Vater Schmidt in Wolgast und seine Kameraden
Vater Schmidt in Wolgast und seine Kameraden.
(Mit den Bildnissen S. 157.)
Es war an einem schönen Augusttage des Jahres 1893. Eine längere Erholungsreise hatte mich von den burgengekrönten Ufern des Rheinstromes an die pommersche Küste geführt, welche die grüne Woge der Ostsee träumerisch umschmeichelt. Dort, unfern der nordischen Musenstadt Greifswald, liegt das freundliche Städtchen Wolgast. Es ist nur durch den Oderarm der Peene von der langhingestreckten Insel Usedom geschieden. Mancherlei Altertümer und geschichtliche Erinnerungen birgt das uralte Städtchen. In der stattlichen Pfarrkirche – sie ist hochgewölbt wie die Bauten baltischer Gotik – liegen die Gräber der Pommernherzöge, und unfern des Städtchens wird dem Fremden eine kleine stille Bucht gezeigt, in der die Leiche des Schwedenkönigs Gustav Adolf eingeschifft wurde, um über die Ostsee der nordischen Heimat, ihrer letzten Ruhestätte, zugeführt zu werden. Aber auch ein lebendes Denkmal weilt zur Zeit noch in dem weltabgeschiedenen Städtchen, ein Mann, der noch Zeuge der gewaltigen Ereignisse gewesen ist, die zu Anfang unseres Jahrhunderts die europäische Menschheit bewegten und von der uns in unserer Jugend die Großeltern so vieles zu erzählen wußten. Unfern des Marktes steht ein einfaches, altertümliches Haus, von einigen Buchenbäumen beschattet. Hier haust der hundertjährige Greis, der als Knabe die Zeit erlebte, als nach Jena und Auerstädt die große Armee des ersten Napoleon das norddeutsche Land überflutete, und der sieben Jahre später zu den Scharen begeisterter Jünglinge gehörte, die, dem Rufe des Königs folgend, zu den Waffen eilten, um den großen Eroberer aus den deutschen Landen wieder zu vertreiben.
Vater August Schmidt ist am 11. Februar 1795 in der pommerschen Stadt Anklam geboren, hat somit vor wenigen Tagen den Eintritt in das zweite Jahrhundert seines langen Erdenlebens gefeiert. Sein Ehrentag ist nicht nur von seiner Familie und seiner Vaterstadt festlich begangen worden; der Kaiser hat ihn beschenkt und schriftlich beglückwünscht, eine Deputation seines alten Regiments hat ihn feierlich begrüßt.
Der Vater des Jubilars war in Anklam Uhrmacher. Da erschien eines Tages – es war im Herbste des Jahres 1806 – ein französischer chasseur à cheval auf dem Markte der Stadt, ließ sich sein Pferd beschlagen und ritt dann vor das gegenüberliegende Haus des Uhrmachers Schmidt, von dem er in befehlendem Tone eine Uhr verlangte. Zugleich drohte er mit der geladenen Pistole. Aber der Uhrmacher Schmidt war ein Mann von Kopf und Geistesgegenwart. Da er wohl merkte, daß der patrouillierende Jäger nicht allzuviel Zeit haben konnte, so drückte er ihm schnell einen falsch gehenden Chronometer in die Hand und jener sprengte von dannen. Das war August Schmidts erste Begegnung mit den Franzosen. Er sollte in einigen Jahren noch genauere Bekanntschaft mit ihnen machen.
Am 17. März 1813, dem Tage nach der Kriegserklärung Preußens an Frankreich, trat der Achtzehnjährige als Freiwilliger in das 1. pommersche Infanterieregiment. In diesem hat er die drei Feldzüge von 1813 bis 1815 mitgemacht und an einer außerordentlich großen Anzahl von Schlachten teilgenommen. In dem mörderischen Kampfe bei Bautzen erhielt er die Feuertaufe. Während des Herbstfeldzuges stand sein zu der Division v. Borstell im 3. preußischen Armeekorps (v. Bülow) gehörendes Regiment bei der Nordarmee, deren Oberkommando bekanntlich Bernadotte führte. Beide Feldherren, Bülow und Bernadotte, hat unser Schmidt des öfteren gesehen, und noch jetzt weiß der alte Herr ihre Gesichtszüge genau zu beschreiben.
Die Zeit der Siege nahte heran. In der Schlacht bei Großbeeren, am 23. August, stand die Division Borstell zuerst bei Heinersdorf, auf dem linken preußischen Flügel; später stürmten fünf Bataillone der Divisionen Krafft und Borstell das Dorf Großbeeren. Ihnen gegenüber standen die Sachsen, und der Brigadekommandeur bei der Division Krafft, Oberstlieutenant von Zastrow, wurde bei dem Sturme auf das Dorf durch den Säbelhieb eines sächsischen Kavalleristen verwundet. Auch dieses Umstandes weiß sich Schmidt noch in seinem hohen Alter genau zu entsinnen, ein Beweis für die ungemeine Schärfe seines Gedächtnisses. An die Schlacht bei Dennewitz hat er gleichfalls noch recht bestimmte Erinnerungen. Er half das Dorf Gölsdorf stürmen. Ihm zur Seite fallen zwei Kameraden, ein Lohgerberbursche aus Pommern und der Sohn eines Arztes aus dem Brandenburgischen. Schmidt half sie zum Verbandplatze schaffen; aber das furchtbare Jammern der Verwundeten habe ihn, so erzählte er nur, derart ergriffen, daß von diesem Augenblicke an bis zum Ende der Schlacht nichts in seinem Gedächtnisse haften geblieben sei. Er selbst war unverwundet geblieben, bis auf einige Kontusionen durch Bajonett und Kolbenstöße.
Im weiteren Verlaufe des Feldzugs zieht Schmidt vor die Festung Wittenberg und trifft mit der Nordarmee am 18. Oktober, unweit Taucha, auf dem Schlachtfelde von Leipzig ein, wo in mehrtägigen furchtbaren Kämpfen die Hauptentscheidung bereits gefallen war. Doch kommt er sofort ins Feuer, macht am andern Tage die grauenvollen Sturmangriffe auf die von den Franzosen verrammelten Gärten und Thore der Stadt mit und wird Zeuge der furchtbaren Zertrümmerung der französischen Nachhut, infolge der vorzeitigen Sprengung der Elsterbrücke. Es ist ergreifend, zu hören, wenn der uralte Greis die Scenen schildert, die sich an jenem entsetzlichen Tage an den Ufern des sonst so friedlichen Elsterflüßchens abgespielt haben.
[155] Nach der Leipziger Schlacht ging der Marsch westwärts über Weißenfels und Gotha und später mit Bülow nach den Niederlanden. Als sich im Frühjahr 1814 die Bülowsche mit der Blücherschen Armee vereinigt hatte, griff Napoleon beide bei Laon an, wo er am 9. und 10. März geschlagen wurde. Auch aus dieser Schlacht weiß Vater Schmidt zu erzählen und daß sie seinen Major, der nicht recht seine Schuldigkeit gethan, das Kommando gekostet habe. Die letzten Ereignisse aus dem militärischen Leben des Jahres 1814 waren für unsern wackeren Pommern die Belagerungen von Maubeuge und Philippeville. Dann zog August Schmidt wieder heim zu dem buchenumrauschten Strande der Ostsee.
Aber die Rückkehr Napoleons von Elba, und der neu entbrannte Völkerstreit riefen ihn nochmals unter die Waffen. Damals pflegte der alte Blücher, von dem Vater Schmidt ganz besonders viel zu erzählen weiß, seinen Pommern zu sagen: „Meine pommerschen Jungen werden mich nicht verlassen. Ihr sollt noch Französisch lernen.“ Das 1. pommersche Infanterieregiment gehörte in dem Feldzuge von 1815, zur Brigade Sydow und stand wiederum bei dem Korps von Bülow. Der Eindruck, welchen der Verlust der Schlacht bei Ligny und der Unfall Blüchers, dessen Pferd zusammenbrach, auf die preußische Armee machten, die Besorgnisse, welche sich an beide Begebnisse knüpften, stehen dem alten Schmidt noch ebenso deutlich vor Augen wie der Marsch der Armee auf den grundlosen Wegen nach Waterloo. Hier traf Bülows Korps gegen fünf Uhr des Nachmittags ein und damit kam unser braver Schmidt in das Feuer der letzten napoleonischen Feldschlacht.
Das alles hat er mir selber erzählt, als ich ihm bei Gelegenheit der zu Anfang genannten Reise einen Besuch abstattete. Unvergeßlich wird mir die Erinnerung an diese Stunde sein. Als ich in die freundliche Wohnstube trat, saß der alte Herr gerade am Fenster und rauchte seine lange Pfeife Er ist vollständig geistig frisch und begriff den Zweck meiner ihm ganz unerwarteten Anwesenheit ohne weiteres. Nachdem er mich auf das Sofa genötigt, begann er, von seinen Feldzügen zu erzählen, vollständig zusammenhängend und ohne eine Zwischenfrage unbeantwortet zu lassen. Am folgenden Tage erneuerte ich meinen Besuch, und, eben waren wir wieder auf dem blutigen Felde von Dennewitz angelangt, als Vater Schmidt aufstand und mich bat, ihn auf einen Augenblick zu entschuldigen. Bald darauf kam er wieder herein, in der Hand ein Cigarrenkistchen haltend, das er mir präsentierte. Diese liebenswürdige Aufmerksamkeit des fast Hundertjährigen rührte mich tief, und als er es sich nicht nehmen ließ, seinem Gaste auch das Streichholz anzuzünden, da konnte ich nicht umhin, einen Blick auf die Hand des Greises zu werfen, die vor nunmehr achtzig Jahren bei Bautzen und Großbeeten, bei Leipzig und Waterloo die Muskete, geführt hatte!
Wir plauderten dann noch einiges, und der alte Herr meinte: Wenn er so am Fenster säße wie heute morgen, so ließe er die Tage der Vergangenheit vor seinem Auge vorübergleiten, Scene für Scene, „und dann,“ fügte er mit einem eigenartigen Lächeln hinzu, „kommt mir das alles wie ein Traum vor“ Ich fragte ihn, oh er noch lesen könne. „Ach nein,“ entgegnete der Greis wehmütig, „ich kann nicht einmal Ihr Gesicht erkennen. Nur, die Umrisse einer Gestalt sehe ich vor mir.“
Das ist Vater Schmidts einziges Ungemach. Sonst lebt er in seinem Wolgast, das er seit achtzig Jahren bewohnt und wo er als Goldschmied manchem jungen Paare die Ringlein geschmiedet, in behaglichen Verhältnissen, hochgeehrt von seinen Mitbürgern. Er befindet sich in der Pflege seiner Tochter, steht gegen neun Uhr des Morgens auf, speist mit gutem Appetit und ist noch durchaus imstande, den Bestrebungen und Bewegungen der Gegenwart zu folgen, wie er denn auch gelegentlich die Ereignisse von 1866 und 1870 in den Kreis seiner Betrachtungen zieht. Meine Hoffnung, ihm noch zur Vollendung seines hundertsten Jahres meinen Glückwunsch darbringen zu können, ist in Erfüllung gegangen.
Schon das letzte Weihnachtsfest hatte übrigens den wackeren alten Herrn mit einem ihn ehrenden Sympathiebeweis aus Patriotenkreisen überrascht. Herr Dr. Hans Natge in Tempelhof-Berlin, der Herausgeber der Kriegerbundszeitung „Parole“, hatte im vorigen Jahre, im Verein mit einigen andern Herren, den schönen Gedanken zur Ausführung gebracht, eine Sammlung zu veranstalten, aus deren Erträgen den letzten noch lebenden Veteranen jener Zeit eine Weihnachtsgabe unter den Christbaum gelegt werden sollte. Der Gedanke wurde allseitig mit Freude begrüßt, und die hübsche Summe von beinahe sechstausend Mark floß zusammen. Aber ein wehmütiges Resultat ergab die Zählung der noch lebenden Kämpfer von 1813/15: Vater Schmidt hat nur noch vier Kameraden, welche die Einberufungsordre zum letzten Appell noch nicht empfangen haben. So wurde denn beschlossen, jedem der alten Herren eine Ehrengabe von fünfhundert Mark zu überreichen und den Rest an bedürftige Witwen ehemaliger Veteranen aus der Zeit der Befreiungskriege zu verteilen.
Meine Leser werden nun begierig sein, auch von den noch weiter am Leben befindlichen Kameraden unseres wackeren Vater Schmidt einiges Nähere zu hören, und ich will es versuchen, nach den mir vorliegenden Nachrichten eine Skizze der zum teil recht merkwürdigen Lebensläufe dieser letzten Zeugen einer glorreichen Epoche deutscher Geschichte zu entwerfen.
Der älteste von ihnen – das hundertjährige Geburtstagskind habe ich, wie billig, außer der Reihe behandelt – ist der Lieutenant a. D. von Baehr. Weit, weit im Osten wohnt er, in dem Ackerstädtchen Ragnit, wo der russische Njemen noch nicht lange die Preußische Grenze überschritten und nun den deutschen Namen, Memel angenommen hat. Am 6. März 1793 hat er in seinem jetzigen Wohnorte das Licht der Welt erblickt. Die Familie heißt eigentlich Neumann, und unser alter Krieger führt die Vornamen Johann Leopold. Als vierzehnjähriger Knabe sah er, in der für Preußen so schweren Zeit, bei dem unfern gelegenen Tilsit das glänzende Feldlager Napoleons, der mit Kaiser Alexander auf einem Floße im Memelflusse zusammentraf. Auch ihn selber hat er gesehen, der damals nach Ehlau und Friedland auf der Höhe seiner Macht und seines Ruhmes stand. Der junge Neumann trat in das Graudenzer Pionierbataillon und war im Jahre 1812, als die ungeheuren Massen der „großen Armee“ in seiner Heimatprovinz die Weichsel überschritten, bei dem Bau des Brückenkopfes Dirschau beschäftigt. Die Neumanns waren Leute, die das Herz auf dem rechten Flecke hatten und die Pflichten der Menschlichkeit auch dem Feinde gegenüber nicht vergaßen. Als um die Neujahrszeit von 1813 die unglücklichen Soldaten des großen Heeres mit zerlumpten Uniformen und erfrorenen Händen und Füßen durch die ostpreußischen Städte schlichen, da hat der Vater unseres Veteranen gar viele dieser Elenden in sein Haus aufgenommen und ihnen warmes Essen und schützende Kleidung gegeben. Ehre dem Andenken eines solchen Mannes! Noch heute erinnert sich der hundertjährige Sohn, wie man auf dem Markte des Städtchens Ragnit große Feuer entzündet und wie er gesehen, daß mancher der Erstarrten, der zu gierig nach der Wärme verlangt, tot in die Flammen gefallen sei. Diese Mitteilungen stammen aus der Feder von Fräulein Clara von Baehr, die mir in zuvorkommender Weise über das merkwürdige Leben ihres Vaters berichtet hat. Der junge Neumann nahm nun an den Feldzügen der folgenden Jahre als Pionierunteroffizier teil, und die Art seiner Waffe brachte es mit sich, daß er weniger in der offenen Feldschlacht kämpfte, desto mehr aber an den beschwerlichen Arbeiten der Befestigungs- und Brückenbauten mitgewirkt hat. Das spätere Leben des herrlich veranlagten und durch eigene Kraft emporgekommenen Mannes war reich an schönen, ja, geradezu glänzenden Erfolgen. Als Ingenieurgeograph und Plankammerinspektor mit Offiziersrang nach Berlin versetzt, vermählte er sich im Jahre 1819 mit einer Gräfin zu Solms-Tecklenburg und wurde nach dem frühzeitigen Hinscheiden derselben von deren Mutter adoptiert und unter dem Namen von Baehr in den erblichen Adelsstand erhoben. Seine tüchtige geographische und naturwissenschaftliche Bildung und seine hervorragenden kartographischen Arbeiten brachten ihn in bedeutende Stellungen und vermittelten seinen Verkehr mit hervorragenden Männern der Wissenschaft, unter denen selbst der Name eines Alexander von Humboldt genannt werden kann. Seit 1854 pensioniert, genießt er eine noch immer nützlich verwandte Mußezeit in seiner kleinen Heimatstadt. Ein glücklicher Vater, besitzt er, nach dem Tode seines einzigen Sohnes, eines Kämpfers von 1866 und 1870, noch reich beanlagte Töchter, von denen die eine, vor nunmehr zwölf Jahren, die ereignisvolle Lebensgeschichte des alten Vaters aufzeichnete, während die Schwester das leider nur im Manuskript vorhandene Werkchen mit hübschen Skizzen begleitet hat.
In eine andere Landschaft und andere Verhältnisse versetzt uns der Name des dritten Veteranen Johann Christian Kaufmann. Da, wo im Herzen des deutschen Landes, in den lieblichen Thüringer Bergen, die freundliche Saale den Fuß der Höhen umspült, [156] auf denen die romantische Rudelsburg und die zerfallenen Türme der Saaleck liegen, dort, in dem villengeschmückten Badeorte Kösen, geht von der Thüringer Hauptbahn eine Zweiglinie ab, im Volksmunde scherzhaft die „Pfeffermünzbahn“ genannt. Sie führt vorüber an dem blutgetränkten Schlachtfelde von Auerstädt und dem idyllisch gelegenen Eckartsberga nach dem Städtchen Cölleda. Nur etwa eine Stunde von diesem Orte entfernt liegt das Dorf Rettgenstedt, wo der alte Tischler Kaufmann wohnt. Neben dem Stellmacherhandwerk, das er in seiner Jugend erlernte, blies er gern das Horn, und so zog er im Frühjahr 1814 als Hautboist des 31. Infanterieregiments „nach Frankreich hinein“. Mit Vater Schmidt zusammen half er Maubeuge belagern, die kleine aber wichtige Sambrefestung, deren sich der Reisende erinnern wird, der einmal von Köln aus durch Belgien eine Fahrt nach der französischen Hauptstadt gemacht hat. Es war ein harter Winter, der Winter von 1813/14, der seinem berüchtigten Vorgänger vom Jahre 12 an unwirtlicher Rauheit nur wenig nachgab. „Er (der Vater Kaufmann) hat uns oft erzählt,“ teilt mir in einem mit echt thüringischer Herzlichkeit geschriebenen Briefe der Sohn mit, „daß er manche Nacht im Schnee gelegen. Und öfters Tage, ohne Nahrung, von Branntwein hätte leben müssen.“ Auch hatte Kaufmann den Kummer, während des Feldzugs seinen Vater zu verlieren. In seinem Besitze befindet sich noch eine Marschroute. Er hat jeden Ort und jedes Quartier auf dem Hin- und Rückmarsche sorgfältig verzeichnet. Lange Zeit nach seiner Heimkehr lernte er, noch im Alter von vierzig Jahren – er ist am 4. Januar 1794 geboren – das Tischlerhandwerk. Nebenher betrieb er etwas Ackerbau. Fleißig hat er mit dem Hobel gearbeitet, ein anspruchsloser und enthaltsamer Mann, der geistige Getränke verabscheute und sich nicht einmal den bescheidenen Genuß des Pfeifchens erlaubte. Im Alter von einundvierzig Jahren verheiratet, konnte er mit seiner Gattin das schöne Fest der goldenen Hochzeit, begehen. Doch hatte der alte Mann im Vorjahre das Unglück, die 83jährige treue Gefährtin seines Lebens zu verlieren. Dieser Verlust hat ihn um so tiefer ergriffen, als auch sein Körper durch eine schwere Lungen- und Rippenfellentzündung, die er im letzten Augustmonat zu überstehen hatte; geschwächt war. Dennoch hat sich der Hundertjährige wieder erholt, wozu die Pflege seiner braven Kinder Und Kindeskinder ihr gutes Teil beigetragen hat. Herr Tischlermeister Wilhelm Kaufmann schreibt mir, daß sein alter Vater bei dem Empfang der Ehrengabe des deutschen Volkes aufs tiefste bewegt gewesen sei.
Wieder müssen wir einige Dutzend Meilen Landes überfliegen, wenn wir dem vierten unserer alten Krieger, Herrn Rentner Gottlieb Nölte, einen Besuch abstatten wollen. Dieser wohnt auf einem bäuerlichen Gehöfte in Neuholland bei Liebenwalde im Havelland. Geboren in der Stadt Liebenwalde am 10. August 1796 als der Sohn eines Ackerbürgers gleichen Namens, mußte er schon im zwölften Lebensjahr – es war in der Zeit nach den Schlachten bei Jena und Auerstädt – für die französischen Truppen Kriegsfuhren leisten. Noch nicht siebzehn Jahre alt, wurde er zur 3. Kompagnie des 3. Bataillons des 3. kurmärkischen Landwehr-Infanterieregiments eingezogen. Auch dieses Regiment gehörte zur Nordarmee der Verbündeten. Gottlieb Nölte ist also in engerem Sinne ein Kriegskamerad des alten Schmidt. Sein Regiment stand unter dem Kommando des Oberstlieutenants v. d. Marwitz bei der Division v. Hirschfeld, die zum 4. Preußischen Armeekorps (Graf Tauentzien) gehörte; der Bataillonskommandeur war ein Kapitän v. Laviere. Wenn Frau Witwe Bartel, Vater Nöltes Tochter, die mir gleichfalls in sehr liebenswürdiger Weise über ihren Vater geschrieben, von Gefechten bei Havelberg redet, denen der alte Krieger beigewohnt, so ist dies, wie ich mir zu bemerken erlaube, eine offenbare Verwechslung mit dem Orte Hagelberg bei Belzig, wo Generallieutenant von Hirschfeld am 27. August den französischen General Girard schlug, der aus Magdeburg ausgerückt war, um die linke Flanke der gegen Berlin operierenden Armee des Marschalls Oudinot zu sichern. Es ist dies die bekannte Kolbenschlacht bei Hagelberg, in welcher mehrere französische Bataillone von den kurmärkischen Landwehren, fast ganz ohne Gebrauch der Feuerwaffe, mit Bajonett und Kolben überwältigt wurden.
Gottlieb Nölte rückte dann vor Wittenberg, machte in Tauentziens Korps den Gewaltmarsch nach Berlin (14. und 15. Oktober) mit und gehörte später zu den Belagerern von Magdeburg, welches von dem französischen General Lemarois aufs tapferste verteidigt und erst im Mai 1814, nach der Anerkennung König Ludwigs XVIII., übergeben wurde. Aber schon geraume Zeit vorher war unser Nölte mit einem Teile des Tauentzienschen Armeekorps abmarschiert, um bei der Belagerung der Festung Wesel verwendet zu werden, die sich gleichfalls sehr lange, bis zum 10. Mai 1814, gehalten hat. Auch das Jahr 1815 rief den wackern Kurmärker wieder unter die Waffen. Diesmal gehörte sein Regiment zur 11. Brigade (Luck) und stand bei dem 3. preußischen Armeekorps, mit welchem General v. Thielmann am 16. Juni an der Schlacht von Ligny teilnahm, während er zwei Tage später, an dem denkwürdigen 18., den französischen Marschall Grouchy bei Wavre festhielt, wodurch den Verbündeten der Sieg von Waterloo gesichert wurde. Nach dieser Schlacht zog Nölte mit dem siegreichen Heere in das innere Frankreich und gegen Paris. Der alte Nölte klagt noch heute viel über die mangelhafte Verpflegung der Verwundeten zu damaliger Zeit, eine Klage, deren Berechtigung aus den Mitteilungen anderer Teilnehmer an den großen Feldzügen durchaus bestätigt wird. Wenn der biedere Alte hinzufügt, daß jetzt alles viel besser geworden sei; so darf ja wohl auch dieses in vielen Punkten zugegeben werden.
Nach der Rückkehr in die märkische Heimat wurde Gottlieb Nölte Schiffsbauer und betrieb später in Berlin einen Butter- und Käsehandel. Fast volle vierzig Jahre, von 1825–1864, lebte er in glücklicher Ehe; dann zog er, nach dem Tode seiner Frau, zu seiner erwähnten Tochter, die in Neuholland bei Liebenwalde verheiratet ist. Hier wohnt er nun schon wiederum seit dreißig Jahren, hat mehrere Enkel und zwanzig Urenkelkinder, ist körperlich noch recht rüstig, wenn auch sehr schwerhörig, und spaziert noch allein durch Haus und Hof und Garten.
Und nun kommt in der Reihenfolge als letzter der jüngste unserer Veteranen. Auch er hat schon das stattliche Alter von 96 Jahren erreicht. Ist er der jüngste und hat er, infolge seines damals noch sehr jugendlichen Alters, als Sechzehnjähriger nur an dem Feldzuge von 1815 teilnehmen können, so ist er im späteren Leben zu höheren Ehrenstellen emporgestiegen als einer seiner noch lebenden Kameraden. Mit gerechtem Stolze dürfen freilich auch, Vater Schmidt und Papa Nölte auf ihre einfachen alten bronzenen Kriegsdenkmünzen von 1813/15 blicken; Herr v. Baehr trägt außerdem das Ritterkreuz des Hausordens von Hohenzollern; Excellenz Neumann aber ist mit einer ganzen Reihe von Ordenszeichen geschmückt. Geboren am 11. September 1798 in Joachimsthal bei Berlin, trat Franz Neumann, damals Schüler eines Berliner Gymnasiums, im Jahre 1815 als freiwilliger Jäger in das Colberger Regiment. Mit diesem machte er den Feldzug in Belgien mit. In der mörderischen Schlacht bei Ligny wurde er durch Oberkiefer und Zunge geschossen und mußte zurück nach Düsseldorf gebracht werden, wo er wiederhergestellt wurde. Dann hat er noch an der Belagerung der Festung Givet teilgenommen, welche General Bourke, im Vorjahre der Kommandant von Wesel (vergl. oben), ein ritterlicher alter Haudegen, nach Napoleons zweiter Abdankung noch bis zum Abend des 9. September gegen die Verbündeten verteidigte.
Aus dem jugendlichen Krieger Franz Neumann, der von der Schulbank aufgestanden war, um das Gewehr auf die Schulter zu nehmen, wurde ein ernster Mann der Wissenschaft. Nach vollendetem Studium der Naturwissenschaften wurde er in der alten Haupt- und Residenzstadt Königsberg Privatdocent und im Jahre 1829 ordentlicher Professor der Physik und Mineralogie. Hohe Auszeichnungen haben ihm, wie gesagt, nicht gefehlt. Heute ist dieser Nestor der Wissenschaft Wirklicher Geheimer Rat mit dem Prädikat Excellenz; aber stolz ist er, wie ich einem Briefe von Fräulein Louise Neumann, seiner Tochter, entnehme, einzig und allein auf den Professortitel, „das übrige betrachtet er in seiner Bescheidenheit als zuviel Ehre“. Leider ist der würdige alte Herr, dessen drei Söhne gleich ihm hervorragende Gelehrte und Universitätsprofessoren sind – Carl, der Mathematiker, in Leipzig, Ernst, der Mediziner, in Königsberg, Julius, der Nationalökonom, in Tübingen – schon seit längerer Zeit krank. Auch an dem 350jährigen Jubelfeste der Königsberger Universität, das im vorigen Sommer gefeiert wurde, konnte der alte Geheimerat nicht mehr persönlich teilnehmen. Doch fuhr Prinz Friedrich Leopold von Preußen, der zu dem Feste nach Königsberg gekommen war, vor dem Hause des greisen Gelehrten vor, um ihm seinen Besuch abzustatten. Auch ein Kriegskamerad aus den Kriegen von 1813/15 hatte zu Lebzeiten den alten Herrn ganz besonders ausgezeichnet; es ist kein Geringerer als Kaiser Wilhelm I.
[157]So wäre ich denn zum Abschlusse dieser Lebensbilder gekommen. Ist es nicht wie ein Märchen, wenn man heute, in der Aera fin de siècle, wie sie drüben an der Seine sagen, von Männern liest, lebenden Menschen, die den Kaiser Napoleon bei Tilsit gesehen, die bei Leipzig die Thore gestürmt, bei Waterloo mit der alten Garde gefochten haben? Freilich haben neuere Ereignisse die Erinnerung an jene Zeiten in den Hintergrund gedrängt. Das denkwürdige Jahr 48, der Dänenkrieg von 64, Königgrätz, Metz und Sedan haben das ihrige gethan, um die Alten von 1813/15 in Schatten zu stellen. Und auch nach diesen letztgenannten Ereignissen ist schon wieder ein Viertelhundert an äußeren Begebenheiten verhältnismäßig armer Jahre ins Land gegangen. Es darf leider nicht verhehlt werden, daß in mancher Beziehung heute ein kleinlicherer Geist die Welt durchweht, als jener war, der die Kämpfer von 1813 beseelte. Ein gewisser Mangel an Begeisterungsfähigkeit macht sich in unserer ausgesprochen materiellen Zeitrichtung leider auch bei der Jugend bemerkbar. Gerade die Begeisterungsfähigkeit war die große Tugend jener so anderen Epoche. Der glühende Enthusiasmus auf der einen Seite, die bewunderungswürdige soldatische Hingebung auf der andern, hier Blücher, der 70jährige Heldengreis, und Gneisenau, der Mann des ernsten Rates, der „finstere York“ und der „schneidige Kleist“, wie sie unser schwäbischer Dichter Gerok genannt hat, dort ein Ney, ein Davout und die sphinxartige Cäsarengestalt mit dem marmorkalten Imperatorengesichte – in der That, nur die Makedonier Alexanders oder die Veteranen eines Hannibal und seines römischen Gegners Scipio, nur die Alten von der zehnten Legion des großen Juliers oder die Männer, welche unter Gustav Adolf oder dem schweigsamen Friedländer bei Lützen gefochten, oder jene, die unter dem Alten Fritz im Feuer von Leuthen und Torgau gestanden, können annähernd ähnliche Tage erlebt haben. So wollen wir sie denn hegen und pflegen und ehren, die letzten Braven von 1813, auf daß an dem jüngeren Geschlechte das Wort des Dichters in Erfüllung gehen möge: „Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt.“
* | * | |||
* |
Im Augenblick der Drucklegung dieses Artikels erfahren wir, daß sich ein sechster Veteran aus den Freiheitskriegen gefunden habe, Herr Johann Erdmann Traugott Carl, welcher, nach den Angaben von Leipziger Blättern am 16. September 1797 zu Zeulenroda geboren, nunmehr im 98. Lebensjahre stünde. Wir behalten uns vor, das Bild auch dieses Veteranen und nähere Mitteilungen über ihn, soweit solche erhältlich, unseren Lesern in einer der folgenden Nummern der „Gartenlaube“ darzubieten. Die Redaktion.