du allein nichts zu begehren für Dein Haus und Recht?“

Der Fischer schüttelte den Kopf. „Davon ein andermal, Herr! Es muß nicht alles auf einmal sein.“

Eberwein legte die Hand auf Sigenots Arm. „Sei nicht verschlossen! Als Du kamst, sah ich Kummer in Deinen Augen und Gram auf Deinen Zügen. Ich bin Dir Freund geworden in dieser Stunde – willst Du mir Dein Herz nicht öffnen?“

Schwer atmend starrte Sigenot vor sich nieder und schwieg. Da klang am Waldsaum das Krachen eines stürzenden Baumes und ein Jauchzer, dann die hallende Stimme Schweikers. „Feierabend, Ihr guten Gottesknecht’!“

Mit verlorenem Blick schaute der Fischer auf ünd strich mit der Hand über die Stirne.

„Sprich, Sigenot! Zeige mir Deinen Kummer ... vielleicht, daß ich Dir helfen kann!“

„Helfen? Ich mein’, es hilft mir wohl der eigene Arm noch. Wenn der zu schwach ist, Herr, dann wirst auch Du mir nimmer helfen ... oder es müßten zu Dir schon morgen hundert stehen.“

„Zu mir steht einer nur! Doch dieser eine, Sigenot, ist stärker als tausend Männer in Wehr und Eisen. Blick’ auf zu ihm!“ Und den Arm um die Schnlter des Fischers legend, deutete Eberwein auf das heilige Bild.

„Der?“ glitt es scheu und leise von Sigenots Lippen.

Mit schwebenden Klängen tönte die Glocke, welche Schweiker zog. Aus dem Wald und von den Bergen kam der Widerhall, als fände die rufende Stimme freudige Antwort auf allen Seiten. In sanften Klang verwandelt war alle Stille des Abends, die Lüfte tönten, die Felsen hallten, jeder Baum des Waldes schien zu klingen, und die Vögel, deren Lied schon geschwiegen, erhoben wieder ihren Schlag und ihr Gezwitscher. Eberwein beugte zum erstenmal das Knie vor dem Bilde, das seine eigenen Hände geschaffen, und betete mit lauter Stimme: „Wieder schwindet ein Tag, o Herr, den Du gegeben. Laß mich danken für alles Gute, das Deine Liebe mir bietet in jeder fließenden Stunde. Ob auch die Nacht sich senket über mich, ich fürchte nicht Böses, denn Du bist bei mir, und Deine Hände decken den Bedrängten, der redlichen Herzens ist. Gegen den Guten bist Du gut, gegen den Treuen bist Du treu, er findet Hilfe bei Dir in aller Not, und gleich einem Schilde umgiebt ihn Dein Wohlgefallen.“

An Eberweins Seite war Sigenot niedergesunken, in feuchtem Schimmer hingen seine Augen an dem stillen Bilde, und die zitternden Hände auf die Brust gedrückt stammelte er das einzige Gebet das seine Lippen kannten: „Mein guter Herre, Du mein Gott!“ Als die Glocke schwieg, erhob er sich und ging wie ein Träumender davon. Bruder Wampo, der, neben dem Feuer kniend, sein Gebet gesprochen, bekreuzte sich, sprang hurtig auf und winkte dem Fischer mit beiden Armen. Doch Sigenot hatte kein Auge für ihn. „Fischer, he, Fischer! Guter Freund!“ rief der Bruder halblaut durch die gehöhlten Hände. Doch Sigenot hörte nicht. Bekümmert schüttelte Bruder Wampo das runde Köpflein, stemmte die Arme auf, und während er dem Fischer nachblickte, der im dunkelnden Wald verschwand, murmelte er trübselig vor sich hin: „Eine schieche Gegend! Und schieche Leut’! Auf den Fischer hätt’ ich noch ein Zutrauen gehabt ... jetzt will der auch nichts von uns wissen!“

Im Wald, durch dessen Gezweig nur noch ein spärlicher Schein des erlöschenden Tages schimmerte, folgle Sigenot dem gleichen Pfad, auf dem er gekommen war. Lautlos schritt er dahin, der weiche Moosgrund dämpfte seine Schritte. Da hörte er Eisen klirren, und hinter dichten Büschen klang eine halblaute Stimme. „Wir harren umsonst, er kommt nicht.“

„Hab’ ich’s nicht gleich gesagt?“ ließ eine andere Stimme sich vernehmen. „Er wird hinuntergeschlichen sein gegen die Achen und im Thal den Heimweg suchen.“

„Den wollen wir ihm verlegen.“

Sigenot hörte das Brechen von Aesten und dumpfen Hufschlag. Dann war wieder Stille im Wald; nur in der Ferne klang in Zwischenräumen der wimmernde Ruf eines Nachtvogels.

„Es rufen die Unholden,“ murmelte Sigenot, „und zählen meine Tag’.“ Tief atmend blickte er zurück nach der Lichtung, die er verlassen hatte. Dann zog er das Schwert, und den blanken Stahl in der Faust, folgte er seinem dunklen Wege. Immer rascher wurde sein Schritt; als er seinem Heimwesen sich näherte, sank schon die Nacht über See und Lände. Jähe Sorge befiel ihn, da er das Hagthor offen sah. „Wicho!“ stammelte er. Doch still und friedlich blickte ihm sein Haus entgegen, und freundlicher Herdschein leuchtete aus Thür und Fenstern. Da schüttelte er die Sorge von sich ab und stieg über den Hügel empor. Vor der Thüre löste er die Waffe von seiner Hüfte und legte sie achtsam auf die Hausbank, damit die Mutter das Eisen nicht möchte klirren hören. Das Haupt entblößend, trat er in die Halle. „Mutter, ich bring’ die gute Zeit!“

Ein schrilles Lachen war Mutter Mahtilts Antwort; aus dem Lehnstuhl streckte sie die Arme nach ihrem Sohn, und der flackernde Schein des Herdfeuers erleuchtete ihre bleichen, von Angst und Jammer verzerrten Züge.

„Mutter!“ schrie Sigenot erblassend, und seine verstörten Blicke irrten durch die Halle. „Wo ist die Schwester?“

Mutter Mahtilt deutete mit den Armen. Sigenot stand wie erstarrt. „Den ich suchen gegangen ... wo ist er denn?“ stöhnte er mit erstickten Worten. „Derweil ich gebetet hab’ und gekniet vor ihm – wo war denm seine Treu’, wo war denn seine Hilf’?“ Mit zuckenden Händen suchte er an seiner Hüfte die Waffe und fand sie nicht. „Mein Eisen!“ schrie er, „mein Eisen!“ Und er stürzte in die sinkende Nacht hinaus.

(Fortsetzung folgt.




[171]

Die Linke.

Von C. Falkenhorst.


Als Krone der Schöpfung steht der Mensch an der Spitze der lebenden Wesen, und die Naturforscher haben in ihren Systemen für ihn eine besondere Ordnung der Zweihänder geschaffen. Aber dieser vernünftige Zweihänder gebraucht die beiden kunstvollen, ihm von der Natur verliehenen Gliedmaßen nicht gleichmäßig, in der Regel bevorzugt er die Rechte, so daß man schon gesagt hat, der „Zweihänder“ sei in Wirklichkeit ein „Rechtshänder“. Die rechte Hand und der rechte Arm greifen geschickter und kraftvoller in das Getriebe des täglichen Lebens ein, während die Linke ihnen gegenüber schwach und unbehilflich erscheint. Kein Wunder, daß bei allen Völkern die Rechte als das Symbol des Rechts und der Macht gilt, die Linke dagegen als die „ärgere Hand“ betrachtet wird und daß mit dem Ausdruck des Linkischen der Begriff eines Tadels verbunden wird.

Allgemein gültig ist jedoch diese Regel nicht, sie wird sogar von recht zahlreichen Ausnahmen durchbrochen, denn auf Schritt und Tritt begegnen wir Menschen, bei welchen die sonst bevorzugte Rechte gänzlich zurücktritt, die Linke dagegen in vollkommenster Weise zu allen möglichen Hantierungen ausgebildet ist. „Linkshänder“ nennen wir solche Leute, und wir können bei gerechter Prüfung nicht sagen, daß sie in jeder Beziehung weniger leistungsfähig wären als ihre rechtshändigen Nächsten; man findet unter ihnen sehr geschickte Handwerker und sogar Virtuosen und Künstler. So war z. B. der Klaviervirtuos Dreyschock, berühmt durch seine Oktavengänge, ein Linkshänder, und zu den „Linkischen“ hat man neuerdings auch den genialen Künstler und Gelehrten der italienischen Renaissanee Leonardo da Vinci gestellt. Dieser hervorragende Mann, der in kühnem Gedankenfluge seiner Zeit so weit vorausgeeilt ist und so viele der stolzen technischen Errungenschaften des neunzehnten Jahrhunderts geahnt hat, hinterließ eine unglaubliche Menge von Manuskripten, die zum Teil noch heute eines würdigen Herausgebers harren. Das Lesen und Prüfen dieser Manuskripte bereitet den Forschern viel Mühe, denn die meisten sind von rechts nach links in Spiegelschrift geschrieben. Früher wollte man diese merkwürdige Thatsache durch die Annahme erklären, daß Leonardo da Vinci auf diese Weise seine Manuskripte für Unberufene unleserlich gemacht und die Spiegelschrift als eine Art Geheimschrift benutzt habe. Dem gegenüber muß man aber doch bemerken, daß die Wahl einer derartigen Geheimschrift dem Scharfsinn eines so großen Geistes keine Ehre machen würde. Viel einfacher ist eine andere Erklärung. Leonardo da Vinci war linkshändig; seine amtlichen oder für Fremde bestimmten Briefe und Manuskripte schrieb er in unserer gewöhnlichen Schrift nieder; wenn er aber für sich arbeitete, wenn neue Gedanken in reichster Fülle sich hervordrängten, dann ergriff die geschicktere Linke die Feder und suchte eilig den Gedankenflug auf dem Papier festzuhalten.

Trotz solcher Beispiele berühmter Linkshänder ist man im allgemeinen dennoch geneigt, die Linkshändigkeit als einen Fehler in der Veranlagung des Menschen zu betrachten, und einige Anthropologen glaubten auch, dies durch Vergleichung dieser Erscheinung bei verschiedenen Völkern beweisen zu können.

Bei den hochentwickelten Kulturvölkern – so etwa lehrten sie – sind Linkshänder selten, während man ihnen unter verschiedenen weniger entwickelten Rassen, wie z. B. unter den Anamiten häufig begegnet; andere Naturvölker, z. B. die Neger Afrikas, sollen sich dadurch auszeichnen, daß bei ihnen die Rechte und die Linke gleichmäßig ausgebildet sind. Es wurde ferner hervorgehoben, daß es unter Idioten und Epileptikern sehr viele Linkshänder gebe – alles Beweise für die Annahme, daß die Linkshändigkeit eine menschliche Unvollkommenheit sei.

Dazu kam noch die Beobachtung der Menschen in verschiedenen Lebensaltern. Delaunay behauptete, daß Neugeborene zuerst linkshändig seien, dann mit gleichem Geschick beide Hände benutzen und daß die Kinder erst später durch Uebung rechtshändig werden; er will auch bemerkt haben, daß im Greisenalter der Mensch nicht mehr in ausgesprochener Weise Rechtshänder sei, sondern beide Hände in gleichem Maße gebrauche, ein Zustand, für den man die Bezeichnung „Ambidexterität“, d. h. „Zweirechtshändigkeit“, erfunden hat. Aus allen diesen Gründen glaubte man folgenden Entwicklungsgang des Menschengeschlechtes annehmen zu dürfen: unsere Urvorfahren sind ursprünglich Linkshänder gewesen, dann in den Zustand der Ambidexterität getreten und zuletzt Rechtshänder geworden, was wir bis auf den heutigen Tag geblieben sind.

Von dem Gedanken ausgehend, daß von zwei entsprechenden Gliedern dasjenige, welches stärker arbeitet, kräftiger und auch schwerer wird, hat man vorgeschlagen, die Arm- und Handknochen der ausgegrabenen Skelette vorgeschichtlicher Menschen zu wägen und auf diese Weise zu ermitteln, ob die Rassen, die zur Eiszeit Europa bewohnten, rechts- oder linkshändig gewesen seien.

Wie anziehend auch solche Untersuchungen sein mögen, so ist es doch viel wichtiger, zuvörderst das Zahlenverhältnis der Linkshänder zu den Rechtshändern unter den lebenden Menschen zu ermitteln. Sehr lehrreich sind in dieser Beziehung Messungen und Untersuchungen, welche Hasse und Dehner in Breslau an 5141 deutschen Soldaten verschiedener Waffengattungen vorgenommen und deren Ergebnisse sie in einer Abhandlung „Unsere Truppen in körperlicher Beziehung“ veröffentlicht haben. Wir erfahren daraus, daß selbst unter dieser Auswahl gesunder und kräftiger junger Männer symmetrisch gebaute Gestalten verhältnismäßig sehr selten sind. In der Mehrzahl der Fälle waren die Beine und Arme ungleich lang, und zwar war gewöhnlich von den Beinen das linke und von den Armen der rechte länger. Gleiche Armlänge war nur bei 18% der Gemessenen vorhanden. Die Erhebungen zeigten ferner, daß 5083 Mann oder 99% Rechtshänder, 58 Mann oder 1% dagegen Linkshänder waren. Bei den Linkshändern war bis auf eine einzige Ausnahme der linke Arm um etwa 1 cm länger als der rechte, während bei den Rechtshändern das Verhältnis sich umkehrte. Auf Grund dieser Thatsachen könnte man die Behauptung aufstellen, daß die Linkshändigen mindestens 1% unserer Bevölkerung betragen. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß wir unter den Soldaten sozusagen die Blüte unserer männlichen Jugend in körperlicher Beziehung vor uns haben. In der großen Masse des Volkes kommt die Linkshändigkeit sicher häufiger vor, und verschiedene Aerzte, die sich mit dieser Frage eingehender beschäftigt haben, nehmen an, daß von 100 Menschen sogar 2 bis 3 linkshändig sind.

Alle diese Erhebungen beziehen sich auf Erwachsene. Prüfen wir Neugeborene, so finden wir, daß diese in der Regel ganz symmetrisch gebaut, ihre Beine und Arme gleich lang und stark und beide Hände gleich geschickt sind, man merkt in der frühesten Kindheit nichts von einer Bevorzugung der Rechten. Die Scheidung in Rechts- und Linkshänder tritt also erst im Laufe des Lebens ein und in Anbetracht dieser Thatsache muß man wohl nach den Gründen fragen, welche die überwiegende Mehrzahl der Menschen zwingen, Rechtshänder zu werden.

Nach einer in wissenschaftlichen Kreisen weit verbreiteten Annahme beruht die Rechtshändigkeit auf Eigentümlichkeiten des Baues und der Einrichtung des menschlichen Organismus. Unsere Eingeweide sind nicht symmetrisch im Innern des Körpers verteilt und namentlich das verletzlichste unter ihnen, das Herz, ist mehr nach der linken Seite verschoben. Im Gegensatz zu den vierfüßigen Tieren und dem in geduckter Haltung kämpfenden Vierhänder bietet der aufrechtstehende Mensch dem Feinde seine Brust zum Angriff dar, und da ist es wohl naturgemäß, daß er die linke Brust, in welcher das Herz liegt, zu schützen sucht, daß er die Rechte zum Organ des Angriffs macht, die Linke zum Schutze gebraucht, daß er seit jeher in der Linken den Schild trug und mit der Rechten Schwert und Speer handhabte.

Außerdem kommt aber noch eine wichtige Thatsache in Betracht. Infolge der Lage des Herzens befinden sich auch die größten Blutadern des Körpers in dem linken Brustraume. Werden nun die Muskeln der oberen linken Extremität in angestrengtere Thätigkeit versetzt, so übt diese einen störenden Einfluß auf den Blutumlauf. Sanitätsrat Dr. Liersch, der eine besondere Schrift über „Die linke Hand“ veröffentlicht hat, bemerkt treffend in dieser Beziehung: „In der That haben mir intelligente linkshändige Menschen wiederholt versichert, daß sie bei angestrengten mechanischen Arbeiten nicht allein Unbehagen, sondern sogar schmerzhafte Empfindungen in der linken Brustseite wahrnehmen.“

[172] So erscheint uns die Rechte von Natur aus als die Stärkere, als zum Herrschen Berufene.

Wie kommt es aber, daß trotzdem ein gewisser Teil der Menschen von der Regel abweicht und linkshändig wird? Das Zustandekommen dieser Ausnahmen muß zweifelsohne auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden.

Der römische Jüngling C. Mucius, der den feindlichen König Porsena erstechen wollte, verbrannte sich. um seine Standhaftigkeit zu beweisen, seine rechte Hand; infolgedessen wurde er links und erhielt den Beinamen „Scaevola“, d. h. „der Linkser“. Solche Fälle kann man im Leben häufig beobachten; Leute, die an der rechten Hand Verletzungen davontragen, bilden ihre linke aus. Es ist nun bekannt, daß Erkrankungen oder Verletzungen der rechten Hand oder des rechten Armes bei Kindern im zartesten Alter zur Bevorzugung der Linken und zur Entstehung der Linkshändigkeit führen. Sehr wichtig ist auch die Macht der Nachahmung; Kinder, die mit Linkshändigen verkehren, werden leicht selber links.

Aus allen diesen Ausführungen ersehen wir, daß Linkshändigkeit ein Fehler ist, den wir in der frühesten Kindheit, zumeist jedoch nach dem ersten Lebensjahre erwerben, und daß es in der Macht der Erzieherinnen und Pflegerinnen liegt, die Ausbildung dieses Fehlers zu verhüten.

Anderseits müssen wir die Frage aufwerfen, ob eine ausschließliche Rechtshändigkeit, eine vollständige Vernachlässigung der linken Hand als Vorteil anzusehen ist, oder ob es nicht besser wäre, wenn der Mensch beide Hände gleich geschickt gebrauchen könnte, ein wirklicher Zweihänder würde. Diese Frage wurde schon oft erörtert, aber erst in unserer Zeit erhielt sie eine besondere praktische Bedeutung. Die Unfallversicherung nötigt uns, bei Verletzungen genau den Wert der einzelnen Teile des menschlichen Körpers abzuschätzen. Der Verlust oder die Beschädigung der Hände bringt ja ein gewisses Maß von Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit mit sich, und je nach dem Grade derselben soll dem Arbeiter eine Rente zugesprochen werden; da muß der Wert der Rechten und der Linken genau abgewogen werden.

Von Dr. Becker wurden beispielsweise folgende Sätze vorgeschlagen: den Verlust der rechten Hand sollte man auf 75% der Erwerbsfähigkeit bemessen, den der linken auf 60%; die Baugewerbs-Berufsgenossenschaft gewährt für den Verlust der rechten Hand 70 bis 80%, für den der linken Hand 60 bis 70%; bei der Knappschafts-Berufsgenossenschaft gilt für den Verlust der rechten Hand der Satz von 662/3%, für den der linken 50 bis 60%.

Diese Zahlen beweisen. daß im praktischen Erwerbsleben die Bedeutung der Linken wohl gewürdigt wird, und es erheben sich Stimmen, welche für den Verlust derselben noch höhere Sätze bewilligt haben möchten. „Das Zusammenwirken beider Hände ist für alle Arbeit durchaus notwendig,“ sagt Dr. Becker; „eine fehlende Hand kann deshalb nur unvollkommen durch die andere ersetzt werden, und der Verlust einer Hand ist deshalb schwerer zu fühlen als der eines Auges, weil zum gewöhnlichen Sehen im allgemeinen ein Auge ausreicht. Mit dem Verluste einer Hand geht nicht nur die Arbeitsteilung dieser Hand, sondern auch der ganze Effekt des Zusammenwirkens beider Hände verloren. Zu jeder Arbeit ist das Ineinandergreifen beider Hände notwendig, bei jeder Arbeit hält die eine Hand den Gegenstand fest, um die Einwirkung der andern Hand zu sichern, ja selbst beim Schreiben wird die linke Hand zum Festhalten des Papiers gebraucht, wenn die Rechte die Feder führt. Man scheint diesen Umstand vergessen zu haben, wenn man in einigen Entschädigungstarifen den Verlust der rechten Hand auf 60 und den der linken auf 40% schätzt.“

Man kann diesen Ausführungen nur beipflichten; zu allen Zeiten wurde ja die Linke als die treue Gehilfin der Rechten anerkannt, aber bis in die neueste Zeit hinein wurde die Würdigung des Anteils, den sie in Wirklichkeit am Schaffen des Menschen hat, mit stiefmütterlichem Maß gemessen. Bricht sich die Erkenntnis von der hohen Bedeutung der Linken mehr Bahn, so wird sicher auch der Wunsch erwachen, die treue Gehilfin der Rechten mehr, als dies bis jetzt der Fall ist, auszubilden.

Von anderer Seite wird außerdem noch hervorgehoben, daß die ausschließliche Rechtshändigkeit mit Gefahren für die Gesundheit verbunden sein kann. Wenn namentlich in der Jugend der leicht zu knickende Körper angestrengt und zwar immer rechtsseitig angestrengt werde, so können wohl in der Entwicklung einzelner Organe Störungen hervorgerufen werden. Sicher begünstige die Rechtshändigkeit die Entstehung von Verkrümmungen des Rückgrats und könne bei anhaltendem Arbeilen zu fehlerhaftem Blutumlauf führen und Anlage zur Bleichsucht erzeugen.

Wir wollen diese Thatsachen nicht leugnen, obwohl man sich auch hüten sollte, deren Tragweite zu übertreiben. Man kann ja auch ohnedies aus allgemeinen gesundheitlichen Gründen für eine harmonische Ausbildung beider Körperhälften für eine bessere Uebung der Linken eintreten.

Freilich sind der Leistungsfähigkeit der letzteren Schranken gezogen. Die Linke ist wie wir gesehen haben, nicht durch bloßen Zufall, sondern von Natur aus die „ärgere“, die schwächere Hand. Pädagogen und Erzieherinnen müssen daran denken, wenn sie an deren Ausbildung herantreten.

Oft hört man den Vorschlag, man solle die Kinder auch mit der linken Hand schreiben lehren. Damit wird aber an die vielgeplagte Schuljugend eine neue und, wie wir betonen möchten, recht schwierige Anforderung gestellt Es ist leicht, mit der Linken von innen nach außen, also von rechts nach links zu schreiben, aber alsdann entsteht die Spiegelschrift, die für das praktische Leben unbrauchbar ist. Das Schreiben mit der Linken von links nach rechts in der gewöhnlichen Art ist anstrengend, und man sollte dieses neue Maß von Arbeit den bereits überbürdeten Kindern nicht zumuten wollen. Die Linke hat sich mit anderen geringfügigeren Fertigkeiten zu begnügen. Möge sie z. B. lernen, die Schere ebenso geschickt wie ihre rechte Schwester zu handhaben; das Mädchen wickle zeitweilig das Garn mit der Linken; auch beim Zeichnen kann die Linke einspringen und in der Führung des Stiftes Sicherheit zu erlangen suchen; vor allem sollte sie aber in maßvollen Grenzen beim Turnen und im Spiel mehr zur selbständigen Thätigkeit herangezogen werden.

Schließlich ist noch zu betonen, daß man mit der Uebung der Linken nicht zu früh anfange und die Sache nicht übertreibe; die Kinder können dadurch leicht in den Fehler der Linkshändigkeit verfallen, der wieder schwer oder gar nicht abzugewöhnen ist.

Es steckt gewiß in der vernachlässigten Linken ein Arbeits- und Fertigkeitskapital, das die Menschheit noch ausnutzen kann, aber wir dürfen dabei nicht über das Ziel hinausschießen, dürfen nicht vergessen, daß die fortschreitende Menschheit rechtshändig war und daß in dem veränderten Kampf ums Dasein, den wir inmitten der blühendsten Kultur Tag aus Tag ein führen müssen, nach wie vor die Rechte den siegreichen Ausschlag geben wird.



Die Perle.

Roman von Marie Bernhard.
(10. Fortsetzung.)


Ilse stand auf und griff nach ihrem Hut, der neben ihr auf einem Lacktischchen des Achterdecks lag.

„Schon fort, Prinzeß Ilse?“

„Ich muß, Onkel Erich! Mir wurde es gar nicht leicht, heute von Papa Fuhrwerk zu bekommen, er giebt es so ungern zu Privatzwecken her, obgleich er, wie ich Dir schon sagte, frei verfügen kann. Aber er sieht jetzt alles von dem Standpunkt an, daß er Verwalter fremden Eigentums ist – damit quält er sich unablässig und legt sich die peinlichste Buße auf. Erst als ich ihm sagte, ich wolle einiges für Mama besorgen, erlaubte er mir, zur Stadt zu fahren – diese Einkäufe muß ich aber gleich machen, damit ich noch vor Abend zurück sein kann.“

„Und damit Du sie machen kannst – hier!“ Der Alte zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche und drückte es seiner Nichte in die Hand.

„Ach, Onkel –“

„Halt’ den Mund und mach’, daß Du fortkommst! Schreib’ mir ’ne Zeile, sobald Ihr im Verwalterhaus seid, ich miete mir dann ’nen Wagen und fahr’ auf ’ne Stunde oder so hinaus, nach Deiner Mutter zu sehen. Grüß’ mir sie, auch den verrückten

[173]

Palmsonntag in den Alpen.
Nach einer Originalzeichnung von R. Püttner.


Jungen, Deinen Bruder, wenn Du ihn siehst! Er soll nur ’mal wieder zu mir kommen, können ja wieder deutsch miteinander reden – ’s ist nicht nötig, daß ich ihn allemal hinausschmeiß’. Und halt’ Dich stramm!“

„Leb’ wohl, Onkel! Vielen Dank für den Brief aus Kalkutta und für –“

„Keine Silbe mehr, bei meinem Zorn! Kann das Mädel die Thür nicht finden? Jan! Jan Grenboom! Bring’ ’mal die Dame zum Haus hinaus!“

Ilse schüttelte ihm stumm die Hand, Dido hörte auf, sich zu schaukeln, sah diesem Abschied verständnisvoll zu und hüpfte auf eine Stuhllehne, von wo sie gleichfalls Ilse ihr welkes graues Händchen zum Abschied reichte. In der Thür erschien Jan Grenboom mit seinem brummigen Gesicht, auf seinem glattgeschorenen Kopf saß Cato, der Papagei, offenbar mit diesem seinem Lieblingsplatz überaus zufrieden. Alle vier, Kapitän, Matrose, Affe und Papagei, eskortierten das junge Mädchen zur Hausthür, und Cato rief ihr ein herzliches: „Geh’ zum Teufel!“ nach, als die Pforte hinter ihr ins Schloß fiel.

Ein leichter Regenschauer empfing die Heraustretende, die Luft wehte kühl und unfreundlich. Ja, es war Herbst geworden um sie und, wie es ihr scheinen wollte, auch in ihr; trüb’ und ernst sah alles sie an. Sie dachte an Albrecht, an seinen Brief, an seine große tiefe Liebe. Empfand sie die nicht auch für ihn? Gewiß, aber sie fühlte diese Liebe nicht rein und ungetrübt, es war kein voll erklingender Accord, immer und immer mischte sich etwas hinein, das sie nicht haben wollte, das aber da war – unentrinnbar.

Mit einem innerlichen Ruck, den sie beinahe körperlich empfand, riß sie sich aus diesen Grübeleien heraus und wandte ihre Gedanken den praktischen Dingen der Außenwelt zu. Es machen wie Papa! Arbeiten, sich beschäftigen, immerzu, gar nicht zur Besinnung kommen – und dann abends so müde sein, daß einen der Schlaf überfällt wie ein Gewappneter, daß es zur Unmöglichkeit wird, noch zu denken! Aber dazu bedurfte sie einer Thätigkeit, die ihren Geist in bestimmte Bahnen zwang, die sich den ganzen Menschen zu eigen machte. Und die hatte sie nicht! Welch qualvolle Stunden hatte sie in diesen letzten Monaten am Krankenlager der Mutter verlebt, wie hatte sie sich deren frühere Rastlosigkeit, ihr oft anspruchsvolles vielforderndes Wesen zurückgewünscht. Dann hätte die Tochter die Pflicht gehabt, sich selbst völlig zu vergessen, die Stimmen nicht zu hören, die sich in ihrem Innern „verklagten und entschuldigten“. So aber wurde die [174] Kranke immer stiller, immer teilnahmloser. Und Stunde um Stunde saß dann das junge Geschöpf neben dem Bett, die Handarbeit in den feinen Fingern, und zermarterte sich Kopf und Herz und ging unbarmherzig mit sich selbst ins Gericht, ohne doch einen festen Punkt zu finden, in dem sie sich wirklich schuldig bekennen konnte. Rund um sie her atembeklemmende tiefe ununterbrochene Stille; nur ein leises regelmäßiges Ticken von der Wand, an der die Rokokouhr stand, und ein leises unregelmäßiges Hauchen von dem spitzenbesetzten Kissen her, auf dem das blonde Haupt jetzt so still lag – sich nicht mehr rastlos hin und her warf und Wasser verlangte, Wein, frische Luft, Eis – wunschlos und stumm lag es da, das Gesicht fast durchsichtig weiß. Dann ließ Ilse die Arbeit sinken und starrte mit thränenden Augen auf dies bleiche Antlitz und auf das goldene Haar, das sich auf dem Kissen ringelte. Und vor ihren Augen lag es wie eine dunkle uferlose Flut, in die sie auf schwachem Kahn unaufhaltsam, steuerlos hineintrieb.




11.

Ilse war von Laden zu Laden gegangen, hatte Bestellungen gemacht, einige Dinge gleich mitgenommen; nun waren ihre Einkäufe beendet. Der Regen hatte nachgelassen – eine kurze Weile stäubte es noch fein aus den Wolken herab, dann hörte auch das auf. Ilse stand unschlüssig, als sie an die um diese Zeit sehr belebte Promenade kam – sollte sie wirklich hier gehen? Aber es blieb ihr kaum eine Wahl; wollte sie rasch in ihren Gasthof kommen, wo sie den Wagen fand, so mußte sie diese Straße kreuzen.

Plötzlich, als sie eben mit dem Zusammenrollen ihres Schirmes beschäftigt war, hörte sie ein klirrendes Geräusch, wie von feinen zusammenschlagenden Sporen, und eine etwas schnarrende Stimme sagte: „Meine Gnädigste, Sie hier? Welch reizende Ueberraschung! Sie sehen mich hocherfreut!“

In der That – sie sah ihn hocherfreut, den Premierlieutenant Georges von Montrose, der heute in seiner kleidsamen Husarenuniform noch ungleich vorteilhafter aussah als in dem „Räubercivil“, in welchem er sich auf ländlichen Ausflügen gewöhnlich zeigte. Er war wirklich ein hübscher junger Mann und war sich dieser Thatsache wohl bewußt, bestritt auch gar nicht, daß er eitel war. „Dazu haben mich die Weiber gemacht!“ pflegte er im vertrauten Kameradenkreise zu äußern. „Ich immer hinter ihnen her, sie immer hinter mir – Katz’ und Maus, Maus und Katz’ – na ja, da bekommt man allmählich ’ne Ahnung, daß man Vorzüge besitzt!“

Augenblicklich hatte der fidele Herr die Brünetten ganz abgeschworen und schwärmte nur noch für die Blonden, von denen ihm „ein ganz auserlesenes Exemplar vor Augen getreten war“. Als er Ilse von Doßberg zum erstenmal zu sehen bekommen hatte – auf „Perle“ war’s gewesen, sein Vater hatte mit Baron Doßberg eine eingehende Unterredung, und der Baroneß fiel die Aufgabe zu, ihn und Clémence so lange zu unterhalten – da hatte er nur mit Mühe einen Ausruf des Erstaunens unterdrückt; das Monocle war mit der Geschwindigkeit des Blitzes ins Auge geflogen, die Hacken fuhren wie von selbst zusammen. So sah die aus? Solch ein entzückendes Geschöpf mit soviel Rasse hatte dieser sauertöpfische Baron Doßberg zur Tochter? Teufel, Teufel, Teufel! Und bei jedem „Teufel“ war der leicht entzündliche Lieutenant dem Gegenstand seiner Bewunderung um einen Schritt nähergerüekt. Da galt es, heillos rasch mit allen vorgefaßten Meinungen zu räumen und die „blonden Vorurteile“ samt und sonders über Bord zu werfen. Und Herr Georges von Montrose begann zu manövrieren. Als gewiegter Frauenkenner hatte er’s in der ersten Minute weg, daß hier nichts mit billigen Schmeicheleien und ödem Süßholzraspeln zu machen sei, noch weniger mit schneidiger Eilschrittmanier; er zog daher die feinen Register der Ritterlichkeit auf, war ganz Takt, ganz Zartgefühl, ganz Verständnis, schoß keine zündenden Blicke und keine schmeichelhaften Redensarten ab, sondern that und blickte so reserviert, daß sogar Clémence an ihm irre wurde und sich innerlich zweifelnd fragte. ob sie ihm wirklich nicht gefällt? Als sie dann aber diese Frage thatsächlich an ihren Bruder richtete, da bekam sie ein so kräftiges: „Ich bin überhaupt weg! Ich bin verrückt!“ zur Antwort, daß sie genug davon hatte.

Leider machte sich das „süße Geschöpf“, wie Georges das Schloßfräulein von „Perle“ fortan in seinen Gedanken nannte, äußerst rar; in der Stadt war sie sehr selten, und geschah es einmal, so wußte „man“ nichts davon und bekam sie nicht zu sehen; und auf dem Gut, für das der junge Montrose plötzlich eine glühende Vorliebe gefaßt hatte, ließ sie sich mehrfach entschuldigen: sie sei der kranken Mutter unentbehrlich. Nur einmal, als die beiden Geschwister ohne ihren Vater kamen, der in Gnadenstein hatte bleiben müssen, hatte Ilse sich den Gästen zwei Stunden gewidmet und die Glut im Herzen ihres Verehrers zu lichterlohen Flammen entfacht. Gerade daß sie ganz unbefangen blieb, keine Spur von Gefallsucht zeigte und ihre junge Schönheit so unbefangen trug wie eine Königin ihr Diadem, das machte sie dem Feinschmecker so anziehend; diese Gattung war ihm völlig neu. Und dann war etwas reizend Geheimnisvolles um sie herum – Georges hätte nicht sagen können, was es war, aber es war da. Kurz, er war „hin“, kopflos verbrannt und „hin“! Papa durfte natürlich keine Ahnung von dieser Thatsache haben – was sollte der auch damit? Der Sohn begnügte sich, ihm sein Vertrauen in Bezug auf Rechnungen und Bankanweisungen zu schenken, alles Weitere war vom Uebel. Aber Clémence wurde seine Vertraute; sie sollte durchaus Ilses „intime Freundin“ werden, wozu bei beiden jungen Damen nicht die mindeste Neigung vorhanden war, und ihrem Bruder Gelegenheit geben, dem Gegenstand seiner Anbetung häufiger nahe zu kommen. Bisher war zu seiner Verzweiflung nichts geschehen, was eine Annäherung seinerseits irgendwie begünstigen konnte; er hatte sich schon halbwegs darein ergeben, all seine Pläne bis zur endgültigen Uebersiedlung seiner Angehörigen nach „Perle“ zu vertagen, als ihm der Gegenstand seiner Sehnsucht an diesem trüben Herbsttag so unerwartet in den Wurf kam.

Sein glänzender Blick überflog die elegante und doch schlichte Kleidung des jungen Mädchens, den knappen lichtgrauen Reiseanzug, den breitgerandeten dunkeln Hut – schick, unglaublich schick! – und blieb dann auf dem Gesicht des „süßen Geschöpfes“ haften. Dies reizende zartrosige Oval, diese vollen weichen Lippen, und solches Haar und solche Augen – die hatte überhaupt kein Mensch weiter auf der Welt! Nur blickten diese Augen verzweifelt unbefangen; überrascht, aber ruhig sahen sie dem Lieutenant geradeswegs ins Gesicht.

„Ich fürchte, ich hatte das Unglück, Sie zu erschrecken, Gnädigste!“ begann Georges, nicht eben geistreich, die Unterhaltung.

„Ich war ein wenig in Gedanken und im Augenblick nicht auf eine Anrede gefaßt – ich bin sonst nicht so schreckhaft!“

„Darf ich fragen, wie es Ihnen in all der Zeit ergangen ist, Baroneß, und welche Veranlassung Sie heute hierher geführt hat? Sie gestatten!“ Damit schlängelte sich Georges um das junge Mädchen herum, so daß er sie zur Rechten hatte, und setzte, wie ganz selbstverständlich, seinen Weg an ihrer Seite fort.

„Danke, Herr von Montrose! Ich bin immer gesund gewesen, seitdem wir einander zum letztenmal begegneten. Heute hatte ich einige Einkäufe für meine kranke Mutter zu erledigen.“

„Und es ist Ihnen auch nicht eine Minute der Gedanke gekommen, bei Ihrem Aufenthalt in St. meine Schwester Clémence zu besuchen, die Sie doch so dringend um diese Gunst gebeten hat?“ fragte der junge Mann in vorwurfsvollem Ton.

Sie sah mit einem freimütigen Blick zu ihm empor. „Wenn ich offen sein soll, nein, Herr von Montrose, mir ist der Gedanke nicht gekommen. Es ist wahr, Ihre Schwester hat mich wiederholt aufgefordert, sie zu besuchen, aber ich glaube nicht, daß sie mein Erscheinen wirklich als eine ‚Gunst‘, wie Sie sich soeben freundlich ausdrückten, empfinden würde. Sie hat geglaubt, mir eine schuldige Höflichkeit erweisen zu müssen, als sie mich einlud, weiter nichts, und ich habe es gleichfalls als nichts anderes aufgefaßt.“

„Sie glauben nicht, meine Gnädigste, daß Sie jemals mit Clémence Freundschaft schließen könnten?“

„Das läßt sich nicht vorherbestimmen. Aber so, wie ich unsere Naturen bis jetzt beurteile, glaube ich allerdings nicht, daß Ihre Schwester und ich uns jemals miteinander befreunden werden!“

„Das ist wahrhaft niederschmetternd für mich!“ So ehrlich überzeugt klang das, so sprechend blickten des Lieutenants Augen dabei, daß Ilse lächeln mußte. Die Gegenwart dieses Mannes legte ihr nicht den mindesten Zwang auf, sie fühlte sich ganz frei in seiner Nähe – nichts in seinem Aussehen, seinem Benehmen, seiner Stimme erinnerte daran, daß er seines Vaters Sohn war.

„Wie geht es Ihrer Schwester?“ fragte sie freundlich.

[175] „Ich danke! Wie es verliebten und verlobten Leuten zu gehen pflegt! Botho – das ist nämlich meiner Schwester Bräutigam – bedauerte ührigens lebhaft, Sie bei unseren zwei letzten Besuchen auf ‚Perle‘ nicht gesehen zu haben; er war außergewöhnlich gespannt darauf, Ihre Bekanntschaft zu machen – ich – ich hatte mir erlaubt, Baroneß zu schildern.“

„Meine Mutter war in letzter Zeit so krank, daß es mir schwer fiel, sie zu verlassen!“ Ilse sagte das nicht ohne einige Verlegenheit. Die Kranke hätte sie recht gut entbehren können, zumal Lina zur Stelle war, allein bei jenen zwei Besuchen war auch der alte Herr von Montrose anwesend gewesen, und ihm vor allem wünschte sie auszuweichen, wo immer sie nur konnte.

„O, o, bedaure unendlich! Hoffentlich wird sich nach unserer Uebersiedlung nach ‚Perle‘ alles erfreulicher und günstiger gestalten. Ich denke, es soll ein recht reger heiterer Verkehr zwischen Haus Doßberg und Haus Montrose werden. Mein Kommandeur hat mir Urlaub versprochen, der Herbst kann uns noch die schönsten Tage bringen – der Platz zum Lawn-Tennis ist famos geworden; Clémence und ich haben ihn selbst eingerichtet, und wir können einander dort manche heiße Schlacht liefern, Baroneß!“

„Ich bin keine geübte Spielerin!“

„Werde mir erlauben, Ihren geduldigen Lehrmeister abzugeben. Rechne es mir zu besonders hoher Ehre an, bei Baroneß dies Amt zu versehen, glaube auch, ohne Uebertreibung versichern zu können, daß ich da meinen Mann stehe. Wirklich ein amüsanter Sport und ungeheuer gesund!“

„Ohne Zweifel! Ich werde mich nur um meiner leidenden Mutter willen selten an diesem Vergnügen beteiligen können.“

Der Husarenlieutenant verwünschte innerlich diese kranke Mutter mit Haut und Haaren. War’s nicht genug an dem Vater nat dem Unglücksgesicht – mußte dies reizende Wesen auch noch eine leidende Mutter haben, die immer und überall als Vorwand gelten konnte, wenn der schöne Trotzkopf irgend etwas nicht wollte? Ihm kam die schlimme Ahnung, er würde auch auf „Perle“ bedenklich wenig von seinem „süßen Geschöpf“ haben, und es fiel dem flotten Georges nicht leicht, seinen Grimm zu unterdrücken. „Eine so ernste Lebensauffassung, gnädiges Fräulein, bei Ihrer Jugend und – sonstigen Bevorzugung darf mit Recht befremden.“

„Finden Sie? Sie kennen die Schicksale unseres Hauses und mich selbst zu wenig, um ein Urteil zu haben, aber ich sollte meinen, selbst das, was Sie bisher davon erfuhren, könnte Ihnen meine ernste Lebensauffassung erklären. Ich bin bis vor kurzer Zeit allerdiugs ein sehr sorgloses glückliches Menschenkind gewesen; ich wäre aber mehr als leichtsinnig, ich wäre gewissenlos, wollte ich das jetzt noch immer sein!“

Das klang „verteufelt ernst“ aus so schönem Munde, und Georges Montrose war eigentlich in Verlegenheit, was er darauf erwidern sollte. Er war sehr gewandt, er konnte sogar über ein Nichts „Konversation machen“, aber mit dem Ernst des Lebens mußte man ihm nicht kommen, mit dem wußte er beim besten Willen nichts anzufangen, und die inhaltsreichen jungen Mädchen gar, die selbst denken konnten, waren ihm von jeher unbequem und zuwider gewesen; er erklärte sie für „scheußlich langweilig“, ihre Reden für „albernes Gefasel“, nicht wert, daß man es anhöre! Auch jetzt gefiel ihm das, was Ilse von Doßberg sagte, durchaus nicht – aber war es nicht doch prachtvoll, hier an ihrer Seite über die Promenade zu schlendern, alle zwei Minuten gegrüßt von einem Kameraden, der die junge Schönheit bewundernd musterte, ihn, den Kameraden Montrose, in der Stille beneidete und einen „nichtswürdigen Schwerenöter“ nannte, der ein fabelhaftes Glück habe? Sie sah so zum Tollwerden entzückend aus, mochte sie denn reden was sie wollte! Es war eine Wonne, sie anzusehen und neben ihr zu gehen, hin und wieder ganz leicht ihr Kleid zu streifen und sich so nahe herunterzuneigen, daß man den schwachen feinen Duft ihres Haars einzuatmen vermochte. Noch viel entzückender mußte es freilich sein, den schönen Mund, der so ernste Dinge verhandelte, mit unzähligen Küssen zu schließen – Georges dachte sich das zu seinem Trost aus, während er ein paar Phrasen zur Antwort murmelte, bei denen er sich nichts dachte. Ilse erwiderte darauf auch nichts, sondern zuckte nur leicht die Achseln.

Es half ihr aber nichts, sie mußte sich richtig noch bis zu ihrem Gasthof von diesem unternehmenden Offizier begleiten, sich von ihm ausdrucksvoll die Hand oberhalb des Handschuhs küssen lassen und ihm allerlei Fragen beantworten, die ihm sehr am Herzen lagen ... wann er hoffen dürfe, sie wiederzusehen, ob sie bald wieder nach St. kommen würde, ob sie beim nächsten Besuch in „Perle“ von neuem die Grausamkeit besitzen könnte, unsichtbar zu bleiben und so fort. Sie antwortete kurz und verpflichtete sich zu nichts, ließ alles unbestimmt und schob, wie er in stiller Empörung schon geahnt hatte, wiederum die kranke Mutter vor. Im übrigen behauptete sie, große Eile zu haben, um noch vor Einbruch der Dunkelheit daheim zu sein; er konnte sich ihr nur noch nützlich erweisen, indem er den Kutscher zur Eile antrieb und das Aufstapeln der verschiedenen inzwischen eingetroffenen Pakete und Schachteln in den Wagenecken beschleunigte. Darauf hatte er noch das bittersüße Vergnügen, das schöne Mädchen in den Wagen zu heben und den Schlag zu schließen, von dem er in ehrerbietigster Haltung, die Hacken aneinander, zwei Finger am Mützenrand, zurücktrat. Noch eine leichte Neigung des Köpfchens, und die Stelle, wo eben noch der Wagen gestanden hatte, war leer. Das „süße Geschöpf“ war fort!

Die Pferde, welche Philipp fuhr, den Baron Doßberg als Kutscher beibehalten hatte, waren edle mutige Tiere und erinnerten an die früheren guten Zeiten auf „Perle“. Philipps Kutscherherz lachte vor Freude, wenn er sie im Zügel hatte, obgleich es ihm immer noch einen Stich gab, daß sie nicht mehr seinem alten Herrn gehörten, sondern diesem „neuen“, den eigentlich kein Mensch auf dem Gut bisher so recht zu Gesicht bekommen hatte und der doch mit seinem Gelde, mit seiner Macht bereits unsichtbar über allem schwebte.

Die Luft ging kühl und frisch, die Straße war staubfrei, der leichte Wind sog rasch den eben gefallenen Regen auf. In die Kissen zurückgelehnt, ließ Ilse die Luft über ihre halbgeschlossenen Augen hinwehen; sie dachte gar nicht mehr an Georges von Montrose, die Begegnung mit ihm hatte ihr keinen Eindruck gemacht. Nur ein Satz, den er ausgesprochen, war ihr im Gedächtnis hängen geblieben, den hörte sie immerfort – es war der Satz von dem regen heitern Verkehr, den es nun bald zwischen Haus Doßberg und Haus Montrose geben sollte. Würde sie sich dem immer entziehen können? Gebot es nicht die Rücksicht auf ihren Vater, daß sie diesen Verkehr aufrecht hielt? Wenn sie aber daran dachte, dann kam die alte heiße Angst wieder und griff ihr ans Herz. Sie beugte sich im Wagen vor und fing ein Gespräch mit Philipp an – nur nicht denken, nicht denken!

„Durch den Wald, gnädiges Fräulein?“ fragte der Kutscher nach einer Weile und verhielt die Pferde an einer Gabelung des Wegs.

„Ja, und wenn wir dorthin kommen, Philipp, wo der Waldweg links zum Belvedere abbiegt, dann halten Sie an! Ich steige aus und komme zu Fuß heim; es ist noch so hell, wir sind rasch gefahren, und ich möchte gern an die See. Zu Hause sagen Sie, ich folge bald!“

„Sehr wohl, gnädiges Fräulein!“ Und Philipp ließ den Pferden die Zügel.

Sie wollte das Meer sehen, das Meer, auf dem er zu Hause war! Dort wollte sie seinen Brief noch einmal lesen, an jener Stelle, wo sie sich ihm einst verlobt hatte – dort mußte sie ihre Ruhe, das Gleichgewicht ihrer Seele wiederfinden!

Nun trat der Wald rechts und links an die Straße heran, die sich breit und eben wie ein helles Band hindurchzog. Die Tannen standen in ernstem Grün, nur hin und wider zeigte ein Laubbaum sein buntes Kleid – goldiggelb oder rotgesprenkelt setzte es ein lebhaftes Licht in das tiefe Grün des Nadelholzes. Mit einmal aber hörten die Tannen auf; es kam die schönste Partie des Waldes, der Stolz all der Geschlechter, die auf „Perle“ gehaust – der Eichenforst, an den keine Hand gerührt hatte, seitdem der erste Doßberg den Besitz empfangen. Die Stämme standen nicht zu dicht aneinander; man hatte von Anfang Bedacht darauf genommen, daß sie sich runden, ihre Kronen ausbreiten sollten, ungehindert durch die Nachbarn. Und wahrlich, sie hatten sich ausgebreitet! Aus riesigen Stämmen reckten sich dicke knorrige Aeste gleich weit ausholenden Armen, die ihre Blätterwucht nicht fühlten, sondern sie leicht, wie den schönsten Schmuck, emporhoben und in den Lüften wiegten, wenn der Wind kam und in ihnen sang. Jahrhunderte hindurch hatten diese Wipfel gebraust, sich höher und höher reckend, nun bildeten die herrlichen Kronen ein einziges undurchdringliches Dach, das dem Regen stand hielt, kaum einen [176] vereinzelten Sonnenstrahl durchließ und in der heißesten Sommerzeit köstlich kühlen Schatten gewährte. Heute webte ein sanftes Halbdunkel um die knorrigen Stämme und Dämmerung umfing das einsame Mädchen, das jetzt lautlos über den weichen Waldboden schritt. Schauernde Andacht hatte Ilse schon als Kind gefühlt, wenn sie vor langen Jahren an des Vaters Hand in diesen Wald eingedrungen war. Baron Doßberg war glücklich, wenn er seinem kleinen Mädchen den Eichenforst zeigen konnte, auf den er unsagbar stolz war. Betrat er, sein Töchterchen an der Hand, diesen seinen geliebten Wald, dann flossen ihm die Ueberlieferungen seines Hauses gleichsam ungewollt von den Lippen, und er berichtete der lauschenden Kleinen davon, lange ehe ihr Verständnis seinen Erzählungen zu folgen vermochte. So knüpften sich für Ilse an diese Eichen Dinge, die wie halbverklungene Sagen, wie seltsame Märchen aus ferner, ferner Zeit zu ihr herüberschallten.

Nun hörte sie es wieder wie schon zu hundert Malen, das stolze Wipfelbrausen über ihrem Haupt, und gewahrte aufschauend das unablässige Regen der Blätter, das majestätische Wiegen der weit ausladenden Aeste. Hierher hatte sie Albrecht Kamphausen damals geführt, und der alte Eichwald, der Anblick des Meeres hatten ihm das Geheimnis seines Herzens entrissen, das er fürs erste noch hatte bewahren wollen.

Je näher man der See kam, um so mehr lichtete sich der Eichenbestand; nur vereinzelte Ausläufer der herrlichen Bäume standen hier noch gleich Vorposten verstreut. Der Wind wehte jetzt vom Meere her und hatte an Heftigkeit zugenommen. Ilse mußte fest ausschreiten und sich ein wenig vorneigen, um gut vorwärts zu kommen. In die Stimmen des Waldes mischte sich schon das Gebrause der See ... einmal war es dem jungen Mädchen, als habe sie das Schnauben eines Pferdes vernommen, aber das mußte Täuschung sein, Philipp war ja seit mehr als einer halben Stunde nach der entgegengesetzten Richtung verschwunden.

Ilse erstieg noch nicht die Stufen, die zu dem kleinen Ufertempel hinaufführten; von der Anhöhe, auf welcher sie stand, hatte man denselben Blick wie dort vom Belvedere. Gefesselt blieb das junge Mädchen neben einer schlank aufragenden Buche stehen. Blutrot hing der Sonnenball am Rand des Horizontes, bereit, ins Meer hinabzutauchen, das sich bleigrau dehnte; nur dort, wo die Sonne hinunterwollte, färbte sich das Wasser wie flüssiges Kupfer, und am Strande schäumten die Wellen weiß auf und warfen schneeigen Gischt bis in die Grasbüschel und kümmerlichen Gesträuche, die sich höher hinauf am Sande festgeklammert hatten. Die Brandung donnerte zornig, und unruhig fuhren die Möven drüber hin, ihren schrillen Schrei in den tiefen allgewaltigen Klagelaut des Meeres mischend. Tief auf atmete Ilse. Ihr Auge hing an dem Glutball da drüben der eben mit seinem äußersten Rande die Wasserfläche berührte. Wie sie es liebte, das weite Meer, das seine Heimat war! Ihr Fuß hob sich, um weiterzugehen, und ihre Hand griff in die Tasche des Kleides, um Albrechts Brief hervorzuziehen, als von dem nächsten Baum eine Gestalt sich loslöste und fürs erste stumm, den Hut in der Hand, mit ehrerbietigem Gruß auf sie zukam. (Fortsetzung folgt.)


Ein Welttyrann.

Ein Blick in die Schatzkammern der Erde.
Von W. Berdrow.

Nicht nur Bücher, auch andere Dinge „haben ihre Geschicke“. Das lehrt ganz besonders die Geschichte der Edelmetalle. Man könnte heute das verbreitetere unter ihnen das Silber, mit Recht eine gefallene Größe nennen, während das weit seltenere Gold mehr und mehr Aussicht hat, als unumschränkter von keinem Nebenbuhler mehr gestörter Alleinherrscher die Schicksale der ganzen Welt zu lenken.

Die Geschichte des Goldes ist so alt wie die Geschichte überhaupt. Schon in den Sagen der alten Kulturvölker spielt das unzerstörbare, blendende, von den Menschen so sehr geliebte gelbe Metall eine Rolle. Alt-Indien, Aegypten wußten Jahrtausende v. Chr. Geburt von gegrabenem und gewaschenem Golde; Nubien und Aethiopien, ja das sagenhafte dunkle Land der Hyperboräer wurden in den Gedanken der Alten durch den Glanz gelben Goldsandes verklärt.

Um den Gebrauch des Goldes und des in der Wertschätzung ihm stets zunächst stehenden Silbers war man nie verlegen. Schon die im Kunstgewerbe noch gänzlich unerfahrenen Völker des Jagd- und Nomadenzustandes haben sich gerne mit rohen Zieraten geschmückt, und was konnte zu solchen geeigneter befunden werden als das weiche leicht formbare und doch allen Einflüssen der Verwitterung trotzende funkelnde Gold? Die Goldschmiedekunst sehen wir schon im Altertum in hoher Blüte stehen, als Tauschmittel sind Goldkörner und -barren ebenfalls stets im Gebrauch gewesen, und wenn wir auch geprägte Goldmünzen erst aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. besitzen - und zwar griechischen und kleinasiatischen Ursprungs - so verlegt doch sichere Kunde den Beginn der Goldmünzenprägung in Aegypten mm mindestens 1000 Jahre weiter zurück.

Die Benutzung des Goldes als eines gemünzten Zahl- und Tauschmittels ist seitdem mit der vermehrten Goldgewinnung gewachsen, und diese Art der Verwendung spielt auch heutzutage in den Geschicken des roten Metalls eine entscheidende Rolle. wenngleich in dieser Hinsieht durch lange Jahrhunderte das Silber dem Golde an Bedeutung überlegen war. Oft hat sich überhaupt die Wertschätzung des Goldes dem Silber gegenüber verschoben. Vor 1400 bis 1500 Jahren schätzte man das Gold durchschnittlich auf den 12fsachen Wert des Silbers, seit 1890 galt das Silber nur noch halb soviel wie zu jener Zeit, dann ist es im Preise von Jahr zu Jahr weiter gesunken, und jetzt, nach den gewaltigen Kursstürzen welche es im letzten Jahre auszuhalten hatte, wird ein Pfund Silber annähernd 30 mal geringer geschätzt als das gleiche Gewicht Gold. und die jährliche Silbergewinnung der Erde, welche nach dem 1870 gültigen Silberpreise der Goldgewinnung an Wert gleichgekommen wäre. erreicht an Wirklichkeit nur noch die Hälfte derselben. Wie sich diese beispiellose Entwertung des Silbers allmählich vollzogen hat, ist nicht so leicht zu erklären. Die immer zunehmende Neigung aller Nationen, die Silberprägungen einzustellen oder doch das Silber nur als Scheidemünze für den kleinen Geldverkehr beizubehalten und im übrigen alle Zahlungen in Gold zu vermitteln (man nennt das „Goldwährung“), ist in den letzten zwanzig Jahren wohl die Hauptursache gewesen, welche den Wert des Goldes erhöhte und den des Silbers herabdrückte. Weiterhin aber war von wesentlichem Einfluß die jeweilige Höhe der Gold- und Silbererzeugung. So oft die Goldgewinnung. wie z. B. in den ersten fünfzig Jahren nach der Entdeckung Amerikas, im vorigen Jahrhundert nach der Erschließung der brasilianischen und in unserem durch die Ausbeutung der kalifornischen und australischen Goldfelder, den Silberertrag der Erde bedeutend überwog, sanken die Goldpreise und das Silber ward etwas höher geachtet, um in den dazwischen liegenden weit längeren Fristen seiner überwiegenden Gewinnung beständig wieder zu fallen. Beide Gründe aber reichen zur vollen Erklärung der Silberentwertung doch nicht aus; denn trotz der um sich greifenden Neigung zur Goldwährung ist bis jetzt noch nicht die Hälfte des seit der Entdeckung Amerikas überhaupt gewonnenen Goldes als Münze im Umlaufs, und in den letzten Jahrzehnten ist die sinkende Bewegung des Silbers von irgend welchen Verändernden in der Gewinnung überhaupt nicht mehr aufzuhalten gewesen. Der Preisfall ist so groß, daß die in allen Kulturstaaten im Umlauf befindliche Menge von Silbergeld[1] plötzlich auf die Hälfte ihres Wertes zusammenschmelzen würde, wenn man die Münzen nicht mehr als Prägegeld, hinter dem die Einzelstaaten mit ihrem Kredit stehen, sondern nur noch als einfache Metallbarren in Rechnung zöge.

Nun aber zurück zum Golde, zu seiner Gewinnung und Verwertung und vor allem zu der wichtigen Frage, ob die bekannten

[177]

Aus Richard Wagners „Lohengrin“: Ortrud auf den Knien vor Elsa von Brabant.
Nach einem Gemälde von Th. Pixis.

[178] oder noch zu vermutenden Goldschätze der Erde dem wachsenden Bedarf noch länger genügen werden, wenn bei der fortschreitenden Einstellung der Silberprägung der Goldverbrauch der Erde noch weiter wächst.

Wo das Gold zum Gegenstand wirklichen, in die Tiefen der Erde eindringenden Bergbaues gemacht wird, findet es sich meist, mit Silber, auch wohl mit Platin, Kupfer, Eisen oder anderen Metallen vereinigt, in den jüngeren vulkanischen Gesteinen oder in den Quarzgängen einiger Schiefergebirge. In seinen Schuppen oder Blättchen haftet es am Gestein oder ist auch in Gestalt kleiner Körnchen, selten in größeren Stückchen darin eingesprengt. Obwohl wir nun in diesem Vorkommen die eigentliche und ursprüngliche Stätte des Goldes annehmen müssen, so hat man doch kaum den achten Teil des bisher gewonnenen Metalles auf bergmännischem Wege gefunden. Das Wasser, das überall ans der Erdrinde seine Spuren fast umfangreicher und tiefer eingegraben hat als die feurigen Elemente, hat auch hier bereits in den Urzeiten mächtig vorgearbeitet. Regen und Frost haben das Urgestein gesprengt und zersetzt; Eisgeschiebe oder Wasserströmungen führten die Trümmer ins Thal, wo sich neue, sogenannte Alluvialschichten daraus aufbauten, und in ihnen fand der schwere Goldsand von neuem und vielleicht wiederum für Hunderttausende von Jahren eine Stätte. Diese Alluvialschichten liefern seit Jahrhunderten den größten Ertrag an Gold, und selbst jetzt, wo zufällige Entdeckungen in den Weststaaten Nordamerikas einige fast unerschöpflich scheinende Gold-Silberminen in vulkanischen Gesteinen erschlossen haben, denen man jährlich viele Millionen abgewinnt, selbst jetzt ergiebt noch das Schwemmland, dem das meiste Gold von Kalifornien, Australien, Rußland und Afrika entstammt, zwei Dritteile der ganzen Produktion.

Bemerkenswert ist dabei, wie das Verfahren zur Gewinnung bei den großen Betrieben der Neuzeit genau den umgekehrten Weg einschlägt von dem, aus welchem jene Alluvialschichten und ihr Goldgehalt entstanden sind.

Ursprünglich waren allerdings die Werkzeuge des Goldwäschers – und in vielen Teilen der Erde ist man von der ursprünglichen Uebung auch heute noch nicht weit abgewichen – die allereinfachsten von der Welt. Eine Schüssel von Holz oder Blech, je nachdem auch wohl bloß eine Kürbisschale, wurde mit dem mechanisch zerkleinerten Schutt der goldführenden Schichten gefüllt und unter Wasser solange hin und hergeschüttelt und gerüttelt, bis die sandigen Bestandteile sich aufgelöst, Sand, Kies und Lehm sich allmählich über den Rand des Gefäßes in den Waschbach gespült und die Goldblättchen, beinahe zehnmal schwerer als ihre unedle Bereitschaft, sich im Gefäß zu Boden gesetzt hatten. Daß bei dieser Art des Goldwaschens oft bis zu 50 Prozent des ganzen Gehaltes verloren ging, wird man gern glauben, und sicher ist es schon eine ganz hübsche Leistung, wenn ein Mann mit solchen Werkzeugen täglich bis zu acht Centnern goldhaltigen Rohstoff verarbeitete. Doch mit der Zeit stellten sich auch die Verbesserungen ganz von selbst ein. Aus der Schüssel wurde ein Trog, der auf Rollen hin und hergeschaukelt wurde, während der Sand schaufelweise hineingeworfen und ein Wasserstrom darüber hingeleitet ward. Aus dem Trog wurden lange Rinnen, sogenannte „Schleusen“, die sich gar nicht mehr bewegten, sondern, mit Sand gefüllt, nur noch vom Wasser durchströmt wurden und ebenfalls den schweren Goldsand am Boden sich ablagern ließen, wo er durch eingeschüttetes Quecksilber aufgelöst ward. Jetzt konnte man die Arbeitsleistung eines Mannes bereits fünfundvierzigmal höher steigern als bei der Verwendung der einfachen Goldschüssel, aber dem Massenbedarf der letzten Jahrzehnte genügte auch das nicht mehr, und so bildete sich in Kalifornien der hydraulische Abbau aus, mittels dessen heute ein Mann in einem Tage mehr Goldsand auswaschen kann als früher in zwölf Jahren; allerdings gebraucht er dabei täglich eine größere Menge auf 4 bis 5 Atmosphären gepreßten Wassers, als eine Stadt von 30 000 Einwohnern in derselben Zeit ans ihrer Leitung entnimmt. Schon diese Ziffern sprechen für die Großartigkeit, mit welcher der hydraulische Abbau der Goldschichten heutzutage betrieben wird. Um das dazu nötige Druckwasser herbeizuschaffen, sind in den Gebirgen hochgelegene, mächtige Stau-Becken gemauert worden, gewaltige Leitungen führen ans ihnen die Gewässer au den Ort des Verbrauchs, und dort prasseln aus geeignet aufgestellten Rohren die Wasserstrahlen mit derartiger Wucht gegen die geneigte Wand der goldführenden Bergschichten, daß ein jeder Strahl täglich gegen 1000 Kubikmeter oder 30- bis 40 000 Centner Gestein und Lehm zertrümmert und fortspült. Durch tiefe Gräben wird der losgerissene Gesteinsschlamm von den gewaltigen Wassermassen zu großen Schleusen weggeführt, wo, wie früher geschildert, die Lehm- und Gesteinsmassen fortgewaschen werden, während sich das Gold zu Boden senkt. Ein tiefes Thal nimmt endlich die sich bald zu Hügeln und Bergen türmenden Schwemmmassen auf, welche sich nun, ihres Goldes ledig, zu neuen Alluvialschichten aufhäufen, über deren Bedeutung vielleicht wieder spätere Zeiten grübeln.

Die weitere Behandlung des mit seinen Nebenmetallen nunmehr aus dem Gestein losgelösten Goldes müssen wir hier übergehen: nur soviel sei davon erwähnt, daß die Ausscheidung des reinen Goldes zunächst durch kochende Schwefelsäure und dann durch verschiedene andere Prozesse geschieht und seit einigen Jahrzehnten so vervollkommnet ist, daß man jetzt mit Vorteil aus alten, unabsichtlich mit Gold versetzten Silbermünzen das edlere Metall herausziehen kann. So ließ die deutsche Reichsregierung in den Jahren 1873 bis 1879 durch die Roeßlersche Gold- und Silberscheideanstalt zu Frankfurt a. M. nahezu 35 000 Centner silberne Landesmünzen, worunter über 400 Millionen vor 1856 geprägter Thaler, scheiden und gewann daraus etwa 769 Kilogramm oder reichlich 2 Millionen Mark an purem Golde.

Was das Vorkommen des Goldes betrifft, so sind alle fünf Erdteile, wenngleich in sehr verschiedenem Maße, damit gesegnet, Europa allerdings, das Gebiet des größten Goldverbrauchs, das noch heute über zwei Drittel alles gemünzten Goldes der Erde besitzt, weitaus am wenigsten. Oder in Zahlen: von allem bis jetzt auf der Erde gewonnenen Golde – das mögen etwa 12 bis 13 Millionen Kilogramm oder 1000 Eisenbahnwagen voll oder ein Block von 8 1/2 Meter Höhe, Breite und Dicke sein – hat Europa höchstens den fünfundzwanzigsten Teil geliefert, aber mindestens zwei Drittel sich angeeignet und in Gebrauch genommen. Von den übrigen Erdteilen scheint einer so ergiebig wie der andere, wenn auch die jährlichen Ausbeuteziffern oft beträchtlich auf und nieder schwanken. In Asien besitzt Rußland so ergiebige Goldlager, daß im Jahr 1892 der Ertrag der sibirischen Bergwerke mit 100 Millionen Mark beinahe ein Fünftel der Gesamtgewinnung der Erde ausmachte. Allerdings hat Rußland schon weit ertragreichere Jahre gesehen, doch hängt hier das Sinken und Steigen mehr von dem Umfang der fiskalischen Betriebe ab als von dem Reichtum der Goldfelder, die vom Uralgebirge bis zum Großen Ocean reichen und noch ganz unermeßliche Schätze des gelben Metalles bergen. Außer Sibirien kommt in Asien nur noch China als Goldquelle in Betracht, doch sind über den Umfang seiner Gewinnung genauere Zahlen noch nicht bekannt geworden. Afrika besitzt Gold an verschiedenen Stellen seiner Küste und seines Inneren und nur die langdauernde Unbekanntschaft der Kulturstaaten mit diesem Erdteil war schuld daran, daß bis in die achtziger Jahre hinein Afrika nur mit wenigen Prozenten an der Goldausbeute der Erde beteiligt war. Seitdem hat sich indessen, besonders in Natal und Transvaal, die Förderung so schnell gesteigert, daß heute in Afrika fast ebensoviel Gold gewonnen wird wie in Asien. Von dem ganzen bisher der Erde entnommenen Goldvorrat verdanken wir Afrika etwa den zehnten Teil. Was endlich Amerika und Australien betrifft, so brauchen wir nur die Namen Kalifornien und Neu-Süd-Wales oder Viktorialand zu nennen, um die Erinnerung an die märchenhaften Goldströme der fünfziger und sechziger Jahre zu wecken. Allerdings ist der Ertrag beider Goldgebiete seitdem zurückgegangen, doch nicht in dem Maße, wie es zeitweise den Anschein hatte. Wenn in Kalifornien einzelne Minen verarmten, so erschlossen sich dafür beständig andere in den übrigen Staaten des westlichen Nordamerika; Nevada, Colorado, Montana, Neu-Mexiko und vor allem Alaska wachsen mehr und mehr zu gewaltigen Goldlieferern heran und werden das in dieser Beziehung allmählich verarmende Kalifornien, das allerdings vorläufig noch immer den zehnten Teil der ganzen irdischen Goldgewinnung ergiebt, in Zukunft ersetzen. Aehnlich liegen die Verhältnisse in Australien, das zur Zeit des großen Goldfiebers Jahreserträge bis zu 146 Millionen Mark erreichte, dann in den achtziger Jahren bis auf 110 Millionen fiel und heute bereits wieder 143 Millionen erreicht hat, 1892 sogar an die Spitze aller goldspendenden Länder getreten ist.

Wo bleibt nun diese gewaltige, seit mehr als vier Jahrzehnten [179] gegen 500 Millionen Mark jährlich an Wert betragende Goldförderung? Vermünzt ist davon das Wenigste, denn wenn auch die seit vierzig Jahren in den Kulturstaaten vollzogene Prägung von Goldmünzen sich sogar noch um 5000 Millionen Mark höher beläuft als die ganze Goldgewinnung in derselben Zeit, so bestehen doch diese Prägungen zum größten Teil in der bloßen Umformung abgegriffener in neue Goldstücke. Thatsächlich vermehrt hat sich der Goldmünzenbestand der Erde zwischen den Jahren 1831, wo er 2¼ Milliarden, und 1891, wo er schätzungsweise 15¼ Milliarden Mark betrug, nur um 13 Milliarden oder jährlich um 200 Millionen gegen eine mehr als doppelt so starke Goldvermehrung. Für Münzzwecke würden wir also noch lange Gold genug besitzen, selbst wenn alle Länder der Erde die reine Goldwährung einführten und wenn wir die mit dem Umlauf des Goldes verbundene Abnutzung in Betracht ziehen, welche sich jährlich auf rund 1100 Kilogramm Gold oder 3 Millionen Mark beläuft. Ueberdies steht es bei dem in allen Staaten immer weiter um sich greifenden Kreditwesen sehr in Frage, ob die jetzt vorhandene Gesamtsumme gemünzten Geldes – etwa 30 Milliarden an Gold und Silber – sich in Zukunft noch wesentlich vermehren wird.

Indessen hat das Gold für seine Verwendung noch einige andere Abflüsse, welche die Ausmünzung an Masse sogar übersteigen. In jedem Jahre verbrauchen nämlich allein die europäischen Staaten und Nordamerika nahezu für 400 Millionen Mark an Edelmetallen für industrielle Zwecke, für das Kunstgewerbe, für Metallgießerei, Gerätefabrikation, Photographie etc. und da man nach statistischen Ausweisen nur ein Fünftel dieses Verbrauches auf die Umschmelzung alten Metalles anrechnen darf, so ergiebt sich für die gewerblichen Zwecke der genannten Gebiete ein jährlicher Edelmetall-Bedarf von 320 Millionen Mark, worunter etwa 230 Millionen Gold, also annähernd die Hälfte der ganzen irdischen Goldausbeute!

Der Rest endlich geht verloren in dem beständigen Gold- und Silberabfluß zum Orient, der mit Silber schon seit Jahrhunderten, mit Gold seit etwa 60 Jahren beständig von England und den Vereinigten Staaten versorgt wird. Ostindien sowohl als China und Japan haben von jeher einen starken Bedarf an Silber und neuerdings, seit in Indien die Silberprägung eingeschränkt und zuletzt ganz abgebrochen wurde, auch an Gold gehabt. Indien allein hat seit 60 Jahren aus Amerika und Australien, und zwar meist durch die Vermittlung Englands, mehr als 2 Milliarden Mark in Gold bezogen, um es zu verprägen, gewerblich zu verwenden oder auch einfach aufzuspeichern, und addieren wir diese 30 bis 35 Millionen jährlich zum Bedarf der Kulturnationen, so wissen wir annähernd genau, wo all das viele Gold bleibt und weshalb auch die Jahre der gewaltigsten Ausbeute den Preis des roten Metalles nicht herabzudrücken vermochten, vielmehr dasselbe mehr und mehr zum alleinigen Wertmesser und metallischen Beherrscher der Völker machten.

Und nun endlich noch einige Worte über das Gold des Meeres, dessen Gewinnung ja freilich stets als aussichtslos gegolten hat, durch die chemischen Wirkungen der Elektrizität aber möglicherweise – neuere Erfindungen beschäftigen sich bereits mit dieser Frage – doch einmal dem Menschen zum Teil zugänglich gemacht werden könnte. Daß wir im Meerwasser nachweisbare Spuren von Silber sowohl als von Gold besitzen, ist längst bekannt. Neuere Analysen von C. A. Münster in Norwegen stellten den Edelgehalt eines Kubikmeters Seewasser auf ein Fünftel Gramm Silber und etwa ein Viertel davon an Gold fest0 Das sind nur Spuren, wenn man das Wasser literweise nimmt; es sind aber märchenhafte Reichtümer, wenn man es kubikkilometerweise in Rechnung bringt. Ein Kubikkilometer Seewasser würde danach einen Goldreichtum von 140 Millionen Mark enthalten; um aber den Goldgehalt aller Weltmeere auszudrücken, wäre eine Zahl mit drei Ziffern und fünfzehn Nullen nötig, denn derselbe geht hoch in die Billionen und übertrifft die ganze bisherige Goldlieferung der Erde mehr als zwölf Millionen mal. Hoffen wir also, daß wir auch von dem „Meergolde“ noch etwas zu sehen bekommen!



BLÄTTER UND BLÜTEN.

Palmsonntag in den Alpen. (Zu dem Bilde S. 173.) Die Zweige der Salweide, die so früh im Lenz ihre Kätzchen hervortreiben, verdanken dieser glücklichen Naturanlage ein schönes Amt. Sie ersetzen unserem kühleren Norden die Palmen, die nach kirchlichem Brauche bei der Feier des Palmsonntags ihre Rolle zu spielen haben, daher auch die Salweide den Namen „Palmweide“ bekommen hat. In der mannigfaltigsten Weise sind durch Sitte und Ueberlieferung die Palmkätzchen in die kirchliche Feier des Festtags eingeflochten worden, und namentlich die Alpenländer sind reich an Beispielen einer sinnigen Verwendung der zartschimmernden Frühlingsboten. Unsere Zeichnung führt uns an einem schönen Palmsonntagmorgen hinaus vor das Dorf, dorthin, wo nahe bei der kleinen Kapelle das Bild des Gekreuzigten und der Maria steht. Zwei Mädchen haben ein reiches Büschel der blühenden Weidenzweige mitgebracht, das Bild damit zu schmücken; weiter im Hintergrunde aber ist ein Mann damit beschäftigt, sich frische Sprößlinge vom Baume zu schneiden, um sie mitzunehmen in die Kirche zur Palmenweihe.

Eine Barrikade zu Paris im Juli 1830. (Zu dem Bilde S. 169.) Es war am 25. Juli 1830, als König Karl X. von Frankreich, Bruder seines Vorgängers Ludwig XVIII. und des in der ersten Revolution hingerichteten Königs Ludwig XVI., jene Ordonnanzen unterzeichnete, welche in offenkundigem Widerspruch standen zur Verfassungsurkunde. Die Preßfreiheit wurde aufgehoben und strenge Censur eingeführt, die Mehrzahl der liberalen Blätter unterdrückt, das Wahlgesetz abgeändert, die Zahl der Wähler vermindert, die direkte Wahl in eine indirekte verwandelt, die noch nicht zusammengetretene Kammer wieder aufgelöst, eine neuzuwählende Kammer einberufen. Kaum waren diese Ordonnanzen am 26. Juli im Amtsblatte der Regierung, dem „Moniteur“, erschienen, als der Sturm losbrach. Die Abgeordneten versammelten sich in den Häusern ihrer angesehensten Führer, das Volk wogte durch die Straßen und hinderte die Gendarmen, welche die Pressen der Zeitungen versiegeln wollten. Die Nationalgarde war früher aufgelöst worden; jetzt tauchten wieder die Uniformen der Bürger unter den Arbeitern auf; General Lafayette wurde aufs Stadthaus berufen, um den Befehl über die Nationalgarde zu übernehmen; schon war auf dem Stadthause die dreifarbige Fahne als Protest gegen die Lilien der Bourbons aufgepflanzt worden. General Marmont, der die königstreuen Truppen befehligte, war schwankend und unentschlossen, selbst mit den Ordonnanzen nicht einverstanden, auch durch die geringe Zahl seiner Truppen, die er um die alten Königsschlösser sammelte, auf die Abwehr der Angriffe beschränkt. Einzelne Linienregimenter lösten sich auf, ohne indes zum Volke überzugehen. Nur die Garden blieben treu, vor allem die dem Volk verhaßten Schweizer, gegen welche der heftigste Kampf entbrannte. Drei Tage hindurch dauerte die Julischlacht: die Leiter der Bewegung, vor allem der reiche Banquier Lafitte, knüpften inzwischen Beziehungen zu dem in Neuilly bei Paris lebenden Herzog von Orleans an, der zu Fuß in die Stadt kam, ins Palais Royal, wo er als „Generallieutenant des Königreichs“ zunächst die Statthalterschaft annahm, dann aber die Königskrone. General Lafayette und Lafitte nahmen ihn in ihre Mitte, als er sich auf dem Balkon des Stadthauses unter der dreifarbigen Fahne dem versammelten Volke zeigte. Dem greisen König Karl X. gegenüber hatte er ein doppeltes Spiel getrieben und die Maske erst abgeworfen, als er seines Erfolges gewiß war. Der König hatte sich nach Rambouillet zurückgezogen; doch das Volk von Paris nahm seinen Weg dorthin, wie es einst den Weg nach Versailles nahm – und König Karl mußte im Schutze seiner Leibwache den Strand des Meeres zur Flucht nach England zu gewinnen suchen.

Das Bild von Cain zeigt uns die Verteidiger der Barrikaden in voller Arbeit mitten im Pulverdampf. Da sieht man diese seltsam zusammengewürfelte Mannschaft mit ihrer ebenso seltsam zusammengestoppelten Bewaffnung: die Vertreter des Bürgertums neben dem Gassenjungen, der unmittelbar unter der zerfetzten Trikolore seine Pistole gegen die anreitenden Regierungstruppen abschießt, im Hintergrunde rechts eine Gruppe von Arbeitern und Studenten, denen ein kleines Bürschchen, mit einem Papierhelm kriegerisch aufgeputzt, in der Schürze Munition zuträgt. Auch die Uniform der Nationalgarde fehlt nicht. Im Vordergrunde aber schauen wir die unglückseligen Opfer des Bürgerkriegs, greise ehrwürdige Gestalten, die das tödliche Blei getroffen. Ja, bei solchem Anblick mag es wohl der dringenden Mahnung des Anführers bedürfen, der mit gebieterischer Handbewegung Zurückbleibende zum Einspringen in die gerissene Lücke aufzufordern scheint. Wie an dieser Stelle der Kampf geendet, darüber giebt uns das Bild des Malers keinen Aufschluß. Aber den ganzen Jammer des Bürgerkrieges thut es vor uns auf, der ein Volk grausamer zerfleischt als irgend ein anderer Kampf. Gerade die Stadt Paris hat solcher Scenen gar viele geschaut, und das lebende Geschlecht erinnert sich mit Grausen der Verwüstung, welche der Aufstand der Kommune im Jahre 1871 über die französische Hauptstadt gebracht hat. †      
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Ein Gruß vom Osterhasen! Er läßt sich den verehrten Leserinnen bestens empfehlen und schickt – stets beflissen, mit der Zeit fortzuschreiten – seine und seiner Kinder Photographien zu freundlichem Gedächtnis und geneigter Nutzanwendung. Daß er selbst mit dem Färben der Eier alle Pfoten voll zu thun hat, zeigt sein Konterfei, es kostete ihn kein geringes Studium, unter Beibehaltung der alten erprobten explosionssicheren Pfanne, aber an der Hand der neueren Chemie seine Farbstoffe immer schöner und bunter zu bereiten, deshalb findet er keine Zeit mehr für die künstlerische Ostereier-Malerei und von seinen Kindern hat er keine Unterstützung zu hoffen. Der von Hause aus sehr talentvolle Aelteste legt wenig Ehrgeiz für die Osterhasen-Laufbahn an den Tag: er hat sich eines zu Schaden gekommenen Eies bemächtigt und benutzt dasselbe als Wetterdach zum beschaulichen Stillleben. Zwei von den jüngeren, stämmige aber höchst materiell gesinnte Burschen, sind unter die Gigerln gegangen. Der Jüngste, ein feuriger Poet mit stets verliebtem Herzen, bringt einem soeben dem Ei entschlüpften Hasenfräulein eine zarte Huldigung dar, statt dem alten Vater an die Hand zu gehen. Nur der Zweitälteste, Hans geheißen, ein gutmütiger, aber beschränkter Kerl, der nicht einmal Eier zu legen, geschweige sie zu färben versteht, dieser hat mit gewohnter Dienstfertigkeit die Eilbestellung an die Redaktion übernommen und läuft nun schwerbepackt, was die Beine leisten wollen, um rechtzeitig anzukommen.

Gerade ist es noch Zeit, daß wir die Hasenbilder unseren künstlerisch begabten Leserinnen zum Schmuck der Ostereier überliefern können! Sie sind auf verschiedene Weise dartustellen: entweder zeichnet man sie mit der Feder auf ein vorher mit Seifenwasser gereinigtes, hartgekochtes Ei, indem man den Hintergrund mit einer lichten Deckfarbe, grün, blau, lila, rosa, gelb, bemalt oder auch mit der schönen überall käuflichen Gold- oder Silbertinktur. Wer sehr geschickt ist, nimmt auch wohl die Oelpalette zur Hand und trägt das ganze Bildchen in Farbe auf. Außerdem läßt es sich – aber dazu gehört gleichfalls eine sichere und geübte Hand! – mit einer in Salzsäure getaichten Feder auf ein in gewöhnlicher Weise gefärbtes Ei zeichnen, wo dann die Striche weiß erscheinen. Beiläufig gesagt: diese Technik eignet sich auch vorzüglich zum Aufschreiben scherzhafter Sprüche.

Zum Schluß geben wir noch ein in den „Liebhaberkünsten“ veröffentlichtes Verfahren, um Eier mit reliefartigen Inschriften und Bildern zu versehen. Man schreibt oder zeichnet das Gewünschte mit einer noch unbenutzten Feder, die statt in Tinte in flüssiges Wachs, Fett oder Firnis getaucht wird, auf die Schale eines Eies und legt dieses vier Stunden lang in eine scharfe Säure (etwas verdünnte Salzsäure). Ueberall, wo die isolierende Masse die Schale nicht schützt, wird Kalk darin durch die Säure zersetzt und die Schrift bleibt reliefartig zurück.

Hoffentlich findet unsere Ostergabe eine freundliche Aufnahme und vielseitige Verwendung bei unsern Leserinnen!


In einer Kindervolksküche zu Berlin. (Zu dem Bilde S. 165.) Ein lukullisches Mahl im feinsten Speisehause kann nicht größere Befriedigung hervorrufen, als sie auf den Gesichtern der Kinder zu lesen steht, die sich allmittäglich in den Berliner Kindervolksküchen zu ihrem Näpfchen Hausmannskost einfinden. Ach, wie viele sind darunter, die ohne diese von mildthätigen Menschen ins Werk gesetzte Beihilfe selten oder nie des Mittags zu einem warmen Bissen kämen! Es fehlt daheim das Geld für Feuerung, oder Vater und Mutter arbeiten irgendwo an weit entfernter Stätte, von der sie über Mittag nicht nach Hause zurückkehren können, und niemand ist da, der den kleinen Würmern ein ordentliches Essen besorgt. Da ist denn in Berlin der „Verein für Kindervolksküchen“ in die Lücke getreten. Er hat bis jetzt zwei Kinderspeiseanstalten gegründet, die eine im Herzen der Stadt in der Klosterstraße, die andere im Norden, in der Stralsunderstraße; eine dritte im Osten soll so bald als möglich folgen. Die Anstalt in der Stralsunderstraße, die unserem Zeichner als Vorlage für seine bildliche Darstellung diente, versorgt z. B. täglich etwa 800 Kinder mit Mittagsbrot. Etwa 500 essen in Abteilungen von 40 bis 60 in der Anstalt selbst, und zwar völlig umsonst, die übrigen, die nicht ganz so bedürftig sind, bekommen um einen geringen Preis ihre Portion mit nach Hause. Bei der Auswahl der kleinen Kostgänger gehen dem Vereine die Rektoren der Volksschulen und andere mit den Verhältnissen der betreffenden Bezirke vertraute Gemeindebeamte zur Hand, so daß ein Mißbrauch der so hervorragend wohlthätig wirkenden Einrichtung nicht zu fürchten ist. In der That verdient der Verein eifrigste Förderung seitens der Behörden und aus allen Kreisen der Bevölkerung. Denn was kann man den armen Kindern Besseres mitgeben für den harten Kampf ums Dasein als einen guten Schulsack und – einen kräftigen Körper. Der aber ist nicht möglich, wenn es an der Grundlage fehlt, einer gesunden ausreichenden Ernährung.


Ortrud auf den Knien vor Elsa von Brabant. (Zu dem Bilde S. 177.) Es ist eine Scene aus Richard Wagners „Lohengrin“, welche das Gemälde von Th. Pixis uns vorführt. Wir sehen, wie die holdselige Elsa von Brabant die vor ihr auf den Knien liegende Ortrud hochsinnig zu sich erhebt, um sie dann in die Kemenate zu geleiten. Ortrud ist die Gattin des im Hintergrunde lauernden Grafen Friedrich von Telramund, welcher Elsa vor allem Volke des Brudermordes angeklagt hat und dann beim Gottesgericht, das Elsa in Anspruch genommen, von dem Gralsritter Lohengrin, der zu ihrem Schutz herbeigekommen, überwunden worden ist. Dem Sieger hatte sie ihre Hand versprochen; doch Lohengrin setzt der Geliebten die Bedingung, daß sie niemals danach fragen solle, woher er gekommen und welches sein Geschlecht, sein Name sei. Die zauberkundige Ortrud baut darauf den Plan, sich an der Königstochter zu rächen. Mit geheuchelter Demut fleht sie ihre Gnade an; aber sie hegt die böse Absicht, durch hinterlistige Beredsamkeit sie zu bewegen, daß sie das Gebot des Retters mißachte und die verhängnisvollen Fragen an ihn richte. Und es gelingt ihr der heimtückische Anschlag, durch den sie der kaum Vermählten den geliebten Gatten wieder entreißt. Das ist das Ende der schändlichen Intrigue, die in dem Augenblicke sich anspinnt, da die ahnungslose Elsa der heuchlerischen Ortrud ihre Thür öffnet.


Eine deutsche Gesamtausgabe der Romane von Charles Dickens. Unserem Volke ist Dickens, der große englische Humorist, auf dem Gebiet des Romans fast dasselbe geworden, was Shakespeare als Dramatiker. Die Fülle und Kraft, die heitere Ursprünglichkeit und die dämonische Gewalt seiner Gestalten, die ganze Tiefe und Reinheit des Gemüts, aus der sie entsprungen sind – das alles hat dem gelesensten Schriftsteller Englands auch bei uns schon längst volkstümliche Geltung verschafft. Und die Wirkung dieser Dichtungen ist noch lange nicht erschöpft, es fehlt manches, bis sie, wie sie es verdienen, in die weitesten Kreise gedrungen sind. Dankbar muß man es daher begrüßen, daß der Verlag von Albin Schirmer zu Naumburg a. d. S. in billigen Lieferungen eine deutsche Gesamtausgabe der Dickens’schen Romane veranstaltet, die den Vorzug hübscher Ausstattung hat und aus der auch einzelne Romane für sich bezogen werden können. Möge diese neue Ausgabe, von der bis jetzt erschienen sind: „David Copperfield“, „Aus zwei Millionenstädten“, „Barnaby Rudge“, „Oliver Twist“ und „Weihnachtsgeschichten“, überall die Kenntnis dieser Werke vermehren, die mit der Macht dichterischer Unmittelbarkeit Herz und Geist erfrischen.


Kaiser Wilhelm II. und Fürst Bismarck. (Zu unserer Kunstbeilage.) Die Begegnung Kaiser Wilhelms II. mit dem Fürsten Bismarck zu Berlin am 26. Januar (1894) hat dem Maler William Pape den Gedanken zu einem Bilde eingegeben, welches jenes denkwürdige Ereignis gleichsam in gedrängten Zügen verkörpern soll: der Kaiser und Bismarck, Hand in Hand einander gegenüberstehend. Wir freuen uns, das schöne Bild in besonders sorgfältiger Wiedergabe unsern Lesern vorlegen zu können, zur bleibenden Erinnerung an jenen Tag einer herzerhebenden Freude.


Inhalt: Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (10. Fortsetzung). S. 165 – Eine Kindervolksküche in Berlin. Bild. S. 165. – Eine Barrikade zu Paris im Juli 1830. Bild. S. 169. – Die Linke. Von C. Falkenhorst. S. 171. – Die Perle. Roman von Marie Bernhard (10. Fortsetzung). S. 172 – Palmsonntag in den Alpen. Bild. S. 173. – Ein Welttyrann. Ein Blick in die Schatzkammern der Erde. Von W. Berdrow. S. 176. – Aus Richard Wagners „Lohengrin“: Ortrud auf den Knien vor Elsa von Brabant. Bild. S. 177. – Blätter und Blüten: Palmsonntag in den Alpen. S. 179. (Zu dem Bilde S. 173.) – Eine Barrikade zu Paris im Juli 1830. S. 179. (Zu dem Bilde S. 169.) – Ein Gruß vom Osterhasen! Mit Bildchen. S. 180. – In einer Kindervolksküche zu Berlin. S. 180. (Zu dem Bilde S. 165.) – Ortrud auf den Knien vor Elsa von Brabant. S. 180. (Zu dem Bilde S. 177.) – Eine deutsche Gesamtausgabe der Romane von Charles Dickens. S. 180. – Kaiser Wilhelm II. und Fürst Bismarck. (Zu unserer Kunstbeilage.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Nach einer von dem Münzdirektor der Vereinigten Staaten von Nordamerika neuerdings ausgearbeiteten Tabelle beträgt die Gesamtsumme des in Umlauf stehenden Silbergeldes rund 16000 Millionen. die des Goldes 14000 Millionen Mark.