Die Gartenlaube (1894)/Heft 30
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Nr. 30. | 1894. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Die Brüder.
Der Prinz hielt in seiner Erzählung inne, tief Atem holend; auf seinen Gesicht flog es unruhig hin und her; seine großen kräftigen Zähne leuchteten glitzernd im Gaslicht zwischen den vollen Lippen.
„Soll ich weiter erzählen, Herr von Weßnitz? Nun, ich fing an zu studieren, zu lernen. Ein angeborener Wissensdurst fesselte mich an die Arbeit. Im übrigen, ein Mensch von achtzehn Jahren, ein Fürst mit solchen zerstörten Jugendträumen, mit einem fast unbeschränkten Kredit – Sie werden sich selbst sagen, was aus ihm werden mußte! Trotzdem sank ich nicht ganz: es gab etwas, Was stärker war als die Lockungen der Gelage, als die Süßigkeiten für meine verhätschelte Eitelkeit, die mir überall gereicht wurden. Es kam ein Tag, wo der Ekel vor mir selbst mich faßte, wo ich erwachte. Ich ging nach Wien, nach Italien, ein Stürmen und Drängen in der Brust, als müßte ich etwas Neues, Großes schaffen. Ich begann zu schreiben, zu dichten, suchte den Verkehr mit Künstlern, mit hervorragenden Männern und fand den Wert des Lebens bei ihnen. Aber die Achtung vor der Frau war in mir erstorben, und doch packte es mich oft mit heißer Sehnsucht, nur eine zu finden, zu der ich aufsehen könnte, ein Wesen, das mit mir fühlen und denken würde. Eine nur, die nicht wäre wie alle andern, die nicht nach Namen, nach Stand, nach Reichtum spähte! So kam ich nach Paris. Wieder packte mich das alte Leben in dieser Stadt, wo es so bequem ist, von Genuß zu Genuß zu taumeln, wenn man Geld hat. Ich habe
[502] meinen Reichtum oft verflucht. Ein bettelarmer russischer Geigenspieler, der mit seinem Weibe elend und hungrig, aber leidlich zufrieden vier Treppen hoch in einer dürftigen Dachstube hauste, erregte meinen Neid durch seine Zufriedenheit. Ich konnte es nicht lassen, ihm soviel Geld zu geben, daß er sich ein anständiges Heim hätte mieten können. Acht Tage darauf traf ich ihn in liederlicher Gesellschaft im Bois de Boulogne. Ich hätte ihn niederschlagen mögen wie einen räudigen Hund!“
Hell schallend tönte wieder Gelächter aus dem Nebenraum. Ein eigentümliches Lächeln zog über des Russen Züge und ließ sie fast greisenhaft erscheinen.
„Wie viele Nächte habe ich so verbracht!“ Er sah mit großen weitgeöffneten Augen zu Hermann hinüber; der Ausdruck in seinem Gesicht ward weich und träumerisch. „Und dann lernte ich sie kennen, Ihre Schwägerin. Ich kann es nicht ganz in Worten wiedergeben, was damals in mir emporwuchs. Sie hat mich wie ein Kind erzogen, in Scherz und Ernst; ich begann wieder Achtung vor mir zu fühlen, zu arbeiten, zu leben wie ein vernünftiger Mensch. Ich hatte den Glauben an die Frau, an das Gute und Edle wiedergefunden!“
Es lag etwas in diesen Worten, was Hermann zu Herzen ging, was sympathische Schwingungen in seinem Inneren weckte.
„Und Sie lieben meine Schwägerin?“
Der Russe hob abwehrend die Hand.
„Nicht das Wort! Nein! Es ist so oft etwas damit bezeichnet worden, was gemein ist. Nein, lassen Sie! Ich habe nie daran gedacht, die Hand nach ihr auszustrecken. Sie ist so rein, daß ein Engel vor ihr sich beugen müßte.“
Was sollte Hermann darauf erwidern? Er brachte es nicht fertig, diesem idealen Glauben auch nur ein Atom seines Daseins zu rauben. Und doch, während er den Prinzen mit einem forschenden Blick streifte, stieg in ihm ein unerklärliches Angstgefühl auf. Hinter all dieser Schwärmerei, hinter aller Selbstlosigkeit der Liebe schien ihm bei dem Russen ein Stück asiatischer Wildheit zu lauern, die einmal durch die mühsam gebauten Wände sich verheerend Bahn brechen würde. Ob Lore dann die Kraft hätte, ihr zu widerstehen?
Sie saßen sich eine Weile stumm gegenüber, in das aufgetragene Souper vertieft. Als Hermann, um dem Kellner einen Auftrag nachzurufen, einen Augenblick auf den Flur hinaustrat, von dem aus die Thüren zu den kleinen Zimmern führten, stieß er mit einem Herrn zusammen.
„Verzeihung! – Was? Du hier, Bruno?“
„Aha, alter Duckmäuser! In Gesellschaft, he?“
„Nicht wie Du glaubst, Bruno! Was machst Du denn noch hier? Ich war heute abend bei Deiner Frau, sie erwartete Dich vergeblich.“
„So, so.“ Ein Schatten flog über Brunos fröhliches, leichtsinniges Gesicht. „Weiß der Himmel! Ich bin nach dem Essen so hängen geblieben; wir saßen ewig lange bei Tisch, und nachher ließen mich die Freunde nicht los. Alles Leute, die ich von früher her kenne. Uebrigens, sitzt Du denn ganz allein hier hinter der Flasche?“
„Nein. Ich bin hier mit Eurem sogenannten Prinzen Sissi, den andern Namen kann ich nicht aussprechen.“
„Was? Sissi hier?“ rief Bruno. „Haha, Lores Schatten! Menschenkind, was fängst Du mit dem an?“
„Gerade die zweite Flasche Château la Rose!“
Bruno riß die Thüre auf. „Prinz Sissi, bei Gott! Ihr Pariser Gesicht hat mir gerade noch gefehlt. Château la Rose – auch schwer genug für Sie, Prinz! Aber kommen Sie, hier im Nebenzimmer ist lustige Gesellschaft. Die andern haben einige Damen mitgebracht. Vorwärts, alter Nihilist und Weltverächter! Schön ist des Lebens grüner Baum!“
Der Russe lachte über das ganze Gesicht; er bewunderte ohne Frage diesen Weßnitz mit der unverwüstlichen Lustigkeit.
„Nun wohl, ich habe nichts dagegen, obgleich diese Damen –“
„Machen Sie doch keine Dummheiten! Wenn ich als Ehemann dabei bin, können Sie erst recht mitkommen!“
„Ich werde nach Hause gehen,“ sagte Hermann etwas schwerfällig.
„Sei kein Thor! Komm mit, Menne!“ rief Bruno ihm zu mit dem alten Namen aus der Kinderzeit. „So jung kommen wir nicht wieder zusammen.“
Aber Hermann wollte nichts davon hören. Er sei müde, erwiderte er, und so führte Bruno, den Prinzen unter den Arm fassend, diesen allein in das andere Zimmer, während Hermann sich auf den Heimweg machte.
Er war nachdenklich geworden. Seine Gedanken wandten sich den Erlebnissen des verflossenen Tages zu. Er gedachte der Begegnung mit jener Edda bei seiner Schwägerin. Sie hatte ihm nicht mißfallen. Diese eigentümlich ernsten klaren Augen in dem feinen durchgeistigten Gesicht! Und dann ihr Wesen! Dieses Schroffe, Abstoßende und dabei diese offene Ehrlichkeit!
Und Bruno, was war der für ein Mensch? War er überhaupt ein Charakter? Nein – nur ein Gemisch von körperlichen Vorzügen mit allen möglichen liebenswürdigen Eigenschaften und Angewohnheiten. Ob solche Naturen wohl glücklich zu nennen waren, die unbedacht, fast unbewußt, nur ihren Trieben folgend, bis hart an das Schlechte sich fortreißen ließen? Und wo lag der Weg für den, der wirklich ein ganzer Mensch sein wollte? War auch das Glück, nicht nur die Ruhe des Gewissens da zu finden, wo einer ehrenhaft nach großen Zielen strebte?
Derjenige, mit dem sich Hermann, die Linden hinabgehend, in Gedanken beschäftigte, schritt mehrere Stunden später langsam der Tiergartenstraße zu. Er freute sich, daß die Luft ihm so rein und kalt entgegen wehte, durstig sog er den frischen Windhauch ein, und er beschloß, noch ein wenig spazieren zu gehen, um die Wirkung des genossenen Weins und aus den Kleidern den Cigarettengeruch los zu werden.
Er schlenderte vor seinem Hause auf und ab. Aus dem einen Eckfenster glänzte ein matter Lichtschimmer still, fast melancholisch in die Nacht hinaus, ein schwaches rötliches Licht, das von der kleinen Ampel im Schlafgemach herrührte. Jetzt ruhte Lore wohl schon lange, den rechten Arm nach ihrer Gewohnheit unter den rotblonden Haaren. Wie oft hatte ihn, wenn er in der Nacht nach Hanse kam, dieser Anblick entzückt! So schön wie sie war doch keine!
Der Wunsch stieg in ihm auf, etwas Liebes für sie zu thun, gerade heute, etwas Besonderes. Trotz der späten Stunde eilte er zum nächsten Droschkenplatz und ließ sich nach der Friedrichstraße fahren. Dort standen wie immer Blumenverkäufer, halb erfroren und erstarrt. Er kaufte einigen aus den flachen Körben den ganzen Vorrat ab. Glücklich setzte er sich dann wieder in die Droschke zweiter Klasse, die er ohne lange Wahl genommen hatte, und ordnete die Sträußcheu zu einem Bouquet, sich über seinen genialen Einfall freuend, aus den zerrissenen Polstern des Sitzkissens einen Faden herausgezogen zu haben, mit dem er die einzelnen Teile seines Straußes zusammenband. Lore hatte ja die Blumen so gern! Nur mit diesem Gedanken beschäftigt, mit den Veilchen und Schneeglöckchen in der Hand, eilte er die Treppe hinauf, warf rasch Hut und Mantel ab und schlich behutsam an Lores Bett.
Sie schlief nicht, hatte nicht einschlafen können, und ihre braunen Augen schauten weitgeöffnet zu ihm auf. Sie lächelte dazu. Das war nicht der Blick einer Gattin, die bereit ist, mit einer Flut von Vorwürfen zu beginnen; davor schützte sie ihr richtiges Gefühl diesem Mann gegenüber.
„Guten Abend, Bruno!“
„Guten Abend – oder besser Guten Morgen, Lore! Da, da!“ Er drückte ihr die kalten frischen Blumen in die Hand.
Ein erstauntes: „Ach, wo hast Du denn die her?“ war die Antwort. Tief atmend steckte sie das rosige Gesicht in die duftenden Blüten. „Wie herrlich!“
Sie schlug die Augen voll zu ihm auf, das ganze Gesicht von einem frohen Gefühl erhellt. Er hatte doch an sie gedacht in seiner Abwesenheit! Weit breitete sie die Arme aus und zog seinen Kopf zu sich herab, ihm die Lippen entgegendrängend. Da glänzte etwas Feines, Lichtes auf seinem Rock.
Ihre Augen blieben darauf haften, ihre Lippen erwiderten nicht den Druck der seinigen. Ein Frauenhaar, das auf dem Kragen seines Frackes lag, ein braunes Frauenhaar! Ihre Arme glitten zurück, ihr Mund, eben noch lächelnd und ihm entgegenstrebend, nahm den Ausdruck eisiger Kälte an. Jäh pochte ihr das Blut in den Schläfen.
„Ja, ich danke Dir, es war sehr – freundlich!“
„Was ist, Lore?“ fragte er, über die plötzliche Veränderung in ihren Mienen erschreckt.
[503] Wie zufällig schob sie den Strauß an den Rand des Bettes, so daß er hinabrollte. „O, nichts! Doch Du solltest etwas peinlicher mit Deiner Garderobe sein!“ sagte sie mit tonlosem Lachen. Ihr Zeigefinger deutete auf das Haar an seinem Rock; er faßte danach und es blieb, im Lichte glänzend, an seinen Fingern hängen.
„Es war doch ein Herrenabend heute, nicht wahr?“
Zuerst wollte er laut auflachen in dem Gefühl, daß seine Frau grundlos eifersüchtig sei. Er hatte doch nichts Unrechtes gethan! Konnte er etwas dafür, daß die eine der Schauspielerinnen, mit denen er zusammengewesen war, ihr Ohr an seine Brust legte, weil er behauptet hatte, ihr Austernappetit verursache ihm Herzklopfen?
„Es ist ja Unsinn, Lore! Du wirst doch nichts Schlimmes von mir glauben? Ein Zufall!“
„Nein – glauben nicht! Aber ich bin müde.“ Wortlos drehte sie den Kopf auf die andere Seite.
Er wollte ihr später alles erklären; in solchen Augenblicken war es ja weise, Frauen in Ruhe zu lassen; sie nahmen da doch keine Vernunft an. Innerlich freute er sich über seine Ruhe und seine Kenntnis des Frauenherzens und schlief bald ein mit dem Vorsatz, am andern Morgen nach dem Frühstück alles zu erzählen. Lore aber lag mit geöffneten brennenden Augen da; sehnsüchtig wartete sie auf ein Wort von ihm, wartete bis zum Morgengrauen, schlaflos, reglos, mit ängstlichem halberstickten Herzschlag.
Schwatzhafte Spatzen lärmten bereits vor den Eisblumen der Fenster, als Bruno sich erhob. Früher als gewöhnlich rief ihn eine zwingende Pflicht in das Auswärtige Amt. Lore war noch nicht aufgestanden, und die beabsichtigte Beichte bei der Frühstückscigarre ging so verloren.
Bruno hatte den ganzen Tag zu thun und am Abend fand er seine Frau wie immer, vielleicht etwas bleicher als sonst, ein wenig, aber kaum merklich ruhiger und kälter. Sie wird gar nicht mehr an die Geschichte denken, sagte er sich, als er ihr den Gutenachtkuß gab. Allein seine Lippen fanden ihren Mund nicht, sondern nur ihre halb abgewandte Wange.
Es war eine Woche vergangen. Hermann hatte seine Schwägerin abgeholt, um sie zur Schlittschuhbahn im Tiergarten zu begleiten, da Bruno das Vergnügen des Eislaufs nicht liebte. Edda Helm dagegen hatte den Bitten der Freundin nachgegeben und ihr Erscheinen ebenfalls in Aussicht gestellt.
Die Wangen von der frischen Winterluft gerötet, schritt Lore neben dem Schwager her, der schweigsam den Blick über die blattlosen schwarzen Baumäste schweifen ließ, von denen der Ostwind zuweilen den letzten Schnee in leichten Wolken herabstäubte. Verstohlen wandte Lore von Zeit zu Zeit das Gesicht zu ihm und verfolgte prüfend die scharfgeschnittene Linie seines Profils mit den Augen. Wie fest und markig diese Züge waren, als hätte die Natur absichtlich darauf verzichtet, etwas Schönes zu schaffen, nur um ungehindert ein Bild herber abgeschlossener Männlichkeit geben zu können! Und dennoch erinnerte sie sich, wie das Antlitz des Knaben und des ganz jungen Offiziers weich und offen gewesen, wie die Augen einst fast harmlos, mit einem leichten Anflug von Träumerei in die Welt geschaut hatten! Er war doch sehr verändert. Unwillkürlich verglich sie das Gesicht des Schwagers mit dem ihres Mannes. Eine gewisse Aehnlichkeit war vorhanden, zweifellos; nur daß bei Bruno Leben war, was hier Ruhe, bei Bruno alles weich, gefällig, was hier hart und fest.
Lore hatte jene Nacht nicht vergessen können, in der Bruno ihr die Blumen brachte. Sie hatte gerungen mit der Erinnerung Tag und Nacht, dem Zauber nachgespürt, den ihres Mannes Persönlichkeit noch immer auf sie ausübte, und sie hatte versucht, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es wollte jedoch nicht recht gehen damit.
Eine unheimliche Ahnung, die schon während der Jahre in Paris leise in ihr aufgetaucht war, beherrschte ihr Gefühl, wenn er in ihre Nähe kam, ein Gefühl, als hätte Bruno niemals offen seine Seele, seinen Charakter vor ihr enthüllt, als decke er vieles, vieles mit seiner Liebenswürdigkeit zu. Ihr Vertrauen zu ihm war erschüttert.
Konnte dieser Mann zugleich mit anderen Frauen tändeln und ihr die Treue bewahren? Konnte er das, ohne zu lügen? Und warum sollte er nicht lügen? Er konnte ja alles!
Lore gehörte zu den Frauen, die wenig in der Welt lernen. Ihr Gemüt war sehr fein angelegt, sie empfand rein, aber kam selten zür Klarheit und wurde bei der kleinsten Ursache, die ihr Gemütsleben verletzte, leicht hilflos.
Wie fest Hermann mit seinen großen etwas steifen Schritten den knirschenden Schnee trat! Das Gefühl äußerer und innerer Sicherheit in seiner Nähe war bezwingend. Unwillkürlich schob sie ihre Hand unter seinen linken Arm.
„Gehe ich zu schnell, Lore?“
„Nein, nein. Es ist gerade recht so.“
Sie lehnte sich fest an ihn und ihre Gedanken schweiften weit zurück zu den Tagen der Kindheit und blieben dann an ihrem Zusammensein jüngst in der Dämmerstunde haften.
Der unbezwingliche Wunsch stieg in ihr auf, wieder an diese Sache zu tasten, ganz vorsichtig, um zu erfahren, ob denn ein Mann wie dieser wirklich mit solch einer Jugendliebe fertig werden, abschließen konnte. Das Gefährliche dieses Wunsches ward ihr selbst nicht klar; sie wußte nicht, daß dahinter etwas Unheimliches, Drohendes in ihrer eigenen Seele schlummerte, das schon seit Jahren und vollends in den letzten Monaten in ihr heraufdämmerte, ein inneres Sichlösen von ihrem Gatten, ein Lockern des Bandes, das sie mit ihm vereinigte. Eine große wahre Liebe hatte sie eigentlich nie für Bruno empfunden; nur das Wohlgefallen des unerfahrenen Mädchens an seiner äußeren Person, an der Liebenswürdigkeit seines Wesens, das schwärmerische Gefühl für den verwundeten Offizier. Das hatte sie gefangen genommen wie ein Rausch, hatte ihr die Augen zugedrückt unter seinen Küssen. Aber nun? Manchmal graute es ihr vor dem fast bewußtlosen Zustand ihrer Seele.
„Glaübst Du, Hermann, daß es Männer giebt, die gleichzeitig mehrere Frauen lieben können?“ fragte sie plötzlich, ganz unvermittelt.
Er versuchte scherzend dieser Frage auszuweichen. „Warum nicht? Bei einiger Uebung.“
„Nein, nicht so! Ich frage ganz ernsthaft.“
Hermann ahnte, worauf sie hinanswollte, und blickte eine Weile zur Seite.
„Ja – und nein! Das heißt, ein großes Gefühl müßte jede Zuneigung anderen Frauen gegenüber töten. Wie lange ein solches Gefühl besteht, weiß ich nicht; bei einigen sicherlich ein ganzes Leben lang. Uebrigens ist das ein Thema, das mit einer Dame gründlich zu erörtern unmöglich ist.“
Lore runzelte unmutig die feinen Brauen. „Weshalb? Ich bin verheiratet, wir kennen uns genau, Du brauchst nicht zimperlich zu sein.“
„Nein,“ sagte er kurz. „Aber außerdem läßt mich das Thema kalt, weil es für mich nicht von praktischem Wert ist.“
Sie begriff, daß er nicht weiter zu bringen sei. „Was sagst Du zum Prinzen Sissi?“
„Du kennst ihn besser als ich,“ wich er aus.
„Und Du bist unausstehlich heute, Hermann! Findest Du meinen Verkehr mit ihm unpassend?“
„Für deutsche Verhältnisse, ja!“
„Mag sein,“ antwortete Lore und wiegte den Kopf langsam hin und her, „obgleich es lächerlich ist, darin etwas zu finden. Dieses erwachsene Kind verehrt mich wirklich selbstlos und würde sich eher die Zunge abbeißen, als irgend ein Wort sagen oder etwas thun, was mich zwingen würde, den Verkehr abzubrechen. Dieser Prinz Sissi ist ein aus Gegensätzen zusammengesetzter Charakter, ich weiß genau, wenn er nicht mehr zu mir kommen könnte, würde er untergehen.“
„Weißt Du so ganz genau, Lore, daß dieser Russe nie die Grenzen überschreiten wird, die er sich bis jetzt in Eurem freundschaftlichen Verhältnis gezogen hat? Und wenn auch – eine Frau von Weßnitz steht hier nicht außerhalb der Welt!“
„Bah, die Klatschmäuler! Wer kann sich davor schützen? Die Hauptsache ist doch das eigene Gewissen.“
„Das sieht niemand!“
„Also wieder die Mitmenschen, die wir fürchten sollen! Nein, nein! Der Prinz ist imstande, irgend eine entsetzliche Dummheit zu machen, wenn ich ihn fortjage, ich übe wirklich einen guten Einfluß auf ihn aus.“
[504] „Hältst Du Dich ihm gegenüber für ganz sicher, Lore?“
Heiße Röte stieg ihr ins Gesicht, während sich ihre Blicke mit den seinigen kreuzten.
„Pfui, Hermann!“ rief sie mit bitterem Lachen, sich hoch aufrichtend. „Wenn ich mich aber je einmal nicht sicher fühlte – was schadet es, wenn ich mich auf denselben Standpunkt stelle wie die Herren der Schöpfung?“
Der Ton ihrer Stimme schnitt ihm ins Herz. Das war nicht mehr die Lore, die er einst geliebt. Es lag etwas Herbes und zugleich Frivoles in ihrer Aeußerung. Ein heißer Zorn gegen den, der in dieser Frauenseele solche Verheerung hervorgerufen, schwoll in ihm auf. „Lore!“ sagte er nur, mit tiefer Stimme, in der etwas von seiner inneren Erregung zitterte.
Da – dasselbe Gesicht, das er an der kleinen Kousine so wohl gekannt; dies scharfe Herunterpressen der Mundwinkel und diese langsam in die Wimpern tretenden großen Thränen! Es war ihm im Gedächtnis geblieben; kein anderer Mensch in der Welt weinte so. Einige Thränen rollten auf das Pelzwerk ihres Mantels und gefroren dort in der eisigen Luft zu glitzernden Perlen. Er blickte darauf nieder und alles ward weich in ihm.
„Lore, sei nicht traurig! Du bist Dir über Deine Seelenstimmung nicht klar. Was ist vorgefallen? Oder hast Du nur schlechte Nerven? Kopf hoch, Lore!“
Sie erwiderte nichts; ihre Gedanken erratend, fuhr er fort: „Es ist wahr, Bruno ist ein wenig leichtlebig und manches gute Gefühl in ihm kommt deshalb nicht auf, aber das eine ist sicher: er hat Dich sehr lieb!“
„Ach ja, ich weiß –“ sie hob energisch den Kopf – „ja, ja, er hat mich lieb, nach seiner Art. Aber zuweilen möchte ich jemand haben, auf den ich mich stützen könnte!“ Sie hing sich schwer an seinen Arm.
„Was wird aus ihr werden?“ dachte Hermann mit einem unbestimmten Angstgefühl. –
Die elegante Welt Berlins tummelte sich auf der Eisbahn. Wartende Wagen fuhren im Schritt auf und nieder, am Ufer wanderten, in warme Pelze eingehült, die mit erwachsenen Töchtern gesegneten Mütter, die ihre Schutzbefohlenen beobachteten und sich ärgerten, daß die Aelteste wieder von einem eleganten Gardeoffizier sich über die Eisbahn führen ließ anstatt von dem dicken pommerschen Gutsbesitzer.
Prinz Sissi war schon auf der Bahn, in einem seltsam aus russischer Nationaltracht und moderner Pariser Mode gemischten Sportanzug. Trotzdem sah er gut aus mit seinem unvermeidlichen Blumenstrauß im Knopfloch und dem keck in die Höhe gedrehten kleinen Schnurrbart. Er fuhr ausgezeichnet. Alles an ihm war Leben, Bewegung, und wenn er seine Fertigkeit übte, sammelte sich bald ein Kreis Lernbegieriger und Bewunderer um ihn, so daß er sich gezwungen sah, blitzschnell wieder in der Menge zu verschwinden, um mit Frau von Weßnitz davon zu fliegen.
Hermann mußte mehrere Kameraden begrüßen und bekannte Damen aus seinen Kreisen. Auch Edda Helm traf er, die sich unglaublich einfach ausnahm inmitten dieser eleganten geputzten Gesellschaft. Kein Pelzwerk, nur eine eng anschließende Jacke, die mehr für Frühling und Herbst zu passen schien als für einen Wintertag von zehn Grad Kälte. Nicht einmal ein Muff. Ihre beiden Hände steckten in den Seitentaschen ihrer saisonwidrigen Jacke, zwischen den Aermeln und den schwarzwollenen Handschuhen leuchteten in zwei roten Streifen die Handgelenke hervor.
Die meisten von denen, die dieser Erscheinung begegneten, warfen spöttische Blicke auf sie, aber feinere und schärfere Beobachter musterten doch im Vorbeifliegen eine Sekunde mit Interesse das feine leicht gerötete Gesicht mit den kohlschwarzen Augen und den scharf über die Stirn gezogenen Brauen.
Hermann begrüßte sie. Seit ihrem ersten Zusammentreffen hatten sie sich nur einmal zufällig auf der Straße getroffen und er hatte sich bei dieser Gelegenheit auf dem Wunsch ertappt, die junge Doktorin noch oft bei seiner Schwägerin zu finden.
Jetzt lief er neben ihr her und machte einen Versuch, ihr wie üblich die Hand als Stütze zu reichen, gab aber diesen Versuch lächelnd auf, da sie seine Absicht, die andern Damen gegenüber selbstverständlich war, gar nicht zu bemerken schien. Merkwürdige Geschöpfe, diese Frauen mit männlichem Beruf, dachle er. Sie wachsen geradezu über alle Grenzen hinaus, mit denen sonst die Galanterie der Herren ihr Geschlecht zu umgeben pflegt. Na, sie sind nun einmal so, sagte er sich. Und doch errang Edda gegen seinen Willen in seinem Innern einen Achtungserfolg, der ihm selbst unbegreiflich war, denn er hielt auf das Hergebrachte und Unauffällige. Still betrachtete er sie von der Seile. Selbst die Art, wie sie sich auf dem Stahlschuh bewegte, war eigenartig. Nichts von unsicherem Schwanken in den Hüften, kein kurzes unelegantes Kratzen der Schlittschuhe auf dem Eise; in sicheren großen Zügen, die leichte Bewegung nur durch ein gleichmäßiges Schwanken ihres Kleides verratend, flog sie neben ihm dahin.
Endlich, nach einem tüchtigen Umlauf, hielt sie plötzlich an, lächelte aus hochroten Wangen ihren Begleiter unbefangen an und sagte mit einem tiefen Atemzug: „Herrlich!“
Einfach „Ja“ darauf zu erwidern, schien ihm zum mindesten überflüffig; sie schien auch keine Antwort zu erwarten.
„Ich habe Ihre Schwägerin noch nicht gesehen.“
„Dort läuft sie mit dem Russen.“
Edda machte ein Gesicht, als hätte er ihr etwas Unangenehmes gesagt, und zuckte mit den Schultern, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen.
„Was meinen Sie?“ fragte Hermann.
Ein halb erstauntes Lächeln, weil er in ihren Gedankengang eindrang. „Als Mensch nichts, als Frau sehr viel. Wer Ihre Schwägerin kennt, würde ganz gleichgültig diesem eigentümlichen Verhältnis zusehen können. Sie ist unvorsichtig, weil ihr selbst kein Gedanke, keine Handlung in den Sinn kommt, die nicht makellos wäre. Sie hat sich in die Rolle einer Beschützerin dieses steuerlosen großen Kindes hineingelebt und kann nicht wieder heraus, weil ihr niemand hilft und die Augen öffnet.“
„So sagen Sie ihr ein Wort darüber, Fräulein Helm!“
„Nein, das vermag und will ich nicht. So etwas kann nie eine Frau der anderen sagen; wir haben nun einmal unsere berechtigten Schwächen.“
Hermann fühlte, daß sie recht hatte, und wunderte sich über ihre richtige Anschauung.
„Der einzige, der dies thun darf, ist Ihr Bruder.“
Weßnitz blickle sie erstaunt an. „Nach meiner Meinung kann er nur zweierlei thun – entweder die Sache als nicht beachtenswert fortgehen lassen oder den Prinzen ersuchen, seine Aufmerksamkeiten und die Besuche bei seiner Frau einzustellen. Das bedeutet dann ein Duell.“
„Ach, immer mit Ihrem Duellieren! Es ist beinahe lächerlich. Als ob dadurch irgend etwas gebessert würde! Ein Mann im Besitz einer Frau wie Ihrer Schwägerin hat etwas anderes zu thun. Er sollte ihre Hand nehmen und sagen: Liebe Frau, Du bist ein großes Kind. Nimm einmal Deinem Schatten etwas Sonne und er wird schwächer werden; ich will Dir ganz in der Stille dabei helfen. Lore würde das einsehen und den richtigen Weg wohl zu finden wissen.“
Eddas Augen blickten klar und ruhig über das Getümmel der Schlittschuhläufer hinweg.
Wie energisch dies Mädchen alles anfaßte! Nichts von Sentimentalität, eine Natur, die überall den richtigen Weg suchen und finden würde! Und doch konnte Hermann ihr nicht völlig zustimmen. Sie beurteilte alles von der Höhe ihrer Ruhe und Abgeschlossenheit aus und glaubte, andere Menschen müßten in ihrem Thun und Lassen genau so verstandesmäßig und regelrechl vorgehen, ohne den Schwächen und Fehlern, den seltsamen Regungen des menschlichen Herzens zu folgen. Ob sie wohl stets so war, diese Edda Helm? Ob nichts sie aus ihrer Klarheit herausbringen konnte?
„Im Prinzip mögen Sie recht haben, Fräulein Helm. Aber ist mein Bruder ein Mann, der so zu seiner Frau sprechen könnte?“
Sie preßte die Unterlippe fest zwischen die Zähne. „Nein, das ist er nicht. Haben Sie Ihre Schwägerin sehr lieb, Herr von Weßnitz?“
Eigentümlich! So fragte ihn vor einiger Zeit auch Prinz Sissi.
„Ja, gewiß! Wir wuchsen als Kinder zusammen auf.“
„Das meine ich nicht; es muß eine stärkere Neigung sein.“
„Und welches andere Gefühl könnte es geben, das ich selbst mir als Ehrenmann erlauben dürfte?“
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[506] Er gefiel ihr in diesen trotzigen Worten. Das war ein Charakter.
„Ich kann es nicht beschreiben, welches Gefühl von Ihrer Seite ich Ihrer Schwägerin wünschen möchte. Es leitete mich auch nur der Gedanke, für sie einen Halt zu finden. Nun, wir wenigstens wollen zusammenhalten.“
Sie streckte ihm freimütig die Hand entgegen, die er kräftig umschloß, und beide wußten, daß sie einen guten Bund geschlossen hatten.
„Dort können Sie meine Schwägerin in Begleitung des Schattens sehen,“ sagte Hermann, auf das in einiger Entfernung vorbeischwebende Paar deutend. Hol’ der Teufel diesen Prinzen! dachte er dabei.
(Fortsetzung folgt.)
Im siebenbürgischen Erzgebirge.
Vor drei Jahrzehnten war Siebenbürgen im ganzen und großen wenig bekannt; heute ist das freilich nicht mehr der Fall. Insbesondere der Süden, der ehemalige „Königsboden“, das von einem kerndeutschen Völkchen bewohnte Sachsenland mit seinen malerischen Städten, seinen eigenartigen Bürger- und Bauernburgen und seinen prächtigen deutschen Bauerngestalten, sowie der sich dahinter auftürmende mächtige Bergwall der Südkarpathen oder Transsylvanischen Alpen – sie alle sind in den letzten Jahren häufiger von Reisenden aus dem Deutschen Reiche besucht worden. Auch für die Folge wird dieser Landstrich von den deutschen Touristen mit vollem Recht bevorzugt werden. Denn einesteils lockt der ungemein billige Fahrpreis der ungarischen Eisenbahnen zum Wagnis des Ausfluges dahin – kostet doch die Fahrt von Wien nach Hermannstadt oder Kronstadt selbst bei Benutzung der zweiten Wagenklasse kaum dreißig Mark – andernteils bietet die deutsche Verkehrssprache sowie die bequeme Unterkunft in den Städten, endlich die dank den unermüdlichen Anstrengungen des siebenbürgischen Karpathenvereins verhältnismäßig leichte Zugänglichkeit des nahen Hochgebirges Grund und Anlaß genug, Land und Leute gerade von hier aus kennenzulernen. Daneben giebt es indes auch noch manche andere Gegend, die viel Anziehendes und Schönes in sich birgt und es verdiente, allgemeiner bekannt und besucht zu werden, gleichwohl aber bis heute fast bloß von Gelehrten und Forschern durchstreift wird, wie u. a. das an landschaftlichen Reizen und an geschichtlichen Erinnerungen reiche siebenbürgische Erzgebirge.
Durch welche Einbruchspforte das schnaubende Dampfroß den Reisenden aus der endlosen Tiefebene des eigentlichen Ungarn in das Hochland Siebenbürgens hinaufführen mag, immer wird sich sein Blick unwillkürlich zu jener in der Nähe der ehemaligen Westgrenze des Landes gelagerten Berggruppe hingezogen fühlen, deren Nord- und Südabhänge von den Wellen des Aranyos und Mieresch (Maros), bespült werden, und deren Höhen fast stetig, von einem geheimnisvollen bläulichen Duftschleier umwoben erscheinen. Wer diesen Schleier lüften und in das Erzgebirge eindringen will, der muß freilich ein gut Stück Urwüchsigkeit mit in Kauf nehmen, sich geduldig von kunstlosen Fuhrwerken durchrütteln lassen und eine mangelhafte, manchmal jeder Bequemlichkeit entbehrende Unterkunft ohne Einbuße an seiner guten Reiselaune ertragen können. Vermag er dies, dann nehme er nur seinen Wanderstab frohgemut zur Hand, denn eine Reihe unauslöschlich schöner Eindrücke wird ihn für alle Mühen und Entbehrungen mehr als reichlich entschädigen.
Auf die am wenigsten umständliche Weise gelangt man von Karlsburg (magyarisch Gyulafehérvár), einer mittelgroßen gemischtsprachigen Stadt und Festung, in das Innere des Erzgebirges. Wer dazu Zeit hat, lasse es sich nicht verdrießen, hier einen Gang in die nach Plänen des Prinzen Eugen im Jahre 1715 an Stelle der alten Bischofs- und Fürstenresidenz, der Weißenburg, angelegte Festung zu machen; dort erhebt sich der sehenswerte altersgraue Dom, dessen Seitenschiffe eine Reihe Grabdenkmäler von Fürsten und Großen Siebenbürgens aus dem fünfzehnten bis zum siebenzehnten Jahrhundert schmückt. Mittlerweile hat uns wohl der Wirt des Gasthofes, in dem wir abgestiegen sind und dem wir unser Anliegen anvertraut haben, einen Platz auf der Post besorgt, die den Verkehr zwischen Karlsburg und Abrudbánya, dem Hauptort des Erzgebirges, vermittelt und die auch wir zur Fahrt benutzen wollen. Wem jedoch bei ihrer Erwähnung eine dunkle Erinnerung an die altehrwürdige gelbe Postkutsche aufsteigen sollte, der würde sich in seiner Annahme sehr getäuscht finden, wenn er am nächsten Morgen das eigentümliche Fuhrwerk erblickt, das ihn weiter befördern soll. Es ist dies ein mit Rücksicht auf die Straße fest, aber dennoch, leicht gebauter, gedeckter Stützwagen, in dem vier Personen bequem Platz haben, vorausgesetzt, daß dieser nicht gerade durch die gleichzeitig mitbeförderten und in seinem Innenraume aufgestapelten Postsendungen über Gebühr beschränkt wird. Doch dies ist heute nicht der Fall; auch kein Reisegefährte setzt sich zu uns – wir bleiben allein. Der flinke magyarische Kutscher knallt mit der Peitsche; die vor den Wagen gespannten drei munteren Rosse greifen kräftig aus, und in raschem Trabe geht es den nahen Bergen zu.
Nur kurze Zeit ergötzt sich unser Auge noch an dem schönen Bilde, den das dorfreiche weite Miereschthal mit dem spitzen Felsgipfel des Ziegensteins im Hintergrunde gewährt, dann treten die Berge näher zusammen: wir fahren in das Ampolythal hinein. Die Straße schlängelt sich meist im Thalgrunde zur Seite des rauschenden Ampoly dahin, und wenn nicht etwa außergewöhnliche Dürre den Pflanzenwuchs der Berglehnen beeinträchtigt und die Wassermenge des Baches verringert hat, gestaltet sich die Fahrt ganz anziehend und angenehm. Die zahlreichen rumänischen Dörfer und insbesondere die vereinzelten, zwischen grünbewaldeten Höhen in Getreide- oder Maisfelder eingebetteten Bauerngehöfte mit ihren schwerfälligen, wettergebräunten Strohdächern und den weißgetünchten Wänden bieten einen eigentümlichen Anblick, während die hier und da aus den Aeckern oder Wiesen aufsteigenden [507] Felskegel oder die über das grüne Laubwerk der Wälder emporragenden malerischen Felsgebilde dem Auge eine willkommene Abwechslung gewähren.
Nach schier vierstündiger Fahrt taucht zur Linken ein mächtiger, bis zum Gipfel bewaldeter, abgestumpfter Bergkegel auf; es ist der malerische Judenberg, das Wahrzeichen des Bergortes Zalatna. Helle Flecken, die hie und da an den fernen Berglehnen sichtbar werden und die Mundlöcher der Stollen anzeigen, die von Goldsuchern angelegt wurden, auch etliche halbnackte, sonnverbrannte Zigeuner, die an einer Krümmung des Ampoly beschäftigt sind, den Flußsand mit ihren Waschtrögen auf seinen Goldgehalt zu untersuchen, verraten, daß wir die Grenzen des Golddistriktes erreicht haben. Bald darauf fahren wir in Zalatna (rumänisch Slagna), einem hübschen, von Magyaren und Rumänen bewohnten Marktflecken ein, der wahrscheinlich auf der Stelle der ehemaligen Römerkolonie Ampela liegt. Hier in diesem stillen, rings von Bergeshöhen umschlossenen, vom Ampoly durchrauschten Orte dichtete im Jahre 1629 der von dem Landesfürsten Gabriel Bethlen als Professor nach Weißenburg berufene Stifter der Schlesischen Dichterschule, Martin Opitz, sein Lehrgedicht „Zlatna oder von der Ruhe des Gemütes“. Zahlreiche Häuserruinen, die in den Gassen auftauchen, erzählen uns noch immer von den blutigen Greuelscenen des achtundvierziger Bürgerkrieges, die sich hier in erschütternder Furchtbarkeit abspielten. Obwohl sich in der Umgebung Zalatnas eine ganze Menge von Goldbergwerken befindet, bemerken wir davon doch sehr wenig, und nur das ärarische Hüttenwerk mit seinem mächtigen Hochofen erinnert uns daran. Hier werden die gepulverten goldhaltigen Kiese, der „Schlich“ geröstet und von dem Schwefel befreit, sodann geschmolzen, worauf aus dem Schmelzergebnis, dem „Lech“ oder „Stein“, einem Gemenge von edlen und unedlen Metallen, das Gold und Silber geschieden wird. Der als Nebenerzeugnis gewonnene Schwefel wird in einer zum Hüttenwerk gehörigen Schwefelsäurefabrik zu Schwefelkohlenstoff verarbeitet, der von der Regierung zu billigem Preise an die Weingartenbesitzer behufs Bekämpfung der Reblaus abgegeben wird.
Doch unseres Bleibens in Zalatna ist nicht lange; wir eilen, noch am selben Tage nach Abrudbánya zu gelangen. Der Weg, der nun durch das Thal von Trimpoële, von da in zahlreichen Schlangenwindungen ansteigend über die Wasserscheide des Ampoly und Abrudbaches und schließlich dem Laufe des letzteren folgend, durch das Hirschthal (Valea Cserbului) führt, ist viel anziehender als die bisher zurückgelegte Strecke, und die wechselnden landschaftlichen Scenerien wie die Ausblicke über die Berge sind bisweilen geradezu großartig. Nach einer Fahrt von vier Stunden haben wir Abrudbánya und damit jenen Punkt des Erzgebirges erreicht, von dem aus dieses nach allen Richtungen am bequemsten durchstreift werden kann. Merkwürdiger als der Ort selber, dessen fünf Kirchen uns andeuten, daß hier Angehörige von fünf christlichen Glaubensbekenntnissen wohnen, meist Rumänen und Magyaren, ist das eigenartige Leben und Treiben, das uns in diesem „Sacramento Siebenbürgens“ und seiner Umgebung entgegentritt und uns den Beweis erbringt, daß wir uns thatsächlich im „Goldlande“ befinden. Wenn am Montag, dem Tage des Wochenmarktes, sich auf dem von drei Kirchen umschlossenen Marktplatze das rumänische Landvolk der Umgebung sammelt, wenn die sehnigen Männer aus den Bergen, die Motzen, deren manche noch die Haarsträhne in Zöpfe gewunden tragen, sowie die schönen Frauengestalten in der kleidsamen Tracht jener Gegend sich einfinden, sehen wir zahlreiche Leute zum Goldeinlösungsamte eilen. Denn mit dem Markttag fällt auch der zur Goldeinlösung festgesetzte Tag zusammen. Der Eintritt in das Amtsgebäude ist uns unverwehrt. Da erblicken wir neben dem reichen Bergwerksbesitzer gar manchen oft recht zerlumpten Kerl, der seinen Goldfund aus schmutzigem Tüchlein herausschält und triumphierend dem Beamten hinreicht; meist aber sind es Bauern, welche hier die Ausbeute ihrer Gruben verwerten. Das Gold wird probiert, gewogen und sein Wert sofort in klingender Münze vergütet.
Mancher dieser Goldsucher erhält so bis zu hundert, nicht selten aber auch etliche hundert, ja tausend Mark ausgezahlt. Aber was nützt es ihn? Hat er nach wochen-, oft auch monatelanger harter Arbeit endlich „Glück gehabt“, so säumt er keinen Augenblick, sich nach den Tagen der Entbehrung in den zahlreichen Schenken so lange gütlich zu thun, bis der letzte Kreuzer wieder verjubelt ist. Darum schallt uns jetzt aus allen Wirtsstuben und Schenken rauschende Zigeunermusik entgegen, die heute den ganzen Tag und auch die folgenden Nächte schier nie verstummt, während eine bunte Gesellschaft bei dem mit Borszeker Sauerwasser gemischten Weine sitzt und eifrig über die Ergiebigkeit der Goldgruben, über deren Ausbeutung und über erworbene Schurfrechte spricht. Hier sieht man einen zerpochte Gesteinsproben vermittelst eines fächerförmigen Sichertroges auf ihren Gogldgehalt untersuchen, dort werden Käufe und Verkäufe geschlossen, durch Handschlag bekräftigt und zuletzt mit einer reichlichen Weinspende besiegelt. Unermüdlich fideln die braunen Söhne Indiens dazu, und wir bleiben im Zweifel, ob wir die Ausdauer der Geiger oder der Zuhörer mehr bewundern sollen.
Der nächste Morgen findet uns auf dem Wege nach Verespatak, der eine Strecke nordwärts am Abrudbache entlang, dann aber, von Gura Roschi weiter, ostwärts führt. Munteres Rauschen und Klappern schlägt fast ununterbrochen an unser Ohr; es sind dies die dem Landvolk gehörenden urwüchsigen Goldstampfen, deren wir auf unserer Wegestrecke schier ein halbes Tausend zählen können. Die Berge ringsum, insbesondere der langgestreckte Kirnik, enthalten in ihrem Gestein viel gediegenes Gold, das von den Anwohnern in sehr einfach betriebenem Bergbau zu Tage gefördert wird. Wer wohlhabend genug ist, schafft das goldhaltige Gestein auf Pferden zur Stampfe; der Aermere muß es sich selber dahin schleppen, und oft genug keuchen Männer und Frauen an uns vorüber, die das Gestein in Körben auf dem Rücken von der Grube zu ihrem Pochwerk tragen. Eine solche Goldstampfe besteht aus einem Holzschuppen, in dem der gezahnte Wellbaum eines durch Wasserkraft getriebenen Rades abwechselnd mehrere schwere Pochstempel hebt und fallen läßt; wuchtig schlagen diese auf das in einer Vertiefung befindliche Gestein nieder und zerstampfen es. Darüber rieselndes Wasser schwemmt die leichteren Teile des Steinmehles weg, während die schweren Goldkörnchen auf dem Grunde liegen bleiben; was davon vom Wasser mitgerissen wird, wird unten auf rauhen Wolldecken aufgefangen. Feine Goldstäubchen gelangen trotzdem in den Bach, dessen Sand hernach noch von Goldwäschern mittels des Sichertroges ausgebeutet wird. Die dem Staate gehörenden Pochwerke, so jenes bei Gura Roschi, sind dagegen sehr vollkommen eingerichtet, und durch ein zweckmäßiges Amalgamierungsverfahren mit Quecksilber wird dort jeder Verlust an kostbarem Goldstaub vermieden. Auch die dem Staate gehörigen Bergwerke werden in systematischer Weise betrieben und ihr Besuch ist ebenso anziehend wie lehrreich. Was dem Fremden dort am [508] meisten auffällt, ist die peinliche Untersuchung aller aus den Stollen tretenden Grubenarbeiter, doch ist das Vorgehen leider nicht zu vermeiden, da das Verstecken gediegenen Goldes oder goldreichen Gesteins häufig genug vorkommt. Der ganze Höhenzug des Kirnik ist von den zahllosen Stollen der Goldgräber durchlöchert und durchwühlt und gleicht mit seinen Schutthalden und den dort hantierenden Menschen einem ungeheuern Ameisenhaufen. Am anziehendsten ist der Besuch jener Partie des Kirnik, welcher „Csetaye“ („Burg“) heißt. Hier stoßen wir auf zahlreiche Spuren der Römer, die einst mit staunenerregender Ausdauer an jenem Orte das goldhaltige Gestein abbauten. Durch einen wundervollen ovalen Stollen, den sie mit ihren unvollkommenen Werkzeugen durch den harten porphyrartigen Fels getrieben haben, gelangen wir in das Innere des Berges, das dem Krater eines ausgebrannten Vulkans ähnlich ist. Staunend verfolgt das Auge die labyrinthartig die Felsmassen durchbohrenden Gänge; in einem von ihnen wurden vor einem Menschenalter allerlei Werkzeuge und etliche der unter dem Namen „Triptychen“ in der Gelehrtenwelt bekannten hölzernen, mit Wachs überzogenen Schreibtafeln gefunden, die über das Leben jener Tage so wertvolle Aufklärungen geben. Alles lag unberührt da, wie es vor anderthalbtausend Jahren bei der Flucht der Römer aus Siebenbürgen von irgend einem römischen Grubenaufseher hingelegt worden sein mochte. Sehenswert sind auch die bei dem Hause des Romulus Gritta am unteren Ende von Verespatak aufgestellten römischen Grabsteine und sonstige Fundstücke aus der Römerzeit, die uns verläßliche Kunde vom alten Alburnus major, wie die hiesige Römersiedlung hieß, vermitteln. –
Sind wir nicht ermüdet, so können wir noch den südöstlich von Verespatak gelegenen „Donnersbergen“ („Detunata“) unsern Besuch abstatten und von dort durch das Dorf Bučsum, dessen Bewohner meist Goldgräber sind, nach Abrudbánya zurückkehren. Die Donnersberge sind zwei gewaltige Basaltkuppen, von denen besonders die nördlicher gelegene auf den Beschauer einen unauslöschlichen Eindruck macht. Ihr kahler, aus gewaltigen Basaltsäulen gebildeter Gipfel steigt über den dunkeln Tannenwald empor und sieht einer ungeheuern Riesenorgel nicht unähnlich.
Von Abrudbánya aus können wir auch noch andere lohnende Ausflüge unternehmen, so in das Bergwerk von Vulkoj, das im sechzehnten Jahrhundert die Fugger von Augsburg ausbeuteten, oder, nach Faczebánya, wo das seltene Schrifterz (Tellur) gefunden wird, oder aber nach Topánfalva, um uns einen Einblick in die an Naturschönheiten aller Art reichen Thäler des Aranyos zu verschaffen.
Dort, im Hauptsitz der kernrumänischen Motzen, liegt Unter-Vidra mit seinem malerischen Wasserfall, dort die Eishöhle vom Skerischora mit ihren Wundern, und weiter unten am Aranyos Offenbánya, das ehemalige deutsche Ofenberg, dessen Gruben einst so ergiebig waren, daß ein dortiger Einlöser der Sage nach auf Goldplatten zur Kirche schritt! Und haben wir uns an all dem Schönen und Fesselnden erfreut, das Natur und Menschenleben hier auf Schritt und Tritt offenbaren, und wollen nun den Rückweg antreten, so wählen wir hierzu die Straße, die uns südwestlich über Brád nach Déva führt. Da kommen wir zunächst an dem „Vulkan“ vorüber, einem massiven Bergklotz, dessen kahlen, abgestumpften Gipfel wir auf allen unseren Wanderungen erblicken konnten. Obgleich nicht einmal 1300 Meter hoch, gewährt er doch mit seinen steilansteigenden Kalkwänden einen großartigen Anblick. Seine Besteigung, die nicht schwierig ist und von der Straße in einer Stunde vollzogen werden kann, lohnt durch eine malerisch schöne Rundschau.
Von hier blicken wir auch in das einsame Thal von Sztanizsa, aus dem unser Bild eine idyllische Mühle vorführt. Vom Vulkan senkt sich der durch Dörfer und Einzelgehöfte belebte Weg gen Brád ins Thal der weißen Körös hinab. Die diese Gegend bevölkernden Rumänen sind ein schöner Menschenschlag, deren äußere Erscheinung von der der Motzen des Aranyos wesentlich abweicht. Das ihre Tracht anschaulich darstellende Bild mit dem stattlichen Burschen, der, an die Umfriedigung seines elterlichen Gehöftes gelehnt, Gruß und Wort mit dem auf dem Fußpfad vorübereilenden Mädchen tauscht, ist dem Leben entnommen.
Auch der westliche Teil des Erzgebirges, in den wir nunmehr getreten sind, ist reich an Golderzen, die fleißig abgebaut werden, doch geschieht dies hier weniger durch den kleinen Mann als vielmehr durch geldkräftige Gesellschaften. Deutsches Kapital ist hierbei in hervorragendem Maße vertreten. Die namhaftesten Bergwerke dieser Gegend befinden sich in den Händen hervorragender deutscher Industrie-Gesellschaften, und da sie alle von Fachkräften vorzüglich geleitet werden, so ist die Steigerung ihrer Goldausbeute, die heute weit über tausend Kilogramm Rohgold jährlich beträgt, mit Sicherheit zu erwarten.
Im malerisch gelegenen Boicza, das vor Jahrhunderten deutsche Bergleute gründeten und Bärenseifen nannten, nunmehr [509] einem aufstrebenden Bergorte, den wir nach achtstündiger Fahrt von Abrudbánya aus erreichen, finden wir gute Aufnahme und können von hier aus die nahegelegenen Gruben, vor allem aber die verschiedenen Anstalten besichtigen, welche zur Scheidung des Goldes von seinen ihm zähe anhangenden metallischen Gefährten dienen. Zum Abschied empfiehlt sich noch der Besuch des Bergwerkes von Nagyág, das vielleicht das ausgedehnteste im ganzen Erzgebirge ist und unter staatlicher Leitung steht. Schon die Lage des Ortes – Bernhard von Cotta erklärt sie für eine der schönsten, die ein Gebirgsdorf in Europa haben könne – ist überraschend, noch mehr aber eine Einfahrt in die Grube durch den über sechs Kilometer langen Josefsstollen, wo sich uns zahlreiche Wunder des Erdinnern enthüllen.
Und nun geht es wieder bergab, dem Miereschthale zu, dem Ende unserer Fahrt. Im Hintergrunde tauchen die schneebedeckten Häupter der Südkarpathen auf und bald erkennen wir die an die Ausläufer des Csernagebirges geschmiegte Stadt Déva. Neben ihr steigt der Schloßberg auf, den altersgraues Gemäuer krönt. Dort in der stolzen Bergfeste ward im Jahre 1307 Herzog Otto von Niederbayern, der erste „teutsche Chunig“ von Ungarn, von treulosen Gegnern gefangen gesetzt, bis er seine Freiheit mit der Aufopferung von Krone und Reich erkaufte, und seither ist das Geschick der Burg mit dem des Landes enge verknüpft geblieben, bis sie der letzte Bürgerkrieg in eine Ruine verwandelte.
Der schrille Pfiff einer Lokomotive tönt an unser Ohr. Unwillkürlich wenden wir unsern Blick noch einmal zurück zum Erzgebirge, und seine wohlbekannten duftumflossenen zackigen Höhen winken uns freundlich den Scheidegruß zu.
[510]
„Reitende Vögel.“
Vor einer Reihe von Jahren schon hat die „Gartenlaube“[1] eine Anzahl von Beobachtungen aus dem Kreise ihrer Leser veröffentlicht, welche den Schluß zuzulassen schienen, als ob südwärts ziehende oder nordwärts heimkehrende Kraniche auf ihrem Rücken kleine Vögel trügen. Nach der einen Mitteilung glaubte der Beobachter, diese letzteren bestimmt als Lerchen erkannt zu haben, und zwar hatte er deutlich die Stimmen der kleinen Vögel beim verhältnismäßig niedrigen Vorüberfliegen gehört, ja nach einer Nachricht in dem Fachblatt „Die Natur“ wollte man die von den Kranichen abfliegenden Lerchen sogar gesehen haben. Hatte schon die „Gartenlaube“ jene Vermutungen unter allem Vorbehalt wiedergegeben, so hielt ich persönlich die Sache für unmöglich, zunächst aus dem einfachen Grunde, weil die Lerchen und alle übrigen verwandten kleinen Vögel auf dem Rücken der Kraniche überhaupt nicht sitzen, geschweige denn weithin übers Meer reisen können, da sie keine zum Anklammern und Festhalten geeigneten Greiffüße haben. Dann aber wußte ich mir auch den Irrtum derjenigen, welche die auf den Kranichen „reitenden“ kleinen Vögel an ihren Lock- und Zwitscherlauten deutlich erkannt haben wollten, genugsam zu erklären.
In meiner Jugend besaß ich selbst, außer verschiedenem andern derartigen Gefieder, einen Kranich, den ich als ganz jungen Vogel erhalten hatte und der im Laufe von zwei Jahren zu einem überaus stattlichen Männchen herangewachsen war. Seine natürlichen Laute in früher Jugend waren ein schrillklingendes Pfeifen und späterhin, wenn er wohlgenährt und recht lustig war, ein singvogelähnliches Zwitschern. Dieses letztere ließ er zuweilen noch im Alter von nahezu zwei Jahren hören. Wenn ich ihn von seinen Jagdausflügen nach den Wiesen und dem Seeufer hinter unserem Garten durch den schrillen Ton einer Pfeife zurückrief und er dann Leckerbissen, kleine Stückchen rohes Fleisch oder totgebrühte Fliegen von mir erbettelte, dann piepste, zirpte und pfiff er noch ganz ebenso wie einst, da ich ihn als ganz kleinen, unbefiederten und immerfort hungrigen Pflegling erhalten hatte. Dies Pfeifen und Zwitschern ließ er unter mannigfaltigen Umständen hören, vor allem, wenn er hungrig war, dann aber auch aus Behagen, ebenso aus Aerger und Erregung, wenn man ihn neckte.
Wenn nun im Lauf der Jahre – es sind ja bald zwei Jahrzehnte her – der Streit über die kleinen Vögel auf dem Rücken der Kraniche sich wieder erhob, so galt wohl immer gegen jeden Zweifel der Einwand als der entscheidende, daß man das Zwitschern und die Rufe der kleinen „gefiederten Reiter“ aus naher Entfernung beim Vorüberfliegen der Kraniche gehört habe. Allein diese Angabe wird durch das, was ich eben mitgeteilt habe, in ein ganz anderes Licht gerückt. Man hat ja allerdings derartige zwitschernde Laute gehört und soweit ist alles ganz in Ordnung. Aber was man vernommen hat, sind eben lediglich die Laute der jungen Kraniche selber.
In ganz ähnlicher Weise erklärt sich die Behauptung jenes anderen Beobachters, daß er kleine Vögel von den Kranichen habe abfliegen sehen. Wer im Spätsommer und Frühherbst, zur Zugzeit der Vögel, viel in Feld und Wald verkehrt, wird wissen, daß nicht selten die verschiedenen gefiederten Wanderscharen neben- und durcheinander dahinwirbeln, daß solche Schwärme sich wohl vermischen und dann wieder trennen. Daher ist es immerhin möglich, daß ein Lerchenschwarm, den man vorher nicht bemerkt hatte, nun, indem er plötzlich vorüberstreicht, den Eindruck erweckt, als käme er von den Rücken der Kraniche her.
Ich habe lange gezögert, mit diesem Beweis für die Unwahrscheinlichkeit, ja Unmöglichkeit des Reisens kleiner Vögel auf dem Rücken der Kraniche öffentlich hervorzutreten. Da hochangesehene Männer, tüchtige Gelehrte, an deren Wahrhaftigkeit durchaus nicht gezweifelt werden konnte, jene Behauptung aufgestellt und sie in mehr oder minder scharfsinniger und geistvoller Weise zu erklären gesucht hatten, so hielt ich meine Meinung zurück und wartete ruhig ab, bis ich noch anderweitige Bestätigung für meine Ansicht finden würde. Jetzt hat Professor Dr. Rudolf Blasius, bis vor kurzem Präsident des Internationalen Ornithologischen Komitees, seine Stimme erhoben und es ebenfalls für unmöglich erklärt, daß die Kraniche auf einer Reise über 80 bis 100 Breitegrade und auf eine Entfernung von 1200 bis 1500 geographischen Meilen die kleinen Vögel tragen könnten. Auch darauf hat er hingewiesen, daß alle unsere kleinen Zugvögel längst fort sind, wenn die Kraniche zu Ende des Monats Oktober sich zum Abzug rüsten.
Scharf und schneidig weist sodann der bekannte ornithologische Jagd- und Forstschriftsteller Oberforstmeister Professor Dr. Borggreve das „Märchen“ von den „Reitenden Vögeln“ zurück. Auch er kennt nach eigener Beobachtung nicht allein das Piepsen und Zwitschern der jungen Kraniche, sondern besitzt auch ein außerordentlich sicheres Urteil über die Stimmen aller unserer einheimischen Vögel. Allerdings rufe der alte, ausgewachsene Kranich sein „kru-kra“, „kirr-kurr“ und „kruu“, Laute, die gleich Trompetentönen weithin durch die reine Herbstluft schallen und jedes romantisch veranlagte Gemüt in poetische Stimmung versetzen; aber auch das aus den dahinziehenden Kranichscharen wahrnehmbare Gezwitscher, welches den Lockrufen kleinen Gefieders, besonders der Lerchen, ähnle, sei nichts anderes als Kranichlaute, nur daß diese der Jugend dieser großen Vögel eigen seien. Von diesen Lauten des Kranichs spricht ja auch bereits das klassische deutsche Vogelbuch von Naumann, denn da heißt es ausdrücklich. „Die jungen Kraniche piepen und schiepen, auch wenn sie schon auf dem Herbstzuge sind, und selbst bei der Wiederkehr im Frühjahr schreien die meisten noch ‚schiep‘ und ,wiep‘.“
So bleibt also nichts übrig, als die merkwürdige Reisegenossenschaft der Kraniche und Lerchen in das Reich der Märchen zu verweisen. Hübsch ist das Märchen und sinnig, aber es ist eben doch – ein Märchen.
- ↑ Vgl. Jahrgang 1878, Seite 703, und 1879, Seite 312.
Die Martinsklause.
(Schluß.)
Die Tage vergingen, und endlich war die Arbeit im Thale so weit gediehen, daß man ohne ernstere Sorge den Winter erwarten konnte. Die Berge waren schon bis auf die Wälder herab mit frischem Schnee bedeckt, und Eberwein rüstete sich zur Heimfahrt nach seinem Mutterkloster, um mit dem Frühjahr wiederzukehren, neue Mönche in das Thal zu führen und den Bau des Klosters zu beginnen. Ein kalter Morgen graute, und in der Herdstube der Klause flackerte das Feuer. Eberwein hatte mit dem Bruder das letzte karge Frühmahl eingenommen; nun gürtete er das Kleid und schnallte die Sandalen an die Füße. Sigenot stand an die Mauer gelehnt, die Arme schlaff, mit nassen Augen und vergrämtem Antlitz. Da klangen Schritte, und eine Gestalt erschien in der Thür. Sigenots Jungsenn’ war es, der von seinem weiten Botengang zurückgekehrt war.
„Guten Gruß, Herr! Ich bin daheim und bring’ die Botschaft!“
Eberwein lächelte. „Ich danke Dir! Du bist ein treuer Bub’! Doch der Hilfe, die Du bringst, bedarf ich nimmer!“ Während er das herzogliche Siegel brach und das Pergament eröffnete, fielen die Blicke des Jungsennen auf den grauköpfigen Bruder, der ihm langsam entgegenschritt. Er stand mit aufgerissenen Augen und klaffendem Mund, zitternd an allen Gliedern; aber da faßte Bruder Sigenot schon den Knaben am Arm und zog ihn aus der Klause. Ein gedämpfter Laut der beiden Stimmen und ein kurzes Schluchzen klang in die Herdstube, während Eberwein beim Schein des Feuers die Botschaft seines herzoglichen Freundes las. Es war ein langer Brief – und doch war all sein Inhalt nur ein einziges kurzes Wörtlein. Eberweins Brauen furchten sich, und es zuckte bitter um seine Lippen. Schwer atmend ließ er das Blatt in die Flammen gleiten. „Was wäre geworden aus meinem Gotteshaus und meinem armen Völklein … hätten die Berge nicht geholfen!“ Er faßte seinen Stab und trat ins Freie. Im erwachenden Frühlicht führte ihm Bruder Sigenot den Burschen entgegen, dem die Thränen noch in den Augen standen.
„Herr, ich komm’ mit einer Bitt’ zu Dir. Schau’ den Buben an! Er ist verwaist und hat ausgesennet in meinem Dienst. Mach’ ihn zu Deinem Fischer und laß ihn auf meiner Heimstatt sein Dächlein bauen!“ Eberwein nickte und strich mit der Hand über den Scheitel des jungen Mannes. „Nun komm, Bruder, und gieb mir das Geleit! Der Bub’ mag harren, bis Du wiederkehrst!“
Sie schritten in den hellen frischen Morgen hinaus, erreichten das Thal der Ache und folgten dem Lauf des Wassers. Während des Wanderns hatten sie noch so viel von Arbeit, von Land und Leuten und von den Sorgen des Winters zu sprechen, daß ihnen Weg und Zeit verrann, ohne daß sie es merkten. Mitten im Gespräch verhielt Eberwein plötzlich die Schritte und blickte rings umher. „Bruder Sigenot, erkennst Du die Stelle?“
„Wohl wohl, Herr. Es ist das Flecklein, auf dem wir uns zum erstenmal gesehen haben.“
„Hier wollen wir scheiden!“ Eberwein faßte die Hand des Gefährten. „Und mein letztes Wort soll Dir allein gehören. Unsere Tage waren Arbeit, unsere Nächte müder Schlaf. Ich konnte Dir nur das Kleid der Kirche geben – für ihre Lehre blieb uns keine Zeit! Und ich rede auch zu Dir in dieser letzten Stunde nicht als Priester – nur als Mensch zum Menschen. So höre die kurze Lehre, welche mein Herz davongetragen aus allem Sturm und aller Not, die über uns gekommen: Du lebst … und [511] zwei Pflichten sind Dir auferlegt, die eine gegen Deinen Nächsten und die andere gegen Dich selbst. Sei gut, und Du erfüllst die erste. Sei Dir selbst getreu, und Du genügst der zweiten. Alles andere laß über Dich ergehen, wie es mag. Das kommende liegt vor Dir, ein Wirrwar dunkler Pfade. Welchen Du wandeln sollst ... frage nicht andere, nur immer Dich selbst. Beschreite jenen Weg, den Dein redliches Herz Dich gehen heißt, und überlasse die Führung jenen Mächten, die Du fühlen kannst, doch nicht erkennen. Glaube an Gott! Denn glauben mußt Du, Glaube ist Hoffnung, und Hoffnung ist der Atem alles Lebens. Glaube an Gott, an seine Kraft und Liebe ... doch hüte Dich, nach seinem Wesen und Antlitz zu forschen, nach seinem Rat und Willen. Du bist, wie Du geschaffen wurdest: menschlich ... daß Du mehr nicht sein und nicht hinauswachsen kannst über Deine irdischen Sinne bis zur Wolkenhöhe, das wird Dir die unergründliche Macht verzeihen, die Dich werden ließ, so, wie Du bist!“
Mit ernsten Augen hing Sigenot an Eberweins Lippen, und nach kurzem Schweigen sagte er langsam: „Ich mein’ wohl, ich fass’ Dein Wort ... und mein’ auch, daß ich’s im Leben halten kann nach Deinem Rat. Und weil ich mehr nicht hab’ lernen können, deswegen mußt Dich nimmer sorgen! ‚Mein guter Herre, Du mein Gott‘ ... das ist genug für meine Zung’. Was ich mehr brauch’, redet schon mein Herz dazu. Aber eins noch ...“ seine Stimme schwankte, und mit heißen Augen suchte er den Platz, an dem er einst lachend das scheue Roß gebändigt, „sag’, Herr ... giebt’s ein Wiederfinden sell droben in der helleren Zeit?“
Eberwein wollte sagen. „Ich hoffe!“ Doch als er in Sigenots Augen blickte und das Bangen in jedem Zug des vergrämten Gesichtes erkannte, sagte er mit fester Samme. „Ja, Sigenot! Glaube!“
„Gute Heimfahrt, Herr!“ stammelte Sigenot mit heiserem Laut. „Und kehr’ bald wieder! Dein Wort soll Eisen sein in mir!“ Hastig löste er die Hand und eilte davon. Mit stillem Lächeln sah Eberwein dem Verschwindenden nach. „Du, ein Mönch? Laß Dir genügen am Kleid der Kirche ... und an allem, was Deine Seele füllt mit Weh und Sehnen!“ Er blickte um sich, für kurze Rast eine Stätte suchend. Am Ufer der Ache fand er einen Stein und ließ sich nieder. Nicht lange währte seine Rast, und wieder folgte er dem Pfad, zu dessen Seiten noch überall die Spuren der Flut zu erkennen waren, welche an jenem Unglücksabend den Weg bis in die Ebene hinaus gesucht und gefunden hatte.
Hoch am Tag erreichte Eberwein die Salzaburg. Als er das Thor durchschritten hatte und der bischöflichen Pfalz sich näherte, sah er auf der steinernen Freitreppe einen Bruder seines Ordens sitzen, mit kahlem Haupt, das bleiche Furchengesicht umwuchert von den Stoppeln eines graugesprenkelten Bartes. Schlotterig hing die Kutte um den abgemagerten Leib. Es schien ein Genesender zu sein, der eine lange schwere Krankheit überstanden hatte und sich ein Stündlein an der Sonne wärmte. Müd’ und gebrochen sah er aus; doch plötzlich sprang er auf, schwenkte die Arme, eilte dem Kommenden entgegen und stürzte schluchzend vor ihm nieder.
„Bruder Wampo!“ In zitternder Freude hob Eberwein den Wiedergefundenen auf.
„Herr! Ach guter Herr! Geh’ nicht ins Gericht mit mir, weil ich die Klaus’ verlassen hab’ und gelaufen bin wie die Maus vor einer Katz’! Das Grausen hat mich gepackt, das Grausen! Aber schau’ mich an ... ich bin gestraft dafür! Sechs Wochen hab’ ich auf den Tod gelegen vom Schreck und von der Angst, sechs Wochen, Herr ... und all’weil’ Krankenkost ...“ In Schluchzen erloschen ihm die Worte, und Eberwein mußte unter Thränen lächeln.
Es war um die Sonnenwende des folgenden Jahres, an einem sengend heißen Tag, als ein langer Zug von Menschen, beladenen Saumtieren, Karren, Pferden und Rindern durch die Waldschlucht der Ache den Weg zum Berchtesgadem suchte. Propst Eberwein kehrte in sein Land zurück, und der Bau des Klosters sollte beginnen. Drei Väter kamen in seinem Geleit, und vier Brüder – unter ihnen Bruder Wampo, dessen Falten sich schon wieder zu glätten und zu füllen begannen. Er war auf der weiten Reise in bester Laune gewesen, denn einer der Karren war schwer befrachtet mit bauchigen Fäßlein. Doch je näher man der „schiechen Gegend“ kam, desto unruhiger blickten Bruder Wampos kleine hurtige Aeuglein. Um so heller aber strahlte die Freude in Eberweins Antlitz. Immer wieder eilte er an dem langen Zuge auf und nieder und musterte die Menschen, die Tiere und alles Gerät. Gegen hundert Gewerksleute und Knechte kamen mit ihm – und der Bau des Klosters und der steinernen Kirche sollte nicht ihre einzige Arbeit sein. Er streichelte die schweren Pferde und sah sie schon im Pfluge gehen und die rauhdurchschotterte Erde brechen. Und wie die Bauern staunen würden beim Anblick dieser Rinder! Es war ein fester stämmiger Schlag, der die verkümmerte Zucht des Gadems in wenigen Jahren verbessern würde. Ein Teil der Saumtiere war mit Säcken beladen, welche den Bedarf für die erste Wintersaat und Flachssamen für das kommende Jahr enthielten. Zwei Karren trugen mancherlei Gerät, nach dessen Muster die Bauern lernen sollten, ihre Stuben und Kammern freundlicher zu bestellen; ein anderer Karren war bepackt mit Handwerkszeug, wie es im Garmischgau und Wertofelser Land die Holzschnitzer führten; denn die Kunst, allerlei Bildwerk und zierlichen Hausrat zu schnitzen, gedachte Eberwein die heranwachsenden Knaben zu lehren, damit sie in den Tagen des langen Winters lohnende Arbeit hätten.
Je mehr sich der Zug dem Ende der Waldschlucht näherte, desto ungeduldiger eilte ihm Eberwein voran; es brannte in seinem Herzen die Sehnsucht, das vielgeprüfte Thal, die stille Klause und ihren einsamen Hüter wiederzusehen. Er überholte die zehn Knechte, welche mit Beilen einen Pfad für die Tiere und Karren bahnten, und wanderte aufwärts am Ufer der Ache. Als die Schlucht sich weitete, verhielt er freudig betroffen den Schritt: vom Lokiwald tönte die Glocke. Er hätte sich lieberen Gruß zum neuen Einstand in seinem Land nicht wünschen mögen. Von der Klause klangen ihm zahlreiche Stimmen entgegen, und als er die Lichtung betrat, sah er rings um das Kirchlein über hundert Menschen versammelt, und andere kamen noch immer herbeigeströmt von allen Seiten. Als die Leute den Mönch gewahrten, erhoben sie ein helles Geschrei und eilten ihm jauchzend entgegen. Sie drückten seine Hände, küßten sein Gewand und begrüßten ihn, recht wie ein dankbares Völklein seinen guten Fürsten. Seit Wochen schon hatten sie seiner Wiederkehr gewartet und aus den Höheu des Untersberges Späher aufgestellt, welche durch Rauchsäulen die Ankunft des Zuges verkündeten. Wohin Eberwein blickte, sah er bekannte Gesichter, aus dem Gadem und aus der Ramsau. Auch der alte Gobl fehlte nicht; er war säuberlich gekleidet, und auf Eberweins Frage, wie es dem Knaben ginge, sagte der Alte stolz: „Der hat sich herausgewachsen, Herr! Wohl wohl! Aus dem Bnben ist ’was geworden! Den kann man brauchen jetzt! Der hütet im Gadem die Säu’ ... das sind gemütliche Tier', wohl wohl, denen kommt er schon nach, wenn er auch ein lützel hinket!“
Den anderen währte die Rede des Greises zu lange, sie wollten auch zu Worte kommen und schoben ihn beiseite. Eberwein bekam die Hände nicht mehr frei. Jetzt hielt ihn der Jungsenn’, der zum Fischer geworden, und jetzt die Heilwig, die sich aus des Fischers Magd in eine Bäuerin verwandelt hatte; Mitleid und Erbarmen hatten ihr einen Mann geworben – den Kaganhart. Seine Trauer um die Hilmtrud schien sich gelegt zu haben. Das rote Gesicht strahlte vor Vergnügen, und seine Haare lagen schlicht und glatt, als wäre schon lang keine zausende Hand mehr dazwischen gefahren. Aber wo blieben Ruedlieb und Rötli? Wo weilte Bruder Sigenot?
„Sell drüben sitzt er beim Kirchlein!“ lautete die Autwort auf Eberweins Frage. „Er hat nimmer stehen können ... die Freud’ ist ihm in die Knie gefahren!“
Eberwein brach sich Bahn durch die Leute. Bis ins Herz erschrak er, als er auf einem Holzblock neben der Kirchenthür den gebrochenen Mann gewahrte, welcher zitternd saß, das graue Haupt an die Balkenwand gelehnt. „Sigenot! Mein Bruder!“ Lange hielten sie sich stumm umschlungen. Als Eberwein seiner Bewegung Herr geworden, strich er mit den Händen über die abgehärmten Wangen des Freundes und stammelte: „In aller Freude ein Schmerz! Ich hoffte, Dich anders zu finden ... mutig und stark, wie Du immer warst!“
„Stark, Herr? Stark ist nur Einer!“ Ein müdes Lächeln zuckte um Sigenots bleiche Lippen. „Ich will Dir sagen, was schuld ist ... es steht halt für mich die Klaus’ auf einem unguten Fleck. All’weil’ seh’ ich den halben Berg sell drüben ... und ich kann’s nicht wehren: so oft ich hinaufschau’, reißt er wir ein Stückl von meiner Seel’! Viel ist nimmer übrig, Herr!“
Geschrei und Lärm erhob sich, die Leute kamen in Bewegung; [512] die Geleitschaft Eberweins war auf der Rodung erschienen. Erschrocken blickte Bruder Sigenot auf die Schar der Kommenden. „Herr! Unter all’ den Leuten soll ich weiterleben?“
„Nein, Sigenot!“ Eberwein legte die Hand auf die Schulter des Bruders und sah ihm mit herzlichem Blick in die Augen. „Ich will Dich mir erhalten und deshalb lege ich eine heilige Pflicht auf Deine Seele und gebe Dir ernste Arbeit. Was ich meine, sollst Du morgen hören. Für heute nimm Deinen Stab, ziehe zur Ramsau und lade die Männer auf den zweiten Tag von heute zur Martinsklause. Sie sollen zugegen sein, wenn ich den Grundstein meines Klosters lege. Morgen zu Mittag kehre heim und erwarte mich im Hause Deiner Schwester!“
Sigenot wehrte mit der Hand. „Herr, laß meinen Schatten nicht fallen auf ihren hellen Weg’!“
Einer der Mönche kam, um die Ankunft des Zuges zu melden und die Befehle des Propstes zu hören.
„Ich komme!“ sagte Eberwein. Dann drückte er den eigenen Stab in Sigenots Hand. „Nimm den Stecken und wandere! Ich erwarte Dich morgen!“ Er wandte sich ab und folgte dem Mönche. Bruder Sigenot stand noch eine Weile, die Augen mit verlorenem Blick auf den Stab geheftet. Als er einen kleinen wohlbeleibten Bruder mit anderen Mönchen der Klause sich nähern sah, kehrte er sich hastig ab und begann die Wanderung.
Der Abend kam, und treibendes Leben herrschte auf der weiten Rodung. Während Zelte und Hütten aufgeschlagen wurden und in der sinkenden Nacht die Feuer zu lodern begannen, saß Eberwein beim Licht einer Kerze in seiner Zelle und schrieb. Lange währte die stille Arbeit. Er siegelte die Rolle, verwahrte sie in hölzerner Kapsel und legte sie mit einem schweren Säcklein in eine Ledertasche. Dann begab er sich zur Ruhe.
Vor dem Grau des Morgens erhob er sich wieder. Während alles noch schlummerte, schwer ermüdet von der weiten Fahrt, schritt er dem Thal der Ache zu, die Ledertasche an seinem Gürtel. Es drängte ihn, eine Höhe zu ersteigen und von freier Warte sein Land zu überblicken, wie an jenem ersten Morgen, an welchem der Kohlmann ihn zum Untersberg geführt. Auf schmalem Brücklein überschritt er die Ache und überließ sich einem Almensteig, der durch den Bergwald emporführte zu den Gehängen des Göhl. Zwei Stunden wanderte er aufwärts; endlich gingen die Bäume zu Ende, und mit schimmerndem Duft erwachte der schöne Morgen.
Auf steiler Zinne ruhte Eberwein und harrte, bis im Thal die Schatten wichen. Noch ehe sein Blick die Hage und Häuser unterscheiden konnte, sah er schon die weißgraen Schnuttfelder, welche mit langgestreckten Fingern über die Halden der Schönau griffen. Doch bald erkannte er auch den mattgrünen Schimmer, von welchem die gerodeten Flächen wie von einem dünnen Schleier überzogen waren. In stillen Bildern zog das Vergangene an Eberweins Augen vorüber, all sein eigenes Hoffen und Leiden, alles Glück und Weh der hundert Menschen, welche dort unten mit dem Morgen jetzt erwachten oder ewig schlummerten unter Felsen und Erde. Wie viel an gutem und gesundem Leben lag unter den Trümmern des gebrochenen Berges begraben! Und dennoch erkannte Eberwein, daß keine Kraft und Menschenhilfe diesem Land und seinen kommenden Geschlechtern größere Wohlthat hätte erweisen können als jene Stunde der stürzenden Felsen. Am verwichenen Abend hatten es ihm die Leute als ein Wunder berichtet, daß seit Menschengedenken der Winter im Gadem nicht so kurz und mild gewesen, der Schnee in den Thälern nicht so früh geschmolzen und der grüne Frühling nicht so zeitig eingetreten wäre als in diesem Jahr. Sinnend schweiften die Blicke Eberweins über das weite Thal hinüber zu den von der Morgensonne beglänzten Ruinen des gebrochenen Berges. Die beiden riesigen Stümpfe waren frei von Schnee, und nur in der breiten Scharte zwischen ihnen dehnte sich im Schatten ein weißes Feld. Auch andere Berge, welche noch im letzten Sommer weiße Köpfe getragen, waren in der Sonne schneefrei geworden, nachdem der gewaltige Eisriese verschwunden war, der die ganze Runde in seinem kalten Banne gehalten. Ein neues „Wunder“! Eberwein seufzte, wenn er des absonderlichen Christenthums gedachte, das in die Köpfe und Herzen seiner Gademer Leute eingezogen war und zu welchem nicht die Lehre der Liebe sie bekehrt hatte, sondern die Not, welche beten lehrt, Waldrams blutiges Ende und Bruder Wampos Bär. Wunder und Wunder, Gottes starke Faust und der strafende Zorn des Himmels – das war der ganze Inhalt ihres Glaubens. Daneben wandelte der Alte aus dem Untersberg durch ihre Herzen und um ihre Häuser, und ihre Kinder schreckten sie mit dem steinernen Gespenst des Spisars – nicht mehr König Eismann, sondern „Wazemann“ hieß der gebrochene Berg, und die starrenden Zacken des Grates hießen „Wazemanns Kinder“. Aber wie auf den gerodeten Flächen mit dem Unkraut die erste Saat, so war in den vom Schmerz geackerten Herzem doch der erste Keim des Glaubens aufgegangen.
Die Arme gegen die Thäler streckend, erhob sich Eberwein. Sie waren ihm gewonnen, nun hatte er sie und wollte sie halten. Nun kam die Zeit, das Unkraut von der Saat zu scheiden, das junge Stämmlein mit Sorge zu pflegen und dem beschnittenen Wildling edle Reiser aufzusetzen. Ob es ihm wohl gelingen würde? Dieses eine wie alles andere, was er zum Wohl dieses Landes und seiner Menschen sann und plante? Eine Antwort konnte nur die Zeit ihm geben. Er atmete tief. „Die wir berufen sind, das Leben der Menschen auf guten Pfad zu lenken, wir können mehr nicht sein, als der Sämann ist auf kahlem Acker. Nur den Samen kann er streuen und geduldig auf die Ernte harren – es wachsen die Halme, wie es der dunklen Erde gefällt, es reifen die Früchte, wenn die Wolken es dulden.“
Der Ton einer Almenschelle traf sein Ohr, und als er aufblickte, sah er über eine grasige Kuppe bläulichen Rauch zum Himmel steigen. Dort oben mußte eine Hütte liegen, und er wollte unter ihrem Dach ein Stündlein friedlicher Einkehr halten. Als er die Höhe der Kuppe erreichte, öffnete sich ein flaches Almfeld, und auf wenige Schritte vor ihm erhob sich ein kleines vor Alter graues Blockhaus. Feuerschein leuchtete durch die Ritzen des Gebälks und aus der offenen Thür, auf deren Schwelle ein junges^Weib saß, einen Säugling auf den Armen wiegend. Die rote Herdflamme bestrahlte die nackte Schulter der kleinen zierlichen Gestalt, während das Sonnenlicht um ihren Schoß und ihre Füße spielte. Mit leisem Stimmlein und mit dem Ausdruck aller Zärtlichkeit summte sie ein Liedchen und hielt die Augen auf das runde Gesichtlein des Kindes gesenkt. Der stille Reiz dieses Bildes schlich sich mit traulicher Wärme in Eberweins Herz. „Gott grüße Dich, junge Mutter!“
Die Sennin blickte auf, und als sie den Mönch gewahrte, erschien sie wie von lähmendem Schreck befallen; sie wollte sich erheben und sank wieder zurück auf die Schwelle, zitternd an allen Gliedern, mit starren Augen und erblaßtem Gesicht, auf dessen Stirn sich eine Narbe zeigte wie ein feiner blutroter Strich. Da erkannte sie der Propst. „Hinzula!“ Er wollte sich nähern. „Weshalb erschrickst Du vor mir?“
Wie in namenloser Angst umklammerte die junge Mutter ihr Kind, und lautlos bewegten sich die bleichen Lippen. Das hastige Gebimmel einer Schelle tönte, dumpfes Stampfen näherte sich, und hinter der Hütte klang eine kräftige Männerstimme: „Wirst halten oder nicht! Wart’ nur, Du! Ich treib’ Dir noch die Wildheit aus Deinem dicken Schädel!“ Ein schwarzer Stier erschien, die Nüstern von weißem Schaum bedeckt, mit gestrecktem Schweif und schlagenden Füßen doch alle Wut des Tieres brach an der zähen eisernen Kraft des hünenhaften Sennen, der mit nackten sonnverbrannten Armen den Kopf des Stiers an den Hörnern gefaßt hielt und zu Boden drückte.
„Schweiker!“ fuhr es mit bebendem Schrei von den Lippen Eberweins, aus dessen Antlitz alles Blut gewichen war.
Als wäre ein Blitzstrahl auf ihn niedergefahren, so stand der Senn’ beim Klang dieser Stimme, die Fäuste ins Leere gestreckt, während der befreite Stier in tollen Sprüngen das Weite suchte. Mit fliegenden Schritten eilte Eberwein auf den Erstarrten zu und rüttelte seinen Arm. „Schweiker! Schweiker!“ Was er mehr noch sagen wollte, brachte er nicht über die Lippen, doch es stand auf seinem Gesicht geschrieben, in welchem fahle Blässe mit flammender Röte wechselte. „Schweiker! Schweiker!“
Der Hüne schlotterte an all seinen langen schwerfälligen Gliedern, auf der keuchenden Brust zitterten die Wellen des silberblonden Bartes, und wie ein zuckender Krampf hatte es seinen Nacken befallen. Er wollte sprechen und würgte nur heisere Laute hervor. Dicke Zähren kugelten ihm über die braunen Backen. Jetzt hing er mit starren Augen an dem Gesicht des Propstes, dann wieder suchte er mit hilflos irrendem Blick die Hütte, sein Weib und Kind. Und als wäre das herzergreifende Bild, das die junge Mutter in ihrem Schreck und Jammer bot, die einzige Verteidigung, die er dem schweigenden Vorwurf seines Herrn entgegenhalten könnte, so stöhnte er. „Schau’ sie an, Herr ... schau’ sie
[513][514] nur an! Ob Himmel oder Höll’ ... ich hab’ nimmer anders können!“ Schluchzend bedeckte er mit den Händen das Gesicht und stürzte auf die Knie. Eberwein stand in bebender Erregung; er blickte auf das stumme von Angst gelähmte Weib, dann wieder auf das ausgiebige Bröcklein Elend nieder, das vor seinen Füßen auf der Erde lag. Allmählich beschwichtigte sich der Sturm in seinen Zügen, und schwer atmend legte er die Hand auf die Schulter des Knienden. „Steh’ auf ... und folge mir! Was ich mit Dir zu sprechen habe, ist nicht für die Ohren Deines ...“ Die Stimme des Propstes stockte, „für die Ohren dieses armen Weibes.“ Er wandte sich ab und schritt einer Senkung des Almfeldes zu, aus welcher dunkle Fichtenwipfel hervorlugten.
Mühsam richtete Schweiker sich auf, als wären ihm alle Knochen zu Teig geworden. Schluchzend streckte er die Hände nach seinem Weib, doch als sich Hinzula erheben wollte, winkte er ihr zu, daß sie bleiben möchte, und eilte dem Mönche nach.
Immer höher stieg die Sonne, und immer stiller wurde in der Hütte das Geprassel des Feuers. Mit zitternden Armen den Säugling wiegend, saß das verstörte, blasse Weib auf der Thürschwelle. Eine Stunde verging, noch eine zweite. Langsam rann eine Thräne um die andere über Hinzulas zuckende Lippen, während ihre bangen Augen unverwandt an der Stelle hingen, an welcher Eberwein und Schweiker verschwunden waren. Mit jedem Herzschlag wuchs ihre Angst, und als die Sonne schon in Mittagshöhe stand und Schweiker noch immer nicht wiederkehren wollte, sprang Hinzula auf, und in verzweifelnder Sorge seinen Namen schreiend, stürzte sie den Bäumen zu. Als sie die Senkung erreichte, sah sie wenige Schritte vor sich den Propst auf einem Baumstumpf sitzen, an seiner Seite ihren Mann mit hängendem Kopf und schlaffen Armen. Eberwein hatte die Hände im Schoß der Kutte liegen und während aus der Tiefe herauf, vom Lokiwald, ein verschwommener Hall der Glocke tönte, blickten die Augen des Propstes in das ferne Thal der Ramsau. Durch die grüne Flucht der Wälder sah er einen breiten grauen Streif aus der Höhe niedergreifen in die Thäler: das von der Seeflut verwüstete Gehäng der Windach. Seufzend erhob er sich, trat auf Hinzula zu und blickte in das rosige Gesichtchen des Kindes. „Ist es ein Knabe?“
Sie konnte nicht sprechen, sie nickte nur und zog in mütterlicher Regung das hüllende Tüchlein nieder, damit er das breite Brüstlein und die runden Aermchen sähe. Da kehrte auch dem langen Gesellen das Leben wieder. „So sag’ ihm doch,“ stotterte er, „sag’ ihm doch, wie unser Büebli heißt!“
Scheu blickte Hinzula auf, als hätte sie kaum den Mut, ihres Kindes Namen auszusprechen. „Eberwinli!“
Mit furchtsamen Augen hing Schweiker an dem Gesicht des Propstes, um die Wirkung dieses Wortes zu erspähen. Doch Eberwein schüttelte mit leisem Lächeln den Kopf. „Der Name gefällt mir nicht! Den wirst Du wohl ändern müssen, Hinzula! Bringe mir den Knaben morgen zur Klause, damit ich ihn taufe. Er soll heißen wie jener, der für Euch gesprochen: Hiltischalk!“ Hastig wandte er sich ab, um seine Bewegung zu verbergen, und stieg der Tiefe zu. Er hatte schon den Wald erreicht, als er hinter sich ein Rennen und Keuchen hörte. Mit versagendem Atem holte Schweiker ihn ein und stammelte: „Schau’, Herr, schau’, ich thu’ Dich bitten aus Herzensgrund ... sag’ mir doch auch ein Wörtl, daß Du mir nimmer zürnen willst!“
Eberwein zeigte ein strenges Gesicht. „Ich kann Dir ein solches Wort nicht sagen, denn ich zürne Dir. Aber was bleibt mir übrig! Du hast ja flink dafür gesorgt, daß ich das Geschehene nicht mehr zu ändern vermag! Willst Du, daß ich vergessen soll ... vergeben darf ich nicht ... so füge Dich meiner Strafe. Ich will nicht, daß Dein übles Beispiel mir die Brüder stutzig mache und daß im Gadem die Leute sagen: es muß ein hartes Weilen im Kloster sein, wenn die Mönche entlaufen und sich an Weiber hängen. So wirst Du einem jeden, der Dich nach Deiner Herkunft fragt, die Antwort geben: man hat mich aus dem Kloster gejagt, weil ich im Schreck jener Unglücksstunde meiner Pflicht vergaß!“ Schweiker stand, ein Bild der tiefsten Zerknirschung. „Und ich muß helfen zu dieser Ausflucht!“ Eberwein seufzte. „Wenn ich Dich nicht verderben will, muß mein erstes Werk nach der Rückkehr in mein Land eine Lüge sein!“
Scheu hob Schweiker die Augen und stotterte. „Eine Lüg’ ...“ er strich mit der plumpen schwieligen Hand über sein Haar, „aber schau’, Herr ... eine gute Lüg’!“
„So?“ Mühsam unterdrückte der Propst ein Lächeln. „Du bist mit dem Trost gar flink bei der Hand, nur Dein Gewissen hat langsame Füße! Schweig’! Ich will kein Wort mehr hören. Geh’ heim zu Deinem Weib, und damit die schlaflosen Nächte ein Ende haben, von denen Du geplagt wirst, will ich in anderer Stunde wiederkommen und will Euch segnen in aller Stille. Ein Senn’ muß schlafen können ... sein Tag ist harte Arbeit!“
„Herr ...“ schluchzte Schweiker in Thränen.
„Schweigen sollst Du, und rühre nicht an mein Kleid! Willst Du danken, so laß die Untreu’, die Du an Deinem Gelübd’ und an mir begangen, die erste und letzte Deines Lebens sein!“ Eberwein wandte sich ab und folgte mit raschen Schritten einem Pfad, der sich in dichtem Wald verlor. Hinter ihm war lautlose Stille. Nach einer Weile aber hörte er von der Almhöhe einen gellenden Jauchzer, der an den Wänden des Göhl ein lautes Echo weckte. Lauschend blieb Eberwein stehen. „Er zehret von seinem Himmelsbrot!“
Zwei Stunden später erreichte der Propst die Schönau. Als er sich dem Hag des Richtmanns näherte, sah er den Bruder, welcher seiner schon wartete, am Wegrand auf einem Steinblock sitzen. Eine seltsame Erregung belebte die Augen Sigenots und seine bleichen Züge.
„Warum unter freiem Himmel? Weshalb nicht unter Deiner Schwester Dach?“
„Herr! Sell drinnen ist heut’ kein Platz für mich. Die Leut’ laufen umeinander in Freud’ und Sorg’ – das Rötli will Mutter werden!“
Eberwein lächelte fröhlich. „Das Leben rührt sich in meinem Land!“ An Sigenots Seite ließ er sich nieder, nahm die Ledertasche vom Gürtel und reichte sie dem Bruder. Neben reichlicher Zehrung für weite Reise enthielt sie den Brief, welchen Eberwein in der Nacht geschrieben. „Es ist ernste Pflicht, die ich Dir auferlege mit diesem Botengang, und ich habe Dich gewählt für diesen Weg, da ich bauen kann auf Deine Treu’!“
„Sag’, Herr, wohin die Botschaft?“
„In die Hand des Kaisers, dessen Schutz ich angerufen für mein Kloster und Land!“
Sigenot erschrak, daß ihm die Worte versagten. Schweigend hörte er alle die Ratschläge, welche ihm der Propst für die Reise gab.
„Aber Herr,“ stammelte er endlich, „wie soll ich Eingang finden in des Kaisers Haus? Ich? Ein schlichter Mann!“
„Fühle Dich, Sigenot! Du trägst das Kleid der Kirche, und jedes Herrn Thüre steht offen vor Deinem Fuß.“ Eberwein bemerkte die Röte, welche die Züge des Bruders färbte. „Und ich sende gerade Dich, damit der Kaiser sehen mag, daß mein Kloster nicht nur Mönche hat, auch Männer, deren Treue von Wert ist!“
Sigenot erhob sich; fester umschloß er den Stab, und langsam streckte sich seine gebrochene Gestalt, als wäre ein Funke der alten Kraft in ihr erwacht. „So laß mich ziehen in der jetzigen Stund’!“
„Ja, Sigenot!“ Eberwein faßte die Hand des Bruders und hielt sie mit langem Druck in der seinen, während sie Aug’ in Auge standen zu schweigendem Abschied.
Aus dem offenen Hagthor kam Ruedlieb hervorgelaufen, mit brennrotem Gesicht und nassen Augen. Lachend eilte er auf die beiden Mönche zu und vergaß in seiner Freude, den Propst zu grüßen. „Habt Ihr die Hulfrau nicht gesehen? Grad’ ist sie in meinem Haus gewesen ... den ganzen Buckel voll Kinder!“
„Ein Bub’, Liebli?“ stammelte Sigenot.
„Wohl wohl, ein Bub’! Und ein Dirnlein auch dazu!“ prahlte der junge Bauer mit strahlendem Gesicht. „Und das wird wohl gut sein! Der Gadem braucht wieder Leut’! Aber komm nur, komm, die Schwester verlangt nach Dir ... ihr erstes Wort ist gewesen: gelt, Liebli, Sigenot heißt mein Bub’ und Recka mein Dirnlein?“ Er rannte dem Hagthor zu, und mit eiligen Schritten folgte ihm Sigenot.
Lächelnd blickte Eberwein dem Bruder nach. „Nimm diese Freude als Zehrung auf Deinen Weg und wandere! Du wirst mir wiederkehren ... im Herzen wohl die unheilbare Wunde, denn Deine Treue hat eisernen Halt, aber stark und genesen an Geist und Körper! Es soll aus Dir noch ein Priester werden, an dem die Liebe Gottes ihre Freude hat!“ Mit hellen Augen blickte er rings umher ... aber da glitt schon wieder ein Schatten über sein Antlitz. In der Ferne, über den grauen Trümmerhügeln und dem zerstörten Bergwald, sah er den Falkenstein mit seinen verödeten Mauern. In den langen Arbeitswochen, die jenem Unglückstage [515] gefolgt waren, hatte er alle Stätten der Verwüstung besucht – nur diese eine hatte er gemieden. Jetzt zog es ihn zu ihr.
Als er emporstieg zwischen den wirr liegenden Trümmern und gebrochenen Bäumen, führte ihn kein Pfad; der Reitweg war verschüttet und kein neuer Pfad gebahnt, denn die verrufene Stätte war gemieden von allen Leuten. Ein beklemmendes Gefühl erfaßte ihn beim Anblick des offenen Thors. Die Fallbrücke überspannte den Graben, doch ihre Bohlen waren schon brüchig und von gelblichen Schwämmen bedeckt. Im weiten öden Hof waren nur an der Ringmauer noch spärliche Reste der Ställe zu erkennen, während der steinerne Unterstock des Hauses unter einem wüsten Haufen von Asche und verkohlten Balkenstücken begraben lag. Ueberall wucherte ein großblätteriges Unkraut mit langgestielten Blüten, und an der Mauer rankte sich schon der die Steine durchbrechende Epheu empor. Einzelne Bäume des Hofes standen noch, die Stämme behangen mit den gebleichten Wildschädeln und morschen Geweihen; doch die Aeste waren kahl, nur wenige Büschel dürren Laubes trugen sie noch – die Hitze des Feuers hatte ihr Leben getötet. Aber an manchen Stellen des grauen Bodens, wo das Unkraut spärlicher stand, erblickte Eberwein kleine lichtgrüne Blättchen: die jungen Sprößlinge des Buchensamens, den die Herbststürme ausgestreut. Hundert Jahre und auf der Stätte, welche Wazemanns Haus getragen, grünte ein hochstämmiger Wald mit dichten Kronen!
Erfüllt von wirbelnden Gedanken und wechselnden Empfindungen schritt Eberwein mit zögerndem Fuß um die Ränder des Aschenhügels, der das Haus gewesen. Unter seinen Tritten stäubte der Schutt, und als er zu der Stelle kam, an welcher sich unter der grauen Decke noch die Stufen der Freitreppe erraten ließen, schürfte sein Fuß aus der Asche einen kleinen gebogenen Gegenstand hervor. War es der Beingriff eines Schildes oder der Henkel eines hölzernen Kruges? Eberwein bückte sich, streckte die Hand – und erschrak, daß ihm alle Farbe aus dem Antlitz wich. Auf das Rätsel starrend, das er aus dem Staub gehoben, griff er mit der anderen Hand an seine Brust und tastete zitternd, ob die ihm heilige Reliquie seiner Kindheit noch an dem Schnürlein hinge, ob er sie nicht verloren hätte, jetzt, bei diesem letzten Schritt. Und als er sie fühlte, riß und zerrte er, bis das Bein sich löste. Nun hielt er das eine Stück in der rechten, das andere in der linken Hand, und seine verstörten Blicke glitten ratlos hin und wider. Die beiden Stücke glichen sich wie die Hälften eines entzweigesprungenen Reifes – und dennoch nicht! Die eine Hälfte, die er an der Brust getragen, war festes Bein, nur braun vor Alter, mit Runenzeichen auf der Innenseite – die andere war morsch und grau, zernagt vom Moder, daß auf der Innenseite kaum die Spur eines Zeichens sich erkennen ließ. Mit bebenden Händen fügte er Stück an Stück. Sie paßten zueinander wie die Teile eines Ganzen und dennoch nicht! Die eine Hälfte zeigte am festen Bein den scharf gesplitterten Bruch – die andere war an den Stellen des Bruches rundgefressen von der Fäulnis. Schwer atmend schüttelte Eberwein den Kopf und wollte schon das graue Rätsel zurück in die Asche werfen. Doch wieder hingen seine Blicke an dem morschen Bein, wieder fügte er die beiden Stücke aneinander! Waren sie die Hälften eines Ganzen … wie wurden sie getrennt? Wie kam die eine auf die Romstraße im Garmischgau, die andere in hundertstündiger Ferne hierher unter die Asche von Wazemanns Haus? Und als sie noch ein Ganzes waren ... wem gehörte der beinerne Reif? Wer trug ihn am warmen lebenden Arm?
Ein heißer Schauer rann dem Fragenden durch Herz und Glieder. Er deckte mit dem Arm die Augen und taumelte rückwärts, als wollte er den in das Dunkel dieses Rätsels spähenden Blick ersticken und allem entrinnen, was seine Seele bestürmte. „Soll der alte Kampf in mir von neuem beginnen, die alte Qual, die alte ziellose Sehnsucht … nur weil ein unbegreiflicher Zufall meine Sinne schreckte?“ Er ließ den Arm wieder sinken und blickte hinaus über das weite Thal. „Bin ich in diesem Augenblick denn besser als jene, welche ‚Wunder! Wunder!‘ schreien, wenn ein Bär den Honig leckt, der Sturm die Menschen von der Erde hebt und ein Stein seine unberechenbaren Sprünge macht?“ Er lächelte, und eine Blutwelle stieg ihm warm aus dem Herzen, als er im leuchtenden Schein des Abends auf allen Pfaden der Schönau, gleich winzigen Figürchen, die Menschen eilen sah, die es nach vollbrachtem Tagewerk zur Klause trieb, zu ihrem „guten Herrn“. „Ich sehe sie – und suche noch nach Haus und Heimat, nach meinen Brüdern und Schwestern! Hab’ ich sie denn nicht längst gefunden, Hunderte an der Zahl? Hängt nicht an ihnen meine ganze Liebe und ihre Liebe an mir? Und ich stehe noch …!“
Er eilte der Mauer zu, und aus beiden Händen schleuderte er die Hälften des Ringes hinunter in die Tiefe. Er sah sie fallen, immer schneller und schneller, jetzt erreichten sie den blanken Spiegel des Wassers, zwei weiße Garben sprühten auf, zwei Wellenkreise schwammen ineinander zu einem einzigen sacht zerfließenden Ring – und wieder glatt und schimmernd lag der See mit seinen grünen Fluten.
Blätter und Blüten.
Vom „Deutschen Journalisten- und Schriftstellertag“ zu Hamburg. (Zu dem Bilde S. 513.) Der dritte Deutsche Journalisten- und Schriftstellertag, der vom 29. Juni bis 3. Juli in Hamburg stattfand, gestaltete sich für diese Stadt zu einem besonderen Freuden- und Ehrenfest, an dem die ganze Bürgerschaft teilnahm und das die Aufmerksamkeit aller verdient, die vor zwei Jahren das von der Cholera so schwer heimgesuchte Hamburg bemitleidet haben. Welches Kleinod das Deutsche Reich in der Freien und Hansastadt Hamburg besitzt, das hat gewiß auch durch die furchtbare Choleraepidemie und ihre traurigen Folgen für Hamburgs Handel und Wohlstand nicht im Bewußtsein der Nation verdunkelt werden können. Aber für viele hatte sich doch um die Erinnerung an ihre Pracht und Herrlichkeit ein schwarzer Flor gelegt. Es war hohe Zeit, einmal vor den Äugen der weitesten Öffentlichkeit den Ruf unserer ersten Handelsstadt von diesem Schatten zu befreien. Hat doch der echt hanseatische Gemeingeist es inzwischen mit nicht genug zu bewundernder Thatkraft verstanden, alle Spuren jener Schreckensherrschaft zu beseitigen und sich mit einer mächtigen Schutzwehr gegen erneute Ueberfälle des tückischen Feindes zu umgeben. Da war es ein glückliches Zusammentreffen, daß sich dies Bedürfnis, das Geleistete auch von fremden Augen prüfen zu lassen, mit dem Wunsche der deutschen Journalisten und Schriftsteller begegnete, ihre Jahresversammlung in diesem Sommer in Hamburg abzuhalten.
So wurden dieselben Mahner und Warner, die vor zwei Jahren sich genötigt sahen, selbst auf die Gefahr einer zeitweiligen Schädigung von Hamburgs Wohlstand hin die Presse zum Organ einer ernsten Untersuchung von Hamburgs Gesundheitsverhältnissen zu machen, zu Zeugen dafür, was hier inzwischen für die sanitäre Hebung geschehen ist. Und das Ergebnis dieser Prüfung war ungeteilte Anerkennung, ja Bewunderung. Gleich am ersten Tag, in dessen geschäftlichem Teil die Begründung eines allgemeinen Verbands der deutschen journalistischen und schriftstellerischen Vereinigungen beschlossen wurde, standen nachmittags an der Landungsbrücke St. Pauli festlich geschmückte Dampfer für eine Elbfahrt bereit, auf welcher die großartigen Häfen und Quaianlagen besichtigt und von denen aus eine Inspektion des großen in Nr. 51 des vorigen Jahrgangs der „Gartenlaube“ geschilderten Sandfiltrationswerks unter Führung seines Urhebers, des Oberingenieurs F. A. Meyer, vorgenommen wurde. Am nächsten Tage folgten in kleineren Gruppen Einfahrten in das unterirdische Sielsystem, die Abflußkanäle der Riesenstadt, Besuche des neuen Krankenhauses, des aus einem Krankenunterkunftshause entstandenen Logierhauses „Konkordia“ etc., daneben natürlich auch solcher Sehenswürdigkeiten, die Hamburgs unerschütterliche Größe als Hafen- und Handelsstadt veranschaulichen.
Wie aber schon am ersten Tag an die Besichtigungsfahrt auf der Elbe sich eine Lustfahrt nach Blankenese gereiht hatte, so bot auch der zweite Tag den Teilnehmern zum Abschluß eine festliche Wasserfahrt, welche der Schönheit Hamburgs gewidmet war. Nicht nur, wer unter den Gästen zum erstenmal in Hamburg weilte und auf diese Weise mit der malerischen Stimmungswelt des Alsterbassins und der Außenalster bekannt wurde – alle, die in einer der buntbewimpelten, lampiongeschmückten Schuten, von schnellem Dampfer gezogen, umtönt von Jubelzuruf und fröhlicher Marschmusik, unter der Lombardsbrücke hinweg nach den Anlagen von Uhlenhorst und den Villengärten von Harvestehude entlang fuhren, um schließlich mit den anderen fröhlichen Festteilnehmern an der Alsterlust zu landen, erhielten dabei Eindrücke von geradezu hinreißender und ganz einziger Wirkung. Und als dann das große Feuerwerk emporprasselte, in immer neuer Farbenabwechslung riesige Funkenregen gen Himmel sprühend, da erschien dies wie ein sinnbildlicher Vorgang dafür, daß unser Hamburg sein Trauergewand nun endgültig ablegen und das wieder stolz erhobene Haupt mit dem Strahlendiadem wohlverdienten Ruhms schmücken darf.
Auf mehreren Ausflügen wurde den Kongreßteilnehmern auch noch Gelegenheit, sich das Bild vonu Hamburgs Größe und Ruhm durch geschichtlichen Rück- und Ausblick zu ergänzen. Die Blüte Hamburgs wurzelt in der Geschichte der Hansa, ein kunstverklärtes Abbild von deren Blütezeit bietet Lübeck. Auch hier hat man die Männer von der Feder gastlich und festlich aufgenommen. Eine Hüldigungsfahrt nach Friedrichsruh führte sie vorher zu dem Staatsmann, dessen kraftvolle Politik an dem Aufschwung des heutigen Hamburg den stärksten Anteil hat. Und am Bord des Riesenschnelldampfers „Columbia“, den die Hamburg-Amerikanische Paketfahrtgesellschaft zur Fahrt nach Helgoland zur Verfügung stellte, ging ihnen die ganze Großartigkeit des heutigen Stands der deutschen Seeschiffahrt auf.
[516] „O lieb’, so lang du lieben kannst.“ Die anmutige Freiligratherinnerung, welche Friedrich Fischbach in Nr. 2 dieses Jahrgangs den Lesern der „Gartenlaube“ mitteilte, hat in weiten Kreisen freundliche Beachtung gefunden, wie wir aus mannigfachen Zuschriften entnehmen. Unter anderen hatte die in England lebende Tochter Freiligraths die Güte, uns auf einige Ergänzungen aufmerksam zu machen, welche auf das Erlebnis von Ludwig Elbers ein neues Licht werfen. Elbers war nämlich nicht der einzige, an dem Freiligrath die versöhnende Kraft jenes ergreifenden Liedes erprobte, und der erste, später umgestaltete Entwurf desselben reicht in viel frühere Zeiten zurück, in das Jahr 1829, da Freiligraths Vater starb, da der neunzehnjährige Sohn mit blutendem Herzen an dem Grabe dessen stand, der ihm „längst vergeben“:
„Er aber sieht und hört dich nicht,
Kommt nicht, daß du ihn froh umfängst;
Der Mund, der oft dich küßte, spricht
Nie wieder: ich vergab dir längst!“
In der Barmer Zeit scheint das Lied dagegen die Form erhalten zu haben, in der es uns heute vorliegt und in der es zuerst 1849 in der bei Cotta erschienenen Sammlung „Zwischen den Garben“ gedruckt wurde.
Auf einen Vorfall, der viel Aehnlichkeit mit dem von Friedrich Fischbach erzählten hat, spielt ein Brief Freiligraths an seinen Freund Heinrich Köster an; auch hier leistet er in überströmender Reue Abbitte für einen Schmerz, den er dem Freunde „hingerissen vom Wein und einer mir noch zu dieser Stunde unerklärlichen momentanen Melancholie“ angethan. „Fluch meiner Heftigkeit und meinen augenblicklichen düsteren galligen Stimmungen! Wie oft habe ich nicht schon auf ähnliche Weise verletzt, und wie oft, leider! hab’ ich nie wieder gut machen können, was ich so verbrochen. Du erinnerst Dich, daß ich Dir zu Köln in jener schönen Morgenstunde von einem Liede erzählte, das ich bei einer solchen Gelegenheit gemacht. Es ist mir gelungen, es zum Teil wieder aus dem Gedächtnisse heraufzurufen, und ich lasse es folgen, soweit ich’s weiß:
O liebe, da Du lieben kannst!
O liebe, da du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo Du an Gräbern stehst und klagst!
u. s. w.
Schreib’ mir bald einmal, lieber Kerl! Laß mich bald schwarz auf weiß sehen, daß Du der aufrichtigen Reue ein unseliges Aufbrausen nicht mit der Kleinlichkeit nachträgst, die nur das Erbteil des Philisters zu sein pflegt. Sei mir gut und bleib’ mir gut und sei überzeugt, daß ich Dich seit vorgestern abend womöglich noch lieber habe als vorher. Deine Thränen haben mir vielleicht tiefer ins Herz geschnitten als Dir meine Worte.“
Dieser Brief ist vom 22. August 1838. Aber schon sehr bald nachher, in den ersten Septembertagen, riefen des Dichters „düstere gallige Stimmungen“ eine ähnliche Scene hervor. Diesmal war Heinrich Zulauff der Gekränkte. Die Freunde hatten in größerer Gesellschaft einen Ausflug nach Hohensyburg gemacht; abends im Ballsaale zu Limburg muß es Freiligrath außerordentlich wohl gefallen haben und er wollte nichts vom Nachhausefahren hören. Endlich gelang es Zulauff mit Mühe und Not, den Freund loszureißen, trotz der bösen Gesichter der Damen, die sich, meist junge Mädchen, klettengleich an den Dichter hingen und ihn nicht fortlassen wollten. Freiligrath stieg ärgerlichen Mutes in den Wagen und gab Zulauff auf ein scherzendes Wort eine barsche Antwort. Daraufhin ging dieser am nächsten Sonntag Morgen nicht wie gewöhnlich zu Freiligrath, sondern am Hause vorbei. Der Dichter lag im Schlafrock oben am Fenster und rief aus Leibeskräften Zulauffs Namen. Als dieser nunmehr, rasch begütigt, bei ihm eintrat, kam ihm Freiligrath entgegen mit einer Abschrift seines „O lieb’, so lang du lieben kannst“, und aller Hader war vergessen.
So sehen wir, wie dieses Mahnlied der Liebe in Freiligraths Händen zum Balsam für die Wunden ward, die er selbst unter dem Einfluß seines heißen Temperaments geschlagen, und mehr als einmal hat es seine herzbezwingende Kraft erprobt.
In der Sommerfrische. Ein idyllisches Sommerheim, das alte Schlößchen am Strom, das sich der Onkel samt dem zugehörigen Grund und Boden erworben hat, um dort seine Gärtnerei in großem Stile zu betreiben! Seine junge Nichte ist ihm von Herzen dankbar, daß sie alljährlich die heißen Monate draußen verleben darf, inmitten hlühender duftender Blumenbeete und schattenspendender Baumgruppen, umhaucht von dem kühlen Odem des Wassers. Und ob es nicht noch etwas anderes ist, was sie hinauszieht nach dem behaglichen Gartenschlößchen? Der junge Vetter, der seinem Vater bereits in allen Zweigen der Gärtnerei hilfreich zur Seite steht, ist gar ein guter treuherziger Gesell, mit dem sich so gemütlich plaudern läßt und der, trotz des rauhen Arbeitsgewandes, das er trägt, der hübschen Base die zarteste Aufmerksamkeit entgegenbringt. Ja, ja! Für ihn ist der Hochsommer eine Zeit harter Arbeit von früh bis spät, aber doch freut auch er sich immer wieder auf die Tage der „Sommerfrische“.
Bestattungsfeier im alten Rom. (Zu dem Bilde S. 505.) Ungefähr um dieselbe Zeit, als es mit der republikanischen Verfassung im alten Rom zu Ende ging und die Monarchie sich vorbereitete, im ersten Jahrhundert vor Christi Geburt, kam auch die Sitte der Leichenverbrennung an Stelle des Erdbegräbnisses zu allgemeinerem Durchbruch. Unter mannigfachen Feierlichkeiten trug man die Verstorbenen wie früher zum Begräbnisplatze, so jetzt zu der Stätte des Scheiterhaufens hinaus, und wenn die letzte Glut gelöscht war, so sammelte man die Reste sorgsam in einer Urne. Zur dauernden Aufbewahrungsstätte dieser Urnen bauten die Reichen und Mächtigen Roms eigene Gewölbe für sich und ihre Angehörigen bis hinab zu den Freigelassenen und Sklaven. Wer aber hierzu die Mittel nicht besaß, der konnte sich schon bei Lebzeiten ein Plätzchen sichern in einem öffentlichen Urnengewölbe. Die vielen Hunderte von Nischen zur Aufnahme der Aschengefäße, die sich an den Wänden der unterirdischen Hallen befanden, gaben diesen eine seltsame Aehnlichkeit mit Taubenschlägen, weshalb sie der Römer „Kolumbarien“ (columba = die Taube) nannte. Als klassisches Beispiel dieser Einrichtung ist heute noch das 1726 aufgefundene Kolumbarium für die Freigelassenen der Kaiserin Livia, der Gemahlin des Augustus, an der Appischen Straße zu sehen.
In ein solches „Kolumbarium“ führt uns das Bild von H. Leroux. Der letzte Akt der Bestattung ist herangekommen; eine der Anverwandten hat unter den klagenden Tönen der Flötenbläser die Urne mit der Asche der Toten zu der Nische gebracht – ein letztes Schluchzen, ein letztes Hinsinken in heißem Schmerz, und der stille Zug steigt wieder hinauf zum Sonnenlichte, die Flöten verstummen, die Fackeln verlöschen, das Leben tritt wieder ein in seine Rechte. Eine Inschrifttafel an der Nische aber übermittelt den Namen der Verstorbenen den nachlebenden Geschlechtern zu treuem Gedächtnis.
Inhalt: Die Brüder. Roman von Klaus Zehren (3. Fortsetzung). S. 501. – Bestattungsfeier im alten Rom. Bild. S. 505. – Im siebenbürgischen Erzgebirge. Von A. Amlacher. S. 506. Mit Abbildungen S. 501, 506, 507, 508 und 509. – „Reitende Vögel.“ Von Dr. Karl Ruß. S. 510. – Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (Schluß). S. 510. – Vom „Deutschen Jonrnalisten- und Schriftstellertag“ zu Hamburg: Das Nachtfest auf der Alster am 30. Juni 1894. Bild. S. 513. – Blätter und Blüten: Vom „Deutschen Journalisten-und Schriftstellertag“ zu Hamburg. S. 515. (Zu dem Bilde S. 513.) – „O lieb’, so lang du lieben kannst.“ S. 516. – In der Sommerfrische. Mit Abbildung. S. 516. – Bestattungsfeier im alten Rom. S. 516. (Zu dem Bilde S. 505.)