Die Gartenlaube (1895)/Heft 11
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Nr. 11. | 1895. | |
Echt.
(3. Fortsetzung.)
Das laute aus dem Kinderzimmer schallende Zorngeheul des sonst so gutmütigen dicken Hansels ließ vermuten, daß die necklustigen Schwestern etwas mit ihm angestellt hatten. Toni eilte, ihren kleinen Liebling zu schützen, und fand ihn denn auch richtig in höchster Wut, mit den dicken Beinchen strampelnd und gegen die hohnlächelnde Ursula anspringend, welche durch ein ewig wiederholtes: Hansel dummer Bub’ ist! ihn, der vorher friedlich mit seinen Schäfchen spielte, in diesen Zustand versetzt hatte. Voll des heftigsten Bedürfnisses, dagegen zu schimpfen, und doch wegen der Beschränktheit seines Wortschatzes ganz außerstande dazu, schrie er nur wütend in abgebrochenen Stößen: „Supp! Feis! Doboffel! ’Müs! Meh – speis!“ und sah dabei so komisch
[166] aus, daß Toni an sich halten mußte, um nicht in das Gelächter der beiden schwesterlichen Plagegeister mit einzustimmen. Sie schalt die Mädchen tüchtig aus, nahm den schluchzenden Kleinen in ihre Arme und fragte mit dem ganzen Aufgebot ihrer jungen Tantenwürde: „Hast Du keine Aufgaben, Ursi? Es wäre gerade vor dem Essen noch Zeit, damit anzufangen.“
„Fällt mir gar nicht ein!“ jubelte diese, indem sie langbeinig mit fliegenden Röcken und Haaren im Zimmer herumsprang und ihr Heft nach der Decke empor wirbelte. „Unser Fräulein ist so zuwider, und sie mag mich nicht, deswegen lern’ ich extra nichts – hopsasa und tralala!“
„Auf der Stelle kommst Du her und setzest Dich hinter Deine Bücher!“ rief Toni mit so energischem Ton und Fingerdeuten, daß Ursula es für geraten fand, dem Befehl zu folgen, und widerwillig ihren Schulranzen herbeiholte.
Währenddessen trat Irmgard, die ältere und sittigere von beiden, heran und sagte: „Tante Toni, soll ich Dir einmal unsere Kostüme für morgen zeigen? Wir werden zwei Königskinder und bekommen goldgestickte Leibchen und Blumenkränze auf. Unsere Haare werden schon seit acht Tagen abends gewaschen, daß sie wie Goldschaum aussehen, und morgen lockt sie die Mama, so ganz in großen Wellen, weißt Du, damit wir die Schönsten von allen sind.“
„Na,“ sagte Toni, „bis Du einmal die Schönste bist, da kannst noch eine Weile warten, Dirndl, bis dahin hat’s noch gute Zeit!“
„O, durchaus nicht mehr so lange!“ erwiderte die Elfjährige pikiert. „Herr Pereda hat neulich gesagt: das giebt einmal eine wirkliche Schönheit! Damit meinte er mich, und ich hab’s wohl gehört, obwohl er mit der Mama sprach. Der Papa sagt ja auch immer: die Mädeln sind zum Schönsein da!“
„Zum Bravsein wäre gescheiter!“
„Gar nicht!“ beharrte Gertrud. „Wer recht schön ist, bekommt einmal den reichsten Mann und schöne Kleider und Blumen und eine Equipage –“
„Un Wetschekuchen un Nüss’,“ ergänzte Hansel die in seinen Augen lückenhafte Aufzählung, brach aber unmittelbar darauf in ein neues fürchterliches Gebrüll aus, denn Ursula hatte sich herumgeschlichen und fletschte ihn mit aufgerissenen Augen und in die Nasenlöcher gebohrtem Finger aus bedrohlicher Nähe an. Die wohlverdiente Ohrfeige ereilte sie zwar im nächsten Augenblick, aber nur, um auch bei ihr ein zorniges Aufheulen zu entfesseln. Der armen Toni wurde schwül bei diesem pädagogischen Praktikum an ihren schönen Nichten, und es dauerte, trotzdem sie ihre entschlossenste Miene aufsetzte, eine ordentliche Weile, bis sie Herrin der Situation war. Zwischen allem Wehren und Verbieten dachte sie seufzend: „Es ist halt heute auch Freitag, da ist’s ja natürlich, daß alles verkehrt geht, da darf man sich nicht wundern, was auch geschieht!“
Und doch wunderte sich Toni über etwas – noch keine Stunde später, als sie mit den Kindern zum Essen kam; über das seelenvergnügte Gesicht Volkhards nämlich, der im Hereintreten den kleinen Buben abfing und gegen die Decke emporwarf, daß sofort ein lauter Jubel und Hallo losging. Auch Frau Resi schöpfte die Suppe mit gewohnter heiterer Behaglichkeit, sie sah schön aus wie immer in ihrem gestickten granatfarbenen Tuchkleid und wechselte aufs unbefangenste mit ihrem Mann Rede und Antwort, während sie die Teller füllte. Als dann vollends die prächtige Lachsforelle erschien, von der verständigen Köchin zierlich mit Petersilie umkränzt und von neuen Kartoffeln begleitet, da ging dem Manne das Herz auf und er sagte mit bedeutungsvollem Augenzwinkern:
„Bist halt doch eine famose Frau, Resel, verstehst Dein’ Sach’! Kinder, wißt’s was? Morgen wollen wir lustig sein, solid werden wir dann von übermorgen an!“
Nachmittag vor dem Ball …. Aufregung und Hetzerei schon unter gewöhnlichen Verhältnissen, in schlichtbürgerlichen Familien! Wie aber erst in einem Künstlerhause, wo alles kostümiert werden muß, Mann, Frau und Kinder, wo alles Apartheit atmet, Erfordernisse wie Hilfsmittel, und das Kleinste mit derselben Sorgsamkeit behandelt wird wie das Größte, damit schließlich der wahre, unnachahmliche Totaleffekt herauskommt! Da gilt es hin und her laufen, malen, nähen, kleistern, vergolden bis zum letzten Augenblick, das ganze Haus ist in Bewegung bis zur Thürklingel, die auch unausgesetzt geht, um Gärtnerjungen, Schneidermamsells mit großen Schachteln, ausgestopfte Pfauen, vergoldete Palmenwedel und vieles andere, sowie bedrängte Freunde und Kollegen hereinzulassen, die alle noch geschwind etwas zu fragen und zu borgen haben. Nur der Friseur läßt warten, und die Sehnsucht nach ihm steigt mit jeder Viertelstunde. Aber hier heißt es Geduld lernen. Es giebt nur einen in München, dessen Begabung und Darstellungsvermögen in die wahre künstlerische Höhe reicht, und dieser Vielbegehrte fährt seit morgens um acht Uhr wie rasend in der Stadt herum. Bei jedem Klingelzug hofft man: er ist’s! aber siehe da, es ist jedesmal ein anderer.
Es dämmerte bereits; den Kaffee hatte man rasch getrunken, Hachinger, der zu allen Tageszeiten Erscheinende, war, wie Toni hoffte, zum letztenmal für heute dagewesen und mit Volkhards letzter Hellebarde abgezogen, nun wandte sich Toni, nachdem sie der Kinderfrau geholfen, die schönen blonden Mädchen bis aufs Kostümüberwerfen herzurichten, ihrem eigenen Stübchen zu, wo seit dem frühen Morgen schon alle Gewandstücke sorgsam auf dem Bette ausgebreitet lagen: das Unterkleid von altem Goldbrokat, die purpurne Tunika samt allem Schmuck und den seltsam verschnürten Sandalen.
Toni brauchte den Friseur nicht, ihr dichtes lockiges Haar durfte nur aufgelöst werden, um sich in großen Wellen bis zum Gürtel zu ergießen; dann würde sie den juwelengeschmückten Reif darauf setzen, die ‚mystische Krone‘, wie er gesagt hatte! Sie wußte zwar nicht, was das heißen solle, aber es klang doch wunderschön und sie stand lange, verträumt die großen Perlen und Rubinen anstarrend. Dann machte sie sich daran, das Haar zu lösen, denn bei seiner großen Fülle war das glatt Auskämmen eine ziemliche Arbeit. Kaum hatte sie die ersten Nadeln gezogen, als ein scharfer Riß der Thürglocke durchs ganze Haus gellte. Aha! der Friseur … Aber nein, es war eine bekannte Stimme, die hastig und laut nach Frau Volkhard und Fräulein Schwester fragte. Jetzt, um halb fünf Uhr – was mochte das zu bedeuten haben?! …
Toni steckte eilig die Haare wieder auf, dann trat sie ganz leise auf den kleinen Vorplatz hinaus, wo sie das erleuchtete Treppenhaus übersehen konnte. Richtig! Da unten stand Pereda in lebhafter Verhandlung mit dem Hausmädchen Greti, welches erklärte, die Damen seien für niemand mehr zu sprechen.
„Ich weiß schon; melden Sie mich nur gleich an,“ erwiderte er mit imponierender Selbstverständlichkeit. „Flink! ich habe keine Zeit zum Warten.“
Die dicke Greti sah in sprachloser Bedrängnis nach oben, ob sich vielleicht jemand zeige. Pereda folgte dem Blick und eilte, als er Toni sich über das Geländer beugen sah, ohne ein weiteres Wort die Treppe empor zu ihr. Es war fast ein Kniefall, mit dem er von der vorletzten Stufe aus ihre Hand erfaßte und rief: „Mein gnädiges Fräulein, helfen Sie mir, ich bin ohne Sie ein verlorener Mann.“
Sie sah ihn voll Bestürzung mit großen Augen an. Was mochte ihm begegnet sein? Er sah so blaß und aufgeregt aus, daß sie Angst für ihn empfand. „Gern –,“ stammelte sie, „wenn ich Ihnen etwas helfen kann – aber, was ist es denn? …“
„Sie müssen heute abend auf meinem Wagen die ‚Phantasie‘ vorstellen,“ erklärte er hastig, indem er, sich zu ihr herabbeugend, ihr dringend in die Augen sah. „Wollen Sie? Ja, nicht wahr? O, Sie ahnen nicht, was Sie mir damit erweisen!“ Und er küßte ihr feurig die Hand.
Toni hatte nicht Ja gesagt, sie hätte gar nichts sagen können vor dem Sturm von wirbelnden Gedanken, der durch ihren Kopf fuhr. Sie hörte, ohne zu begreifen, sie hatte nur ein Gefühl der vollkommenen Unmöglichkeit … Sie auf Peredas Wagen?! Eine Hauptfigur im Zug … jetzt, drei Stunden vor dem Ball … ja, warum denn und wieso? Sie verstand ja keine Silbe von allem, was er, sich überstürzend, an sie hinsprach.
Da kam aber schon hinter ihnen Frau Resi, von dem bestürzten Hausmädchen benachrichtigt, eilig die Treppe herauf. Sie knöpfte noch eben den Schlafrock am Halse zu und fuhr dann mit beiden Händen auf den Kopf, um die halb herabfallenden roten Haarmassen eilig wieder mit dem Kamme zusammenzudrücken.
„Was giebt’s denn?“ rief sie vom untern Absatz herauf. „Was wollen Sie denn, Herr Pereda? Kommen Sie doch da herein, daß man mit Ihnen reden kann!“
[167] Sie öffnete die Salonthüre, Pereda sprang die Stufen herab, Toni folgte, und als sie eingetreten waren, erfuhr sie denn auch endlich den Grund der plötzlichen Schicksalsfügung.
„Frau von Hetvary hat mich benachrichtigt, daß sie die ‚Phantasie‘ nicht vorstellen kann,“ sagte Pereda mit einer gewaltsamen Anstrengung, unbefangen zu scheinen. Ein gewisses Vibrieren der Stimme konnte er aber dabei doch nicht unterdrücken.
Frau Resi starrte ihm ein paar Sekunden sprachlos ins Gesicht. „Nein – so etwas!“ rief sie endlich mit gut bürgerlichem Erstaunen. „Was hat’s denn da – ich meine, was verhindert denn die Frau Baronin?“ … Die lebhafteste Neugier funkelte ihr aus den Augen, während sie auf Pereda zutrat und ihm dringend die Hand auf den Arm legte.
„Sie ist – indisponiert …“ erwiderte er kalt abweisend. „Aber darum handelt es sich jetzt nicht. Mein Fräulein“ – Toni fühlte einen wonnigen Schauer, als die schon in der Gleichgültigkeit bestrickenden Augen jetzt so warm und bittend in die ihrigen drangen – „mein Fräulein, werden Sie mir die Gnade erweisen, um die ich Sie anflehe?“
„Ja – gern,“ erwiderte das erglühende Mädchen, „aber wie soll denn das möglich sein – in der kurzen Zeit?“
„O, das ist die einfachste Sache von der Welt. Ich habe mir erlaubt, das Kostüm gleich mitzubringen … Hier ist es …“ Er öffnete das mitgebrachte Paket und zog ein paar zarte Gewebe mit Goldsäumen heraus, die er auf den Diwan breitete.
„Das von der Baronin?“ warf Frau Resi, nun doch etwas empört, dazwischen.
„Verzeihung – es ist mein Eigentum, ich habe es herstellen lassen und niemand hat es bis jetzt berührt. Lauter lose Schleiergewänder,“ er wandte sich wieder an Toni, die in ihrer wachsenden Glückseligkeit ganz verklärt aussah, „wenn Sie gestatten, so zeige ich Ihnen, wie sie gesteckt werden müssen, wenn Sie angezogen sind.“
„Nein – so etwas!“ rief Frau Resi, die sich noch durchaus nicht in diese plötzliche Sachlage finden konnte, aufs neue aus. „Das Tonerl als ‚Phantasie!‘ Nehmen Sie mir’s nicht übel, lieber Herr von Pereda, aber mir scheint, Sie vergreifen sich in der Person. Das ist doch ein Unterschied von dem stumpfsinnigen Gesichterl da mit Ihrer süperben Ungarin.“
„Ja - der Unterschied zwischen einer verblühten Schönheit und einer aufblühenden,“ fuhr er mit einem grimmigen Stoß heraus, faßte sich aber gleich wieder zusammen. „Ohne Sorge, gnädige Frau! Diese ‚Phantasie‘ wird alle Augen entzücken – und die Herzen auch. Geben Sie Ihr Ja dazu und stimmen Sie den Gemahl ebenfalls günstig! Aber so schnell als möglich, wir haben wirklich keine Zeit mehr zu verlieren.“
„Ja so, der Hans!“ erwiderte Frau Resi gemütsruhig, „den sollt’ man auch noch fragen. Na, den nehm’ ich auf mich, dagegen haben kann er ja nichts. Also gut, kommen Sie in einer Stunde angezogen wieder, dann richten wir das Tonerl zusammen – Jesus –“ fuhr sie bei einem heftigen Läuten empor, „das ist aber jetzt gewiß der Friseur, ja, Greti, ich komme schon! Also adieu,“ sie war schon halb auf der Treppe, „adieu, eilen Sie sich, machen Sie, daß Sie fortkommen, ich wollte sagen, daß Sie wiederkommen, wenn wir soweit in Ordnung sind … um sieben … pünktlich … Wagen bestellt …“
Das Uebrige verhallte in dem von unten empordringenden Stimmengeräusch und im eilfertigen Thürenzuschlagen.
Die beiden im Salon standen sich ein paar Augenblicke gegenüber, ohne zu reden. Der Vielerfahrene sah die innere Bewegung des Mädchens, den strahlenden Glanz ihrer dunklen Augen, er fand sie zu seiner Ueberraschung heute noch sehr viel hübscher als vor drei Tagen und begann die Hoffnung auf einen wirklichen Effekt zu fassen, statt des Lückenbüßers, wegen dessen er hergekommen war. Wenn die Kleine diesen Ausdruck behielte – den schwärmerischen Blick, die leicht geöffneten Lippen, während sie das Köpfchen ein wenig zurückbog – ausgezeichnet! So sah sie geradezu reizend aus. … Nun, diese Stimmung konnte man ihr ja erhalten! …
Sein Gesicht zeigte so deutlich, was er dachte, daß Toni über und über errötete und umsonst nach einem Wort suchte, um sich der heftigen Beklommenheit zu erwehren. Nun trat Pereda rasch auf sie zu mit einer Bewegung, als wollte er sie an sich ziehen, sie wich zur Seite und glaubte im nächsten Augenblicke schon, sich geirrt zu haben, denn er ergriff nur ihre Hand und zog sie zu einem nochmaligen warmen, bedeutungsvollen und langen Kuß an seine Lippen.
„Meine Phantasie!“ hörte sie ihn leise sagen, und sie zürnte nicht darüber. Im Gegenteil! Der Zauber seiner Nähe und Vornehmheit entzückte sie ebenso wie der feine Duft des Bartes, der sich so leicht und zart auf ihre Hand drückte – sie fühlte eine nie vorher gekannte Glückseligkeit und zum erstenmal regte sich in ihrem Herzen die Empfindung: wäre es denn möglich? Könnte das möglich sein? …
Ein paar Herzschläge lang dauerte es, dann besann sich Toni und schüttelte die Gedanken, welchen sie jetzt nicht nachhängen durfte, gewaltsam von sich ab, die resolute Seite ihrer Natur gewann rasch wieder die Oberhand, sie befreite sich aus der gefährlichen Nähe und sagte, nach den Gewändern deutend:
„Ich weiß aber doch gar nicht – Sie müssen mir erst noch sagen – was ich denn eigentlich zu thun habe. Soll ich wirklich vor den vielen Menschen allein da oben stehen?“
„Sie meinen: allein mit mir?“ fragte er bedeutungsvoll. „Nein, leider nicht, wir haben noch zwei Garde-Engel an Bord. Aber die Hauptfigur sind Sie allerdings und Sie müssen mir alle Ehre machen, das Köpfchen hoch und frei wagen, sehen Sie, so!“
Und in seine Brusttasche greifend, zog er ein Blatt Papier heraus und legte es vor Toni hin, eine Farbenskizze des Wagens mit dem Palmendach, und, aus dem dunkeln Grün sich vorhebend, die Figur der „Phantasie“, von einem Flug bunter Schmetterlinge umschwärmt und einen davon einen großen dunkelfarbigen Wunderfalter auf der erhobenen rechten Hand tragend.
„O wie schön, wie schön!“ rief Toni, die Hände zusammenschlagend. „Ach, und der glänzende Stern über der Stirn, kann man den wirklich so fest machen, daß er stehen bleibt? O, ich bin lange, lange nicht schön genug für eine solche Figur! Und die Palmen – die goldenen Zweige – die großen weißen Blumen –“
„Lotosblüten! Ein paar davon werden lose in das Haar geflochten und fallen von den Schultern herab.“
„Wundervoll! Aber –“ fügte sie etwas nachdenklich hinzu, „Sie sprachen doch vorhin von zwei Engeln, die mitfahren sollten. Die sehe ich ja nicht. Sie werden doch noch dazu kommen?“
„Unbesorgt,“ sagte er, laut auflachend über den Kontrast dieser Anschauung zu einer gewissen anderen, „die stellen sich in der Garderobe sicher ein. Wir können sie rechts und links an den Wagen hängen, wenn kein Platz mehr unter den Palmen ist!“
Sie sah ihn ungewiß an. Sonst war es ihr doch nicht schwer, auf einen Spaß eine Antwort zu finden, aber diesem gegenüber – nein, da kam sie schon immer noch einmal so ungeschickt heraus, als sie von Natur war.
„Toni!“ rief es jetzt laut von unten.
Pereda griff nach seinem Hut.
„Darf ich das Blatt bis heute abend behalten?“ erkühnte sie sich nun doch, hastig zu fragen, indem sie die Hand danach ausstreckte.
„Es gehört Ihnen, wenn Sie es nicht verschmähen,“ erwiderte er, sich verbeugend. „Eine kleine Gegengabe für eine sehr große Liebenswürdigkeit!“
„Er ist doch ein wunderbarer Mensch!“ dachte sie, während sich die Thüre hinter seiner schlanken Gestalt schloß. „Herrgott – wenn der einen wirklich lieb hätte und heiraten wollte, das müßt’ schon ein Glück sein über alle Möglichkeit! … Ach nein, nur gar nicht denken, er denkt ja auch nicht daran, ich bin eine Närrin, daß ich auf so ’was komm’! … Aber heut’ abend, heut’ abend, da soll’s herrlich werden!“ …
„Sie ist doch ein bißchen klein,“ faßte er seinerseits das Ergebnis des Abschiedsblickes im Treppe-Herabgehen zusammen und spann, aus der Hausthüre tretend, den Gedanken weiter. „Ich muß noch rasch ein Piedestal festmachen lassen, daß die Wirkung ordentlich herauskommt. Das Kleid ist ja lang genug. Ah – Satansweib!“ Seine Gedanken fielen mit einem Schlag in ihren früheren Mittelpunkt zurück. „Diesen Streich sollst Du mir noch bereuen!“ Er schlug mit dem Stöckchen auf ein paar verdorrte Stauden am Wege ein. „Wo sie heute abend wohl stecken mag, wenn der Zug losgeht? Im Saale ist sie sicherlich, um sich an meiner Niederlage zu ergötzen. Haha! sie soll sich wundern über die Stellvertreterin … und sie weiß nicht, wer es ist, das ist das Schönste!“ Er lächelte boshaft vor sich hin. „Ich gäbe etwas darum, wenn ich ihr Gesicht sehen könnte, so wütend wie sie sein wird. Na – lange wird es ja nicht dauern, bis ich es zu sehen bekomme, zwölf Stunden zum höchsten. Aber dann – eisige Kälte, je toller sie wird – Ihr Diener, gnädige Frau! Und fertig für immer. Ich hätte es früher schon so machen sollen …“
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Er blieb stehen, um die Pferdebahn zu erwarten, sprang auf und fuhr dem Odeon zu, wo ihn vor einer Stunde, mitten im Drange der vielen Schlußvorbereitungen, die wohlberechnete Absage ereilt hatte. Nun galt es, in fliegender Eile das Versäumte nachholen. Einen Teil davon würde ja wohl der unermüdliche Hachinger, der Allerwelts-Packesel, wie ihn Pereda im stillen nannte, bereits besorgt haben.
Aber dieser sonst so Anspruchslose, der schon seit dem Morgen hier im Schweiße seines Angesichts als Schreiner, Tüncher und Tapezierer wirkte, er hatte das plötzliche Weglaufen des „eingebildeten Hochmutspinsels“, wie er seinerseits den schönen Niederländer und nicht einmal nur im stillen bezeichnete, als Rücksichtslosigkeit empfunden und polterte jetzt mit einer Kühnheit, die ihn selbst erstaunte, allerdings hinter der Deckung des Phantasiewagens, hervor: „Hören Sie, Pereda, wenn Sie jetzt nicht fix dabei bleiben, so werden wir nicht mehr zur rechten Zeit fertig. Um acht Uhr muß die Geschichte anfangen, wissen Sie?“ …
Pereda trat langsam um den Wagen herum und maß den erhitzten und sofort in Verlegenheit geratenden Kleinen, der, ohne die Augen zu erheben, doppelt eifrig an den Rädern herum [169] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
hantierte, mit einem Blick unendlicher Geringschätzung, wie von Wolkenhöhe herab.
„Die Geschichte fängt an, wenn wir fertig sind, mein Bester,“ sagte er kühl. „Und so lange das nicht der Fall ist, werden die da draußen sich gedulden müssen. Das Warten schadet ihnen nicht!“
Und sie warteten in der That, die dichtgedrängten Tausende im reichgeschmückten Odeonssaal, warteten mit der rühmlichen Geduld, welche das Münchener Publikum den Veranstaltungen seiner Künstler stets entgegenbringt, und konnten dies um so leichter, als die gegenseitige Betrachtung schon Unterhaltungsstoff für verschiedene Viertelstunden gewährte. Im „Reich der Phantasie“ war Platz für jede Erscheinung, und so sah man denn alle Formen und Farben hier wandeln, von den olympischen Göttern an bis zu Schnapphähnen und Galgenvögeln, deren schauerliche Echtheit ihnen auf jedem anderen civilisierten Maskenball den schleunigsten Hinauswurf zugezogen haben würde, hier aber eines bedeutenden Achtungserfolges sicher war. Was anderwärts die Hauptsumme eines Maskenballes ausmacht und sich auch hier als Grundgewebe [170] durcheinander schob an Türken, Chinesen, Volks- und historischen Trachten, Zulu- und anderen Negern, das würdigte kein Kundiger eines Blickes. Aber als Arm in Arm Rubens und van Dyck erschienen, in vollendeter Porträttreue wie aus dem Rahmen niedergestiegen, da entstand überall eine Gasse, es schloß sich auch gleich ein freiwilliges Gefolge an, aus dessen Mitte der Ritter von der traurigen Gestalt, neben einer langen Gelbrübe wandelnd, hoch hervorragte. Mit lauten Bewunderungsrufen grüßten die großen Meister ihrerseits ein wildes Germanenpaar, das ihnen plötzlich in den Weg trat. Der Mann, eine Hünengestalt mit mächtigem Haarbusch, viel Trikot und wenig Tierfellen um die muskelstarken Glieder, schwang den plumpen, stierhautumzogenen Schild und die schwere Streitaxt unter lautem Klirren seiner Armringe von Bronze. Das Weib, von roter Mähne umwallt, trug ein grobes, mit Leder gegürtetes Leinengewand, das mit schmalen Streifen vom Fell der Wildkatze besetzt war. Barbarisches Schmuckgehänge von Thonperlen und Metallstücken umgab Hals und Arme, grobe Fellsandalen, mit Riemen geschnürt, boten den Füßen Schutz. So zogen sie hin: zwei auserlesene Menschenbilder voll Urkraft und wilden Reizes.
„Das ist doch ein bißchen gar zu echt,“ sagte, als sie vorüber kamen und die Germanin, mit blanken Zähnen lachend, zum Dank für die Bravorufe die Faust ins Publikum ballte, eine vor dem Andrang zwischen die Säulenstellung hinaufgeflüchtete ältliche Gestalt in dunkelm Rock mit einem auf bretagnische Weise gesteckten Kopftuch zu ihrem Begleiter, einem jungen rotbackigen Krauskopf, dessen ritterlicher Stand unzweifelhaft dargethan wurde durch ein violettes Wams von Baumwollsammet, einen zackigen Spitzenkragen und ein steifes Barett mit schmutzigen Federn und einem wunderschönen Glasfluß-Smaragd als Agraffe.
Sie hatte es ihm anders geraten, die erfahrene Reisende, die ihre Bretagnerin mit Vermeidung jedes Leihgeschäftes einzig den Schätzen ihres Koffers entnahm und selbst herstellte, sie wollte ihm in der Maskengarderobe eine schwarze Lederhose, den breiten grünen Tirolergürtel und einen Lodenhut mit Gemsbart aufnötigen, weil ihm das entschieden am besten stände. Aber damit war sie bei Lorenz Käsmeyer übel angekommen. Einen Bauern machen, warum nicht gar! Auf einem solchen nobeln Ball mußte es etwas „Schönes“ sein. Ob das Fräulein denn meine, frug er beleidigt, daß er gar so grob und gemein aussehe, daß er nur für einen Bauernlackel tauge.
Hierauf hatte Sophie Panke nichts mehr erwidert und seufzend Stück für Stück des „spanischen Hofkostüms“ aus den Händen der Verleiherin in die seinigen übergehen sehen. Der Totaleffekt am Abend entsprach denn auch durchaus ihren Erwartungen, und sie wunderte sich nicht, hier und dort ein lachendes Gesicht oder einen Ellbogenstoß zu bemerken, wenn sie mit ihrem Schützling vorüberschritt. Nur dachte sie nicht, daß die Hälfte davon ihrer eigenen gesetzten Persönlichkeit galt, deren kritische Hakennase auch sonderbar genug in dies Reich der Phantasie hineinragte.
„Hier unter den Säulen kann man wenigstens wieder einen Atemzug thun,“ sagte sie nach Besitzergreifung eines kleinen freien Raumes, „das Gedränge dort unten ist greulich. Und welche Verspätung!“ Sie zog die Uhr. „Dreiviertel Neun, wahrhaftig. Das ist doch auch wieder eine echte Münchener Bummelei. So etwas kommt bei uns in Berlin entschieden nicht vor.“
Lorenz sah sich unbehaglich und mit einer gewissen Vorsicht um. Aber in dem allgemeinen Stimmengeräusch hatte niemand auf die strafende Rede geachtet.
„Ja, ja,“ versetzte er begütigend, „es sind halt viele Leut’ bei dem Zug, da kann’s auch nicht gerade so accurat zusammengehen. Und die Völle da oben auf der Galerie, schauen Sie nur gerade da hinauf,“ er wies, um abzulenken, nach den dichtgedrängten Kopfreihen empor. „Und die prachtvolle Dekoration! Die Säulen stecken ja ganz in lauter Laub und Blumen. Käfer und Eidechsen, fußgroß, und Schmetterlinge von allen Farben, das ist ja doch wunderschön!“
Sie sprach ihre Zustimmung aus, währenddessen wanderten seine Blicke weiter auf die abgeblaßten alten Deckengemälde und nach einem Weilchen fragte er:
„Sagen Sie einmal, Fräulein, ist das jetzt schön gemalt, die Figuren da oben? Gefallen sie Ihnen?“
„Hm!“ erwiderte sie, sich in das Anschauen des Königs Midas und des göttlichen Citharöden Apollo vertiefend, „schön wird das heute wohl niemand nennen. Aber was ist denn heutzutage schön? Darauf giebt es keine Antwort. Und – ja, sehen Sie, eben darum können einem die alten Bilder gefallen. Die sie malten, die haben’s gewußt, was sie für schön hielten, und haben es so recht überzeugt hingemalt. Solch ein gläubiges Selbstvertrauen bringt heutzutage niemand mehr fertig, so viel geschickter und gescheiter die heutigen geworden sind. Wenn sie könnten, schlügen sie die alten Fresken da oben gewiß herunter. Ob sie aber mit aller Geschicklichkeit etwas Erfreulicheres an die Stelle setzen könnten, das fragt sich noch sehr!“
„Verrückte alte Schachtel!“ sagte ein hübscher, halb schwarz, halb roter Florentiner gegen einen anderen gewandt. „So ’was will von Kunst reden!“
„Es geht los!“ rief im gleichen Augenblick ein anderer. Durch die plötzlich eintretende Stille von wenigen Augenblicken hörte man gedämpfte Kommandorufe jenseits des deckenhohen Vorhangs, der das obere Halbrund des Saales verhüllend abschloß. Alles drängte in dichtem Getümmel der durch Schranken freigehaltenen Saalmitte zu, Lorenz und seine Begleiterin aber verharrten auf ihrem erhöhten Standpunkt unter den Säulen.
Abseits vom Wege.
Es ist an einem Aprilnachmittage; die ganze Welt in Glanz getaucht, in Duft gehüllt; es blendet mich, daß ich sekundenlang die Augen schließen muß, als ich, um viele Piaster ärmer, um ein halb Dutzend wunderbar schöner, alter Fetzen reicher, sehr müde und matt aus dem Riesenbazar hinter der Yeni-Djami, der Neuen Moschee zu Stambul, ins Freie trete. Mein Führer und ich sind fast ganz auf die Fingersprache angewiesen. Er ist ein Inselgrieche, ein schlanker Chiot in meines Gastfreundes, des Paschas, Dienst, spricht türkisch, griechisch, zwanzig Worte italienisch und zehn Worte französisch. Ich rede englisch, deutsch, französisch und fünf Worte italienisch; für den Notfall genügt das bei haushälterischer Anwendung und die Augen des Chioten sind unbeschreiblich sprechend. Er bahnt mir den Weg durch das Heer von schreienden und bietenden Händlern bis zum belebten Fischmarkte, dem Balyk-Bazar, der für heute schon fast ausverkauft scheint. Nur die kleinen Silberfischchen, die später, getrocknet und gesalzen, in langen Ketten an den Häusern der stillen Vorstädte und Dörfchen hängen, wimmeln noch zu Tausenden in ihren flachen Körben und Schalen und der mildherzige Imam der Aussätzigen drüben aus Skutari macht seine Einkäufe und wechselt dabei gravitätische Höflichkeiten mit dem verzottelten Bettelderwische im buntgeflickten Kaftan.
Da sind wir schon am blauen Wasser bei der Validebrücke und mein Chiot macht mir mit tragisch eindringlichem Blicke deutlich, daß er gar zu gern seine Mutter, links drüben zwischen Fanar und Balat, besuchen möchte.
„Wenn Madama nicht eine Madama wäre, würde ich sagen: das Balat ist sehr merkwürdig – sehr, sehr merkwürdig!“
„Nun denn – fahren wir hinüber, Monsieur Nicoli.“
„Ma – – !“ Er schüttelt sich und streicht mit einer Gebärde des Grausens an seinen glatten, glänzenden Haaren und der sauberen Uniform hinunter. Da ich nicht sofort verstehe, macht er das resignierte Gesicht eines unglücklichen Liebhabers vom Theater, wirft, zungenschnalzend, den Kopf zur griechischen Verneinungsgebärde in den Nacken und ruft den braunen und sehnigen Kaïkdji heran, der uns bereits mit gierigen Blicken beobachtet.
Rascher als gehofft werden wir mit dem Barkenführer handelseinig und vertrauen uns, eng nebeneinander gedrückt, dem schmalen Kaïk an. Diese türkischen Gondelchen, namentlich die mit nur einem Ruderer, sind als äußerst gefährlich verschrieen, ich kann mich aber zu keinem Gefühle der Furcht aufschwingen. Die Dinger sind gar zu graziös und reizend, ihr schmaler Rand liegt so hart auf den schimmernden und schmeichelnden Wogen, und wenn man [171] thörichte und überflüssige Bewegungen meidet, fliegen sie dahin, vogelleicht, vogelschnell, und gleiten durch das Auf und Ab der Wogen so glatt wie eine rollende Kugel. – Am sichersten und angenehmsten sitzt man auf türkische Art, die Füße angezogen, in den Polstern am Boden. Unser Kaïk hat besonders hübsch geschnitzte Seitenwände: vergoldete Tulpenstengel durch Perlenreihen verbunden – wie heiter stimmt das Gold zum hellen Tone des Olivenholzes! Diese Einfahrt ins Goldene Horn mit seinem unglaublichen Schiffstreiben, Mit seinen Ufern, an deren Hügeln die vorstädtischen Häusergruppen der Riesenstadt sich aufbauen und drängen, hundertgestaltig, hundertfarbig, zierlich wie Vogelkäfige, düsterschwer wie Kasematten, ist geradezu einzig herrlich. Ueber die Häusermassen hinwegragend Kuppeln und Minarete, spitze Cypressen, kohlschwarz, breite Pinien, tiefgrün, blütenüberschüttete Judasbäume, dunkelrosenrot! Und dazu welches Leben! Das Schnauben, Puffen und Pfeifen der Dampfer, das weiche Flattern der Segel, indem sie sich umlegen, das helle „warda!“-Rufen der Kaïkdjis, „gieb Acht!“ – das melancholisch wilde Singen der Türken, die lieblich schlichten Volksweisen der Griechen. Und das Wasser so still und schön, bläulich, grünlich schillernd, streckenweise ganz und gar vergoldet zum Augenverblenden.
Am Fanar, der griechischen Vorstadt, gleiten wir vorüber und landen gleich darauf im Balat. Nun verstehe ich meines Begleiters Geste von vorhin! Ich bebe selbst zurück vor dieser Stätte der schmutzigsten Verkommenheit, in welcher hier das Ghettoelend nistet. Wir waten durch grundlose Sträßchen voll spitz aufragender Steine. Düsterster Verfall, wohin wir blicken! Holzhütten und zeltartige Baracken lehnen an feuchten, ruinenhaften Mauerresten, kleben an Felshängen, vertiefen sich in grabartige Erdlöcher hinein. Räudige Hunde durchwühlen winselnd den Kot; verwahrloste Weiber waschen unbeschreibliche Lumpen in übelriechenden Lachen. Vor altersmorschen Butiken lärmendes Feilschen. Ueberall abstoßende Eindrücke! Nur Bochor, der Kesselflicker, der mit stillem scheuen Blicke von seiner Arbeit aufschaut, als mein Begleiter ihn anspricht, bewegt mir die Seele. „Gott der Gerechte wird sein Volk aus der Tiefe erretten – wir warten!“ antwortet er auf die Frage, wie man an solchen Stätten noch hausen und atmen könne!
Wir biegen um die Ecke der nächsten, finsteren Gasse, steigen steil bergan, nun ein Stückchen bergunter und auf welligem Boden vorwärts: nun sind wir bei den Tschingani, im Zigeunerviertel. Derselbe Schmutz, noch größerer Verfall, noch elendere Baracken, aber – Wonne für Maleraugen! Die Männer antike Bronzegestalten in starrenden Lumpen; hohe Weiber, schlank von Hüften, die Füße schmal und vornehm gehöhlt, schreiten königlich, ihren Thonkrug auf dem lockigen Scheitel. Andere stehen in den Thüren; Schleiertücher von stumpfem Dunkelblau hängen ihnen an den braunen Wangen hin und auf die fahlroten kaftanartigen Untergewänder herab. Hier bettelt uns eine Madonna von Murillo an, die ein Prachtkindchen auf dem Arme hält, ein braunes, völlig nacktes Kerlchen mit Augen wie Leuchtkugeln, um das rechte Pätschchen ein Amulett geknüpft, eine blaue Perlenschnur mit einem fischgrätenartigen Anhängsel. Wilde Buben stürzen hinter uns drein, fuchteln bedenklich mit ihren kurzen, scharfen Messern in der Luft und schreien: „Was wollt Ihr hier? Packe Dich, verfluchter Hund, trolle Dich, weiße Hündin!“ Als aber mein Begleiter an die Waffe greift, stieben sie im Nu hinweg. Gerade gegenüber dieser jugendlichen Räuberbande, in einer Art von Thalkesselchen, zwischen einem wüsten Abhange und einer wüsten Brandstätte, spielt eine Schar schöner Kinder, in grellbunte Fetzen gekleidet. Da und dort blinkt ein Goldflitter oder eine verbogene türkische Schmuckmünze zwischen den gelben und roten Lappen, die um die zierlichen Glieder der Kleinen hängen, so lose, so zwecklos, als habe ein launischer Windstoß sie dorthin geweht, wo sie jetzt kleben.
Die Kleinen tanzen und johlen, klopfen ein Trommelchen und lassen ein Tamburin schwirren, das ist funkelnagelneu und macht ihnen augenscheinlich einen Heidenspaß.
„Gestohlen! – Die jungen Aasgeier!“ bemerkt mein Chiot verächtlich. Indem öffnet sich die halbzersplissene Thür einer verfallenen Schenke hart neben unseren Tritten; ein Dunst von brenzligem Sesamöl und Paprika strömt uns entgegen und zu gleicher Zeit der Klang einer Fiedel, die eine sterbenstraurige Melodie singt, irgend ein Klagelied ohne deutlichen Rhythmus. Dann aber wird diese weiche Musik plötzlich von scharfem Schellenklirren und Fingerpochen und Surren übertönt: eine große schlanke Dirne tritt unter die Thür und verstellt uns gleich darauf den Weg.
„Bak, Madama, aman, Madama!“ sagt sie mit einer so süßen Schmeichelstimme, wie ich sie im Leben nicht hinter diesem großen, äußerst sinnlichen Munde mit seinen tierisch kräftigen Zähnen gesucht hätte. „Bak, Madama!“ – „Höre mich an, Frau!“ wiederholt sie und sieht, ihr Tamburin über dem Kopfe haltend, meinen jugendlichen Begleiter (der daheim Frau und Kind hat und sich den Glücklichsten der Sterblichen nennt!) mit ihren Feueraugen durchbohrend an, bis ihm ein tiefes Rot in die bräunlichen Wangen steigt.
„Lalé,“ sagt er und wirft ihr ein durchlöchertes Parastück vor die Füße, „hebe Dich weg, Du Teufelin, unser Geschick liegt in Gottes Händen und in unseren eigenen; wir bedürfen Deiner Märchen nicht.“
Aber er hat sich verrechnet, der junge Teufelsbanner! Dies heimatlose Vagabundenvolk ohne Glauben und ohne Treue übt die geheimnisvolle Kunst des „Bannens“ meisterhaft neben seinen anderen Künsten. Sie bezwingt uns, diese imperatorische „Lalé“ im roten Rock und roten Mieder, durch ihr Blicken und Flüstern, ihr stürmisches Wollen, ihre unaufhaltsame Beredsamkeit. Hier kommt schon die klassische „Zigeunermutter“ und der Fiedelspieler [172] dazu, ein unverschämter, listig blinzelnder Bursch, das Gegenteil seines Liedes – der übliche Teppichfetzen wird auf das nackte Erdreich vor der Schenke gebreitet und mir die Summe meiner Vergangenheit, Gegenwart und mutmaßlichen Zukunft gezogen in einer – mag man’s nehmen, wie man will! – stellenweise unheimlich zutreffenden Art! Nicht aus den Linien der Hand wahrsagt Lalé, sondern aus den dürren Bohnen. Die alte Zigeunermutter bringt sie ihr in einem schmutzigen Musselinsäckchen; sie befragt mich vor allem nach meinem Taufnamen, wiederholt ihn sofort laut und völlig dialektfrei und nimmt nun aus ihrem Säckchen soviel der dürren braunen Bohnen, wie er Buchstaben nach türkischem Alphabete zählt. Zwischen die braunen Bohnen mischt sie eine silberne für die guten Tage, eine schwarze Tonkabohne für die bösen. Damit treibt sie nun das anmutigste Spiel und begleitet es mit einer erstaunlichen Lebhaftigkeit der Gebärden. Bald lächelt sie mich verstohlen an und schlägt zwinkernd die Wimpern auf und nieder, bald schreckt sie zurück, indem sie die leicht hingeworfenen Bohnen sichtet, legt, schiebt und – die kleine dunkle Hand halb gegen die kurze Stirn geschmiegt, halb in den rabenschwarzen Lockenwust geschoben – betrachtet. Dann hebt sie die Lider langsam – die größte Tragödin könnte das nicht schöner und studiert natürlicher machen – senkt einen feuchten schmelzenden Blick in den meinigen, bis sie meine Aufmerksamkeit völlig an sich gezogen hat, und dann streckt sie mir die Hand hin mit unverkennbarer Geste: „Bak, madama! aman, Madama!“ Das ist des Pudels Kern! Immer noch ein Silberstück soll ihr die Hand kreuzen, ein Brotbringer, ein Schmuckspender für Lalé, „ein Glückbringer für mich, für meine Kinder und Kindeskinder, bis ins vierte Glied, für die Mutter, die mich geboren hat, und für den Vater, dessen Stolz ich bin bis in sein hohes Alter.“
„Er lebt schon lange nicht mehr!“
„So wird er für Deinen Platz sorgen dort, wo Du nach Deinem Tode weiter zu leben meinst! Gieb mir noch einen Beschlik (5 Piaster), Madama, und laß mich sehen, ob Du Glück hast mit dem Manne, den Du liebst!“
Ich schüttle den Kopf und stecke meine Börse ein. „Deine Bohnen irren sich – ich bin Witwe – seit Jahren.“
Sie hebt die silberne Bohne und lacht wie eine Tolle. „Du lügst! Du bist ein Weib und ich auch! Wir leben mit der Liebe, wir sterben mit der Liebe, Blumen blühen aus unserem Staube, Disteln der Rache, Nesseln der Eifersucht. Eine wie alle! Ihr kalten Weißen verschweigt es – wir andern genießen es! Gieb – gieb und achte nicht auf jenen, der Dein Sohn sein kann und Dich meistern möchte!“
Mein Chiot zupft mich am Aermel und macht die Hand der prophezeienden Circe los, die mich an den Kleiderfalten zurückhält. Sie schimpft hinter uns drein und hetzt uns die wilde kleine Koboldschar nach, mitsamt ihrem gestohlenen Tamburin und dem drolligen Handtrommelchen. Das eine von ihnen verliert sein erbärmliches Lumpenkittelchen, das ihm nur noch über der einen Schulter hing, von zwei oder drei morschen Fäden zusammengehalten. Er schlüpft heraus, läßt’s mitten im Gassenschmutz liegen und stiebt, sowie ihn Gott erschaffen hat, hinter uns drein, sein „Rom“ gellend, die Zigeunersprache. Noch als wir die ersten Häuser des Fanar bereits zur Seite haben, hören wir es deutlich. Es verklingt erst, als wir um die Ecke biegen und den Klopfer gegen eine saubere, hellgraue Gartenthür fallen lassen. Hier ist mein Chiot daheim und die wilde Poesie geht in ein stilles und schlichtes Idyll über, das in seiner ruhigen Anmut von feinsten Reize ist.
Hinter dem grauen Thore ein altmodisch angelegtes Gärtchen voll der geliebten altmodischen Blumen aus meiner eigenen Jugendzeit, Goldlack, Sternblumen, Eisenhut, Levkojen und streifige, zerflatternde Bandrosen, hohe Lilien in Fülle. Dazwischen – sehr fremdartig erscheinend – eine schöne Musa, und die Beete von vollblühendem Lavendel und silberner Levantina, einem würzigsüß duftenden Kraute, eingefaßt. Im Garten ein niedriges und doch luftiges Häuschen, blitzblank, man hätte von Fußböden und Treppenstufen speisen können, nichts Einladenderes nach dem „Höllenbreughel“ im Balat als diese wohlgehaltenen, hellbezogenen Diwans an den Wänden des Wohnzimmers entlang.
Da ist sie ja, „des schönen Sohnes schönere Mutter“! Dies Wort trifft wahrlich zu! Die uns entgegentritt, ist eine prachtvolle Greisin, ein Kameenkopf mit seiner edlen, geraden Nase, die, nach dem Vorbilde antiker Büsten, eine Linie mit der niedrigen und doch nicht unbedeutenden Stirn bildet. Die Uebermacht des grauen Haares hängt, von schwarzem Kopftuche gebändigt, starkgelockt darunter hervor in den Rücken, und das bezaubernde Lächeln der hochgeschürzten Lippen, das mich willkommen heißt, die tiefen schwarzen Augen, deren Blick an des Sohnes schlanker Höhe voll Wohlgefallen und Stolz hängen, haben sich mir eingeprägt zum Nievergessen. In Konstantinopel und seiner Umgebung habe ich bis jetzt die schönsten Menschenkinder gesehen.
Ich werde in eines der Erkerchen geführt – es hat einen zauberischen Ausblick aufs Goldene Horn hinaus – meiner Wirtin jungverheiratete Tochter kommt herein. auch eine abgeschwächte Kopie ihrer Mutter, rund und lieblich, eine naive Schönheit. Und nun bewirten sie mich mit dem Allerbesten aus ihrer Vorratskammer, mit starkem Kaffee und Chokoladekonfitüren, schwarzen Oliven, frischem Wasser, safttriefenden Citronenscheiben dazu, und zum Schluß die unvermeidliche Cigarette. Dabei lispeln sie ihr Neugriechisch und fragen mich mit rührender Beflissenheit und rührender Geistesunschuld nach „Europa“ aus, und irgend einer ihrer gütigen Götter, der meiner harmlosen Muse vielleicht noch ein bißchen verwandt ist, giebt mir’s ein, daß ich den Sinn des weichen Gelispels ungefähr erfasse und mich mit „malista“ und „occhi“ – „ja“ und „nein“, mit „efcharisto“ und „sasperikalo“ – „bitte“ und „danke“ und einigen ähnlichen Stich- und Schlagworten aufs angenehmste in die Unterhaltung mische.
Kurzum, wir sind ein sehr heiteres und liebevoll vereintes vierblätteriges Kleeblatt, und als nun gar die Enkelkinder vorgeführt werden: ein stämmiger, dreijähriger Petro und eine goldige zweijährige Chrysso, da erreicht die Seelenharmonie ihren Gipfel. Denn die Herzblättchen zeigen sich zutraulich – „und sie sind sonst so scheu wie Täubchen vor dem Habicht, Kyria (Herrin)!“ versichert mich die Großmutter – sie sitzen zwischen uns auf dem Diwan, baumeln mit den dicken Beinchen und erhöhen das allgemeine Vergnügen. – Endlich aber heißt es doch Ade! Die Sonne wird schon rötlich und die Kaïks dort drunten fliegen mit verdoppelter Schnelligkeit über die Wasser dahin, deren Blau sich allgemach in ein entzückendes Rosa-Violett verwandelt. Noch eine kurze halbe Stunde und der Muezzinruf zum Abendgebete wird von den Minaretgalerien ertönen. Wir lassen unser Idyll im Rücken und durcheilen die merkwürdig schweigsamen und melancholischen Straßen des alten Fanar. Vor einem der palastartigen Häuser steht ein uniformierter Grieche in der Fustanella, deren schneeiges Weiß sonderbar gegen die düstere Umgebung absticht. Sonst begegnen wir keiner Seele. Einen Augenblick treten wir noch in eine uralte kleine Kirche byzantinischen Stils mit romanischen Anklängen, reich an Säulen und goldenem Schnitzwerk, voller [173] Heiligenbilder, in Gold und Silber gekleidet, mit verhärmten großäugigen Gesichtern. Drei Priester, denen die Haarflechte unter den hohen Mützen im Nacken hervorschaut, amtieren und lesen mit klagenden Stimmen weichklingende Gebete, zwei alte Mütterchen knien seitab im Winkel und berühren von Zeit zu Zeit den kalten Estrich andächtig mit ihren runzligen Stirnen.
Wir nehmen unten an der Landung das letzte Kaïk und gleiten im Abendsonnenschein, der immer wundervoller strahlt, langsam am Ufer entlang bis zur kleinen Bucht von Stambul, zu Füßen der Yeni-Djami, der die Beterschar entgegeneilt. Vor uns schwingt sich die mächtige, von lebhaftem Volkstreiben unruhig belebte Validebrücke nach Galata, dem alten Quartier des europäischen Handels, hinüber, und sie trägt uns aus Elend und Idylle in die hastende und schaffende Kultur zurück. Auf der Brücke drängen sich die Scharen der Arbeiter und der Frauen des Volkes, die vor dem strenggebotenen Schlusse des mohammedanischen Tagewerkes nach Hause ziehen. Ein einsames, schwerbeladenes Eselchen trappelt noch fürbaß, vorbei an der Gruppe von Negerinnen mit ihrem elenden schwarzen Kindchen, das stummberedt das Mitleid der Reichen anfleht. Da tritt droben der Muezzin auf die Galerie des nächsten Minarets der gewaltigen Yeni-Djami. Die Sonne ist hinunter – fern, ob den Höhen, die den Bosporus säumen, steht schon der erste Stern, und als wir Galata erreicht haben, liegt die Brücke bereits fast verödet hinter uns.
Der folgende Tag bringt uns die griechischen Ostern und damit das Fest der „Hamals“. Die armenischen Lastträger, die Hamals von Konstantinopel, sind genau so typisch wie die Hunde der großartigen Hügelstadt. Sie kommen zum großen Teil aus der Trebisonder Landschaft herüber und sind gerade, verläßliche Menschen, dem allgemeinen Urteil zum Trotz, das die Armenier falsch und verschlagen heißt. Der echte Hamal ist ein Hüne von Gestalt und Kraft. Durch die schwere, andauernde Arbeit mit ungeheueren Lasten haben sich die Muskeln ihrer Arme, Hände und Füße so sehr ausgebildet, daß sie auch im Zustande der Ruhe straff schwellend und angespannt unter der derben Haut zu liegen scheinen wie steinerne Schlangenlinien. Die Gesichter sind ernsthaft, die Stirnen vielfach gefältelt, die Augen nehmen jenen wachen und aufmerksamen Blick an, der fortwährend nach Hindernissen zu spähen hat. Landestelle von Barkenführern.
Man muß sie durch die engen Bazarsträßchen schreiten sehen, die schreiende, rennende, temperamentvolle Menschenmenge teilend, vor sich herschiebend wie eine Woge, selbst ruhig und gelassen. Zu acht bewegen sie das Riesenfaß mit russischer Butter fort, das an vier langen wippenden Stangen befestigt ist. Je zwei tragen immer eine Stange auf der linken Achsel und ergreifen mit der Rechten die Stange des Nebenmannes, zur eigenen und des Kameraden Stütze. So schreiten sie im Takt mit kurzen, wuchtigen Schritten, und im Takt scheint auch das stoßweise Atmen zu keuchen. Der Schweiß rieselt in Strömen an den lederbraunen Gesichtern unter dem rotstreifigen Turbantuche hin, durch die greifenden Hände bebt ein fortwährendes Vibrieren, das dennoch nichts von Schwäche weiß. Man meint, so müsse in unvordenklichen Sagenzeiten der Atlas die Wucht der Erdkugel getragen haben.
Allein nicht nur Lastträger sind die Hamals, auch als Hausgeister und treue, verläßliche Diener der Geschäfts- und Privathäuser finden sie vielfach Verwendung. Prächtig nehmen sie sich aus im Festschmuck des griechischen Ostertages, diese treuherzigen Burschen! Sie tragen das weite blaue Beinkleid, um die Knöchel ganz eng anliegend und sich im festen Lederschuh verlierend, um die Bluse den breiten, buntgestreiften Schärpengurt, um das Fez oft ein lichtgeflammtes Turbantuch. Ueber die breite Brust hängt das feine silberne oder gar goldene Kettengewirr, den Miederschnüren der Tegernseer Bäuerinnen gleichend, das Uhr und Petschaft trägt und Anhängsel aller Art; der Handschar, ein kurzer gebogener Dolch, steckt im Gurt. So eilen sie mit den kurzen wuchtigen Schritten, die ihnen eigentümlich sind, die große Perastraße hinan; zierlich geputzte griechische Dienstmädchen im kleidsamen Kopftuch oder übertriebenen Modehut folgen und schließen sich an, und auch wir gehen langsam hinterdrein.
Vorüber am „Taksim“, dem großen Wasserreservoir, und am hübschen Promenadengarten, der dem Taksim seinen Namen entlehnt hat, dann zur Linken eine glatte Anhöhe voll jämmerlich zertretener Frühlingsblumen empor und auf dem großen Exercierplatze vorwärts. Von oben herab sehen wir zu unseren Füßen vor dem steilen Hügel des nachbarlichen Griechenviertels Tatawla in ein wirres eng zusammengepferchtes Jahrmarktstreiben.
„Dort hinunter?“
„Wenn Sie wollen? Aber Sie müssen sich Nase und Ohren verstopfen, die eine Hand in der Tasche um Ihre Börse schließen, die andere bereit zur Abwehr halten und im Munde nur die zwei Worte führen: „haide!“ und ‚yok!‘ – die Worte: ‚Pack Dich!‘ und ‚Nein!‘“
Die Geschichte da drunten schaut sich zwar ein bißchen ungemütlich an, aber – dem Mutigen gehört die Welt. Mein flotter Kavalier springt mit drei zierlichen Sätzen den Abhang hinunter, ich folge, ob meines furchtsamen Rutschens und Gleitens von einer ganzen Horde kleiner Baschi-Bozuks mit „aferim!“ verfolgt, was soviel wie „Bravo!“ bedeutet.
Von der reinen Höhe, wo die Luft süß vom Jonquillenduft und frisch vom Meeresodem ist, sind wir fast unvermittelt in eine unsäglich traurige Schlucht versetzt, zehnfach traurig und herzbeklemmend im Golde dieser heißen glänzenden Sonne, deren Strahlen, einem Seziermesser gleich, die tiefsten Schäden bloßlegen, die Oede zum Fegfeuer machen durch die Kraft ihrer sengenden Flammen.
Unrat, Fäulnis und spitze Steine! Der süße Frühlingshauch verpestet von den Ausdünstungen verwesender Tierkadaver. Dort am staubigen Hange, dessen Geröll nichts trägt als Disteln- und Dorngestrüpp, miaut ein zum Gerippe abgezehrtes verendendes Katzentier, hier zu meinen Füßen zwischen Scherben, inmitten einer ekelhaften Lache, zuckt ein schwach winselnder Hund, schlammbedeckt, von Aasfliegen umsummt. Uns zur Rechten eine schiefstehende Zigeunerhütte neben der anderen, von dürftigen Lehmmäuerchen eingehegt; Lehm, Unrat, abstoßende Fetzen, Knochen und Scherben übereinander gepackt und gehäuft. Zwischen den Hütten graue Zelte mit malerischen Einblicken auf hockende und faulenzende Gruppen von braunen Gesellen und weißbärtigen und weißlockigen Alten. Draußen stehen abgetriebene Eselchen [174] gleichgültig an ihren Pflöcken und lassen sich von den nackten, wilden Kindern quälen, während ein paar dürre Weiber, am Tschibuk saugend, die verblaßten Manteltücher tief ins Gesicht gezogen, uns bösen Blickes nachstarren.
Der kleine Jahrmarkt ein Tohuwabohu, ein Wirrsal ohnegleichen! Er belustigt mich ungemein, trotzdem ich mich ein wenig fürchte. Da sind ja inmitten dieses phantastischen Volkes unsere heimischen „sechsbeinigen Schafe“ und „zweiköpfigen Kälber“, „die dicke Dame“ mit den Centnergewichten am kleinen Finger, die Wahrsagerin und das mechanische Theater. Als ganz besondere Sehenswürdigkeit „ein Pelikan aus Norddeutschland“, was mein norddeutsches Herz besonders tief rührt, mehr als die Schießbuden und der „türkische Honig“ meiner seligen Kindertage. Das Karussell hat lauter springende Greife und Chimären anstatt der bei uns üblichen Pferdchen, und die beliebten „großen Schaukeln“ sind niedrigstehende viereckige Kasten, die durch nachdrückliche Kurbeldrehungen in kurzen, heftigen Rucken auf und ab schwanken. Die gelbbleichen, mit der Seekrankheit ringenden Zigeunergesichter sind von überwältigender Komik. Zwischen den Schaukeln, im Schutze eines völlig zwecklosen Mauerrestes, halten die „Mahlebi“-Verkäufer ihre Ware feil. Diese ist eine ganz spezifische Erquickung in türkischen Landen, eine Art feiner Reismehlcreme mit Zucker und Rosenwasser gewürzt, in der Regel äußerst reinlich zubereitet. In unserem Fall kann das freilich auch der Nachsichtigste von dieser Erquickung für Zigeuner und Vagabunden nicht behaupten.
Seitab auf einem kleinen Wiesenrund tanzen die Hamals im Kreise. Ein sonderbarer Tanz, schwer zu schildern! Eigentlich nur ein langsames Treten, Stampfen und Zittern der Beine von der Wade bis zum Schenkel, ein mathematisch abgemessenes Emporwerfen der Arme und Zurückbiegen des Kopfes. So bewegen sich diese ernsten Athleten anscheinend leidenschaftslos um die Musik in ihrer Mitte: die große Trommel, die in kurzen Absätzen ihr scharfes „Tam! Tam!“ ertönen läßt, die schrille Rohrflöte, die unablässig vier oder fünf melancholische Noten singt, und den Dudelsack, der eine freche modulationslose Begleitung in aussetzenden und sich wunderlich verschiebenden Triolen dazu plärrt. Jetzt stelzen die Tanzenden daher, Schulter gegen Schulter gepreßt, jetzt ein kurzer allgemeiner Bocksprung: die Köpfe stemmen sich mit dem Kinne fest an die Brust – nun schwenkt der Tanzanführer sein rotes Tuch und alle hüpfen, sich lose bei den Händen haltend, wie eine Gesellschaft täppischer Idioten. Kein Laut dringt über die geschlossenen Lippen, kein Ausdruck fliegt über die charaktervollen Gesichter hin, weder Lust noch Anstrengung noch Erregung. Welch verkehrte Bilder machen wir uns daheim von der Leidenschaft der Orientalen!
Das Publikum dieses wunderlichen Vergnügens ist im höchsten Grade bedenklich: Volkshefe – Zigeuner, ein Gemisch grellster Farben, weißester Zähne und glänzendster Augen mit krassester Frechheit und zähester Bettelei. Mit süßer Stimme und zierlichen Gesten wissen diese schmutzig lieblichen Kinder und Mädchen diese welken Weiber, braune Wickelpüppchen im Arme, ihr „Aman, Madama!“ zu girren, und fast ausnahmslos streckt sich zu den Worten ein sehr schmales Händchen mit zartem Gelenke bettelnd aus. Man muß sich hart dagegen machen in Konstantinopel.
Vom Jahrmarkt aus verirren wir uns noch auf das große armenische Totenfeld unweit des Taksim. Eine Wüstenei trotz der knospenden Bäume und der tausend und abertausend duftenden Veilchen im frischgrünen Kirchhofsgrase. Diese flachen, grauen Steine, hart gegen den Boden gedrückt, die kastenartigen Grabgewölbe ohne eine Ahnung von Schmuck und Würde beklemmen das Herz. Die Gruppen der festtäglich geputzten Menschen, die dort lagern, tafeln, schwatzen und tanzen, geben dem traurigen Bilde eine leise, bunte Färbung und der Blick hinüber nach der Spitze des Seraïs und nach Skutari ist von himmlischer Schönheit. Kehrt man aber von dieser sonnigen, glänzenden Ferne zurück in die nächste Umgebung, so winseln räudige Hunde und schmierige Bettler von zehn zu zehn Schritten. Lumpen und Elend überall ausgestreut wie Distelsamen in diesem gottbegnadeten, paradiesischen Lande. Machen es die schroffen Gegensätze so anziehend? Ich bin mir darüber nicht völlig klar geworden, denn all die Gegensätze versöhnt das ewige blaue Meer, überblüht der wonnige Frühling seiner Küsten!
Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.
Die Elektrotechnik hat nicht nur mit neuen „Wundern“ die Welt erfüllt,
sondern auch auf alle Industrien anspornend eingewirkt. Am
offenkundigsten gestaltete sich dieser Einfluß auf dem Gebiete der Lichterzeugung.
Vor zwanzig Jahren stand das Leuchtgas namentlich für
Zwecke der öffentlichen Beleuchtung ohne Nebenbuhter da und die Gasanstalten
gaben sich keine besondere Mühe, durch neue Fortschritte der
Menschheit ein immer helleres Licht zu bieten. Da wurden die alten
Gasbrenner durch das neue elektrische Licht überstrahlt, und siehe da,
durch den Wettkampf gezwungen, nahm die Gasbeleuchtung einen neuen
ungeahnten Aufschwung; sie wurde durch neue zweckmäßigere Brenner,
durch Einführung des Gasglühlichtes etc. wesentlich verbessert.
Die Wunderfee Elektricität ist aber berufen, das Leuchtgas noch in einer anderen Weise zu verbessern. Aus früheren Schilderungen kennen unsre Leser bereits den elektrischen Schmelzofen, in dem Temparaturen bis 3500° C erzeugt werden. Er erreichte eine Berühmtheit, als Moissan versuchte, in ihm auf künstlichem Wege echte Diamanten zu erzeugen. In diesem Schmelzofen können aber noch viele andere Stoffe hergestellt werden, die für das Wohl der Menschen sicher viel wichtiger sind als funkelnde Edelsteine, und in der That ist aus diesem Schmelzofen bereits ein Körper hervorgegangen, der demnächst in der Lichterzeugung eine hervorragende Rolle spielen wird.
Als Moissan vor Jahresfrist Kalk mit Kohle vermengte und diese Mischung in dem elektrischen Ofen schmolz, erhielt er eine Verbindung von Kohlenstoff und Calcium, welche Calciumcarbid genannt wird. Es ist dies eine schwarze Masse mit deutlichem kristallinischen Bruch, die sich durch eine wichtige Eigenschaft auszeichnet. Kommt das Calciumcarbid in Berührung mit Wasser, so zersetzt es sich sofort, wobei eine starke Gasentwicklung stattfindet. Das Gas, das mit dem Wasser emporsteigt, ist ein Kohlenwasserstoff, den Chemikern längst unter dem Namen Acetylen bekannt und für die lichthungrige Menschheit von der höchsten Bedeutung. Diese wird uns klar werden, wenn wir die Zusammensetzung unseres Leuchtgases etwas näher betrachten. Als wesentliche Bestandtheile desselben sind hervorzuheben: Wasserstoff, Methan oder Sumpfgas, Kohlenoxyd, Aethylen, Propylen und Benzol. Verbrennen wir diese Bestandteile einzeln, so nehmen wir wahr, daß die drei ersten nur eine schwach leuchtende Flamme ergeben, während die Flamme der drei letzteren helles Licht ausströmt; somit sind Aethylen, Propylen und Benzol die eigentlichen Lichtgeber unseres Leuchtgases. Das Acetylen zeichnet sich nun durch ähnliche Eigenschaften aus, wobei es aber an Leuchtkraft alle anderen Kohlenwasserstoffe übertrifft. Seine Flamme leuchtet fünfzehnmal so stark als die unsrer guten Leuchtgassorten, und es ist klar, daß wir dieselben bedeutend verbessern könnten, wenn wir ihnen Acetylen zuführten.
Bis vor kurzem war dies jedoch nicht gut möglich, da man das Calciumcarbid nur in chemischen Laboratorien in geringen Mengen und mit großen Kosten herzustellen vermochte. Neuerdings aber hat Henry Morton in den Vereinigten Staaten von Nordamerika ein Verfahren zur fabrikmäßigen Herstellung von Calciumcarbid erfunden und berechnet, das eine Tonne des Stoffes nur 80 Mark und ein Kubikmeter mit dessen Hilfe erzeugten Acetylens nur 30 Pfennig kosten würde. Der Augenblick ist also gekommen, da die Industrie im Ernst daran denken kann, das leuchtendste aller Gase in den Dienst der Menschheit zu stellen, und da bietet sich eine ganze Reihe von Verwendungsarten des billiger gewordenen Acetylens.
Da zur Gasentwicklung nur das Eintauchen eines Stückes Calciumcarbid in gewöhnliches Wasser erforderlich ist, so wird man kleine Gaserzeugungsapparate in verschiedensten Arten aufstellen können; Privathäuser könnten sich von den großen Gasanstalten unabhängig machen und ihre eigenen Gaserzeuger einrichten. Ja, man kann noch weiter gehen und kleinste Gaserzeugungsapparate in tragbare Lampen verwandeln. Eine solche „Lampe der Zukunft“ bestände z. B. aus einem Behälter, auf dessen Grund sich ein Stück Calciumcarbid befände, über demselben würde ein Wasserballon angebracht werden, aus dem das Wasser langsam auf das Calciumcarbid tropfte, durch eine selbstthätig wirkende Vorrichtung könnte der Wasserzufluß leicht je nach dem Gasdruck in dem Behälter reguliert werden. Das entwickelte Gas würde einen passenden Brenner speisen und ein überaus helles Licht liefern. Solche Lampen würden gewiß leicht zu handhaben sein, man brauchte keinen Docht zu beschneiden, brauchte keine Flecken zu fürchten wie bei Benutzung der Peroleumlampen. Mit einer Büchse Caliumcarbid und der Wasserflasche ausgerüftet, könnte der Junggeselle seine Lampe stets allein in Ordnung halten.
Es ließen sich auch Acetylenkerzen anfertigen, metallene mit Wasser gefüllte Behälter; setzte man in dieselben eine Calciumcarbidstange ein, die nach und nach ins Wasser tauchen würde, dann träte Gasentwicklung ein, das Acetylen würde zum Brenner gelangen und jeden Augenblick verbrannt werden können.
Solche Apparate würden sich namentlich zur Beleuchtung der Eisenbahnwagen eignen.
Wie verlockend aber auch diese Zukunftsaussichten erscheinen mögen, [175] so steht der Verwirklichung derselben noch manches im Wege. Das Acetylen ist kein harmloser Körper, wie alle andern Kohlenwasserstoffe explodiert es, wenn es mit der Luft in gewissem Verhältnis vermengt und dann entzündet wird; es ist auch giftig und hat einen unangenehmen Geruch. Das sind allerdings Fehler, die es mit dem Leuchtgas und zum Teil auch mit dem Petroleum gemeinsam hat. Die Technik wird also zunächst die Aufgaben lösen müssen, Acetylenlampen zu schaffen, die eine zuverlässige Sicherheit gegen Explosionsgefahr bieten würden. Auch die Brennerfrage wird einiges Kopfzerbrechen verursachen, da das Acetylen in gewöhnlichen Leuchtgasbrennern mit stark rußender Flamme brennt.
Ob diese Schwierigkeiten unüberwindlicher Natur sein werden? Das ist kaum anzunehmen, wenn man z. B. die Fortschritte beachtet, welche im Laufe weniger Jahrzehnte in der Konstruktion der Petroleumlampen erzielt wurden. Jedenfalls steht dem Acetylen eine Zukunft bevor; die Techniker werden allen Scharfsinn dransetzen, um es zu bändigen und auszubeuten, denn es ist ein Lichtspender ersten Ranges. *
Der Fähnrich als Erzieher.
„Hänschen, Dein Zopf ist aufgegangen!“
„Ich weiß!“ erwiderte die Angeredete, eine Wendung, durch welche junge Damen von vierzehn bis sechzehn Jahren jede Ungehörigkeit in ihrer Toilette entschuldigt glauben, „ich weiß! Der Assessor hat es mir schon gesagt. ‚Ihr Zöpfchen ist aufgegangen!‘ sagte er geziert – Zöpfchen! er könnte froh sein, wenn er so ein ‚Zöpfchen‘ hätte!“
„Nun, ob er darüber gerade so sehr froh wäre, das wollen wir dahingestellt sein lassen,“ meinte die Mutter, „was sagtest Du denn darauf?“
„Ich sagte: ‚Ach?!‘ so recht eklig! Was geht es ihn an? Er ist nicht meine Gouvernante, wenn er sich auch so aufspielt! Das ‚Du‘-Sagen habe ich ihm wenigstens jetzt abgewöhnt,“ setzte die Sprecherin triumphierend hinzu.
„Wie denn?“ erkundigte sich die Mutter rasch und angstvoll.
„Ich sagte: Die Köchin muß mich jetzt ‚Sie‘ nennen – Mama wünscht es! ‚Ich bin ja keine Köchin!‘ antwortete er unverschämt – aber er ‚siezt‘ mich seitdem. Sein Glück!“
„Ist er denn schon lange da?“ frug die Mutter.
„Stundenlang!“ erwiderte Hänschen unwillig, eine Metapher, die sich, im Licht der Wahrheit besehen, auf etwa zehn Minuten reduzierte, „er sitzt drüben und wartet auf Papa.“
„Aber Kind, dann geh’ doch hinüber und unterhalte ihn!“ drängte die Mutter, „ich muß nur noch Tischzeug herausgeben – sei einmal in Deinem Leben brauchbar – hörst Du?“
Hänschen stand zweifelnd und flocht an dem dicken dunkelbraunen Zopf, der allerdings die Bezeichnung „Zöpfchen“ in keiner Weise rechtfertigte.
„Er spielt, glaube ich, mit Karl Halma,“ sagte sie zögernd, „ich kann heute nicht mit ihm sprechen – ich bin zu wütend auf ihn!“
„Was hat er denn gethan?“ frag die Mutter erstaunt.
„Das verlorene Vielliebchen hat er mir gebracht!“ erwiderte die junge Dame ingrimmig.
„Nun, das ist doch sehr nett von ihm!“ beschwichtigte die Mutter und strich dem Unband lächelnd über den Kopf, „in was besteht es denn?“
„Das ist’s ja eben!“ knirschte Hänschen, „‚Briefe über Litteratur‘, ich denke, er wird mir gebrannte Mandeln oder sonst was Vernünftiges schenken – aber so ein dummer Schmöker!“
Die Präsidentin seufzte.
„Diese Ausdrücke,“ sagte sie bekümmert. „Du mußt doch noch in die Pension – ich sehe es schon – es hilft nichts! Aber jetzt kommst Du mit und benimmst Dich ganz vernünftig – Du hast Dich gewiß noch nicht bei dem Assessor bedankt!“
„Auch noch!“ meinte Hänschen höhnisch und folgte der Mutter in das Wohnzimmer, vor dessen Thür sie sich noch das kleine Vergnügen gönnte, dem ahnungslosen Gast eine lange Nase zu machen.
Der Gegenstand dieser gefühlvollen Huldigung erhob sich beim Eintritt der Damen und wurde von der Mutter mit besonderer Freundlichkeit begrüßt.
Er war ein schlanker, etwas gebückt gehender Mann von etwa 28 Jahren, mit einem liebenswürdigen, dunkeln Gesicht, und eigentlich der Liebling des ganzen Hauses. Nur Hänschen rebellierte gegen ihn, weil der Assessor, wie allerdings zugestanden werden muß, es nicht unterlassen konnte, eine pädagogische Einwirkung auf die junge Dame ausüben zu wollen, die im Vollgefühl ihrer fünfzehn Jahre und des „sehr bald“ Erwachsenseins dagegen ankämpfte wie ein junges Pferdchen gegen den Zaum.
Hänschens jüngere Geschwister, der dreizehnjährige Karl und Lotte, die zehn Jahre alt war, ließen sich gelegentlich von ihr zu einem Guerillakrieg gegen den Assessor anwerben, schon aus dem Grunde, weil der Gegenstand dieses stillen, aber erbitterten Kampfes, der seit Jahren ein sehr häufiger Gast im Hause des Präsidenten war, manchmal etwas „Ernstes“ zum Vorlesen mitbrachte. Die Kleinen wurden angesichts dessen vor die grause Wahl gestellt, entweder um acht Uhr ins Bett zu gehen oder regungslos und artig einer Abhandlung über die Schweizer Bundesverfassung oder über Tertiärbildungen in dem Gestein der mitteleuropäischen Gebirge zuzuhören – was nach Karls Versicherung so langweilig war – „beinahe wie die Schule!“ Aus all’ diesen kleinen Zügen ergiebt sich ohne Schwierigkeit die Thatsache, daß der Assessor ein niederträchtiger Charakter sein mußte.
Ob dieser Bösewicht nicht im Grunde das kleine „Erziehungssubstrat“, das ihm so ungebärdig widerstrebte, viel niedlicher fand, als er es sich merken ließ, das muß dahingestellt bleiben – die Mutter glaubte es und war sogar so unvorsichtig gewesen, dem Präsidenten darüber eine Andeutung zu machen.
„Ich bin fest überzeugt, wenn Hänschen drei Jahre älter wäre, könnte sie dem Assessor ganz gefährlich sein!“ behauptete sie.
„Blödsinn!“ erwiderte der Vater mehr aufrichtig als galant, „thue mir den einzigen Gefallen, Mathilde, und fange nicht an, Wickelkinder verheiraten zu wollen – das ist mir im höchsten Grade unsympathisch!“
Die Mutter schwieg beschämt, behielt sich aber ihre Ueberzeugung vor, was ihr niemand verdenken kann.
An dem Abend, da unsere Geschichte beginnt, wartete also, wie gesagt, der Assessor, und mit ihm die übrige Familie, schon eine geraume Zeit auf das Erscheinen des Hausherrn.
Bei Präsidents wurde sonst immer um sieben Uhr Thee getrunken und der Vater ließ sich diese Stunde höchst ungern verschieben. Heute abend aber schien ein Besuch, den er angenommen hatte, ihn ungebührlich lange aufzuhalten.
Endlich öffnete sich die Thür, das Familienoberhaupt erschien und begrüßte den Assessor und die Seinigen.
„So,“ sagte er behaglich, „das wäre überstanden – und nun rasch zum Abendbrot.“
Bald saß alles um den gemütlichen runden Theetisch, der Gast zwischen der Mutter und Karl, mit dem Hänschen im letzten Augenblicke blitzschnell den Platz getauscht hatte. Sie befand sich infolge dieses strategischen Manövers dem Feinde gerade gegenüber, der es mit seinen pädagogischen Grundsätzen ganz vereinbar zu finden schien, sich an dem reizenden Gesichtchen seines vis-à-vis zu freuen, in dessen trotzige dunkelblaue Augen das Licht der Hängelampe tanzende Funken streute.
„Wer hat Dich denn so lange aufgehalten?“ frug die Mutter und schenkte Thee ein.
„Ach, es war ein wahres Kreuz!“ meinte der Vater lachend, „noch ein Stück Zucker, Mathilde! – Der Fähnrich machte seinen Antrittsbesuch und konnte kein Ende finden! Nachdem ich mich nach seiner Garnison und nach seinem Vater erkundigt und erfahren hatte, daß der Letztere in Karlsbad gewesen sei, schienen unsere geistigen Anknüpfungspunkte erschöpft zu sein, und wir erzählten uns dann nur noch stockend und mühselig – im Anschluß an Karlsbad! – wie viel unsere sämtlichen Bekannten und Verwandten im letzten Jahre ab- und zugenommen hätten! – Der arme Junge litt ersichtlich eben solche Höllenqualen der Langenweile wie ich und konnte nur den Augenblick nicht erhaschen, wo er sich empfehlen sollte.“
„Was ist das für ein Fähnrich?“ frug der Assessor.
„Der Sohn eines alten Jugendbekannten von mir,“ erwiderte der Vater, „dessen Existenz ich, offen gestanden, total vergessen hatte. Nun ist sein Junge hier auf die Kriegsschule gekommen, [176] und er hat ihn an unser Haus empfohlen. Ich muß gestehen, daß ich mit der Species „Fähnrich“ recht wenig anzufangen weiß, und dieser schien mir nicht das munterste Exemplar zu sein!“
„Ich fand ihn sehr hübsch!“ bemerkte Hänschen plötzlich und rief damit das allgemeinste Erstaunen hervor.
„Wo hast Du ihn denn gesehen?“ erkundigte sich die Mutter etwas scharf.
„Durch die Portiere!“ bekannte Hänschen todesmutig, wurde dunkelrot und verschwand, unter dem Vorwand einer heruntergefallenen Serviette, spurlos unter den Tisch, wo sie, allem Anscheine nach, den Rest des Abends verleben zu wollen schien.
„Na, das ist ja sehr nett,“ meinte der Vater trocken, „nun komm nur auch wieder einmal in die Höhe! Die Serviette ist doch keine Nähnadel, die mußt Du ja inzwischen längst wieder gefunden haben! Also hübsch fandest Du den Fähnrich?“ setzte der Hausherr mit sichtlicher Belustigung hinzu, „nun sieh’ mal an!“ Der Assessor blickte, ganz unberechtigterweise, etwas verdrießlich drein.
„Sehen Sie sich junge Herren schon darauf an, ob sie hübsch sind?“ frug er beißend.
Hänschen, die sich inzwischen von ihrer überwältigenden Verlegenheit schon wieder erholt hatte, fuhr kampfbereit auf ihren Gegner los.
„O ja!“ erwiderte sie mit der ganzen Keckheit ihres Alters, „ich habe nur bisher keinen getroffen, der auch nur menschlich aussah!“
Der Assessor lächelte etwas unnatürlich – der Hieb saß.
„Da haben Sie’s!“ meinte der Vater lachend und schob dem Gaste die Rotweinflasche hin, „trinken Sie noch eins auf den Schreck! Wer wird sich mit einem Backfisch auf Wortgefechte einlassen – da zieht man immer den kürzeren!“
Die Mutter hatte währenddessen durch mehrfaches Kopfschütteln und Stirnrunzeln ihrer hoffnungsvollen Tochter starke Mißbilligung zu erkennen gegeben – Hänschen aber freute sich so sichtlich ihres Sieges, daß nichts mit ihr anzufangen war.
„Und was denkst Du mit dem Fähnrich zu thun?“ frug die Mutter.
„Vorläufig habe ich ihn zum Sonntag eingeladen,“ sagte der Präsident, „ich fühle doch die Verpflichtung, mich des Jungen etwas anzunehmen – er wird ja nicht stören!“
„Nun, das bleibt abzuwarten,“ meinte der Assessor gereizt, „im ganzen sind solche halbreife Früchte am Baume der Menschheit nicht sehr genießbar!“
„Besser wie Backpflaumen“, murmelte Hänschen zur sprachlosen Freude ihres Bruders, der ihr bei jeder neuen Ungezogenheit gegen den Assessor ermunternd zunickte und sie mit den Füßen stieß, um seinen Beifall zu bekunden.
Als der Assessor sich an diesem Abend, einer anderen Verabredung halber, ungewöhnlich früh empfahl, frug die Mutter: „Sie kommen doch auch am Sonntag?“
„Wenn ich trotz des Fähnrichs erscheinen darf“ – meinte der Assessor lächelnd – „wie ist das, Hänschen?“
Die junge Dame, die sich schon während des ganzen Abends einer haarsträubenden Unart gegen den Gast hingegeben und sich bei jeder seiner Bemerkungen mit Karl gepufft und ironisch angelächelt hatte, warf dem Frager einen gleichgültigen Blick zu.
„Zu mir kommen Sie ja nicht!“ sagte sie mit großer Ruhe, und dem Hausfreund blieb angesichts der Sachlage nichts übrig, als sich mit einem Achselzucken zu empfehlen.
Kaum hatte die Thür sich hinter ihm geschlossen als die Mutter mit großer Entschiedenheit die Parole ausgab: „Marsch, fort jetzt! Ihr wart heute abend zu ungezogen, Ihr geht jetzt schlafen – alle beide!“
„Ich soll auch schlafen gehen?“ frug Hänschen mit großen Augen.
„Jawohl!“ erwiderte die Mutter, „Du auch – und zwar sofort! Hast Du’s begriffen?“
Hänschen stand zögernd auf.
„Ich gehe ins sechzehnte Jahr!“ erklärte sie strafend.
Der Vater erhob die Augen von der Zeitung. „Das ist sehr hübsch von Dir!“ sagte er trocken, „aber jetzt gehst Du nicht nur ins sechzehnte Jahr, sondern auch ins Bett – ich habe die Ehre, Euch allen beiden eine gehorsame gute Nacht zu wünschen – es war mir ein besonderer Vorzug.“ – Eine Handbewegung nach der Thür vervollständigte diesen „Herausschmiß“ in der verbindlichsten Form.
Die beiden Geschwister trollten sich beschämt, und Hänschen gönnte sich wenigstens noch die kleine Herzenserleichterung, hörbar zu murmeln: „Alles wegen dem Greuel!“
Die Mutter sah ihr seufzend nach.
„Was aus diesem Mädchen noch einmal werden soll, Ludwig, das ist mir ein Rätsel!“ sagte sie bekümmert.
„Etwas sehr Niedliches!“ meinte der Vater behaglich.
„Aeußerlich ja!“ gab die Präsidentin zögernd zu, „aber sonst! Hast Du schon einmal etwas so Unbrauchbares gesehn? Und diese Gleichgültigkeit gegen ihre Erscheinung und ihren Anzug – bei einem so großen Mädchen! Um aus diesem Unband etwas Vernünftiges werden zu lassen, da müßte wirklich ein Wunder geschehen!“
„O, die geschehen noch alle Tage!“ sagte der Präsident heiter.
„Ich ziehe es doch vor, nicht darauf zu warten,“ bemerkte seine Frau bittersüß, „nein, nein, es ist nicht anders – sie muß in Pension!“
Der Vater machte eine ungeduldige Bewegung.
„Heute abend noch?“ frug er, „nein? Nun, da kann ich wohl erst noch meine Zeitung zu Ende lesen!“
Der Ausspruch: „Sie muß in Pension!“ war in neuerer Zeit geradezu zum Leitmotiv im Hause des Präsidenten geworden, und es darf nicht verschwiegen werden, daß Hänschen eines „Abschliffs“ in ihrer Erziehung nach den meisten Richtungen hin noch dringend bedurft hätte. Die Haupt- und Kardinaltugenden des „Weibes“ fehlten ihr vorläufig entschieden oder lagen noch so absolut unentwickelt in ihrer Natur, daß es auch dem schärfsten Auge bisher nicht gelungen war, sie herauszufinden.
Mochte die Mutter sich noch so oft mit dem alten Worte trösten lassen: „Niemand weiß im grünen Mai, was Knospe und was Mädchen sei“, es blieb doch eine traurige Wahrheit, daß Hänschen an allen Freuden, Interessen und Pflichten einer heranwachsenden jungen Dame bisher wenig oder gar keinen Anteil nahm. Als ein unnormaler Zug durfte es schon bezeichnet werden, daß ihr Wunschzettel zum Geburtstag und zu Weihnachten immer als oberste Bitte, und von zahllosen Ausrufungszeichen begleitet, die negative Forderung enthielt: „Nichts zum Anziehen!“
Wurde dann doch ein Gewand beschafft, so mußte die demnächstige Besitzerin zur etwaigen Anprobe aus allen Winkeln des Hauses zusammengesucht und wie Iphigenie zum Opferaltar geschleppt werden. War sie glücklich eingefangen und mit einer neuen Toga bekleidet, so erklärte sie, während des Anprobierens lesen zu müssen, da sie sich sonst zu Tode langweile – hielt in Momenten, wo eine regungslose Haltung bedingt war, ein zentnerschweres Töchteralbum mit beiden Armen in die Höhe, schrie auf, es wäre zu eng, sowie der erste Haken geschlossen wurde, weinte geräuschvoll, stampfte mit dem Fuß und war so ungebärdig, daß nach beendeter Anprobe Mutter und Schneiderin in einem halbohnmächtigen Zustand zurückblieben. Die Kleiderkünstlerin, ein wehmütiges, ältliches Wesen, dem vor zweiunddreißig Jahren sein Bräutigam durchgegangen war, zog nach derartigen Anprobeleiden regelmäßig ein Fläschchen mit Baldriantropfen aus der Kleidertasche und versicherte in einer ihr eigentümlichen Redewendung: „Wenn Fräulein Hänschen ‚anprobieren‘, muß ich jedesmal ‚brauchen‘!“
Auch die schönen Künste des Nähens, Strickens und Häkelns, letzteres von Hänschen aus tiefer Abneigung in „Ekeln“ umgetauft, begegneten hartnäckigem Widerstande. Sogar der silberne Fingerhut, den eine vielgeliebte Tante ihr als Aufmunterung zum Fleiß verehrt hatte und der die Umschrift trug: „Täglich saget Dir die Tante, daß der Hut Dir trefflich steht!“ vermochte nicht, die Passion für die Kunst der Nadel zu beleben! Ein Handarbeitskursus, der in seinem Prospekt verhieß, die Zöglinge für dreißig Mark zu Wundern der Geschicklichkeit heranzubilden, hatte nach viermonatigem Verlauf einen von Hänschen angefertigten Stopfer in einem Küchentuch als einziges Resultat aufzuweisen. Die Mutter pflegte dieses Unikum denn auch besuchenden Freundinnen mit der wehmütigen Feststellung zu zeigen: „Dieser Stopfer kostet dreißig Mark!“
In der Küche waren die Hilfeleistungen der heranwachsenden Tochter auch suspendiert worden, seit sie beim Einrühren eines Kuchens den halben Teig in rohem Zustande aufgegessen hatte und der Kuchen infolgedessen zum namenlosen Schrecken der Mutter
[177][178] ungefähr so groß wurde, als wenn er in der Form aus Lottchens Puppenküche gebacken wäre. Kurz, die junge Dame schien zunächst als einziges Vorbild die Königstochter aus dem Volksliede erwählt zu haben, nach der sich schon Generationen so teilnehmend erkundigen: „Was thut sie denn den ganzen Tag, da sie nicht spinnen und nähen mag?“
Unter diesen Verhältnissen wird man die von Zeit zu Zeit wiederholte Behauptung der Mutter: „Das Mädchen muß in Pension!“ durchaus gerechtfertigt finden, und schon rückte das Schreckbild in greifbare Nähe. Auf dem mütterlichen Schreibtisch lagen bereits Prospekte über Prospekte, in denen Damen sich erboten, gegen eine jährliche Entschädigung von vier-, respektive sechshundert Mark Herz und Geist, Körper und Gemüt zu bilden und alle etwa fehlenden edlen Charaktereigenschaften prompt und sicher nachzuliefern.
Dieser Moment in dem Schicksal unserer Heldin ist es, in dem wir ihre Bekanntschaft machen und in dem zugleich der Fähnrich in die Erscheinung trat und ungeahnte Bedeutung für das Seelenleben der jungen Dame gewinnen sollte.
Die Einladung zum Sonntag war von einer unbeschränkten Bitte „auf den ganzen Tag“, die der Vater recht unvorsichtig ausgesprochen hatte, schriftlich auf „Nachmittag und Abend“ modificiert worden und der Fähnrich hatte, ebenfalls schriftlich, mit der Wendung zugesagt, daß sich Arthur von Soten die besondere Ehre geben werde, der freundlichen Einladung nachzukommen.
Dieses inhaltsreiche Schriftstück war auf dem Tische liegen geblieben und wurde des Abends gesucht, da sich ein leidenschaftlicher Streit zwischen den Eltern erhoben hatte, ob „Soten“ mit oder ohne h geschrieben würde, und man sich schwarz auf weiß überführen wollte.
Das billet doux war aber nicht aufzufinden, und erst nach geraumer Zeit und scharfem Verhör bekannte Hänschen, es in Verwahrung genommen zu haben – „ich kann nichts herumliegen sehen!“ bemerkte sie würdig – ein plötzlich erwachter Ordnungssinn, der von der Mutter mit Recht mißtrauisch betrachtet wurde, da man nie vorher auch nur eine Andeutung davon bemerkt hatte.
Der Vater schloß übrigens den Brief, nachdem die Streitfrage entschieden, in sein Pult. „Damit Du Dich nicht wieder über herumliegende Sachen zu kränken hast,“ wie er spitz bemerkte.
Der Sonntag, der Arthur von Soten in Person bringen sollte, rückte inzwischen näher.
Die Mutter erkältete sich ein paar Tage vorher und wurde von Hänschen mit einer wirklich diakonissenhaften Aufopferung gepflegt und mit allen erdenklichen Hausmitteln bombardiert, um Sonntag aktionsfähig zu sein. Das Befinden der Präsidentin besserte sich auch und die Krankheit blieb nur in der sichtbaren Form einer bedeutend angeschwollenen Oberlippe zurück, die der Symmetrie der mütterlichen Züge allerdings einigen Eintrag that, von der Besitzerin aber mit der Gleichgültigkeit des reiferen Alters gegen dergleichen Schicksalsschläge ertragen wurde.
Hänschen dagegen litt innerlich die furchtbarsten Qualen! Wenn der Fähnrich kam und die Mutter so sah! Da er sie vorher nicht kannte, mußte er ja naturgemäß annehmen, daß sie immer so aussah, ein Gedanke, bei dem sich die Tochter unaussprechlich blamiert fühlte und die Mutter solange und eindringlich beschwor, doch einen Tag im Bett zu bleiben bis die brave Frau, welche die fieberhafte Angst der Tochter gar nicht begriff, sich unwillig erkundigte: „Du bist wohl verrückt geworden?“ und damit der Besorgnis wenigstens den leidenschaftlichen Charakter benahm.
Als der Sonntag nun wirklich hereinbrach und die Mutter noch nicht abgeschwollen war, stieg die Verzweiflung Hänschens aufs höchste. Sie war sogar so unvorsichtig, sich zu verraten und meinte: „Mutter, ich habe gesagt, Minna soll die Schlafstube heizen – es ist Dir doch gewiß peinlich, hereinzukommen, wenn wir Besuch haben – wenn der Fähnrich kommt!“ setzte sie stockend hinzu.
Die Mutter sah sie groß an.
„Ach so!“ sagte sie dann gedehnt, „nein, nein – bemühe Dich nicht! ich will ihn auch sehen – er wird es schon überleben!“
Mit stillem Kopfschütteln und heimlicher Belustigung beobachteten die Eltern die unendlichen Vorbereitungen, die Hänschen für den erwarteten Besuch des Fähnrichs traf.
Erstens erschien sie, trotz des eiskalten Oktobertages, in einem weißen Kleide, was sie sonst immer unter Erstickungspantomimen als „zu eng“ verworfen hatte, trug einen Zweig roter Vogelbeeren im Gürtel und war tadellos glatt gekämmt.
Auch schnitt sie unmittelbar vor Tisch die letzten Monatsrosen und Astern ab, füllte alle Vasen und Schalen mit frischen Blumen und wischte freiwillig den Staub vom Klavier – ein noch nie dagewesenes Ereignis, das allgemeine Rührung und laute Rufe der Verwunderung hervorrief.
Der Assessor, der schon zu Mittag erschien, bemerkte mit einem überraschten Blick auf den dekorierten Tisch: „Nun, das sieht ja so festlich aus!“
„Alles der Fähnrich!“ sagte der Vater und rieb sich die Hände. „Sehen Sie nur, Assessor – sogar die weiß gekleidete Jungfrau fehlt nicht zum Einzug.“
„So, so!“ meinte der Assessor neidisch und verwundert. – Um fünf Uhr erschien der Erwartete mit militärischer Pünktlichkeit.
Hänschen, die das Sporenklirren im Flur hörte, stürzte ins Nebenzimmer und zwickte sich vor dem Spiegel in beide Backen, weil sie sich zu blaß vorkam. Dies Backenzwicken erwies sich übrigens als unnötig, da ihr Gesicht sofort beim Eintritt des jungen Herrn vor Verlegenheit bis zu päonienhafter Röte erglühte, und sie nur im stillen hoffte, daß sie abgeblaßt sein würde, bis sie sich aus dem tiefen Tanzstundenknix wieder nach oben gefunden hätte.
Kurz, Hänschen war wie ausgetauscht! Der Assessor sah mit wachsendem Ingrimm auf diese schüchterne, mädchenhafte Knospe, die mit niedergeschlagenen Augen am Kaffeetisch hantierte und der Mutter mit einem flehenden Blick das Einschenken abnahm. Bei einem emporlodernden Zank mit Lottchen, die ein von beiden Schwestern begehrtes Anisplätzchen mit dem Motto: „Gewalt geht vor Recht“ – an sich riß, gab Hänschen sogar mit sanfter Lieblichkeit nach, was die Mutter dazu bewog, den Fähnrich innerlich zu segnen.
Als man die Mahlzeit beendet hatte, räumte Hänschen das Kaffeegeschirr ab und erschien sogar, was doch sonst gar nicht ihr Fall war, als still waltendes Wesen mit der Krümelbürste, um die letzten Spuren des Kuchens wegzufegen. Dieser Anfall akuten Häuslichkeitstriebs hatte übrigens furchtbare Folgen, denn die Mutter bemerkte laut und gefühllos: „Du kehrst die Krümchen ab? Das ist auch wahr, das kannst Du jetzt immer machen!“ was nicht gerade in der Absicht der häuslichen Tochter gelegen hatte, aber von diesem Tage an erbarmungslos durchgeführt wurde, mit der boshaften Bemerkung bei Unterlassungssünden: „Die Krümchen liegen ja noch da – ich muß wohl den Fähnrich holen!“
Und er, der all’ dies Herrliche vollendet? Der Fähnrich? Er war ein hübscher, fixer Junge in einer entzückenden, blauen Husarenjacke, mit zwei so absolut in der Schattierung dazu passenden Augen, daß man im Zweifel hätte sein können, ob er sich die Augen nach der Jacke, oder die Jacke nach den Augen ausgesucht hatte. Nebenbei trieb er wahrhaft königliche Verschwendung mit der für Hänschen absolut neuen und darum doppelt bezaubernden Wendung: „Befehlen, gnädiges Fräulein?“, machte erfolglose, aber anmutige Versuche, einen Zukunftsschnurrbart zu drehen und klirrte in hinreißender Weise mit den Sporen – kurz, es war kein Wunder, daß er einen unermeßlichen Einfluß auf seine Umgebung ausübte! –
Nach dem Kaffee machte die Mutter den beglückenden und auf tiefes Verständnis der Situation begründeten Vorschlag: „Die Jugend geht jetzt wohl noch etwas in den Garten!“ und enthob diese Jugend dadurch der lähmenden Gegenwart der Autoritäten.
Vom Fenster aus sahen die Eltern lächelnd zu, wie Hänschen ein heimlich von der Mutter entlehntes rotes Seidentuch sehr kleidsam über das weiße Gewand geworfen, sittsam an der Seite des Fähnrichs in den Gängen promenierte, von Lottchen und Karl gefolgt, die Mund und Ohren aufsperrten, um kein Wort der gewiß höchst interessanten Unterhaltung zu verlieren. – Nach einer Weile wendete sich der Vater nach dem Assessor um, der ungewöhnlich schweigsam war.
„Nun, lieber Freund? Wollen Sie sich nicht der Jugend anschließen?“
„Ich weiß nicht“ – erwiderte zögernd der Angeredete, der noch vor acht Tagen diese Zumutung als eine entschiedene Verkennung seines geistig reifen Standpunktes würde angesehen haben.
„Nun, wie Sie wollen,“ sagte unbefangen der Vater, dem, wie jedem Manne, Seelenvorgänge wie des Assessors Verstimmung so lange unkenntlich blieben, bis er, wie der Volksmund sagt, „mit der Nase darauf gestoßen wurde“. „Dann lesen wir älteren Leute etwas! Ich habe da eine Broschüre über die Fortschritte der Elektrotechnik, die höchst interessant zu sein scheint!“
[179] Aber der Assessor war heute nur mit seinem halben Geiste bei der Elektrotechnik – er horchte nach dem Zimmer hinüber, in dem jetzt die Stimmen der aus dem dunkelnden Garten zurückgekehrten Jugend laut und vergnügt durcheinander schallten.
„Da drüben scheint es ja sehr heiter zu sein!“ bemerkte er mit erzwungener Freundlichkeit. In dem Augenblicke drang Hänschen ins Zimmer.
„Mama, dürfen wir nicht tanzen? Bitte! Du spielst uns! Herr von Soten will mir Tanzstunde geben – es wird göttlich!“
„Nur Ihr Beide?“ frug die Mutter zweifelhaft.
„Nein, wir holen die Schulzeschen Mädchen herunter – einzige Mutter – laß uns doch!“
Die Schulzeschen Mädchen waren ein sonst vergeblich von der Mutter angestrebter Umgang, der von Hänschen für „grauenhaft“ erklärt und infolgedessen immer abgelehnt wurde – aber jetzt als tanzende Lückenbüßer wurden Schulzens lebhaft ersehnt. Karl stürzte in Lohndienereigenschaft nach oben – und Schulzens, von der Anwesenheit eines Husarenfähnrichs unterrichtet, sagten mit Begeisterung zu. Anna Schulze, die den ganzen Tag mit geschwollenen Mandeln zu Bett gelegen hatte, erstand sogar von ihrer Leidensstätte und verbiß heroisch jeden Schmerz beim Schlucken, um mit zu Präsidents zu dürfen.
Nach etwa einer Viertelstunde traten die beiden Jungfrauen sehr aufgedonnert an, Annas Erscheinung nur etwas verdunkelt durch ein Krawattentuch, das ihr die Mutter unerbittlich aufgezwungen hatte. Unter namenlosem, vergnügtem Spektakel wurden die Teppiche aufgerollt, die Möbel in den Flur geschleppt, und ein improvisierter Ball wirbelte die Gesellschaft durcheinander.
Der Assessor, der mit giftigen Blicken zusah, wie sich seine ruhigen, geistig angeregten Sonntage unter dem Zauber des Fähnrichs zu Tanz-Orgien umwandelten, – also der Assessor entschloß sich nach einer Weile zögernd, seine passive Rolle aufzugeben und auch in den Reigen zu treten.
Er forderte Hänschen mit herablassender Miene zum Walzer auf, den die Mutter eben nach der Melodie „die schönsten Stiefel auf der Welt kauft man bei Spier und Rosenfeld“ zum Besten gab, wobei durch den kleinen Uebelstand, daß der Baß bei ihr grundsätzlich zu jeder Melodie derselbe blieb, weder die Künstlerin, noch ihr Publikum gestört wurde.
Hänschen nahm die Aufforderung des Hausfreundes an, und sie tanzten davon. Die gelehrige, junge Dame, welche aber im Laufe einer Viertelstunde sämtliche Finessen dieses Tanzes begriffen hatte, kommandierte mitten im Drehen: „Links herum!“ eine Forderung, die den nicht sehr tanzgewandten Assessor einen Augenblick aus der Fassung und in logischer Folge aus dem Takt brachte. Er blieb nach einigen verzweifelten Sekunden fruchtlosen Hopsens stehen und wurde von Hänschen mit dem freundlichen Gemurmel: „Nicht ’mal tanzen kann er!“ seiner Kavaliersdienste enthoben.
(Fortsetzung folgt.)
BLÄTTER UND BLÜTEN.
„Die letzten Kämpfer von 1813/15“, welche die vorige Nummer der „Gartenlaube“ den Lesern in Bild und Wort vorgeführt hat, haben, wie schon dort in dem redaktionellen Nachwort zu Holzhausens Aufsatz erwähnt wurde, in Herrn J. E. Traugott Carl zu Leipzig einen Zuwachs erhalten. Wir sind schon heute in der Lage, neben seinem Bild nähere Mitteilungen über den Lebensgang auch dieses ehrwürdigen Veteranen zu bringen. – J. E. Traugott Carl stammt aus Zeulenroda im Vogtland, wo er am 16. September 1797 zur Welt kam. Er verließ gegen Mitte November 1813 in jugendlichem Alter seine Vaterstadt, um sich als Freiwilliger in der deutschen Armee einstellen zu lassen. In Frankfurt a. M. wurde er dem zum Yorkschen Korps gehörenden 1. Brandenburgischen Husarenregiment als Freiwilliger Jäger zu Pferde überwiesen und dem Quartiermeister Ed. v. Geidicke aus Braunsberg zugeteilt. Nach erfolgter Einübung in den Waffen und nach einer überstandenen Krankheit schloß er sich am 21. Januar 1814 von Frankfurt a. M. aus einer nach Frankreich abgehenden Ersatztruppe an und erreichte mit dieser sein Regiment bei dem Städtchen Saint-Mihiel. Er kämpfte in verschiedenen Gefechten, welche das Detachement auf dem Weg nach Verdun, Mézières und Sedan zu bestehen hatte; bei einem derselben wurde er durch einen Säbelhieb am Kopfe verwundet, ohne jedoch gezwungen zu sein, seine Truppe verlassen zu müssen. Der Weg führte ihn dann mit seiner Truppe über Laon, Rheims, Château-Thierry, Meaux bis vor Paris, wo jedoch nach Amiens abgeschwenkt wurde. Nach dem Friedensschluß ging es auf dem Rückweg über Lille, Mons, Namur, Luxemburg nach Koblenz.
In Berlin 1815 entlassen, kehrte er in seine Heimat zurück. Hier erlernte er die Weberei, worauf er nach Handwerksbrauch zum Wanderstab griff, der ihn auch für eine Weile wiederum nach Frankreich hineinführte. Nach der Heimkehr errichtete er in Zeulenroda ein Webwarenfabrikationsgeschäft, das er bis zum Jahre 1860 betrieb, in der Folge übernahm er einige Ehrenämter als Bezirksvorsteher, Schulgeldeinnehmer etc. in der Vaterstadt. Schon 1864 verlor er seine Frau und als dann 1886 überhaupt keine Angehörigen von ihm mehr in Zeulenroda weilten, zog er nach Mittweida zu seiner Tochter. Seit dem zu Anfang Januar dieses Jahres erfolgten Tod dieser Tochter lebt er bei seinem Sohn in Leipzig, wo er sein Leben zu beschließen gedenkt. Außer diesem Sohn, dem wir unsere Mitteilungen im wesentlichen verdanken, lebt noch ein zweiter in New York. Von seinen neun Kindern sind ihm die übrigen alle nach und nach weggestorben. Der Gesundheitszustand des alten Herrn war stets ein guter, wozu wohl auch die ganz regelmäßige Lebensweise desselben viel beigetragen hat. In seiner Vaterstadt war er stets und bis auf den heutigen Tag sehr geachtet. Im Verhältnis zu seinem Alter ist er, wenn auch körperlich nicht mehr sehr rüstig, doch geistig noch frisch. Er liest täglich die Zeitung, hat ein reges Interesse für die politischen Zustände im deutschen Vaterlande und schreibt auch noch fleißig seine Briefe an Verwandte und Bekannte. Gegenwärtig ist er allerdings etwas unpäßlich, was hoffentlich bald wieder gehoben sein wird.
Die Kochkunstausstellung im Parkhause zu Bremen. So interessant für Hausfrauen und Feinschmecker auch die Kochkunstausstellungen sind, einen Fehler besitzen die meisten, daß man alle Herrlichkeiten und fremdartigen Dinge nur immer ansehen darf, bis einem das Wasser im Munde zusammenläuft und man sich seufzend abwendet. Ich würde jedem Komitee solcher Ausstellung zu der Einrichtung einer „Probierstube“ raten, und ich müßte mich sehr in der menschlichen Natur irren, wenn ich nicht richtig prophezeite, daß eine solche Probierstube ungeheure Geschäfte machen würde. Da sie aber bislang wie schon auf andern Ausstellungen auch in Bremen ein frommer Wunsch blieb, so muß sich das Auge allein mit dem Genuß der ausgestellten Sachen begnügen und die reizvolle Anordnung der Tafeln, sowie den künstlerischen Ausputz der einzelnen Gerichte bewundern. Fast schien es oft unmöglich, daß selbst die geschickteste Hand diese Ausschmückung hatte ausführen können, aber was in der Theorie dem zweifelnden Geiste undenkbar erscheinen würde, die Praxis überzeugte ihn von der Möglichkeit.
Alles, was mit der Küche und Hauswirtschaft auch nur annähernd zusammenhängt, war zu sehen; in einem geschmackvollen Tempel, dessen schlanke Säulen Kornähren- mit Kornblumen- und Mohnguirlanden verbanden, hatte die Bäckerinnung einladend ihre Backwerke in den verschiedensten Sorten, besonders die bekannten Bremer Brot- und Kuchenspecialitäten, ausgestellt. Ein originelles Gegenstück bot dazu ein Wursttempel, dessen Säulen aus den verschiedensten Würsten gebildet wurden und der in der Mitte ein sich zärtlich umschlungen haltendes Schweinchenpaar in Koch- und Köchinkleidung zeigte und über dem der schöne Spruch prangte: „Raum ist in der kleinsten Hütte etc.“ Die Fleischer boten ringsum ein Bild des trefflichen Fleisches, durch das Bremen so berühmt ist, sodaß es sogar mit feinem Rauchfleisch in Konkurrenz treten kann mit dem berühmten Hamburger. In den Kellerräumen hatte sich die deutsche Hochseefischerei niedergelassen und zeigte dem Besucher, welche große Anzahl verschiedenster Sorten von trefflichen Fischen das Meer in seinen Tiefen birgt. Diese Abteilung der Ausstellung würde besonders dem Binnenländer viel Neues und Interessantes geboten und dazu beigetragen haben, ihm die Bedeutung der Hochseefischerei eindringlicher, als Worte und Zahlen es vermögen, klar zu machen. Einen großen Raum nahmen auch die Aussteller aller möglichen „Flüssigkeiten“ ein, so daß ein Mitglied des Vereins „gegen den Mißbrauch geistiger Getränke“ einen rechten Kummer gehabt haben würde.
Aber nicht nur genießbare Sachen bot die Ausstellung dem Besucher, sie zeigte den Hausfrauen auch in anziehender Weise, wie sehr die Wissenschaft jetzt im Dienste der Hauswirtschaft steht, durch eine Fülle wirtschaftlicher Maschinen, die zum Teil wirklich staunenswert praktisch
[180] waren. Wer von den Leserinnen bislang noch nicht gewußt hat, ob sie in ihrer neuen Küche „Kohlen- oder Gasheizung“ einführen soll, die wird auch nach dem Besuch solcher Ausstellung noch nicht zur Klarheit gelangen; denn stehen wir vor den Gasherden, leuchten uns diese ein, lassen wir uns aber die Patentsparherde mit allen möglichen Stellvorrichtungen der Feuerung vorführen, wollen uns diese ebenso praktisch erscheinen. Es war auf der Ausstellung übrigens ein interessanter Versuch zu sehen, der Kohlen- und Gasheizung auf ein und demselben Herde zeigte und nach der Beschreibung und Vorführung sehr praktisch erschien, obgleich eine definitive Entscheidung darüber wohl erst bei längerem Gebrauch möglich ist. Alle Herde und alle Maschinen sind zudem so geschmackvoll ausgeführt, daß sie selbst der hübschesten Küche zur Zierde gereichen und die Harmonie der geschmackvollen Küchenausstattung nicht stören. Immer aber ist es eine große Freude, durch das Bild großer Ausstellungen, wenn es auch nur eine Kochkunstausstellung ist, die Gewißheit zu erhalten, daß deutscher Fleiß und deutsche Erfindungsgabe nicht mehr durch ausländische Ware in den Schatten gestellt werden kann. Dies zeigte auch die Kochkunstausstellung in Bremen. L. Holle.
Das im Zoologischen Garten zu Hannover geborene Gnu. Die untenstehende Abbildung verdanken wir dem Direktor des Zoologischen Gartens zu Hannover, Dr. Ernst Schäff. Derselbe hatte auch die Freundlichkeit, das Bild durch folgende Ausführungen näher zu erläutern: Von einem Transport afrikanischer Antilopen, welche der bekannte Tierhändler C. Reiche in Alfeld eingeführt hatte, erwarb der Hannoversche Zoologische Garten im Jahre 1893 außer einer mächtigen Pferde-Antilope und einem Hartebeest (Kuhantilope) auch ein Paar weißschwänziger Gnus, welche, bei ihrer Ankunft fast ganz ausgewachsen, sich zu wahren Musterexemplaren entwickelten. Die auf den ersten Blick häßlichen Tiere haben in ihrem Aeußeren für den Tierfreund und -kenner doch viel Anziehendes. Wenn auch der Kopf reichlich schwer und durch bürstenartige Haaransammlungen auf dem Nasenrücken sowie unter dem Kinn mehr verunstaltet äls geschmückt wird, wenn auch der Hals fast übermäßig kräftig entwickelt zu sein scheint, so ist doch der Rumpf nebst den Beinen so wohl proportioniert und besonders die Bewegungswerkzeuge sind so wunderbar zierlich und federnd, daß man diese Teile geradezu schön nennen darf. Zur Bewunderung aber wird der Beschauer hingerissen, wenn er die Gnus in voller Bewegung sieht, selbst in dem beschränkten Raum des Geheges in einem zoologischen Garten.
Während die meisten Gnus ziemlich bösartige und oft heimtückische Tiere sind, zeigten unsre Exemplare sich verhältnismäßig liebenswürdig, sowohl untereinander als auch gegen ihren Wärter. Nur während der Brunstzeit änderte sich das Benehmen und das Männchen war einigemal sehr ungalant gegen seine bessere Hälfte, brachte ihr sogar ein paarmal blutende Wunden, glücklicherweise auf die Haut beschränkt, bei. Später vertrugen sich dann die Tiere wieder gut und konnten Tag und Nacht in einem gemeinsamen Gehege und Stall untergebracht werden. Einige Zeit vor Weihnacht vorigen Jahres glaubte ich aus dem Aussehen des Weibchens schließen zu dürfen, daß unsre Gnus sich bald vermehren würden, eine Ansicht, in der ich mich nicht getäuscht hatte. Gerade als ich am Sylvesterabend mit den Vorbereitungen zum üblichen Sylvesterpunsch beschäftigt war, wurde mir gemeldet, daß ein junges Gnu geboren sei. Ein erfreuliches Neujahrsgeschenk für einen Tiergärtner!
Ich begab mich selbstverständlich sofort nach dem Antilopenhause, um meinen Besuch in der Wochenstube abzustatten, wo ich alles in bester Ordnung vorfand. Das junge Tierchen stand ganz munter neben der Mutter, suchte bald das Euter und schien sich auf diesem sogenannten Jammerthal ganz wohl zu fühlen. Es war das erste weißschwänzige Gnu, welches in einem deutschen zoologischen Garten das Licht der Welt erblickte und wird als solches vielleicht bei den Lesern der „Gartenlaube“ eben so viel Interesse erregen wie bei unsern Besuchern. Ich zeichnete das Tierchen etwa vier Tage nach der Geburt, als von den Hörnern nur bei scharfem Hinsehen zwischen der struppigen Stirnbehaarung ein winziges Knöpfchen zu bemerken war. Die Haarfarbe war fahl braungelb, an der Vorderseite des Kopfes, wo die Haarbürste schon angedeutet, dunkelbraun; ebenso zwischen den Vorderbeinen an der Brust. Der starke Hals mit kurzer aufrechter Mähne erschien fast dicker als der von zierlichen, hohen Beinen getragene Körper, an den sich ein demjenigen eines Hundes ähnlicher Schwanz ansetzte. Nach einigen Wochen änderte sich schon manches an dem Tierchen, die Hörner wurden deutlich sichtbar, die Mähne länger, der Schwanz ebenfalls, das ganze Tier wurde merklich größer. An einer Stelle, wo die Mutter das Junge so lange leckte, bis das Haar ausfiel, wuchs bald nachher neues, und zwar von derselben dunkelbraungrauen Farbe, wie es bei den Alten vorhanden ist. Zum Frühjahr wird jedenfalls das mehr gelbliche Säuglingshaar überhaupt verschwinden, um dem grauen Kleid der Erwachsenen Platz zu machen. In diesem Alter sehen dann die jungen Gnus sehr merkwürdig aus, da sie im allgemeinen Gestalt und Farbe der Alten, dabei aber anstatt der abwärts und dann wieder nach oben gekrümmten etwa fingerlange, ganz gerade aufragende Hörner tragen. Erst ganz allmählich nehmen die Hörner die charakteristische gekrümmte Form an. Das bräunlich gelbe Jugendkleid darf als Anpassung aufgefaßt werden, da das wenigstens in den ersten Tagen zu raschem andauerndem Lauf noch nicht genügend erstarkte junge Tier ohne Zweifel der Farbe des von der afrikanischen Sonne verdorrten und vergilbten Pflanzenwuchses der Steppen ähnlich gemacht wird und dadurch manchem Feind entgeht. Vor letzterem ist es bei uns völlig sicher, und so dürfen wir uns der Hoffnung hingeben, daß es sich zu einem normalen kräftigen Tier entwickeln wird.
Junge Friesin. (Zu dem Bilde S. 177.) Wer als Gast auf Helgoland zum erstenmal in dem großen Saal der „Hohen Meereswoge“ oder dem des „Grünen Wassers“ den Töchtern der Insel bei ihrem eigenartigen Nationaltanz zusieht, der wird nicht ohne Erstaunen inne, wie viel zierliche Anmut unter ihnen vertreten ist. Denn diese Zierlichkeit steht in gar auffälligem Kontrast zu dem starken, oft reckenhaften Körperbau der Fischer und Lotsen, welche die Väter und Brüder dieser zartgliedrigen Mädchen sind, und zu dem wohlverdienten Ruf des Friesenstamms, dem Kampf mit den Tücken des Meers besonders rüstige Kämpen zu stellen. Aber wer dann anderen Tages in den Straßen des Oberlandes heimischer wird und bemerkt, wie die sauberen Backsteinhäuser, in denen die Frauen und Töchter der Männer vom Strand ihr arbeitsames Dasein verbringen, gar so niedrig und eng sind, als hielten sie sich niedergeduckt vor dem Wind, der mit so stürmischer Wucht über sie hinfegen kann – wer hier die Mädchen der Insel durch die niedliche Hausthür schreiten oder hinter den noch viel niedlicheren Fenstern sitzen sieht, auf deren Simsen auch die sorgfältig gepflegten Zierpflanzen nur kleiner geraten als anderswo, der findet dieses Größenverhältnis natürlich.
Dem friesischen Seemann ist die eigentliche Heimat das Meer; das Friesenmädchen auf ihrer Insel muß sich in die Enge schicken. Das Gesetz der Anpassung hat auch hier gewaltet und nicht auf Kosten der Schönheit. Denn gesunde Frische findet sich meist gepaart mit dieser auch auf den anderen friesischen Inseln nicht seltenen Zierlichkeit seiner Bewohnerinnen. Von zierlicher Anmut sind auch die Hauben, welche sie von alters her – trugen. Schon längst ist leider die Landestracht auf diesen Fischerinseln abgekommen, zum wenigsten auf denen, die als Seesommerfrischen besucht werden. Aber in alten Truhen werden da und dort noch die alten Zierstücke von Mutter und Großmutter aufbewahrt und an stillen Sonntagen öffnen sich dieselben vor den strahlenden Augen der Tochter und Enkelin. Da geht’s an ein feierliches Anprobieren und mit andachtsvoller Lust sieht das moderne Friesenmädchen dann im Spiegel, wie Mutter und Großmutter in der Tracht von einst so schmuck aussahen – damals als die Guten selbst noch so jung waren wie jetzt sie.
Inhalt: Echt. Erzählung von R. Artaria (Fortsetzung). S. 165. – Abseits vom Wege. Skizzen aus Konstantinopel von Bernhardine Schulze-Smidt. S. 170. Mit Abbildungen S. 165, 168 und 169, 171, 172 und 173. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Lampen der Zukunft. S. 174. – Der Fähnrich als Erzieher. Eine Backfisch-Studie von Hans Arnold. S. 175. – Junge Friesin. Bild. S. 177. – Blätter und Blüten: „Die letzten Kämpfer von 1813/15“ (Traugott Carl). Mit Bildnis. S. 179. – Die Kochkunstausstellung im Parkhause zu Bremen. S. 179. – Das im Zoologischen Garten zu Hannover geborene Gnu. Mit Abbildung. S. 180. – Junge Friesin. S. 180. (Zu dem Bilde S. 177.)