Die Gartenlaube (1894)/Heft 47
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Nr. 47. | 1894. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Um fremde Schuld.
Gleich nach Tische kam der „Junge“, und die Base konnte doch nicht anders, als stolz zu ihm aufsehen und ihm zunicken. „Ein schmucker Kerl bist geworden, Robert,“ sagte sie bewundernd.
Er war früh in der Kirche gewesen und hatte uns vermißt.
„Die Anneliese hat die Zeit verschlafen“ entschuldigte die Base. „Sie ist das lange Aufbleiben nicht gewöhnt; wir haben eine Predigt für uns gelesen.“
„Ich war nach der Kirche beim Pfarrer und in der Schule. ’s ist noch ebenso wie früher und doch alles anders, Base. Und dann bin ich am Mühlbach entlang gewandert und habe mit einem Mühlknappen Bekanntschaft geschlossen. Da sind ja bedeutende Neuerungen gemacht, Hochmüllerei, Porzellan-Walzenstühle und eine recht stattliche Handelsmüllerei; das Mehl gehe bis nach dem Posenschen hinunter, sagt er. Uebrigens,“ fuhr er fort, „ist heute ein Tag, daß man mit vollen Zügen atmen muß, so recht zum Spazierengehen geschaffen. Wie ist’s, Base?“
„Ach, Robert, mit meinen alten Beinen! Du würdest bald ungeduldig werden. Aber Anneliese – gelt, Fräulein Anneliese, Ihnen macht’s Spaß?“ wendete sie sich an mich.
Er sah mich fragend an; er saß am Fenster und die Sonne schien über seinen braunen Krauskopf, und unter dem Schnurrbart blitzten seine Zähne beim Lächeln. „Sie sind ja gut zu Fuß, Fräulein von Sternberg – aber macht’s Ihnen auch Vergnügen, mit solch fremdem Menschen die Waldwege abzukleppern? Der Schnee ist tief, und bis zum Futterhäuschen im Heimbachgrund ist’s eine gute Stunde.“
„Ich fürchte mich nicht vor Schnee und weiten Wegen,“ sagte ich, „und freue mich, neue Spaziergänge kennenzulernen.“ Damit verließ ich das Zimmer, um mich für den weiten Weg anzuziehen.
So gingen wir diesen Tag zusammen und den nächsten und den darauf folgenden und erst in der Dämmerung kehrten wir jedesmal heim. Die Base ließ uns ruhig miteinander hinauswandern, die gute Seele hatte keine Ahnung, was die Welt von einer Ehrendame verlangt; sie redete eifrig zu, die schönen Stunden zu Ausflügen zu benutzen. Sie saß derweil am Fenster und las oder spann und erwartete uns mit heißem Thee und freundlichen Worten. Dann blieb Robert zum Abendessen, wozu die Base ihn einlud, und wir spielten „Dame“ oder ein einfaches Kartenspiel mit der alten Frau, um Nüsse wie die Kinder.
Alle seine Lieblingswege lernte ich kennen, und während wir so dahinschritten, erzählte er von Chicago, von dem großen Unternehmen, das sein Vater gegründet hatte und das jetzt in den Händen eines vorzüglichen Geschäftsführers gut genug aufgehoben sei, so daß er selbst ohne Sorge fern bleiben könne. Einmal auch waren wir übermütig wie Jungen und bewarfen uns über und über mit Schneebällen, und ein andermal saß ich wie ein Kind im Handschlitten und ließ mich von ihm spazierenfahren. Nicht einen Augenblick hatte ich das Gefühl, daß ich etwas thue, was gesellschaftlich für unmöglich gilt. Es war mir, als ginge ich an der Seite eines Bruders oder Vetters, neben jemand dem man vertraut gleich sich selber.
Die Base schaute wie fragend in unsere lachenden
[790] Augen, wenn wir zurückkamen und wenn wir unbefangen weiter plauderten und uns neckten, dann seufzte sie.
Der Tag vor Sylvester war gekommen, am erstem Januar mußte Robert Nordmann wieder abreisen. Da machten wir uns noch einmal, zum letztenmal, auf den Weg, etwas stiller als sonst, denn die Base hatte geweint. Sie begleitete uns die Treppe hinunter und sah uns vom Hofthor aus nach, bis wir im Wald verschwanden. Sie hatte die Hand über die Augen gelegt, so blendend war der Schnee.
„Nun sitzt sie wieder da und macht sich Sorgen,“ sagte ich zu meinem Begleiter, der nachdenklich neben mir schritt.
„Die braucht sie sich leider nicht erst zu machen, Fräulein von Sternberg,“ antwortete er, „die sind schon vorhanden, aber ich kann sie ihr nicht abnehmen. Ich möchte alles thun für die gute alte Frau, aber das, was sie verlangt, darf ich nicht thun. Denken Sie nur, gestern abend, nachdem ich fortgegangen war, haben ihre alten ungelenken Finger an mich geschrieben und heute in aller Morgenfrühe brachte Hübners Gymnasiast das Schriftstück. Ich habe bis jetzt noch nichts Schriftliches von der Base in Händen gehabt, und ich hätte lächeln mögen, wenn mir’s nicht so – so herzbrechend wahr und klar wäre, was sie alles schreibt. Uebrigens, Fräulein Anneliese, Sie haben’s ihr angethan, ihr drittes Wort ist: mein armes Annelieseken!“
„Was habe ich zu thun damit?“ fragte ich rasch.
Er sah mich an. „Eigentlich nichts, und doch –“
„Aber wieso denn?“
„Nehmen Sie sich in acht, da kommt ein Graben – hopsa!“ rief er und stützte mich. „Der Schnee macht alles Ungleiche gleich, Fräulein Anneliese,“ fuhr er fort, „kommen Sie näher an meine Seite – so – und geheu Sie etwas laugsamer, bitte! Es ist so schön unter diesen Weihnachtsbäumen, die der Herrgott selber aufgeputzt hat. Sehen Sie, wie die Tannenzapfen vom Rauhreif blitzen, just wie wenn sie oben in der Lausche aus Glas gesponnen wären und was hat der Schnee für wunderbar blaue Farbentöne im Schatten!“
„Was hab’ ich mit den Sorgen zu thun, die sich die Base um Ihretwillen macht?“ fragte ich hartnäckig.
„O, Sie vergessen – Sie gehören jetzt zur Familie, weiter nichts,“ scherzte er.
„Ich gehöre nicht zur Familie Wollmeyer,“ rief ich ärgerlich. „Und das ist’s auch nicht – Sie wollen mir ausweichen.“
„Sie gehören doch zur Familie Wollmeyer,“ sagte er plötzlich sehr ernst, „und eines Tages werden Sie mich nicht mehr leiden mögen und wenn ich Sie fragen würde: gehen Sie mit in den Wald spazieren? so würden Sie mir den Rücken kehren – kehren müssen, denn ich werde Ihnen erscheinen wie ein Kirchenschänder –“
„So ein Unsinn!“ rief ich und warf ihm eine Handvoll Schnee am Gesicht vorüber, „jetzt will ich nichts mehr davon hören.“
„Aber nicht wahr,“ fragte er, ohne meine Neckerei zu bemerken, „man kann auch seine Feinde achten und verstehen, Fräulein von Sternberg, nicht wahr?“
„Gewiß – aber nicht lieben,“ sagte ich unbedacht, und Herr Wollmeyer stand vor meinen Augen, der achtungswerteste Bürger Westenbergs, wie die Komtesse ihn einst genannt hatte, und nach meiner Ueberzeugung mein bitterster Feind. „Es ist sehr schwer, was Christus für unsere Feinde verlangt, die Liebe; ob viele Menschenherzen es vermögen, ihre Feinde zu lieben?“
„Nicht lieben – das wäre das Beste in diesem Falle – das Beste!“ sagte er leise, „oder ein großes Kämpfen würde beginnen, ein Kämpfen, dem man kaum gewachsen ist.“ Und als ob er sich herausreißen wollte aus diesen Gedanken, fing er an zu pfeifen, einen Marsch oder irgend etwas Lustiges, und dann sprach er von gleichgültigen Dingen.
Ich aber wußte plötzlich, was er meinte, und als wir in der Nähe des Futterplatzes standen und heimlich ein paar Rehe beobachteten, die zierlich das Heu aus der Raufe nahmen, sagte ich unvermittelt: „Einen Fall weiß ich, der Sie mir als meinen Feind erscheinen ließe, selbst wenn ich Sie verstände und achtete.“
Er sah mich groß und fragend an.
„Wenn Sie etwas thäten, das dazu beitrüge, meine Mutter noch unglücklicher zu machen als sie schon ist!“
„Sie ist unglücklich?“ klang es leise zurück.
„Ich glaube, sie muß es sein – Sie wissen es so gut wie ich, daß sie es sein muß.“
Er sah wieber zu den Rehen hinüber. „Ich möchte Ihrer Mutter die Hände unter die Füße breiten“ sagte er.
Ich zitterte vor Angst und Aufregung. „Erzähleu Sie mir doch alles,“ bat ich. „Daß Ihnen Unrecht geschehen von dem Wollmeyer, dem Manne meiner Mutter, das hat mir die Base anvertraut, das weiß ich –, aber –“
„Heute nicht, ach, heute nicht!“ unterbrach er mich. „Lassen Sie mir doch diese paar Tage voll Frieden, bitte, bitte! Wenn Sie wüßten – seit dem Weihnachtsabend – was ich seit dem Weihnachtsabend durchgekämpft habe, Sie fragten mich nicht.“
Er ging hastig einige Schritte vorwärts und kam dann ebenso hastig zurück; sein hübsches frisches Gesicht hatte einen so vergrämten qualvollen Zug, daß es völlig verändert schien. Ich stand am Stamm einer Buche; er hatte mit einer Gerte, die er unterwegs abgeschnitten, den Schnee von einem Baumstumpf entfernt, nun setzte er sich darauf und stützte den Kopf in die Hand.
„Seien Sie versichert, daß Sie kein vorschnelles liebloses Urteil zu erwarten haben. Sagen Sie es mir!“ bat ich wieder. „Sie können sich nicht denken, wie ich unter der Unkenntnis aller dieser Verhältnisse leide; Sie wissen nicht, in welch peinlicher Lage ich mich überhaupt befinde. Sie kann durch Ihr Hinzukommen kaum schwerer werden und wenn auch – mir ist die schlimmste Gewißheit lieber als dieses Ahnen, Fürchten.“ Ich war dicht vor ihn getreten. .„Bitte!“ wiederholte ich noch einmal.
„Es kann nicht schwerer werden, sagen Sie – vielleicht für Sie nicht, für mich aber hat Ihr Hinzukommen so viel erschwert –“
„Ach, sprechen Sie nicht so weiter, sagen Sie mir doch einfach die Wahrheit!“
Da griff er nach meinen Händen, und sie an seine Augen haltend, sprach er leise. „Er hat meinen Vater ehrlos gemacht – Sie wisseu, wen ich meine. Mein Vater hat sein Weib, seine Heimat verloren durch diesen Bubenstreich. Drüben hatte er zwar Glück, was man so Glück nennt: er erwarb ein Vermögen, der arme schüchterne Schullehrer, und hinterließ ein bedeutendes Kapital, eine der größten Fabriken Chicagos, aber die Sehnsucht nach Deutschland quälte ihn bis zur Stunde, wo er die Augen schloß. Und diese Sehnsucht habe ich geerbt; acht Wochen nach seinem Begräbnis bin ich abgereist. Das letzte Wort, das mein Vater zu mir sprach, war: ,Mach’ mich wieder ehrlich drüben, reise hin! Du kannst es, Du bist nicht so ein ungewandter Mensch, wie ich es war. Du hast alles dazu, hast die Kenntnisse, das Geld, die Jugendkraft.‘ Und ich bin gekommen, ich habe nicht allein alles das, was mein Vater aufzählte, ich habe auch die Beweise, daß man meinen Vater schuldlos verdächtigte, das heißt, die Base muß sie haben. Ich bin gekommen in der Absicht, drüben meine Zelte abzubrechen und sie in Deutschland wieder aufzubauen, wenn möglich hier in der Heimat. Ich bin gekommen, weil ich krank war vor Sehnsucht nach meinem Vaterlande, weil mir bei aller Arbeit und allem Erfolg immer nur das eine vorgeschwebt hat, ein deutsches Heim im deutschen Land. Und dazu muß ich meinen ehrlichen Vaternamen wieder haben, weil – – ach, lassen Sie mich aufhören, Fräulein von Sternberg!“
„Und um dies zu erreichen wird meine Mutter einen gebrandmarkten Namen tragen müssen,“ antwortete ich ruhig.
Er ließ meine Hände sinken. „Sehen Sie, da sind wir –“ murmelte er.
„Sie meinen, ich mißbillige Ihr Vorgehen?“ fragte ich. „O, ich würde Sie nicht verstehen, wenn Sie anders handeln wollten, Robert Nordmann!“
„Anneliese!“ sagte er leise.
„Was geht meine Mutter, was gehe ich Sie denn an?“ sprach ich weiter, laut und hart, und die Brust that mir weh, aus der diese Worte kamen. „Die Ehre Ihres Vaters, Ihres Namens, die muß Ihnen die Hauptsache sein. Ich begreife, daß es peinlich für Sie ist, mich kennengelernt, freundlich mit mir geplaudert zu haben, aber seien Sie versichert, ich verstehe Sie vollkommen, ich würde zweifellos – ja, das weiß ich bestimmt – ich würde ebenso handeln. Und nun kommen Sie, lassen Sie uns heimgehen; die Sonne ist fort und mich friert.“
Er erhob sich, schwerfällig wie ein alter Mann; als wär’ er nicht mehr der nämliche elastische Mensch, so ging er neben mir, ohne ein Wort zu sprechen. Rasch, die ganze Landschaft in fahle Schatten tauchend, kam die Dämmerung, der Schnee knirschte unter unsern Tritten und die Sterne stiegen am kalten klaren Frosthimmel [791] empor in funkelndem Glanz. In den Häusern des Dorfes brannten schon die Lichter, als wir aus dem Walde traten und den Feldweg dahinschritten. Neben dem blaugrauen Schneelicht des Winterabends erschienen die erhellten Fenster tief orangerot. Auch die Base hatte schon ihr Lämpchen angezündet; sonst wartete sie stets damit, bis wir kamen, heute war alles anders. Sonst fröhliches Geplauder, heute gingen wir nebeneinander ohne ein Wort. Der rosige Schleier der Unbefangenheit, der bis jetzt unsere Beziehungen umspielte, den wir fest, sehr fest gehalten hatten, er war zerrissen; nüchtern und kalt, mit verzerrtem Gesicht sah die Zukunft uns an.
Ein paarmal versuchte er zu sprechen, aber es war nur ein kurzer Laut, den er hervorbrachte. Am Hofthor blieb er stehen. „Gute Nacht, Fräulein von Sternberg!“
„Wie, Sie wollen nicht mit heraufkommen?“
„Darf ich denn noch?“
„Was denken Sie von mir! Weil Sie Ihres Vaters Wunsch erfüllen, weil Sie eine Rechtfertigung suchen für ihn, soll ich, die Sie vollkommen versteht, böse sein? Ich bitte Sie, Herr Nordmann, sehen Sie völlig ab von dem, was ich dabei empfinde, in Ihrer Macht liegt’s nicht, Mama ein trauriges Schicksal zu ersparen. Weder Sie noch ich tragen die Schuld an dem, was kommen mag.“
„Das ist wahr, aber es wird mir schwer, Sie so traurig zu sehen.“
In diesem Augenblick rief die Base aus dem Flurfenster nach uns.
„Kommen Sie, verderben Sie der alten Frau nicht den Sylvesterabend!“ bat ich, vorangehend.
Mit schweren Schritten kam er hinter mir drein.
„Anneliese,“ sagte die Base, „zwei Briefe sind da.“
„Von Mama?“ fragte ich und ergriff beide Schreiben zugleich. Nein, sie waren nicht von Mama; das eine zeigte die Handschrift meines Stiefvaters, das andere die der Komtesse. Ich habe immer das Unangenehmere zuerst erledigt, so erbrach ich zunächst Herrn Wollmeyers Brief.
„Reisen Sie am ersten Januar so frühzeitig von Langenwalde ab, daß Sie den um zehn Uhr fälligen Schnellzug erreichen. Wir erwarten Sie abends neun Uhr hier. Die Base wird Sie begleiten. Wollmeyer.“
So, das war ja sehr diktatorisch! Die Zähne zusammenbeißend, öffnete ich den Umschlag des anderen Schreibens.
„Mein liebes Kind!
Ich erwarte von Dir, daß Du diesmal nicht widersetzlich bist. Len’ braucht Dich; sie ist sehr still, sehr teilnahmlos, sie hat entschieden Sehnsucht nach Dir. Also komm bald! Ich bin wie zerschlagen von allem Weihnachtstrubel, habe Deine kleine Hilfe vermißt dieses Jahr. Auf Wiedersehen! Es grüßt Dich„Wir sollen morgen nach Westenberg reisen, Base, ganz früh.“
„Wie?“ fragte die alte Frau.
Ich wiederholte die nämlichen Worte.
„Meine Güte, wer sagt denn das?“ rief sie ärgerlich.
„Herr Wollmeyer.“
„Aber das ist ja gar nicht möglich!“ klagte sie, die Hände zusammenschlagend.
„Es muß möglich sein, Base, denn Mama hat Sehnsucht nach mir.“
„Ist sie krank?“
„Ich weiß es nicht.“
„Und ich soll mit? Erst soll ich fort aus Westenberg, jetzt soll ich wieder hin!“
„Gewiß zum Schutz für mich, Base. Ich könnte ja ganz gut allein reisen, aber – hier steht’s schwarz auf weiß.“
„Große Güte, wie soll ich nur fertig werden. Wir müssen ja schon um fünf Uhr fort morgen früh,“ jammerte sie und lief, so eilig sie konnte, in das Nebenzimmer.
Robert Nordmann hatte indessen bewegungslos am Ofen gestanden.
„Ich werde helfen müssen,“ murmelte ich und schickte mich an, der Base zu folgen. Aber sie litt mich nicht drinnen. Ich solle um Gotteswillen gehen, sie verliere sonst ganz den Kopf; sie werde schon alles allein einpacken, sie und die Rike von Hübners. Keine Möglichkeit ihr zu helfen; so kam ich wieder zurück und setzte mich an das Fenster der Wohnstube. Es war dunkel, denn die alte Frau hatte die Lampe mitgenommen, dunkel und still, bis auf das Ticken der Uhr. Der Mann am Ofen regte sich nicht.
Wie im Schlaf hatte ich diese letzten Wochen verlebt in den stillen Bergen, wie im tiefen Schlaf, der mir einen schönen kurzen Traum geschenkt. Nun war das Erwachen gekommen, ein böses Erwachen; die Süßigkeit des kaum entschwundenen Traumes machte die Wirklichkeit noch öder. Was würde nun werden? Wann würde Robert Nordmann seine Abrechnung halten? So lange er die Uniform trug, nicht, hatte er gesagt – Mama hatte eine Gnadenfrist, bevor sie erfuhr, daß sie eines Betrügers Frau sei. Ueberleben würde sie das nicht, ich fühlte es, aber niemand konnte es ihr ersparen. Unwillkürlich faltete ich die Hände. Einen Ausweg – einen Ausweg, lieber Gott!
Die Thür zum Nebenzimmer öffnete sich jetzt ein wenig. „Ach, Robert,“ rief die Base, „einen Augenblick!“
Langsam ging er hinüber und verschwand in ihrem Schlafzimmer. Weder sie noch ich hatten acht darauf, daß die Thür nicht wieder fest geschlossen wurde. Ich hörte zunächst ein leises Gemurmel, völlig unverständlich für mein Ohr, dann seine laute ruhige Stimme. „Und wenn es tausendmal so wäre, wie Du sagst, Base, erst recht müßte ich dann so handeln. Oder glaubst Du, ich böte einem geliebten Mädchen den besudelten Namen? Denkst Du, ich ertrüge es, die Leute mit Fingern auf uns zeigen zu sehen, zu hören, wie sie sagen: ,Das ia ja der Nordmann, dessen Vater steckbrieflich verfolgt ist, weil er gestohlen hat, des Nordmann, der gesessen hat!‘ Und nun bitte ich Dich, lassen wir die Erörterungen. Du verwirrst mich mit Deinen Einwürfen, und ich habe einen klaren Kopf jetzt nötiger denn je.“
Ich war gegangen, um die Thüre zu schließen, damit ich von dem Gespräch nichts mehr vernähme. Sie merkten es nicht, nun ich es that. Aber ich hatte genug gehört. Ach, deshalb! Er liebt, er will sich verloben. Es schien mir mit einmal so kalt im Zimmer, daß mir die Zähne zusammenschlugen.
Plötzlich vernahm ich die Stimme der Base, welche tief aufseufzte. „Wollte Gott, ich wäre tot! Ach, Robert, Robert! Meine Anneliese, meine arme kleine Anneliese!“
Da sprang ich empor in zorniger Aufwallung, die mich meiner ruhigen Ueberlegung völlig beraubte; mit einem Ruck war ich drinnen und stand mit drohender Gebärde vor der alten Frau. „Wir wollen kein Mitleid, ich nicht und die Mama nicht!“ rief ich. „Herr Nordmann handelt wie recht und billig, und wenn er sich von Ihnen bereden läßt, diesen Wollmeyer zu schonen, so würde ich selbst vor diesen hintreten und sagen, daß er betrogen hat!“
Die Base war auf mich zugeeilt und faßte meine Schulter. „Jesus, Annelieseken! Robert, nun hat sie es gehört!“
Er kam herüber und nahm meine Hand. „Leben Sie wohl, Fräulein Anneliese,“ sagte er, dann wandte er sich und ging. Ich sah noch, wie die Thür hinter ihm zufiel, vor meinen Augen wogte ein roter feuriger Schein, ich tastete nach der Base wie nach einem Halt, dann schwand mir die Besinnung.
Als ich wieder erwachte, lag ich auf meinem Bett; die Lampe war tief heruntergeschraubt und auf einem Fußschemel hockte die alte Frau. Sie hatte eine Schüssel mit Wasser neben sich stehen, in der eine Kompresse lag. Bei meiner Bewegung fuhr sie empor und beugte sich über mich.
„Annelieseken, reden Sie doch man bloß ein Wort. Kennen Sie mich denn, Annelieseken?“
Mühsam besann ich mich. „Wo ist Herr Nordmann?“ fragte ich dann hastig.
„Ach Gott„ Kind, regen Sie sich doch nicht auf! Er ist fort. O, Anneliese, wär’ er doch drüben geblieben, wär’ er doch nie wieder gekommen!“ jammerte sie.
„Er thut recht!“ sagte ich kurz.
„Ja, ja!“ schluchzte sie. „Aber darum ist’s doch so schwer!“
„Gehen Sie zu Bett, Base, bitte, bitte! Ich bin müde und möchte schlafen.“
Endlich ging sie. Ich lag in dieser Neujahrsnacht wachend und hörte die Glocken der Kirche, die um Mitternacht geläutet wurden. Wo mochte er sein? Und dann barg ich den Kopf in die Kissen und mir rannen schwere heiße Thränen aus den Augen.
O, thörichte Anneliese, für Dich giebt’s kein Glück!
Am andern Morgen bei völliger Finsternis reisten wir ab; die Base bis zur Unkenntlichkeit vermummelt in Hübners alten Jagdpelz, den er ihr für die Schlittenfahrt zur Querslebener [792] Bahnstation geliehen hatte. Das Wetter hatte umgeschlagen, ein unnatürlich lauer Wind fuhr durch die Bäume, und der Schnee auf den Wegen war weich und naß. Hübners hatten das Frühstück besorgt und packten uns mit betrübter Miene in den Schlitten. Mir war grenzenlos bang zu Mut, als ich den guten Menschen die Hand zum Abschied reichte, so wie einem sein mag, der aus sicherem Hafen auf das wilde bewegte Meer hinausfährt. Ach, wie öde war es in mir geworden seit gestern!
„Adieu, gnädiges Fräulein, wir wünschen, daß sich die Frau Mama bald wieder ganz wohl fühle,“ sagte Frau Hübner.
Die Pferde zogen an. Die Schlittenglocken klangen erst etwas wirr durcheinander, dann schickten sie regelmäßig ihren Dreiklang in die Nacht hinaus, die Laterne des Gefährts warf ihren Schein über den Weg, und vorwärts ging’s in den Kampf des Lebens.
Die Base schien zu schlafen, sie saß da in dem riesigen Pelz, ohne sich zu rühren; der Kutscher vorn auf dem Bock schlief wohl auch und die Pferde trotteten schlaftrunken den wohlbekannten Weg dahin. Da bewegte sich etwas hinter mir und, mich erschreckt zur Seite wendend, gewahrte ich einen Soldatenmantel und darüber ein wohlbekanntes Antlitz unter der Militärmütze. Robert Nordmann hatte sich auf den Schlitten geschwungen.
„Sie?“ fragte ich.
„Ich will Ihnen Lebewohl sagen,“ flüsterte er. „Einmal müssen Sie mir die Hand noch geben, müssen versprechen, daß Sie ein freundliches Andenken bewahren wollen an – diese Tage zwischen Weihnachten und Neujahr.“ Seine Stimme klang bewegt, seine Augen hatten einen ernsten bittenden Ausdruck.
„Was auch kommen möge,“ sagte ich, „immer werde ich an diese Tage denken.“
„Immer?“
„Immer, Herr Nordmann.“
Der Schlitten glitt weiter mit der schlafenden Base, dem nickenden Kutscher, hinein in den windigen Wintermorgen. Kein tröstlicher Stern am Himmel, nichts als das Licht der Laterne, das den Weg dürftig erhellte; so wie wir in die Zukunft hineinsahen, so war es auch um uns her – kein Stern, kein heller Schein.
„Anneliese,“ flüsterte er dicht an meinem Ohr, „Anneliese, vergessen Sie nicht, daß ich bei dem, was kommeu muß, tausendmal unglücklicher sein werde als Sie.“
„Aber warum?' murmelte ich und hatte die Empfindung, als ob der Wind, der eben meinen Schleier vom Gesicht wirbelte, glühend sei, so klopfte mir das Blut in den Schläfen.
„Warum? Wissen Sie es wirklich nicht, Anneliese?“
Ich bog den Kopf zurück, wenden konnte ich ihn nicht, so knapp war der Platz neben der Base, und ich hätte sie nicht wecken mögen in diesem Augenblick, um die Welt nicht. Ich konnte es nicht hindern, daß mir ein paar Thränen über die Wangen liefen, thörichte heiße Thränen. „Sie sollen nicht unglücklich sein, Sie sollen es nicht so schwer nehmen,“ sagte ich halb erstickt.
Da fühlte ich meinen Kopf zwischen seinen Händen und fühlte brennende Lippen auf meinen Augen. „O wir Zwei,“ sagte er, „wir armen Zwei!“ Und dann ein Kuß auf meinen Mund, ein langer Kuß - - -
Der Platz hinter mir war leer, noch ebenso dicht die Finsternis; vor meinen Augen aber war es hell geworden, nicht wie von der aufgehenden Sonne, nein, wie von einer scheidenden, die in höchster Purpurglut hinter schweren dunkeln Wolken versinkt. „Leb wohl!“ sagten die glühenden Strahlen, „jetzt kommt die Nacht.“ Und von Scheiden und Meiden klangen die Schlittenglocken durch den sturmgeschüttelten brausenden Wald, während ein noch schlimmerer Sturm an meiner Seele rüttelte. O wir Zwei, wir armen Zwei! Leben und Tod in einem Atemzuge! Wir hatten uns gefunden, uns zu verlieren – um fremde Schuld!
Ich kann’s heute nicht mehr sagen, wie ich den Reisetag überstand. Die ganze Welt erschien mir anders; um viele Jahre gealtert kam ich mir vor, wie jemand, der weiß, daß er sterben muß mitten in der Maienzeit. Ich dachte nicht mehr an ein Hinausgehen unter fremde Menschen, ich wollte nur noch eins: bei meiner armen Mutter bleiben, so lange Gott uns zusammenließ, ihr in den kommenden schweren Zeiten ein Trost zu sein und heimlich das kleine Fünkchen Glück zu hüten, das mir der liebe Gott geschenkt, wenn es auch nie zur Flamme werden durfte.
So saß ich da, erschöpft von der seelischen Erregung, unfähig, zu sprechen. Die Base, die in dem warmen Coupé den Pelz nicht mehr trug, schwieg ebenfalls, und die Falten ihres Gesichts waren tiefer denn je. Am Bahnhof in Westenberg erwartete uns der Wagen, aber sonst empfing uns niemand. Die Herrschaft habe Besuch, sagte der Kutscher. Schweigend rollten wir durch die finstern Gassen und hielten vor dem Hause. Die obere Fensterreihe war erleuchtet, aber nur ein Stubenmädchen erschien uns zu begrüßen. Hüstelnd trippelte die Base voran in unsere Zimmer.
„Mama war hier,“ sagte ich, als ich eintrat. Man hatte geheizt, den Tisch gedeckt, und unter der brennenden Lampe stand ein Veilchensträußchen. Und ehe ich noch den Mantel abgeworfen hatte, kamen auch Schritte durch das Vorzimmer, liebe, liebe Schritte, und im nächsten Augenblick lag mein Kopf an ihrer Brust.
„Meine liebe Anneliese,“ flüsterte sie, „nun bist Du wieder da!“
„Und bleibe bei Dir, Mama, immer, immer,“ sagte ich mit einem Ausdruck, in dem die ganze Erregung meines Herzens lag.
Sie strich langsam über meine Stirn und antwortete nicht. „Das wäre wohl schön,“ meinte sie endlich und sah wie abwesend an mir vorüber, „aber - aber - –“
„Ach, kein ,aber‘, liebe Mama! Wir wollen nichts weiter thun als die Gegenwart genießen, das heißt – unser beider Zusammensein. Ihr lebt doch gewiß jetzt recht still?“ setzte ich verlegen hinzu, denn die Base hatte mir gesagt, daß Mama mich gewiß so vermissen würde, weil sie viele Zeit in ihrem Zimmer auf dem Ruhebett zu verbriugen genötigt sei.
Sie sah mich verwundert an. „Ach nein, Anneliese, wir haben häufig Gäste, und deshalb. ist’s mir so lieb, daß Du da bist und mir ein wenig zur Seite stehst; und der Base bin ich auch sehr dankbar, daß sie mitgekommen ist. Sie nimmt mir gewiß wieder manche Last ab.“ Sie sagte das alles so müde, so apathisch, als lohne es sich kaum, darüber zu sprechen. Dann fragte sie etwas lebhafter, und eine Purpurglut überflog das schmale leidende Antlitz: „Du hast ja Wollmeyer das Geschenk von Brankwitz zurückgesandt?“
„Ja, Mama. Hattest Du das anders erwartet?“
Sie wand verlegen das Taschentuch in den Händen, und ein Zittern ging durch ihre Gestalt. „Ach – ich –“ dann stockte sie.
„Hattest Du Unannehmlichkeiten dadurch, Mama?“ fragte ich und faßte besorgt nach ihrer Rechten.
„Nein,“ gestand sie mit niedergeschlagenen Augen, „denn ich habe – Du wirst verzeihen, Anneliese – ich habe zufällig die Sendung abgefangen; ich behielt sie zurück, weil ich dachte – ich fände es richtiger, wenn Du das Geschenk vielleicht Brankwitz selbst zurückstellst, oder durch die Base, denn Bernhard – siehst Du – er – er –“ Sie zitterte noch mehr, und die heißen schlanken Finger zwischen den meinen zuckten.
„Rege Dich nicht auf, Mama; Du hast gewiß recht,“ stimmte ich ihr bei. „Hätte ich seine Adresse gewußt, so würde ich natürlich gleich direkt – – sage mir nur, wo der taktvolle Absender gegenwärtig ist, dann will ich es sofort thun.“
Sie sah mich an, hilflos wie ein krankes Kind. „Ich kann Dir nicht Auskunft geben, Anneliese; er ist von Cannes abgereist, aber –“ und sie sprach es ganz leise, „in wenigen Tagen kommt er her.“
„Hierher?“ Ich mochte es heftig und angstvoll gerufen haben.
Sie schwieg mit bekümmertem Gesicht.
„Mama,“ bat ich, auf sie zutretend, „sage mir doch nur eines, beruhige mich doch – ich kann den Gedanken nicht fassen, daß Du, die mich immer lieb hatte –“, ich verstummte, denn eben trat Wollmeyer über die Schwelle. Er sah rot und erhitzt aus wie stets, wenn er gut gegessen und getrunken hatte.
„Helene, aber ich bitte Dich!“ rief er vorwurfsvoll, „die Landrätin steht da am Klavier und dreht ihr Notenblatt zwischen den Fingern – komm, komm, wer soll sie sonst begleiten? – Guten Abend, Anneliese, wir sprechen uns morgen. Ist die Base mitgekommen? Schön! Hat mir vermutlich viel Neues zu erzählen? Also gute Nacht! Komm, Helene!“ Sie gingen.
„Alles noch ebenso,“ sagte ich, zu Papas Bild hinübersehend, „nur ich bin eine andere geworden.“
Und auf einmal klopfte es, just als die alte Frau und ich beim Thee saßen, derb an die Thür und die Komtesse kam herein.
„Schau, schau!“ rief sie, „wieder ins Nest geflogen?“ Und sie küßte mich, drückte mich wieder in meineu Stuhl und setzte sich neben mich. „Laßt Euch nicht stören beim Essen, ich will nur ’mal die Krabbe hier sehen. Wie geht’s, meim Kückem? Hör ’mal, ich glaube, Du bist gewachsen, und hast ganz ernsthafte Augen bekommem!“ Sie griff mir unter das Kinn und hob mein Gesicht.
[793] [794] „Wo ist Deine gottgesegnete Frechheit geblieben, meine Kleine?“ fragte sie weich. „Siehst aus wie ein gezähmtes Rehchen; ist das die Wirkung der Klausur da droben?“ Und dann begann sie zu fragen und zu erzählen, und da hörte ich denn dies und das.
„Brankwitzens werden also erwartet; Dein Stiefvater giebt einen Ball, ein Kostümfest; die Einladungen werden schon ausgesandt. Du mußt Deiner Mutter ein wenig helfen, Anneliese; Du mußt überhaupt sorgen, daß sie mit mehr Mut ins Leben sieht.“
„Ja, Tante.“
„Seit wann bist Du denn so fügsam, daß Du gleich Ja und Amen sagst?“ fragte sie erstaunt. „Früher hättest Du entschieden dagegen gesprochen! Hoffentlich bist Du es nicht auch in dem bewußten Punkt, oder haben sie Dich gezähmt da droben?“
„O nein, Tante.“
„Na, dann ist’s gut. Und weil Du jetzt gewissermaßen verständig geworden bist, will ich Dir ’mal etwas erzählen. – Wissen Sie nicht, Base,“ unterbrach sie sich, „ob der Brankwitz einen Bruder hat oder ob’s außerdem noch Brankwitzeus giebt in Berlin?“
„Hat keinen Bruder, Komtesse,“ murmelte die Base, „ist das einzige Exemplar. Hat auch, so viel ich weiß, außer seiner Schwester überhaupt keine Verwandten.“
Dann legte sie den Löffel über die geleerte Tasse, ein Zeichen, daß ihre Mahlzeit beendet sei, faltete die knöchernen Hände zum stillen Dankgebet, nahm das Geschirr zusammen und verließ mit einem altmodischen Knix die Stube.
„Eine von denen, die immer seltener werden,“ sagte die Komtesse, ihr nachblickend. „Na, nu hör’ aber! Du warst noch nicht lange fort, da klingelt es eines Morgens bei mir und gleich darauf stürzt die Josephine in mein Zimmer und kann vor Freude kaum Zipp! sagen. Hinter ihr drein, mit seinem bekannten gutmütigen Lachen kommt mein Neffe, was man so ‚Neffe‘ nennt. Kennst ihn wohl noch; war damals als Fähnrich hier und ist mit Dir auf der Schützenwiese Karussell gefahren. Herr Gott, so’n langes Etwas vergißt man doch nicht! Du warst freilich ein kleines Hühnchen zu der Zeit. Na also, der ist jetzt schon Premier bei den Garde.Dragonern, ein Bild von einem Menschen. Hm! Ich wollte nur sagen, wie wir da beim Nachtisch sitzen und er einen Apfel kunstgerecht schält, das war schon immer seine Stärke, und wir hecheln die ganze Verwandtschaft ein Bissel durch, da fällst Du mir ein – bist ja auch ein Stück von meinem Herzen, Du gottlose kleine Range! ,Hör’ ’mal, Fritz,‘ sage ich – er heißt eigentlich Friedrich Dietrich und wird Fritz Dietz genannt – ‚kennst Du nicht zufällig einen Herrn von Brankwitz in Berlin? Ich weiß ja, Berlin ist groß, aber er muß doch in Sportskreisen verkehren, denn er kennt alle Kapazitäten und wirft nur so um sich mit Fachausdrücken.‘ Da wird sein rundes fideles Gesicht ganz lang, und über den Augen ziehen sich die Brauen zusammen und der Schnurrbart steht ganz wagerecht, wie bei meinem unvergeßlichen Teckel die Borsten auf dem Rücken, wenn er sich ärgerte – ,Brankwitz? Allerdings kenne ich den Kerl, ist ja der gemeinste Kravattenfabrikant in ganz Berlin!‘ ,Na, na,‘ sag’ ich, ,dann werden wir wohl nicht denselben meinen.‘ ,Ich weiß von keinem andern; ich wollt’, sie hätten ihm erst ’mal das Handwerk gelegt,‘ schimpft er. ,Ich mein’, dieser hat Geld wie Heu und will Damnitz kaufen und die Anneliese Sternberg heiraten.‘ ‚So?‘ macht er gedehnt, ,dann mag ’s ein anderer sein, sonst könnt’ sich diese Anneliese lieber gleich ersäufen!‘ Na, wir haben dann weiter nichts mehr davon geredet, es ist ja doch wohl nicht möglich, daß es der ist, den wir beide kennen. Aber manchmal, siehst Du, Kind, manchmal kriege ich beim Nachdenke über die Geschichte so’n schwüles Gefühl! Laß Dich um Gotteswillen nicht übertölpeln! Doch eines sag’ ich Dir trotz alledem, ich mische mich nicht mehr drein.“
„Sei ruhig, Tante, ich quäle Dich nicht wieder; übrigens glaube ich wie Du, das muß ein anderer sein.“
„Wird wohl so sein – aber man macht sich manchmal Gedanken. Gute Nacht, Kind! Wenn Du Zeit hast, besuch’ mich ’mal, wirst sie freilich schwerlich haben. Dein Stiefvater scheint Westenberg auf den Kopf stellen zu wollen, und ich wünsche nur, daß alle die Vorbereitungen nicht umsonst gemacht werden.“
Ich sah sie fragend an.
Das alte Gesicht der Komtesse lächelte unsagbar drollig. „Er hofft auf eine Dekoration; irgend einer, meinte der Landrat, habe ihn dazu vorgeschlagen. Na meinetwegen, ich gönn’ ihm den roten Adler–. oder den Kronenorden vierter Güte; er hat ihn verdient, schon um meine Weihnachtskinder. Gute Nacht, Kleine – jedes Tierchen hat sein Pläsierchen.“
Keine Ahnung von dem Sturm, der heranziehen wollte, bei allen diesen Leuten! Woher auch? – – – –
Am andern Morgen erschien Herr Wollmeyer in meiner Stube. Er zeigte sich sehr scherzhaft aufgelegt, fragte, wie es mir droben gefallen habe, richtete ein paar freundliche Worte an die Base – ob sie auch gern wiedergekommen sei, und es wäre ihm doch lieb, daß er wieder eine verständige Person im Hause wisse für die kommenden Zeiten, „und kurz und gut, wir wollen uns wieder vertragen Alte – was?“
Sie sah ihn mit geradezu unheimlichen Augen an, wie eine Sphinx, und etwas wie Furcht vor der einfachen Frau kam über mich.
„Was an mir liegt – aber ich halte das Steuer nicht in Händen,“ antwortete sie feierlich.
„Du alte Unke, das weiß ich auch, daß ein Höherer die Lenkung besorgt,“ lachte er. „Heraus mit der Sprache, was habt Ihr denn da oben den lieben langen Tag gemacht? Wenn es nach Brankwitz gegangen wäre, hätte ich Euch schon zu Weihnachten erlöst, aber Strafe muß sein, sagte ich zu Helene.“ Und wieder lachte er jovial.
„Es wär’ schade gewesen,“ erwiderte die Base ruhig, und ihrem kreidebleichen Gesicht sah man die mächtige innere Bewegung an, „’s wär’ schade gewesen, wir hatten so schöne Weihnachten.“
Der Ton fiel ihm auf, er sah sie stutzend an. „Na?
„Hab’ mein Lebtag nicht gedacht, daß ich die Freude noch erleben sollt’,“ fuhr sie fort und wischte mit zitternder Hand ein paar Krumen von dem Frühstückstisch, „wünschte nur, Hannchen hätt’s auch noch erlebt, daß der Robert wieder da ist.“
Er war aufgesprungen, jetzt genau so fahl wie die alte Frau.
„Der Robert?“ fragte er. „Ach – deshalb!“
„Robert Nordmann,“ nickte sie.
Er zuckte die Achseln und bemühte sich, einen geringschätzigen Ausdruck anzunehmen, obgleich aus seinen Augen noch der Schrecken über diese unerwartete Nachricht sprach. „Da wird man in die Tasche langen müssen,“ sagte er, „sollst wohl seine Fürbitterin sein – wie?“
„Hat mir nichts davon gesagt,“ antwortete sie, ohne eine Miene zu verziehen.
„Also an Weihnachten hattest Du diese Freude bereits?“ forschte er, und sein Schreck verwandelte sich in Zorn. „Wie kommt’s denn, daß ich diese angenehme Neuigkeit erst heute erfahre?“
„Ich wußte wirklich nicht, daß es eine Neuigkeit für Sie sei, Wollmeyer,“ gab sie unbeirrt zurück, „hab’ gemeint, der Befehl an uns, zurückzukommen, hänge mit der Anwesenheit Roberts zusammen.“
„Anwesenheit?“ Er ward blaurot vor Zorn. „Wie lange hat er sich denn dort umhergetrieben?“
„Weiß nicht. Wir sind vor ihm abgereist.“
„Und legt sich dort vor Anker in meinem Hause, ohne mir ein Wort zu gönnen?“ brauste er auf, entschieden froh, einen faßbaren Grund für seinen Zorn zu haben.
„Er hat im Gasthof gewohnt,“ unterbrach ihn die Base.
„So! Und hat herumgeschnüffelt und gehorcht und sich einen Ueberschlag gemacht, wie hoch die Summe sein kann, um die er mich angehen soll! Das kenn’ ich, sonst wär’ er ehrlichen geraden Weges zu mir gekommen.“
„Er hat nur Sehnsucht gehabt nach seiner Heimat,“ war die Antwort.
Ich saß lautlos auf meinem Stuhl und preßte die Hände gegeneinander, zitternd vor Erregung. „Sehnsucht nach der Heimat?“ wiederholte er. „Dazu hat er auch alle Ursache, damit nur ja das Andenken nicht erlischt, das sein Vater hinterlassen hat.“
Die alte Frau zuckte zusammen wie unter einem Peitschenschlag. „Sie wissen Wollmeyer,“ sprach sie langsam, „daß die Langenwalder sich für den alten Nordmann noch heute totschlagen ließen und die, deren Lehrer er war und die jetzt herangewachsen sind, erst recht. Das Andenken Nordmanns da droben ist gut – trotz allem.“
„Das Pack hält’s allemal mit solchen,“ antwortete er. „’s ist der Geist der Zeit, daß man gegen die anständigen Menschen Partei nimmt. Und nun ’mal heraus mit der Sprache – was will der Bengel in Deutschland?“
„Seiner Militärpflicht genügen.“
„Was? Wie?“ Er lachte auf. „Das sieht der Sippe ähnlich! Immer den Mantel der Gottesfurcht und der Vaterlandsliebe über das, was faul ist! Das wird ja den Langenwaldern rasend imponiert haben, wenn er da in Uniform einherstolziert ist. Ja [795] die Nordmanns, die verstehen’s! Nun, und welches Regiment hat denn die Ehre, den tapferen Jüngling in seinen Reihen zu sehen?“
„Er steht in Halle, weil er zu gleicher Zeit noch ein paar Vorlesungen hören will über Strafrecht,“ sagte ich jetzt gelassen.
„Ah, da sind Sie ja auch, mein Fräulein! Sie erfreuten sich gleicherweise dieses interessanten Besuches? Hübscher Junge geworden, was? In Amerika wächst so etwas sich aus; ein paar fremdländische Manieren, ein bißchen fremdländisches Sprechen – und der famose Kerl ist fertig. Hat Ihnen wohl sehr in die Augen gestochen, wie?“
„O ja – es gefällt mir, daß er gekommen ist, um sein Jahr abzudienen.“
„Und die Rechte zu studieren! Damit will er vermutlich nach seiner Rückkehr den Amerikanern die Augen blenden. Freiwilliger und Student, über die Mitte der Zwanzig hinaus! Netter Gedanke!“ Er lachte wieder. „Hätt’ früher daran denken sollen.“
„Hat er auch! Er ist schou seit Jahren Doctor juris und würde gewiß schon früher herübergekommen sein, wenn er seinen Vater hätte verlassen können,“ antwortete ich.
„Ah, er scheint ja den verehrten Damen recht gründliche Märchen erzählt zu haben; Sie sind doch sonst nicht so leichtgläubig, Anneliese! Aber nun endlich zur Sache – wieviel will er von mir, oder hast Du die Freigebige gespielt und Deine paar Thaler weggeschenkt, Alte? Na, ’s wird schon so gewesen sein!“
„Ich glaub’ nicht, daß er gerad’ ans Schenken denkt,“ sagte sie mit eigentümlicher Betonung.
„Ach, er meint vielleicht, er habe ein Recht, zu fordern? Da könnte man ihm bald deutlich das Gegenteil beweisen. Uebrigens kommt es mir nicht auf ein paar hundert Mark an, wenn er’s auch nicht verdient hat durch sein Benehmen. Willst Du ihm das schreiben – meinetwegen! Aber bemerke gleich dabei, mit dem Reisegeld hierher soll er sparsam sein. ’n Morgen! – Anneliese, Sie sagen wohl nachher Ihrer Mutter Guten Tag?“
Er ging. Stumm sah ihm die Base nach. Als er die Thür hinter sich schloß, sank sie auf den nächsten Stuhl, und ihre zitternden Hände griffen ineinander. „O Gott, o Gott!“ jammerte sie leise. Ich trat zu ihr und strich ihr über das welke Gesicht; sie dauerte mich, die alte Frau, denn sie kämpfte zwischen der Liebe zu ihrem Neffen und der Liebe zu Mama und mir – des einen Sieg war des andern Verderben. Sie achtete auch nicht auf meine Liebkosungen; sie stand auf und ging in ihr Stübchen.
Welch eine Wirrnis um mich her – trotz des Winters schwüle Gewitterluft! Und dabei ein Treiben, als sei das Haus des Herrn Stadtrat Wollmeyer die Residenz eines kleinen Fürsten. Immerfort Besuche, immerfort Tischgäste. Wenn ich zu Mama kam, fand ich sie, einen Katalog vor sich auf dem Schreibtisch, Kotillontouren aussuchend oder Sträuße bestellend oder an die Schneiderin schreibend.
Der Thronwechsel in St. Petersburg.
In der Isaaks-Kathedrale, dem hoheitsvollen Dome St. Petersburgs: es ist der 29. Oktober, der Jahrestag der Errettung Kaiser Alexanders III. bei der von Nihilisten herbeigeführten Katastrophe
von Borki vor sechs Jahren; feierlicher Gesang durchhallt den herrlichen Raum, der Metropolit in goldstarrender Gewandung steht vor dem Allerheiligsten in stummem Gebet, in dem hochgewölbten
Kuppelsaale blitzt und funkelt es im Dämmerlichte von den Uniformen der Gardeoffiziere, den Kreuzen und Sternen der Großwürdenträger, die sich hier dicht geschart versammelt haben,
in den Nebenkapellen drängen sich buntgemischt alle Bevölkerungsschichten von Petersburg zusammen, viele der Andächtigen sind in die Knie gesunken, andere liegen langausgestreckt auf den steinernen
Fliesen, sie mit der Stirn berührend, und immer inniger und sehnsüchtiger erschallt das „Herr, erbarme Dich!“ des Kirchenchores, immer heißer werden die Gebete „Gott, erhalte den Zaren!“ und
durch die vielen hier Versammelten geht tief und warm die Bewegung der ernsten Stunde, in der vielleicht schon das Leben des kranken Herrschers im fernen Livadia erloschen ist.
Draußen leichtes Schneegestöber, auffallend schweigsam eilen die Menschen die breiten und weiten Straßen entlang, hier und da sich zu kleinen Gruppen stauend und die eben angeschlagenen, noch druckfeuchten Blätter an den Staatsgebäuden lesend, welche von dem Befinden des Kaisers Kunde geben: keine Hoffnung mehr, und manch’ schwielige Hand fährt über die Augen, so mancher Blick trübt sich, manch’ leises Aufschluchzen wird vernehmbar, menschliche Hilfe kann nichts mehr für den Zaren thun!
Ueberfüllt sind die Kirchen und Kapellen, zahllose mühselig verdiente Kopeken werden für Kerzen und Heiligenbilder ausgegeben, in das rastlose Hin und Her des öffenllichen Getriebes mischen sich aus den offenen Kirchenthüren, durch die der Schein hellen Kerzenschimmers dringt, die frommen Weisen der Vorsänger: „Herr, erbarme Dich! Gott, erhalte den Zaren!“
Drei Tage später. Der Abend des ersten Novembers. Eine plötzliche Stockung hemmt den Verkehr auf dem Newski-Prospekt. Offiziere auf schaumbedeckten Pferden galoppieren zu den Ministerien, zum Winterpalais, zu den Palästen der Großfürsten, alles weicht ihnen aus, angstvoll fragend blickt man ihnen nach. Sollte das Ereignis eingetreten sein, das man längst erwartet und an das man doch nicht zu glauben vermocht? Niemand weiß Antwort zu geben, jeder scheut sich, die traurige Antwort auf die drängende Frage zu geben! Da hallt es dumpf und dröhnend durch die Lüfte, die Isaaks-Kathedrale macht den Anfang und die Glocken der zahllosen Kirchen, Kapellen und Klöster fallen ein, immer gewaltiger und klagender rauscht und raunt es durch die gewaltige Stadt bis in die entlegensten Gäßchen, bis in die entferntesten Winkel, und ohne daß es jemand besonders verkündet, weiß man: Zar Alexander III. ist gestorben.
Durch die ganze Welt zuckt die Nachricht, denn ein weltbewegendes Ereignis hat stattgefunden – was werden seine Folgen sein, wie wird sich die politische Lage gestalten, welch’ neuer Wille wird das ungeheure Reich regieren, wie werden sich die Wirkungen in den anderen Staaten zeigen? Aber zunächst muß die Politik hinter das menschliche Mitgefühl zurücktreten. Man mochte oft nicht mit den Regierungsmaßregeln Alexanders III. einverstanden sein, man mochte die im Innern Rußlands getroffenen Maßnahmen bekämpfen und die von ihm nach außen hin gesponnenen oder unterbrochenen Beziehungen als Feindseligkeit empfinden – als Mensch genoß er allgemeine Hochachtung, zollte man ihm nicht bloß in Rußland warme Sympathien, die nun das Mitleid mit seinem schweren Schicksal verstärken!
Das Glück war nie den Romanoffs hold! Aber keiner von ihnen hat so im Bewußtsein drohenden Unheils gelebt wie der entschlafene Zar. Es waren keine heiteren Kindertage gewesen, die er in dem prunkvollen elterlichen Schlosse an der Newa verlebt; sicher hatte er sich seine Zukunft anders ausgemalt, der stets schweigsame und zurückhaltende Jüngling. Er wollte sie sich nach seinem Belieben gestalten, vielleicht fern der Residenz leben, für deren lockere Zerstreuungen er nie Neigung gehabt, und die stille, aber desto innigere Zufriedenheit in seiner eigenen Familie finden – da starb sein glänzend beanlagter Bruder und ihm, dem jedes Streben nach Macht, Glanz und Prunk fern gelegen, fiel die Thronfolge zu. Und schneller, als er es gefürchtet, mußte er dieser Pflicht genügen – an jenem Märztage 1881, an welchem man seinen Vater blutüberströmt in das Winterpalais hereinbrachte, wo er nach wenigen Sekunden seinen Geist aufgab.
Mit Hingebung und unermüdlichem Arbeitseifer widmete sich Alexander III. seinem hohen Berufe; aus seiner Umgebung suchte er leichte Sitten, Heuchelei und Trägheit zu verbannen, er, der Wahrheitsliebende und Aufrichtige, von Anfang an gab er ein leuchtendes Beispiel strengen Pflichtgefühls, untadliger Lebensart, emsigsten Fleißes, und er war wahrlich nicht daran schuld, wenn es so wenig in seinem Lande befolgt wurde. Von den Sorgen und Lasten der Regierung suchte er Erholung in seiner Familie, bei seiner Gemahlin Maria Feodorowna, mit der ihn eine innige Herzensneigung verband, bei seinen Kindern, bei seinen Geschwistern. Aber die launische Glücksgöttin gönnte ihm auch dieses nicht; man weiß von den Zerwürfnissen zwischen ihm und seinem ältesten Sohne Nikolaus, sein zweiter Sohn Georg, den der Vater besonders [796] zärtlich liebte, erkrankte im blühendsten Alter unheilbar an der Schwindsucht, auch der dritte Sohn Michael soll leidend sein, und nachdem er, der Starke, Gewaltige, von dem man rühmt, daß er mit einer Hand ein ganzes eng zusammengelegtes Kartenspiel zerreißen und ein Hufeisen auseinander brechen konnte, unverletzt mehreren Attentaten entgangen war, befiel ihn die schleichende Krankheit, der er jetzt zum Opfer gefallen!
Bloß ein Alter von neunundvierzig Jahren hat er erreicht. 1845, am 10. März (den 26. Februar a. St.) kam er zur Welt. Seine Mutter Marie war, wie jetzt die Braut des neuen Zaren, eine Hessen-Darmstädtische Prinzessin. Durch den Tod seines Bruders Nikolaus wurde er am 24. April 1865 Thronfolger, und im Jahre darauf, am 9. November, vermählte er sich mit der Tochter König Christians IX. von Dänemark, Dagmar, welche beim Uebertritt zur russischen Staatskirche den Namen Maria Feodorowna erhielt und an deren Seite ihm ein reiches Eheglück beschieden war. In ihrer Heimat, am Hofe des Dänenkönigs, verbrachte er auch am liebsten die Tage der Erholung. Durch wie gewaltige Rüstungen er während seiner späteren Regierung das russische Heer auch verstärkt hat, er selbst hatte keine kriegerischen, nicht einmal soldatische Neigungen. Im Türkenkrieg des Jahres 1877 kommandierte er den linken Flügel der Donauarmee; die Eindrücke, die er auf diesem blutigen Feldzuge empfing, übten eine abschreckende Wirkung auf sein Gemüt. Wenn er trotzdem in seiner weitgehenden Freundschaft für Frankreich, in seiner Empfänglichkeit für die Ideen des Panslawismus und seinem Streben, die Macht der russischen Staatskirche über alle russischen Unterthanen auszudehnen, eine Politik betrieb, die keineswegs immer einen nur friedlichen Charakter hatte, so läßt sich dies dadurch erklären, daß er in der Verwirklichung seiner politischen Ideale die größte Garantie für die Erhaltung des Friedens nach innen und außen erblickte.
Die ewige Ruhe hat jetzt Alexander III. bei seinen Vorfahren in der Gruft der Peter-Pauls-Kathedrale auf jener gleichnamigen kleinen Newa-Insel, auf welcher drohende Festungswerke die äußerlich schlichte Kirche umgeben, gefunden. Den im Innern des Gotteshauses aufgestellten, von Palmen und Epheulauben umgebenen einfachen weißen Marmor–Sarkophagen der Romanoffs wird sich bald ein neuer hinzufügen, auf goldener kleiner Tafel nur die Worte zeigend: „Alexander III., Kaiser von Rußland. 1881–1894.“
Von dem Vater wenden sich die Augen zum Sohne. Am Tage nach der Trauerpost boten in den Straßen St. Petersburgs die Zeitungsverkäufer die Proklamationen des neuen Kaisers Nikolaus II. aus. Nicht nur äußerlich, auch innerlich scheint er das gerade Gegenteil des verstorbenen Kaisers zu sein. Von schmächtiger Figur, von lebhaftem Wesen, Bart und Haare blond, in den blauen Augen Lebenslust und Freundlichkeit, wenig für militärischen Pomp eingenommen, fühlt er fraglos die verantwortungsreiche Last, die ihm das Geschick verliehen, leichter und sorgloser als sein Vater. Geboren am 18. Mai 1868 zählt er jetzt sechsundzwanzig Jahre. Von vornherein zum Thronfolger bestimmt, hat er auch eine vielseitigere Erziehung als sein Vater erhalten. Sein Haupterzieher, General Bogdanowitsch, ist ein entschiedener Anhänger „westdeutscher“ Bildung. Ueber seine Neigungen, über seine Befähigung, seine sozialen und politischen Ansichten ist viel Widersprechendes in die Oeffentlichkeit gelangt. Eins ist sicher, daß Kaiser Nikolaus II. nicht eine derartige Abneigung gegen Deutschland und deutsches Wesen hegt, wie sein Vorgänger auf dem Throne sie lange Zeit gehegt hat, und zum großen Vorteile dürfte es ihm ferner gereichen, daß er sich auf einer neunmonatigen Reise um die Erde tüchtig im Auslande umgesehen und alle Kulturbestrebungen mit Interesse verfolgt hat. Wie er sein schwieriges Amt verwalten, welche Stellung er zu den übrigen europäische Reichen nehmen wird, das zu erörtern ist heute müßig und unmöglich. Möchte er, gleich seinem Vater, an der Seite des lieblichen deutschen Fürstenkindes einen festen Hort im Glück des Familienlebens finden und, wie jener von starker Friedensliebe beseelt, seines verantwortungsvollen Herrscheramtes walten; möchte es ihm ferner beschieden sein, durch segenbringende Reformen seinen Unterthanen den inneren Landesfrieden so zu begründen, daß er in der Zufriedenheit des Volks seine sichere Stütze hat!
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Alle Rechte vorbehalten.
Ein Tag in China.
Einst lag China weit, weit von Europa entfernt. Die Zeiten haben sich geändert: in wunderbarster Weise sind die Verkehrsmittel ausgebildet worden.
Wenn in China etwas Wichtiges geschieht, so kann es noch an demselben Tage durch den elektrischen Funken nach Europa gemeldet werden. So verfolgen wir jetzt Tag für Tag die kriegerischen Ereignisse, in welche sich das riesenhafte Reich verstrickt sieht, um die Angriffe seines beweglicheren Konkurrenten, des Japaners, von sich abzuwehren. Das regt unser Interesse für die dortigen Zustände mächtig an, und gar manchem wird es willkommen sein, sich mit uns auf einen Tag mitten in das Treiben einer chinesischen Hauptstadt zu versetzen.
Nehmen wir an, wir befinden uns auf einem Ozeandampfer, der eben Kanton anläuft, die mächtige Handelsstadt, deren Einwohnerzahl auf anderthalb Millionen Seelen geschätzt wird, und wir dampfen durch die schwimmende Vorstadt, die aus lauter Booten besteht. Jedes Boot ist hier ein Familienhaus, und an 300 000 Meuschen wohnen in dieser Weise auf dem Wasser. Unser Ziel ist aber die kleine Insel Schamin, auf der sich die Fremdemkolonie Kantons befindet. Nur ein schmaler Kanal trennt diesen Zufluchtsort der Europäer von dem betäubenden Gewühl der chinesischen Großstadt.
Niemand hindert uns, dem berühmten Kanton einen Besuch abzustatten, und ein Führer steht bereitwilligst zu unseren Diensten. Auf der Visitenkarte, die der Mann uns überreicht, steht sein Name Ah Cum und darunter auf Englisch „Canton City Guide“ d. h. Führer durch die Stadt Kanton. Er ist ein älterer erfahrener Herr, ein echter gelber Chinese; er trägt ein Seidengewand, ein Käppchen deckt den bezopften Kopf; er geht in Filzschuhen und hält in der Rechten den Fächer. Unter der Leitung dieses Führers werden wir in Sänften in das bunte Getriebe der Großstadt getragen. Sie ist der Mittelpunkt des Handels der reichen südlichen Provinzen Chinas und unser Führer geleitet uns zunächst in einige durch ihre Verkaufsläden berühmte Straßen. Die einstöckigen Häuser stehen dicht gedrängt und bilden enge, kaum 2 m breite, gewundene Gassen. In jedem Hause befindet sich hier ein Kaufmannsladen und in China fehlen auch die Firmenschilder nicht, nur sind sie anders angebracht als bei uns zu Lande, sie hängen senkrecht vom Dache bis zum Erdboden herab, und wie uns unser der chinesischen Schrift kundiger Dollmetsch erklärt, dienen sie zugleich der Reklame. Vor allem versichert der Kaufmann seine Redlichkeit und so liest man auf den grell bemalten Holztafeln an goldenen Schriftzügen schöne Worte wie: „Der Klang unsrer Dollars ist rein wie der Sang der Nachtigall am Bache“ oder: „Ich soll nicht gelb sein, wenn ich nicht ehrlich bin“. Mit Glasscheiben versehene Schaufenster giebt es hier nicht, dafür ist am Eingang zu den Läden in Brusthöhe ein kleiner Bort angebracht, auf dem kleine Gegenstände zur Schau gestellt sind. Das befriedigt unsere Neugierde nicht; wir lassen uns also in einige dieser Läden selbst führen, um die Waren besser in Augenschein zu nehmen und auch einige Andenken an China zu kaufen. Unser bezopfter Cicerone ist ein erfahrener Mann, er kennt den Geschmack der Fremden, in raschem Tempo wird unsere Sänfte durch die Straßen getragen, in welchen Lebensmittelverkäufer ihre Stände haben; mögen die Gelben um Obst und Gemüse, um Gurken und Melonen, um Fleisch und Fische, um Haifischflossen, abgezogene Hunde, Katzen und Ratten sowie andere chinesische Delikatessen feilschen! Wir sind froh, daß wir diese mit schlimmsten Gerüchen erfüllten Straßen hinter uns haben, und machen Halt in einem Stadtviertel, in welchem die chinesische Kunst ihre Werke feil hält. Viele dieser Werke haben über Land und Meer den Weg nach Europa gefunden; sie sind in unseren Museen ausgestellt oder schmücken als Sonderbarkeiten unsere Privatwohnungen. Das meiste gehört unsren Begriffen nach unter die Leistungen des Kunstgewerbes. Der Chinese ist fleißig und geduldig und er ist Meister in seinen Künsten, die eine unendliche Geduld erfordern. Wir haben den Laden eines Elfenbeinschnitzers betreten und der ehrliche gelbe Mann bietet uns [798] allerlei Dinge an, geschnitzte Fächer, Schachfiguren, Eßstäbchenbestecke, die in China die Stelle der Gabel vertreten; den Glanzgegenstand seines Angebots bilden aber ineinander geschachtelte Hohlkugeln, die aus einem Elfenbeinstück gefertigt sind. Unser Zeichner hat auf seinem Bilde S. 801 ein solches Meisterwerk chinesischer Geschicklichkeit abgebildet. Eine größere Elfenbeinkugel, mit mehreren nach geometrischen Gesetzen verteilten runden Löchern versehen, umschließt eine Anzahl schalenförmig umeinander liegender Hohlkugeln, welche sämtlich aus dem nämlichen Stück Elfenbein herausgearbeitet sind und ganz frei beweglich ineinander stecken. Nur die innerste Kugel ist massiv und zugleich winzig klein, etwa von Erbsengröße. Jede der hohlen Kugeln ist außen mit Reliefskulptur bedeckt und hat die nämliche Anzahl von Löchern wie die äußere Kugel. Die letztere ist natürlicherweise am schönsten verziert und zeigt eine ganze Reihe von sauber ausgeführten Darstellungen aus dem häuslichen Leben der Chinesen. Nach unten läuft die Kugel in ein Ornament aus, oben wird sie von einer Figur gekrönt, die wieder in eine Kette, deren Ende ein Fisch bildet, ausläuft.
Von dem Laden des Elfenbeinschnitzers werden wir zu dem des Seidenwebers und Seidenstickers geleitet; es sind hier zumeist männliche Handarbeiten, die unsern Beifall finden, denn der Mann führt in China fleißig die Nadel, ebenso wie er den Hammer schwingt, um Schwerter zu fegen. Unser bezopfter Cicerone geleitet uns ferner auch an den Stand des Klein-Mosaik-Arbeiters. Hier werden uns Schmuckgegenstände von gepreßtem Metall angeboten, auf welche winzige Stückchen von Vogelfedern, die blau und purpurn schimmern, mit unendlicher Geduld und Sorgfalt geklebt sind. Zum Schluß betreten wir einen Laden, in dem die chinesischen Reispapiermalereien feilgeboten werden. Es ist billiges Zeug von geringem Kunstwert, ein Werk mehrerer Handlanger; denn bei diesen Bildern macht der eine Künstler den Umriß, ein zweiter malt das Gesicht, ein dritter die Hände und ein vierter das Gewand. Uebrigens liegen auch Photographien, sowohl europäische und amerikanische als auch an Ort und Stelle gefertigte, im Kunstladen aus. Eben sind auch Chinesen als Käufer erschienen und siehe da, was dem vornehmen Mandarin, einem hohen Beamten, angeboten wird, das überrascht uns in hohem Grade! Fürwahr, das ist das markige Antlitz des eisernen Bismarck, des Altreichskanzlers, der selbst in China weit und breit bekannt ist. Vom Laden des Kunsthändlers ist zum Atelier des Künstlers nur ein Schritt. Wir thun ihn und erleben eine neue Ueberraschung. Auf der Staffelei steht eine chinesische Madonna. Die Jungfrau Maria mit dem Jesuskinde erscheint uns als eine hausbackene Chinesin und auch das Christkind trägt unverkennbar die charakteristischen Züge eines Chinesenknaben. Das Gemälde wurde auf Bestellung eines Missionärs angefertigt; und es giebt viele ähnliche Heiligenbilder im Reiche der Mitte, denn man sucht die Heiligen dem gelben Volke menschlich oder chinesisch näher zu bringen.
Ah Cum, der ehrwürdige Cicerone, gefällt sich in Gegensätzen, denn er geleitet uns in einen der achthundert Tempel Kantons, wo wir an fünfhundert Genien oder Buddha-Apostel als lebensgroße vergoldete Holzbildsäulen bewundern können. Eine dieser Heroengestalten fällt uns ganz besonders auf, denn sie zeigt kaukasische Gesichtszüge, trägt einen europäischen Hut und europäische Stiefel. Unser Cicerone stellt uns den Herrn mit feierlicher Gebärde vor – das soll die Bildsäule Marco Polos sein, des einstigen Verbreiters chinesischen Ruhmes!
Ueber die Religion der Chinesen wollen wir auf unserm Gange durch Kanton Näheres nicht erfahren. Als ein altes Kulturvolk haben die Chinesen verschiedene Religionen und Bekenntnisse – eine nationale Götterlehre, die von Confucius reformiert wurde; sie kennen den Buddhismus in verschiedenen sektenartigen Färbungen und auch Mohammedaner fehlen ebensowenig wie Christen im Reiche der Mitte; aber bei aller Verschiedenheit der Lehren ist eins allen Chinesen gemeinsam – der krasseste Aberglaube. Die Welt wimmelt in den Augen des gelben Mannes von Genien und Dämonen, von bösen und guten Geistern und man steht mit ihnen in China in weit besserem Rapport als bei uns mit den Geistern der spiritistischen Zirkel. In Tempeln und Häusern werden diesen Geistern Altäre errichtet und die Priester haben vollauf zu thun, um bei allen möglichen Anlässen die Götzen zu beschwören oder vor ihren Standbildern zu orakeln. Die Kunstgriffe, deren sie sich dabei bedienen, sind ebenso geheimnisvoll wie die der Zauberer aller anderen Völker. Der Zauberstab spielt auch in China eine große Rolle und bei Beschwörungen der Götzen werden Stäbchen aus wohlriechenden und betäubenden Stoffen abgebrannt; verschiedenfarbige Stäbchen, die aus einem Becher geschüttelt werden, dienen zu Orakelzwecken; Rot gilt dabei als Glücksfarbe, während Weiß die Trauerfarbe bedeutet.
Doch die Zeit drängt und wir verlassen den Tempel, in dem die guten Genien herbeigelockt werden. Uns können diese Ceremonien nicht beunruhigen; denn in unsrer Brust tragen wir nach [799] unserem Glauben unseres Schicksals Sterne. Der ehrwürdige bezopfte Führer ist vielleicht entrüstet, daß wir so gleichgültig gegen den Zauberspuk bleiben, und er hat beschlossen, uns etwas zu zeigen, das auch den Herzen der roten Teufel", wie die Europäer in China geschimpft werden, Schrecken einjagen muß, und er führt uns in den Tempel des Schreckens", der eine Sammlung aller chinesischen Höllenmartern in plastischer Darstellung enthält. Da werden die armen sündigen Seelen zersägt, zerstampft, zerhackt, gekocht und gesotten. Fürwahr, das Bild erschüttert uns, denn die Greuel, die man in diesem Tempel sieht, sind nicht außerirdischen Ursprungs; es giebt eine Hölle auf Erden und auch der gelbe Mann Chinas muß sie oft bis zur letzten Neige auskosten.
Unser Führer hat uns die ewigen Strafen gezeigt, er geleitet uns auch in das Haus, in dem irdische Richter ihres Amtes walten. An einem Tisch ist das hohe Richterkollegium in eigenartiger Tracht versammelt und verhört den Angeklagten, der während der Verhandlung auf den Knieen verharren muß. In unserer Gegenwart läuft die Verhandlung ruhig ab. Wir können uns aber nicht des Eindrucks erwehren, daß man uns roten Teufeln eine Komödie vorspielt. In China hat ja eine Gerichtsverhandlung den Spitznamen ,Qualgeschäft‘ und in der That werden hier Geständnisse nicht nur dem Angeklagten, sondern auch seiner Familie durch grausame Foltern erpreßt. Diese Richter, die da versammelt sind, verhängen auch grausame Strafen. In China gilt noch ein uraltes Strafgesetzbuch, das der Menschlichkeit bar ist; wir sollen auch einen Teil der Strafen kennenlernen, denn der Führer schleppt uns nach einem der Gefängnisse Kantons. Man braucht durch kein finsteres Thor zu schreiten, um seine Schrecken zu sehen. Der niedrige, schmale Stall, in dem die Verurteilten ihre Vergehen büßen, ist von der Straße nur durch ein Gitter aus roh behauenen Baumstämmen geschieden und man kann genau die zerlumpten Gestalten auf schmutziger Streu mustern. Viele sind angekettet, einigen hat man den Kopf durch ein Holzbrett gesteckt; alle sind auf Selbstbeköstigung angewiesen und betteln die Vorübergehenden um milde Gaben an. Buddha lehrte, man solle Uebelthat mit Güte vergelten; als man aber Confucius fragte, ob Unrecht durch Güte zu vergelten sei, erwiderte der Weise Chinas: „Und wie willst Du dann Güte vergelten? Vergelte Unrecht mit Gerechtigkeit und Güte mit Güte."
Zu einer weiteren Sehenswürdigkeit geleitet uns der Führer. Mit einem Gemisch von Stolz und Ehrfurcht zeigt er uns ein großes Gebäude: die Prüfungshalle, die gegen 15.000 käfigartige Zellen enthält. In diesen engen Räumen schwitzen zu verschiedenen Zeiten die gelehrten Kandidaten, welche die chinesischen Staatsprüfungen bestehen wollen, um die höhere Beamtenlaufbahn ergreifen zu können. Diese Staatsprüfung ist schwierig und von hundert Prüflingen pflegt etwa einer durchzukommen. Kein Wunder, schon die chinesische Schrift ist so umständlich und wie weitläufig gestalten sich die chinesische Litteratur und die chinesische Wissenschaft! Der Gelehrte hat eine Kette von Ueberlieferungen zu studieren, die um Jahrtausende zurückreicht. Der gelbe Mann ist auch stolz auf seine Bildung. Die Chinesen kannten ja so manches weit früher als die Europäer. Der Buchdruck, das Schießpulver, der Kompaß waren ihnen von altersher bekannt. Sie dürften mit gerechtem Stolz auf ihre Vergangenheit zurückblicken, wenn sie nur mit der Zeit fortschritten, aber das thun sie nicht; sie zehren an dem alten Erbe; heute sind sie zurückgeblieben und ihr Stolz ist zu einer dünkelhaften Einbildung entartet.
Es hat nicht an Versuchen gefehlt, das verschlossene China zu öffnen und in den Strom der neuzeitlichen Kulturentwicklung hineinzudrängen; in diesem Sinne haben nicht nur die Kanonen an Chinas Küsten und vor Pekings Thoren gedonnert, auch die Missionäre suchten seit Jahrhunderten China der europäisch-amerikanischen Kulturwelt näher zu bringen. Es gab auch eine Zeit, wo am Hofe des Kaisers Schöng-tfu vor zweihundert Jahren Christen verkehrten und europäische Missionäre einen gewissen Einfluß auf den Kaiser hatten. Auf den Wällen von Peking wurde damals ein Observatorium errichtet und Jesuiten wirkten als Hofastronomen. Die Nachfolger Schöng-tfus waren jedoch dem Christentum abhold; im Jahre 1828 wurden auch die Hofastronomen vertrieben und seit jener Zeit steht das Observatorium verödet; aber der neugierige Wanderer kann noch den großen sieben Fuß im Durchmesser haltenden Himmelsglobus und andere trefflich ausgeführte Apparate bewundern. In letzter Zeit bequemte sich China, wenigstens in militärischer Hinsicht europäische Lehrmeister anzunehmen; in Anbetracht der wenig kriegerischen Gesinnung und der notorischen grenzenlosen Feigheit der Mehrzahl der Chinesen, sowie der Untreue und Bestechlichkeit, welche für die chinesische Beamtenwelt charakteristisch sind, konnten die angestrebten Reformen in genügendem Maße nicht durchgeführt werden. In der Gegenwart erhält nun China eine bittere Lehre von dem verwandten Volke der Japaner, das, klüger als die Chinesen, sich früher dem europäischen Geiste gebeugt hat. Zweifellos wird dieser Krieg, wie auch die Schicksalswürfel schließlich fallen werden, ungemein viel zum Anschluß Chinas an die moderne Kulturwelt beitragen. Dann wird auch in den Prüfungshallen des weiten Reiches ein neuer Geist einziehen; ein neues Wissen und Streben wird das alte Kulturvolk beleben.
Das Glück ist uns hold auf unserm Gange durch die Großstadt Chinas; wir können einer Einladung in das Haus eines wohlhabenden Kaufmanns folgen und einen Blick in das Familienleben der bezopften Herren werfen. Wir werden im Salon empfangen, dessen Einrichtung uns steif erscheint. Die Möbel sind aus „Schwarzholz“ hergestellt, das dem Ebenholz ähnlich bearbeitet wird. Die Tische sind fast immer mit Marmorplatten ausgelegt; oft haben auch Stühle diesen Schmuck. Die Wände sind dagegen meist mit den sogenannten Kakimonos behangen, langen Streifen von Papier oder Stoff, die an beiden Enden, oben und unten, mit runden Stäben von Holz oder Horn versehen sind. Glücklicherweise brauchen wir nicht an einem vornehmen chinesischen Diner teilzunehmen und die endlose Liste von allerlei Gerichten, zu denen Land, Meer und Luft das Rohmaterial spenden, auszukosten. Wir begnügen uns mit einer Tasse Thee von klassischer Güte und nehmen teil an den Familienfreuden des Hauswirts. Auch die Kunst kommt zu ihrem Rechte; ein Pianino fehlt, aber jung und alt holt allerlei musikalische Instrumente herbei, Flöten, [800] Posaunen, Trommeln, Pauken und Guitarren. Das Konzert beginnt und wir können uns im Stillen Glück wünschen, daß wir ganz und gar nicht musikalisch sind.
Zum Ruhme des Chinesen kann gesagt werden, daß er häuslich ist. Sein Familienleben ist auf patriarchalischen Grundsätzen aufgebaut.
Trotz aller Rechtlosigkeit sind die meisten Chinesinnen ausgezeichnete Hausfrauen und Mütter und zeichnen sich in uneigennütziger Weise durch eine so gute Führung aus, daß man in China gar oft Denkmälern begegnet, die man tugendhaften Weibern errichtet hat.
Die Sonne neigt sich zum Untergange und unser Cicerone geleitet uns zu der letzten Sehenswürdigkeit seines Programms. Wir kehren zum Fluß zurück, dort winkt uns einladend eine Reihe von Schiffen entgegen. Zu Hunderten stehen sie still verankert in der gelben Flut des Perlflusses; sie bilden die schwimmende Stadt des Vergnügens und werden von den wohlhabenden Einwohnern Kantons gern besucht. Blumenboote hat man sie poetisch genannt und in der That hängen zahlreiche Blumenkörbe von den Decken der prachtvoll geschmückten Kajüten herab. Da sitzen die vornehmen Chinesen bei reichem Mahl oder Gläschen berauschenden Getränks, wobei geputzte Mädchen ihnen aufspielen.
Die Nacht hat ihre dunklen Fittiche auch über die Stadt des Vergnügens gebreitet, aus hundert Schiffen tönen Guitarren und lustige Kehlen. Doch wir sind müde von all den Eindrücken der Millionenstadt am Ostrande der Alten Welt. Wir rudern zurück nach dem Dampfer und sind unter der deutschen Flagge wieder auf deutschem Boden.
Zeit bringt Rosen.
(3. Fortsetzung.)
Die Gesellschaft hatte sich in der Höhle zersplittert, so sehr auch der Führer mahnte, zusammen zu bleiben. Gabriele eilte rasch vorwärts, fast wie auf der Flucht vor etwas – vor dem großen Troß und seinen platten Witzen, meinte Schersen, der ihr unentwegt folgte. So waren sie in ein Gewölbe gelangt, dessen Höhe der Lichtschein nicht zu erreichen vermochte. Hier und da glitzerte aus den dunklen Wänden wie boshaft funkelnde Koboldaugen das Kupfererz. Und leise, eintönig fielen unsichtbare Tropfen aus der Höhe der Grotte.
„Einen schöneren stimmungsvolleren Ort können wir nicht finden,“ sagte Schersen, setzte das Grubenlicht auf einen Felsenvorsprung und faßte nach seinem Skizzenbuch. „Ich bin bereit, beginnen Sie!“ Und mit glückseligem Ausdruck fuhr er fort: „Es ist wahr und wahrhaftig wie im Märchenland – mit Ihnen allein, nur Ihre Stimme hören, nur Ihre Nähe fühlen.“
Durch die eiskalte Luft wehte der warme Hauch seiner Worte zu ihr hin. Langsam wandte sie sich ihm zu. Sie sah beim matten Schein des Grubenlichtes gespensterhaft blaß aus, ihre Augen schienen erloschen. Und mit einer Stimme, die wie von Thränen zitterte, sprach sie: „In dem Reich der Steine kann ich Ihnen keine Märchen erzählen. Ich bin hier heimisch wie das Kind im Vaterhaus. Und vom Vaterhaus fabuliert man nicht, da redet man die Wahrheit. – Mit solchen gebänderten, hellschimmernden, funkelnden Gebilden der Natur, wie sie hier uns umgeben, habe ich als Kind gespielt. Ihre Namen wurden mir von lieben Stimmen genannt, die längst verstummt sind. Mein Vater war Professor der Geologie und Mineralogie, und im Dienst dieser ernsten Wissenschaft ist mein Bräutigam, meine erste und einzige Liebe, gestorben.“
Schersen blickte sie verwirrt an. „Eine einzige Liebe?“ Es lag eine leichte Ueberhebung in seiner Stimme.
„O, die giebt es noch in der Welt,“ sagte sie, und bestrebt, dieser ihrer ersten Liebe auch die Würdigung dessen zu erringen, der am Ausgang der Jugend ihr seine Huldigungen zollte, sprach sie weiter: „Eduard Haller war ein Schüler meines Vaters, sein liebster und bedeutendster. In dem Ballsaal, wo die studierende Jugend tanzte, knüpften sich die ersten Fäden zwischen uns an, in der großen Mineraliensammlung meines Vaters schürzten sie sich zum festen Bündnis. Mein Vater freute sich des gewonnenen Sohnes, meine kränkliche Mutter vertraute getrost mein Schicksal der braven treuen Hand an. Er hatte die akademische Laufbahn gewählt. Wir konnten warten, waren beide noch gar jung.“
Schersen lehnte, in allen seinen Voraussetzungen betrogen, gewaltsam aus seinen Gedankengängen und Empfindungen geschleudert, an dem Eingang der Grotte. Nur die gesellschaftliche Gewohnheit, bei Gemütsbewegungen äußerlich regungslose Ruhe zu behaupten, ließ ihn noch gefaßt erscheinen. Er hatte Zeit, sich auch innerlich zu sammeln; denn, Gabriele, von den Erinnerungen ergriffen, kaum mehr sich bewußt, zu wem sie sprach, fuhr fort: „Da kam er eines Tages erregt zu mir. ‚Ich fordere ein Opfer von Dir‘, sagte er, ‚aber Du wirst es bringen.‘ Er hatte eine Aufforderung bekommen, unter vorzüglichen Bedingungen sich der Expedition anzuschließen, die eine englische Gesellschaft ausrüstete, um das Innere Afrikas zu erforschen. Deutschland hatte noch keinen Anfang mit Kolonien gemacht. Er wünschte anzunehmen; es würde seinem Namen Geltung verschaffen, bei seiner Rückkehr ihm ein weiteres Feld eröffnen und – ich höre ihn noch sprechen: ,Ich bin berufen, mitzuhelfen, daß weite Länderstrecken der Kultur eröffnet, ihre Bewohner einem edleren Dasein zugeführt werden!‘ Wer wäre jung und nicht bereit zu hohem Flug? Ich widerstrebte nicht dem, was ihm als Glück erschien. Mein Vater war zu sehr Gelehrter, um nicht persönliche Bedenklichkeiten einem wissenschaftlichen Unternehmen unterzuordnen; nur meine Mutter seufzte, sorgenvoll.“
Aus fernen Höhlengängen, wo die andern vorwärts drangen, huschte rotes Licht herüber. Gabrieles Augen folgten dem feurigen Schein. „So leuchtete es am letzten Abend, bevor er Abschied nahm, zu mir, die ich einsam am Fenster stand, von dem Fackelzug her, den ihm die Studenten brachten. Musik klang dazu und endlich der feierliche Gesang. Aber die Worte verwehten. Nur – es fiel mir doch sonderbar auf das Herz, trotz meiner gehobenen Stimmung – nur eine Strophe trug der Wind deutlich heran: ,nos habebit humus‘ – ,die Erde wird uns haben.‘“ Sie atmete tief. Leise, unaufhörlich rieselten die Tropfen in das stille Wasser. „Das Wort hat recht behalten,“ fuhr sie fort. „Die erste, welche die Erde deckte, war meine Mutter. Wie weinte ich damals – und wie segnete ich später das Schicksal, das ihr das Kommende ersparte! Der zweite war mein Vater. Mit heiterer Ruhe ging der Erdensohn zu der alten Urmutter hinab; etwas von seiner stolzen Ergebenheit ließ er als edelsten Trost seinem verwaisten Kinde zurück. Den dritten – hat die Erde nicht gehabt.“ Ihre Stimme wurde dumpf. „Anfangs bekamen wir Nachrichten; dann blieben sie aus. Die Zeit ging hin, Monate – wissen Sie, was es heißt: harren, harren mit immer steigender Angst? Dann fiel der Schlag; die Nachricht kam, daß die Expedition verunglückt, aufgerieben sei. Es war nichts schonend zu verheimlichen; die Zeitungen brachten ausführlich den Bericht von einigen entwischten eingeborenen Begleitern. Der Häuptling eines wilden Stammes hatte die Europäer gefangen genommen und dann hinrichten lassen.“
Die Worte waren kaum verständlich von ihren Lippen gekommen. Es wurde totenstill, nur die Tropfen fielen und fielen. Nach einer Weile sprach Gabriele gefaßter weiter: „Ich gehöre nicht zu den glücklichen schwachen Menschen, die durch Ohnmachten und Nervenfieber über die furchtbaren Krisen im Seelenleben hinweggebracht werden. Ich habe den Jammer durchringen müssen, mit den Gedanken jeden Schritt seines Schmerzensweges verfolgend.“
Sie erhob sich von dem Felsstück, auf das sie sich gestützt hatte. Ihr Blick richtete sich sanft auf den jungen Mann, der, leichenblaß, ihr gegenüberstand. Sie wußte, er litt in diesem Augenblick wirklich unter seinem Irrtum, wenn auch verletzte Eitelkeit seine Empfindung steigern mochte. „Nach solchen niederschmetternden Schlägen führt kein Weg zurück in das frohe Getriebe.des Lebens,“ sagte sie mit milder Trauer in der Stimme. Sie ging ihm voraus mit dem leisen geduldigen Schritt, der ihr für ihre Lebenszeit vom Schicksal vorgeschrieben worden war. Er folgte ihr stumm. Das Skizzenbuch war uneröffnet geblieben, das gemeinschaftliche Märchen nicht verfaßt worden.
Aus den Höhlengängen tönten Zurufe, Lachen. Ilses Stimme war nicht mehr zu vernehmen. Vor ihren Anbetern sich versteckend, war sie in dunkle Spalten geschlüpft. Sie brauchte sie nicht mehr;
[801][802] dem Hauptmann Holl mußte ja nun klar geworden sein, daß sie über genug Anbeter verfüge, um den einen leicht entbehren zu können. Ohne zu wissen, wohin, rannte sie weiter. Endlich wollte sie umkehren; drei zackige Pforten standen vor ihr – aus welcher war sie gekommen? Sie wählte aufs Geratewohl die eine, aber die verlor sich in einer Kluft. Also zurück! Den Gang wurde so niedrig – nein – hier konnte sie auch nicht hereingekrochen sein. Abermals zurück! Da standen wieder äffend drei gleiche zackige Pforten vor ihr. Die Angst überfiel sie, sie lief ratlos hin und her. Jetzt kam sie in einen weiten Raum. Wasser füllte ihn, aber ein schmaler Pfad schien hindurchzuführen. Vorsichtig betrat sie diesen. Ein kalter Zug, der aus unerforschten Höhen kam, blies ihr das Licht aus. Tastend ging sie ein paar Schritte weiter, da versank der Fuß in eisiges grundloses Wasser. Sie wandte sich – wieder Wasser! Sie fand den Weg nicht zurück: rings umgab sie die Flut.
Sie rief; der Ton erstickte in dem Raum. Finsternis ringsum – nirgends ein Halt. Schwindel erfaßte sie und sie sank zusammen.
Unterdessen sammelte sich die übrige Gesellschaft wieder in der Eingangshalle. Der Bergmann hob den Spruch zum Abschied an. Da unterbrach Holl ihn mit scharfer Stimme: „Ist die Gesellschaft vollzählig?“
„Ilse fehlt,“ sagte Gabriele, erschrocken.
In ihrem Bestreben, ihren Beziehungen zu Schersen die ihr allein würdig erscheinende Form zu geben, hingerissen von den Erinnerungen an das einst Erlebte, hatte sie eine Zeit lang die junge Freundin vergessen. Jetzt fiel ihr die Verantwortlichkeit für diese schwer aufs Herz.
„Das Fräulein wird doch nicht in der Neptunsgrotte sich verirrt haben! Dort ist das Wasser sechzehn Fuß tief,“ bemerkte ängstlich der Führer.
Die Damen schrien auf.
„Warum sind keine Warnungstafeln errichtet?“ schalt der Bürgermeister.
„Wer hat Fräulein Großheim zuletzt gesehen?“ „Herr Referendar, haben Sie nicht mit ihr getanzt?“ fragten die anderen durcheinander.
Ohne sich um die Gesellschaft zu kümmern, eilte Holl zurück, nachdem er sich bei dem Führer nach der Richtung erkundigt. Gabriele folgte. „Fräulein Großheim! Hallo – hallo!“ rief er in die Gänge hinein. Keine Antwort.
Doch klang es da nicht wie ein Jammerlaut aus der Felsenspalte? Alles leer! Also nur das Echo der Höhle. Aber woher kam der Ton? Vorwärts! Tief unter ihm schien ein neues Grubenlicht aufzutauchen – Täuschung! Es war nur das Spiegelbild dessen, das er in bebender Hand hielt. Weiter, weiter! Gespannt lauschend und scharf beobachtend, den Blick auf die Karte gerichtet, wandte er sich in die engen Erdgänge hinein. Sie standen an einem Felsenspalt, vor ihnen öffnete sich eine Grotte. Dort mitten im Wasser, zusammengesunken auf dem Riff, lag Ilse.
Gabriele atmete auf. „Gott sei Dank!“ sie wollte zu ihr hin.
„Halt!“ gebot Holl. „Hier ist alles Wasser; da führt kein Weg hinüber.“ Er leuchtete hinab. „Sehen Sie die tiefen Abgründe mit den zackigen Felsen? Ich bitte, noch ein paar Augenblicke sich ruhig zu halten!“ rief er mit halb erstickter Stimme Ilse zu. Er eilte zurück, um von der andern Seite zu ihrem Platz zu gelangen, und erschien nach einer Weile hinter ihr.
Ilse richtete sich auf mit angstvollen Augen sah sie ihm entgegen. Ach, sie hätte so gern die Hände um seinen Hals geschlungen, sich ausgeweint! Die Todesangst der letzten halben Stunde hatte den Trotz gebrochen – zu spät. Er umfaßte sie zwar mit starkem Arm und hob sie von dem glatten Riff zu sich herüber; aber er stellte sie hastig auf die Fuße, als stoße er sie von sich. Dabei war er so dunkelrot wie vorhin leichenblaß. Sie empfand etwas wie Furcht, und der Dank, den sie stammeln wollte, erstarb auf ihren Lippen.
Er wandte sich auch schon wieder von ihr ab. Sie sah nur noch sein Profil, das einen kalten entschlossenen Ausdruck trug.
Auch bei Gabriele fand sie keine weiche Rührung; die Freundin war sehr ernst. Stumm ging Ilse neben ihr her. Das nasse Kleid schleifte auf dem Steinboden nach.
Am Ausgang hielt Holl einen Appell über die Gesellschaft und ließ sie dann in geschlossener Kolonne abziehen; er war der letzte. Als Ilse an ihm vorüberschlich, traf sie kein Blick, und als ihre Verehrer sie besorgt nach ihrem Befinden fragten, erhielten sie keine Antwort. Die Elbfrauen hatten ihnen allen schweren Sinn gesponnen.
Die Wagen fuhren vor. Holl bot Gabriele die Hand zum Einsteigen. „Gestatten die Damen, daß wir uns hier beurlauben. Ich will das Gelände in Augenschein nehmen – wahrscheinlich kommt das nächste Manöver in diese Gegend.“
„Und ich möchte ein paar interessante Felsenprofile abzeichnen,“ setzte Schersen hinzu, ohne Gabriele anzusehen. –
Während die Wagen mit den allseitig kleinlaut gewordenen Insassen davonrollten und Holl unter dem Vorwand, Entfernungen abzuschätzen, in die Wiesen hineinging, stieg Schersen zur Falkenburg empor. Wohl erfaßte auch jetzt sein Malerauge die wunderliche Bildung der Felsen, deren weiße Kalkgesichter unter schwarzen Fichtenkappen hervorschauten, die schlanken Raubvögel, die darüber kreisten und dann durch die blaue Luft dem Habichtsthal zuruderten; aber er griff nicht nach dem Skizzenbuch. Er hatte diesmal die Kunst nur als deckenden Schild gebraucht. Er fühlte sich verletzt, daß er trotz seines Werbens um Gabrieles Interesse nicht mehr sein sollte als eine kleine Randbemerkung an dem ernsten Text ihres Lebens. Und diese Empfindung wurde noch überboten von der Beschämung über seine Verblendung. Wie hatte er sie, wie vor allem sich selbst so mißverstehen können! Warum ließ er sich nicht warnen von dem beklemmenden Gefühl, das ihn überkam, als damals Swentas Bild aus dem Skizzenbuch flatterte, als Holl des Whistabends, Stöckei ihrer gemeinschaftlichen Freunde hier in der Gegend gedachte? Sensitive Naturen sollten solche Empfindungen beachten. Sie sind die Sprachen der Seele, die mahnt: werde dir selbst nicht untreu! Und warum hatte er heute spöttisch gelacht, als Gabriele von der „einzigen“ Liebe sprach? Konnte nicht auch er davon reden? Genügte jetzt nicht die Erinnerung an sie, die Herrliche, Einzige, um ihn über die Demütigung hinwegzuheben, daß eben eine andere ihn sanft aus ihrem Leben hinausgeschoben hatte? Ein schwermütiger Seufzer kam über seine Lippen. Aber er galt nicht Gabriele. Ihn däuchte nun, die Beziehung zu ihr sei über seine Empfindungen nur wie ein sanft fächelnder Hauch hinweggegangen, der den alten Schmerz zu dämpfen, aber nicht zu vertreiben vermochte. Seine Augen verloren sich träumerisch in die Weite. Dort, wo das Renaissanceschlößchen aus den Parkbäumen aufragte, entwickelte sich eben eine Kavalkade. Herren in Cylindern – jedenfalls Stöckei darunter – Damen mit Jockeymützen und Reitstöcken, halberwachsene, auf Ponies sich wiegende Mädchen, deren ährenblondes Haar offen herabwallte, Reitknechte sprengten dem Walde zu. Er mußte gestehen: die Damen ritten vorzüglich. Die an der Spitze – doch welche Thorheit! Die Phantasie spielte ihm einen Streich – er hatte nur so lebhaft an sie gedacht. Wo war sein Krimstecher? Zu Hause, weil er seiner in der Höhle nicht bedurfte. Ach, die ganze Partie gäbe er darum, wenn er unterscheiden könnte. – Unmöglich! Sie verschwanden hinter den Bäumen. Nur Pferdegetrappel und hohe helle Töne; wie sie der Wind von lebhaftem Geplauder in die Ferne treibt, klangen noch zu ihm herüber.
Seufzend wandte er sich ab und stieg zu den melancholisch rauschenden Fichten hinauf.
In der Kastanienvilla raunten die Dienstboten durcheinander. Gabriele hatte bei der Rückkehr sofort das Stubenmädchen gerufen, damit es Ilse aus den durchweichten Kleidern helfe; der Hausdiener trug die mühsam von den Füßen geschälten Känguruhstiefelchen fort, die Köchin machte Thee. Ilse ließ alles mit sich geschehen. Mechanisch nahm sie den Thee; wie im Traum erwiderte sie Gabrieles ernsten Gutenachtgruß.
Sie war ganz erstarrt vor Verblüffung. Wie ängstigten sich zu Hause ihre Eltern über einen tollen Streich, wie wurde sie gehätschelt, wenn er dann glücklich ablief! Hier dagegen! Gabriele schien sich beleidigt zu fühlen. Und er? – In den Augen das verständnislose Erstaunen, das alle jungen Menschen überkommt, wenn zum erstenmal ihr Selbstvertrauen erschüttert wird, schlich sie scheu ans Fenster. Die Petroleumlaternen waren bereits gelöscht worden; ein letztes Düftchen hatten sie in die Nachtluft hineingewirbelt, ohne ihrer Frische etwas anhaben zu können. Der Mond guckte durch die Bäume wie stets in kleinen Städten, nicht als ein fernes kaltes Himmelslicht, sondern gleich einem breitgesichtigen gutmütigen Nachbar.
[803] Von der Veranda drüben schimmerte ein glimmender Punkt herüber – eine brennende Cigarre. Wie gebannt davon, ohne sich zu regen, blickte Ilse hinüber. Zuweilen gab der Funke hellen Schein und beleuchtete flüchtig ein bleiches Gesicht. Ihre Gedanken drehten sich angstvoll um die eine Frage: was überlegt, was denkt er? Endlich flog der letzte Funke, energisch fortgeschnellt, über das Geländer. Ein Zittern befiel sie. Es lag etwas so Unwiderrufliches in der Bewegung.
Gleich darauf, hörte sie einen festen Schritt im Hause drüben verklingen. War er wirklich fertig mit Ilse Großheim? Es wäre ihm nicht zu verdenken gewesen. Geplagt hatte er sich genug mit ihr, und sie hatte immer eingesehen, daß alle seine Rügen berechtigt waren. Sie fand die grellroten Geranien zu dem Rosakleid auch schauderhaft und mußte zugestehen, daß sie ein Faulpelz, ein Schlafratz, eine Naschkatze sei. Es war ihr nur so erniedrigend vorgekommen, klein beizugeben. Ach, wenn man doch manchmal ein Stückchen Leben auswischen könnte wie ein falsches Rechenexempel auf der Schiefertafel! Der Schwamm sollte dann schnell über die letzten vierzehn Tage gehen! Aber konnte sie ihre dummen Streiche wirklich nicht wieder gut machen, sich dennoch – „umkrempeln“? Dieser Gedanke stellte sich ihr als etwas sehr Großes dar, denn bis jetzt war ihr immer verziehen worden, ohne daß sie Besserung gelobt hatte. Aber diesmal – ihr Herzklopfen sagte es ihr, diesmal mußte es sein. –
Gabriele hatte aufgeatmet, als sie endlich sich allein befand. Am liebsten wäre sie heimgekehrt zu ihrem friedlichen Dasein, wo junge Stimmchen über eine gefallene Masche klagten oder jubelten, wenn die bestimmte Zahl herumgestrickt war, in das stille Zimmer, wo ihre alten Freunde, die Bücher, sie umgaben; zu ihrem Flügel, an dem die Klänge einer Beethovenschen Sonate sie erhoben über alles Ungemach des Lebens. Und dennoch mußte sie hier ausharren. Ilse würde sonst immer glauben, die Beziehung zu Holl sei durch die Abreise, nicht durch ihre Unbesonnenheit gelöst worden. Dann reifte ihr aus dem Erlebnis nicht einmal eine Erfahrung, die doch immer zuletzt zur Läuterung führt.
Einen Augenblick trat sie an das offene Fenster. Sonst schritt um diese Zeit ein später Spaziergänger unter den Kastanien hin, heute blieb er aus. Der freundliche Verkehr mit dem sympathischen Mann, der auf die feinste Gefühlsregung zu erwidern verstand, war zerstört. Dabei vermochte sie nicht ein leises Unbehagen abzuweisen. War es richtig, daß sie sich hinreißen ließ, dem ihr doch Fremden ihr Schicksal zu erzählen? Männer wie er sind gewohnt, durch ein Fächerwehen sich abwinken zu lassen! Aber sie hatte seiner Annäherung gegenüber das Gefühl gehabt, es sich selbst schuldig zu sein, daß sie ihm keinen Zweifel über ihre Gefühle lasse. Und dann war die ganze Vergangenheit einmal wieder lebendig emporgestiegen, die Decke sprengend, welche Zeit und Selbstüberwindung allmählich darüber gebreitet hatten. Nun nahm er es anders auf, als sie gehofft hatte, von der empfindlichen Seite, und das beschämte sie ein wenig. Dennoch fühlte sie sich wie erlöst.
Sie begab sich zur Ruhe. Draußen säuselte der Nachtwind in den Blättern und schwellte die Vorhänge ihres Zimmers wie Segel. Da war ihr plötzlich, als umgebe sie Rosenduft, so köstlich, wie sie ihn noch nie geatmet hatte. Und auf dem Marmortischchen neben ihrem Bett lag eine Rose, herrlich, blätterreich – aber schneeweiß. Sie ermunterte sich und öffnete die Augen; der Duft umschwebte sie noch, allein die Rose war verschwunden. Nur ihr Ring lag dort, und ein Mondstrahl spiegelte sich in dem Amethyst. Und nun verlor sich auch der Rosengeruch.
Sie lächelte leise, halb schlafbefangen, als grüßte sie etwas Entschwindendem nach. –
Am anderen Morgen erwachte Gabriele mit der befreiten Stimmung, die Träume zurücklassen, in denen die Seele sich über die engen irdischen Schranken emporzuschwingen scheint. Mit Verwunderung hörte sie, daß Ilse, die sonst bis tief in den Tag hinein schlief, bereits aufgestanden war. Sie klapperte mit den Tassen, ließ das Kesselchen bringen, und begann die Eier zum Frühstück zu sieden. Der Morgengruß, den sie Gabriele bot, klang sehr bescheiden. Das wirre Gelock war zu schlichten Scheiteln niedergestrichen, aus denen sich vereinzelte goldige Ringelchen gelöst hatten, die einen kleinen Heiligenschein um ihr verstörtes Gesichtchen bildeten. Die grellen Garnituren, die sie sonst immer zu dem staubfarbigen Kleid trug, fehlten. Ihre Augen gingen gespannt durch das Fenster nach der Veranda hinüber. Die Herren ließen sich nicht blicken. Der Hausdiener allein zeigte sich, beschäftigt, ein Paar Koffer zu putzen.
Gabriele erkannte einen Manöverkoffer. Die arme Ilse that ihr leid. Aber eine beruhigende Antwort vermochte sie auf ihre ängstlich fragenden Blicke nicht zu geben. Einen Trost zu spenden, an den sie selbst nicht glaubte, das ging gegen ihre Grundsätze, und sie hegte die Befürchtung, daß es zu spät sei, um noch einlenken zu können. So frischweg Ilse damals die Türmerin mit einem hübschen Kriegsknecht versorgte, den ihrigen hatte sie verspielt.
Stumm nahmen sie ihr Frühstück ein. Nur zu den Fenstern herein drang mit dem Duft von frischem Laub heiteres Geplauder und Lachen der Damen, die, um die Tische des Vorgartens gereiht, mit Vorbereitungen zu dem morgenden Fest beschäftigt waren.
„Wir brauchen zwanzig Gewinde für die Notenpulte!“ – „Fräulein Gretchen, reichen Sie mir die dunkelroten Päonien her!“ – „Lolo, bring’ das Gold und die blaue Seide mit zu den Fahnenbändern für den Kriegerverein!“ – „Lulu, die Turner wollen auch einen Schmuck um ihren Wahlspruch!“ – „Wo sind die Reifen?“ – „Wo ist der Bindfaden?“ – „Sie kommen gerade recht, Herr Referendar! Befestigen Sie das Seil dort an dem Baum! Da winden sich die großen Guirlanden leichter.“
Ein Fahrrad rollte an. „Herr Ingenieur, wo bleibt Ihr Rollwagen mit den Blumen?“ hörte man die Stimme des Oberpostsekretärs fragen.
„Da, wo Ihre Postboten mit den Antwortschreiben der Nachbarorte stecken,“ entgegnete lachend der Ingenieur.
„Guten Morgen, Herr Bürgermeister!“
„Die Herren wünschen?“ Es war Frau Kerns Stimme.
Die Namen Raunthal und Großheim drangen herauf. Gleich darauf klopfte es an die Thür. Das Stubenmädchen trat ein. „Die Herrschaften unten lassen sich erkundigen, wie der Schreck Fräulein Großheim bekommen ist und ob die Damen zu sprechen sind.“
Ilse schüttelte mit angstvollen Augen den Kopf gegen Gabriele.
„Wir lassen danken,“ sagte diese. „Bedauern, keinen Besuch annehmen zu können. Wir sind noch bei der Toilette.“
Wie ein Echo hallte die Botschaft unten wieder. Stille trat ein. Nur leises Gekicher von jungen Mädchenstimmen ließ sich vernehmen.
„Herr Bürgermeister, wie wär’s, wenn wir zum Frühschoppen gingen?“ Das war die lachende Stimme des Referendars.
„Frühschoppen!“ ertönte ein mächtiges Unisono. Dann zog die Herrengesellschaft ab.
„Generalprobe anhören“ – „die Wagon schmücken“ – „das Treiben in der Stadt ansehen“, hallte es von den Stimmen der Damen noch herauf, immer ferner, wie von einem abtretenden Chor her. Drunten wurde es still.
Ilse ging kleinlaut nach ihrem Zimmer hinüber, um zum erstenmal in Schränken und Fächern aufzuräumen. Gabriele griff zur Arbeit, zum viel verlästerten Strickstrumpf. In der Amalienschule war es üblich, daß jede Schülerin aus dem vom Stift geschenkten Garn sich ein Paar Konfirmationsstrümpfe strickte. Um den Kindern noch eine kleine Fertigkeit beizubringen, hatte Gabriele den Brauch einer früheren Zeit erneuert: sie hielt auf hübsche Strumpfränder. Aus Großmutters Truhe schöpfte sie die Muster, mit den schönen Namen: Pfauenfeder, Zöpfchen, Wendeltreppe und pflegte jedem fleißigen Kinde einen Musteranfang zu arbeiten. Sie packte die Nadelgestricke, die Garnknäuel, alle zierlich gewickelt, das eine wie ein Ei, das andere wie eine Scheibe, zusammen und begab sich auf ihren Lieblingsplatz unter der großen Kastanie. Aufgeschlagen, abgenommen – begann sie ihren Arbeit. Und da sie einmal mit ihrer Armenschule sich beschäftigte, dachte sie auch an das versprochene Märchen. In den Wipfeln flüsterte ein weiches Lüftchen; wie ein Schneegestöber rieselten die zarten Blüten auf ihr Strickgerät herab. Merkwürdig, wie viele Blumen trugen Helme! Ob sie das Märchen mit einem Rittersporn, einem Schwertel, einem Eisenhut ausstattete? Sie schüttelte den Kopf und strickte links herum. Wo blieb da der erzieherische Zweck? Uebten die Helme nicht so schon eine zu große Anziehungskraft aus? Sie ging lieber sicher, drehte den Eisenhut herum, da wurde es eine weiß und blau lackierte Kutsche mit zwei Apfelschimmelchen. In der fuhr der Doktor Akonit und heilte alle kranken Kinder mit seinem heilsamen aber bitteren Tränklein. Ja, bitter wie alle Heiltränke! Ihr Blick ging nach dem Fenster hinauf, an dem Ilses blasses Gesichtchen immer wieder einmal erschien.
(Schluß folgt.)
[804]
Ein Denkmal der Völkerschlacht bei Leipzig. Es ist eine erfreuliche Erscheinung, die man wiederholt seit der Gründung des neuen Deutschen Reiches beobachten konnte: die Bürger des neuen Reiches fühlen eine Art sittlicher Verpflichtung, die Schulden des alten zu bezahlen, die angefangenen Werke der Vorfahren zu vollenden. Was an den politischen Wirrnissen, an der wirtschaftlichen Armut früherer Tage auf halbem Wege scheiterte, was vielleicht nur als Pflicht empfunden, aber unter der Ungunst der Zeiten nicht gethan wurde – heute sieht man eins ums andere aufgenommen vom lebenden Geschlechte und als eigene Aufgabe behandelt. Das Hermannsdenkmal im Teutoburger Walde, die Türme zu Köln und zu Ulm sind die glänzenden Zeugnisse für diesen ehrenwerten Zug im Charakter unserer neuen Reichsbürger.
Und jetzt gilt es wieder eine solche Aufgabe. Das Schlachtfeld bei Leipzig, das Gefilde, auf dem einst in bangen Tagen über das Schicksal unseres Volkes entschieden ward, von dem ein glorreicher Aufschwung der Gemüter hinausging in alle deutschen Lande, auch in die, welche an jenem 18. Oktober 1813 dem fremden Herrn noch Vasallendienste leisten mußten – es trägt noch heute kein Denkmal, das einer so erhabenen Wendung in unserer Geschichte würdig wäre. Wohl fehlt es nicht an einzelnen Erinnerungszeichen: der Fremde pilgert zum „Monarchenhügel“ mit seiner Spitzsäule, zu dem Granitwürfel, welcher dem Oberkommandierenden der verbündeten Armeen, dem Fürsten Schwarzenberg, von seiner Gattin errichtet wurde, er betrachtet sich wohl auch den „Napoleonstein“, der die Stelle bezeichnet, wo der französische Kaiser die Niederlage seiner Truppen mitansah. Aber kein Denkmal steht da, in dem das Ungeheure, das hier geschah, auch nur annähernd zum Ausdruck käme.
Man hat die Lücke schon lange empfunden und auch schon lange die ersten Schritte gethan, sie zu füllen. Bei der fünfzigjährigen Wiederkehr des Siegestags, am 18. Oktober 1863, wurde unter großen Feierlichkeiten, unter der Teilnahme fast ganz Deutschlands der Grundstein gelegt zu einem würdigen Nationaldenkmal der Befreiungskriege. Allein in jenen schwülen unklaren Jahren, da die Lösung der „deutschen Frage“ schwer auf den Gemütern lastete, da war die nachhaltige Stimmung nicht vorhanden für den Ausbau eines Völkerschlachtdenkmals, und seit über dreißig Jahren liegt der Grundstein einsam und verlassen im Felde.
Aber er soll nicht ewig so ruhen. Im neuen Deutschen Reiche ist Licht und Raum für den Geist, der an den Völkerbund von 1813, an die glorreichen Erinnerungen der Befreiungsschlacht anknüpft. Und so hat sich zu Leipzig ein „Deutscher Patriotenbund zur Errichtung eines Völkerschlachtdenkmals bei Leipzig“ gebildet, der in ganz Deutschland die Werbetrommel rührt und Freiwillige sammelt zur Erfüllung einer vaterländischen Ehrenpflicht. Jeder gute Deutsche ist willkommen, der sein Scherflein beitragen will; der erste Vorsitzende des Bundes, Architekt Clemens Thieme in Leipzig, An der Pleiße Nr. 12, ist gern bereit, die Gaben in Empfang zu nehmen. Und wenn dann dereinst das Denkmal steht, in schlichter Größe und Schönheit, wie wir allein es uns denken können, dann wird jeder, der das Seine dazu gethan, sich mit Genugthuung sagen können: auch du hast teilgenommen an der Tilgung einer alten Ehrenschuld.
Meister Grimbart in Nöten. (Zu dem Bilde S. 793.) Der Weidmann kennt heute zwar noch eine ganze Reihe „weidgerechter“ Jagdarten auf den Dachs, aber unter diesen nimmt das „Dachsgraben“ doch eine solch hervorragende Stelle ein und ist besonders in neuerer Zeit, wo der Teckel der Lieblingshund nicht nur der Jäger, sondern – ich möchte sagen – jedermanns geworden ist, dermaßen in den Vordergrund getreten, daß die Zeit vor der Thür steht, wo es ebenso ausschließlich für weidmännisch angesehen wird wie bei den Engländern die Parforcejagd auf den Fuchs.
Es ist Herbst – ein windstiller Tag, und hinaus geht’s in den Forst auf den Haupt- oder Mutterbau, in welchem sich Meister Grimbart, wie die frisch „ausgefahrene“ Erde vor den „Röhren“ und die augenscheinlich beim Herauschleifen verloren gegangenen, zerstreut liegenden trockenen Gräser, Farne und Blätter uns zeigen, sein warmes, wohnliches Winterquartier eingerichtet hat. Was ziehen und zerren die niedrigen, krummläufigen, tollkühnen Kerlchen, die Teckel, doch vor Jagdeifer an den Koppeln! Sie können die Zeit nicht erwarten, da sie tief unter der Erde mit ihrem dickwanstigen Feinde ins Zwiegespräch kommen. Aber sie müssen sich noch gedulden, die schneidigen Burschen – denn zunächst wird von ihnen nur einer gelöst, der alte erfahrene Erdmann, der dann auch sofort in eine „befahrene“ Röhre „einschlieft“, begleitet von dem neidischen langgezogenen, weinerlichen „Gehünsche“ der anderen Krummläufe. Jetzt heißt es still sein, damit wir den durch die Erde gedämpften „Hals“ Erdmännchens hören können und die Stelle finden, unter der er „vorliegt“. Hier ertönt leise der dumpfe Schall – wenn wir das Ohr auf die Erde legen, können wir deutlich die Stimme des Hundes vernehmen – er hat den Dachs gefunden. Jetzt kommt es darauf an, daß er seinen Feind in ein Endrohr treibt – in eine sackartige Stelle des Baus, wo Grimbart, wenn der Hund nicht weicht, weder vor- noch rückwärts fliehen kann. Wenn dann von oben dahin „durchgeschlagen“ (ein Schacht getrieben) wird, wo wir das dumpfe Verbellen Erdmännchens hören, und wir treffen auf die Röhre, so steckt der Dachs in dem kurzen Ende vor uns und wird mit der Zange herausgezogen. Daher kommt es zunächst darauf an, daß wir dem Hunde behilflich sind, seinen Feind ins Endrohr zu treiben. Wir schlagen deshalb mit dem flachen Spaten fest auf die Erde, daß die Schläge dröhnend durch die Bäume hallen.
Richtig, der Dachs hat sich „versetzt“ – Erdmännchen ist unter uns still. Wieder wird die Stelle aufgesucht, wo der Hund verbellt – wieder wird aufgeklopft und wieder ist der Dachs verschwunden. So geht es fast eine Stunde im Bau hin und her, der Hund kann seinen Feind nicht „fest machen“, der Bau ist zu groß. Jetzt wird die ganze Teckelgesellschaft gelöst, vielleicht gelingt es der vereinten Anstrengung, Meister Grimbart in ein Endrohr zu treiben.
Hier unter uns liegt wieder ein Hund vor – – aber es verbellt und „hünscht“ in allen Röhren, an allen Enden. Der Spaten schlägt dröhnend auf die Erde – diesmal klingt der Hals deS Hundes nur um so wütender auf derselben Stelle. Nochmals schallen die Schläge mit der Schaufel laut durch den Forst – – der Dachs wankt und weicht nicht, er steckt im Endrohr. Jetzt heißt es, so rasch wie möglich „durchschlagen“, und die jagdeifrigen Arbeiter graben und hacken drauf los, als gelte es, einen Schatz zu heben. Zoll um Zoll geht’s tiefer hinab in die Erde. Bei jedem Spatenstich klingt der Hals des Hundes deutlicher und wütender herauf – es hört und weiß der brave Teckel, daß er Hilfe bekommt. Plötzlich sinkt der Spaten bis an den Stiel ins Erdreich und hell klingt der Hals des Hundes aus dem sich bildenden Loche hervor – – wir sind auf der Röhre. Behutsam wird die Oeffnung erweitert, damit sie von hineinrutschender Erde nicht ganz verschüttet wird; – da ist der Kopf Erdmännchens – der schweißende Fang, die Augen mit Sand und Erde verklebt – wütend heulend und scharrend, er will über die Erdbarrikade klettern, welche die Röhre versperrt und ihn von seinem Feinde trennt. Dort, an der anderen Seite schiebt sich auch der weißblässige Kopf Grimbarts hervor – aber nur eine Sekunde, dann ist er wieder im Dunkel der Röhre verschwunden. Nur Geduld, Bürschchen, wir kommen gleich!
Plötzlich ein Höllenlärm dort hinten auf dem Bau. Die zuletzl gelösten Hunde haben einen zweiten Dachs gefunden, und dieser, durch die wütenden Angriffe seiner Feinde hin– und hergejagt, ist schließlich „gesprungen“, wie der Jäger das aus dem Bau Laufen nennt
Ludwig Beckmann, der bekannte Düsseldorfer Jagdmaler, hat den
Augenblick festgehalten, wo dieser zweite Grimbart, von seinen Feinden
umringt, einen Augenblick stutzt – hätte er aber den Zeitpunkt fünf
Sekunden später gewählt, so würden wir sehen, wie ein Teckelchen
schweißend Kobolz schlägt und wie der graue Borstenträger, gefolgt von
seinen Feinden, mit ungeahnter Schnelligkeit zur nächsten Dickung flieht –
gewiß auf Nimmerwiederseheu, wenn der Jäger nicht wäre, der ihn mit
gut gezieltem Schuß erlegt. Karl Brandt.
Inhalt: Um fremde Schuld. Roman von W. Heimburg (11. Fortsetzung). S. 789. – Meister Grimbart in Nöten. Bild. S. 793. – Der Thronwechsel in St. Petersburg. Von Paul Lindenberg. S. 795. Mit Bildnissen S. 796. – Ein Tag in China. Von J. Zwenger. S. 797. Mit Abbildungen S. 789, 797, 798, 799 und 801. – Zeit bringt Rosen. Novelle von Stefanie Keyser (3. Fortsetzung). S. 800. – Blätter und Blüten: Ein Denkmal der Völkerschlacht bei Leipzig. S. 804. – Meister Grimbart in Nöten. Von Karl Brandt. S. 804. (Zu dem Bilde S. 793.)