Echt
Echt.
Der Zug hielt noch im Salzburger Bahnhof. Nicht der große
Wien-Pariser Eilzug mit seinen Sammetcoupés und deren dichtgedrängtem
Inhalt von karrierten Ueberziehern und schleierumgebenen
Filzhütchen unter Bergen von Handgepäck – nein, der bescheidene
Bummelzug, die Reisegelegenheit der kleinen Leute, dessen Wagen
leere Gepäcknetze und außerdem Fensterplätze genug zum Auslugen
rechts und links bieten. Er hat es niemals eilig, dieser Zug, er
hatte es auch nicht an dem scharfkalten Februarmorgen,
da unsere Geschichte beginnt. Seine Thüren standen alle noch
sperrweit offen, mit Ausnahme derjenigen des Damencoupés,
welche eine vorsichtige Hand kurz nach dem Oeffnen wieder
beigelegt hatte in der stillen Hoffnung auf Weitergenuß
der bisherigen Ungestörtheit.
Sie gehörte zu den erfahrenen Reisenden, die große ältliche Dame mit dem scharfgeschnittenen Gesicht, das ergab sich aus der Art, wie sie die beste Aussichtsecke in Beschlag genommen und sich mit Handgepäck und Reisedecke wohnlich darin eingerichtet hatte. Auf den shawlumwickelten, emporgezogenen Knien hielt sie ein Schreibmäppchen und benutzte, nur hier und da einen Blick aus dem Fenster werfend, die noch übrige Wartezeit zum hastigen Zeilenfüllen.
„Nur noch zwei Stunden Alleinsein,“ seufzte sie aufblickend, als jetzt beim ersten Glockenzeichen sich einiges Leben auf dem Perron zu regen begann, „und mein Feuilleton wäre beendet. ‚Zu Fuß über den Königssee‘ macht sich nicht schlecht, ich werde bei dem Titel bleiben. Heute abend in München die Reinschrift, morgen gleich expediert – dann käme es noch gerade recht für die Sonntagsnummer. O, nur nicht im letzten Augenblick noch eine Mutter mit Vieren, die durchaus hier herein muß. Die anderen Mitschwestern steigen ja doch alle mit Vorliebe ins Nichtrauchcoupé!“
Aber auch erfahrene Leute irren sich manchmal. Während die scharfen Augen der Reisenden noch den ganzen Perron nach den gefürchteten Vieren abspähten, öffnete sich vor ihren Knien sanft aber unaufhaltsam die Coupéthüre und ein ältliches Mannsgesicht mit friedfertigen Augen und einem harmlosen grauen Schnurrbärtchen lugte herein.
„Hier ist Damencoupé!“ herrschte sie ihm entgegen.
„Weiß wohl!“ erwiderte der kleine Herr. „Eben darum – habe die Ehre, Gnädigste! Tonerl,“ wandte er sich rückwärts nach einer schlanken Brünette, die ihm mit dem gepäcktragenden Mädchen folgte, „da komm’ her, da ist der schönste Platz für Dich, steig’ nur gleich ein!“
Und beflissen hob er zuerst die leichte Gestalt des Töchterleins und dann ihr vielfaches Handgepäck, verschnürte Pappschachteln und einen altersgrauen Reisesack, hinein. Die Dame warf einen Blick der Mißbilligung auf seine bauchige Fülle und die Balancierbewegungen des kleinen Mannes, der seine Kraft zusammennehmen mußte, um ihn glücklich ins Netz zu heben.
Endlich war alles untergebracht und der männliche Eindringling trat aus dem Heiligtum zurück. Fräulein Toni ließ sich auf den Sitz nieder, schlug die Füße übereinander, wippte ein wenig hin und her und lächelte mit ermunterndem Kopfnicken den [118] Papa draußen an, der in ungewisser Haltung immer von einem Fuß auf den andern trat.
Die Reisegefährtin ließ den prüfungsgewohnten Blick über das Persönchen ihr gegenüber streifen, aus dessen lebhaften braunen Augen die ganze Reiseerwartung in hellem Vergnügen funkelte. Hübsch war sie, die Kleine, ohne Zweifel. Ueber den etwas zu dicht gekrausten Stirnlöckchen saß ein etwas zu kühner grauer Federhut, der indessen gut stand zu dem bräunlichen Gesichtchen und dem frischen Wangenrot. Das kleine Jackett von billigem Stoff hob ein allerliebstes Figürchen heraus. Die Handschuhe waren ebensowenig tadellos wie das Portemonnaie, welchem sie soeben das Billet anvertraute.
Zur Salzburger Aristokratie gehörte demnach Fräulein Toni nicht, auch nicht zum reichen Bürgerstand, dies war das Ergebnis des kurzen Musterungsblickes. Die Schriftstellerin rückte sich gleichgültig in ihrer Ecke zurecht und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ausschließlich dem Manuskripte zu.
Der kleine Mann stellte daraufhin sein Verlegenheits-Getrippel ein, schaute das reisefrohe Töchterlein eine Weile besorgt an und äußerte endlich das Resultat seines Nachdenkens in den Worten: „Wenn Dir nur nichts passiert, Tonerl!“
„Was soll mir denn passieren, Papa?“ erwiderte sie munter. „Hier im Damencoupé ist doch das unbedingte Numero Sicher.“
Sie warf einen mutwilligen Blick nach dem abweisenden Gesicht in der Fensterecke. „Ein Buch hätt’ ich vielleicht noch’ mitnehmen sollen – zur Unterhaltung!“
„Gieb nur recht acht auf das Handgepäck,“ setzte er seinen vorigen Gedankengang fort.
„Ja.“
„Und laß in Rosenheim, wenn’s zum Essen geht, die Coupéthür schließen, daß Dir nichts wegkommt. Ich hätte doch vielleicht lieber bis dorthin mitfahren sollen, daß Du nicht ohne Schutz gewesen wärst.“
Fräulein Toni schien große Lust zu einem Heiterkeitsausbruch zu haben, auch um die Mundwinkel der anderen spielte ein Lächeln über einen solchen Beschützer.
„Aber Papa, ich bitt’ Dich!“ rief jetzt Toni lustig. „Ein solches Kind bin ich doch nicht mehr, daß ich die paar Packerln nicht glücklich nach München bringen sollt! Mach’ Dir nur gar keine Gedanken. Und grüß’ mir die Mama noch recht schön!“
„Ja.“
„Und die Burgi auch.“
„Werd’s bestellen.“
„Ich möcht g’rad’ nur wissen,“ dachte Toni während dieser letzten Augenblicke, „ob denn je ein Mensch ’was Gescheites reden kann so aus dem Waggon und von draußen herein. Meiner Lebtag hab’ ich’s noch nicht gehört. Und der Papa und ich, wir machen’s jetzt gerade so. Na, Gott sei Dank, da geben’s ja das Signal! Behüt’ Gott, Papa!“ rief sie erleichtert, warf noch eine Kußhand durch das Fenster der zuklappenden Coupéthüre, dann ein Pfiff, ein Ruck, und hin rollte der Zug über das im Wintersonnenschein glänzende Alpenvorland.
Fräulein Toni setzte sich zurecht und begann nun ihrerseits, die Reisegefährtin zu mustern. Puh – nichts Elegantes! Ein alter Winterpaletot, ein gelbes Gesicht mit einer großen Nase, ein verschossenes Seidentuch über den ergrauenden Scheitel geknüpft, denn der Hut – himmlischer Vater, welch ein Altertum! – baumelte droben im Netz. Dieser Erscheinung fühlte sich Fräulein Toni sofort überlegen. Sie hatte nur vor Elegantheit einen ungemessenen Respekt. Hier aber stellte offenbar sie selbst die Feine vor und sie beschloß, sich demgemäß zu betragen. Also behielt sie gleich einmal die Handschuhe an, obwohl es sonst ihren Fingern nur ohne solche wohl war, lehnte sich nachlässig im Sitz zurück und beobachtete ein vornehmes Schweigen, während der Zug nach dem Verlassen des Bahnhofes eine lange Zeit an verschneiten Krautäckern und Wiesen vorüberfuhr.
Endlich hielt er. O Jesus, erst Freilassing! Aber das war ja nicht zum Aushalten, so eine Langweiligkeit, und wenn das bis München so fort gehen sollte … nein, da war es immer noch besser, die alte Jungfer anzureden!
„Stößt Sie denn das nicht arg beim Schreiben?“ fragte sie teilnahmsvoll.
Die scharfen grauen Augen sahen einen Augenblick herüber.
„Ich bin es gewohnt,“ erwiderte die Schriftstellerin nicht ganz so abweisend, als sie eine andere Frage beantwortet haben würde. „Ich reise und schreibe das ganze Jahr.“
Das bewundernde Erstaunen des Mädchens, welchem noch niemals ein schriftstellernder Mensch in Fleisch und Blut vor Augen gekommen war, verfehlte nicht seine besänftigende Wirkung auf die im besten Gedankenfluß Gestörte. Sie legte, freilich mit unterdrücktem Seufzen, den Bleistift nieder, um, wie sie sich innerlich zum Troste sagte, hier einstweilen ein Stück Volkstum zu studieren und vielleicht aus den Angaben der Kleinen ein paar wertvolle Notizen über billige Unterkunft in dem für ihre Verhältnisse so unbequem teueren Salzburg zu erlangen. Sie hatte die Kunde der billigen und guten Gelegenheiten in dem gesamten deutsch-österreichischen Reisegebiet fast bis zur Wissenschaft ausgebildet und benutzte eifrig jede Gelegenheit, etwaige Lücken im Netze auszufüllen.
Und so geschah es, daß schon bald, ehe der Zug noch von Freilassing abgedampft war, ein gemütliches Gespräch zwischen den beiden zum Schweigen Entschlossenen im Gange war. Zuerst erfuhr die junge Toni, daß sie die Ehre habe, mit der rühmlichst bekannten, von Verlegern und Redakteuren höchst gesuchten Berichterstatterin und Reiseschriftstellerin Sophie Panke zu fahren. Sie fühlte sich freilich sehr zerknirscht, keinen von deren zahlreichen bedeutenden Artikeln gelesen zu haben, ja, wenn sie hätte ehrlich sein wollen, nicht einmal ihren Namen zu kennen, aber sie vertuschte diese unverzeihlichen Mängel nach Kräften und erkundigte sich im übrigen so angelegentlich nach dem in Entstehung begriffenen jüngsten Werk, daß die Schriftstellerin ein menschliches Rühren fühlte und sich zur näheren Auskunft herbeiließ.
„Ein kleines Ding nur – aber effektvoll! Resultat dieses strengen Winters. Man muß sich alles zu nutze zu machen wissen. Vorgestern las ich in München, daß der See ganz zugefroren sei, fuhr also gleich nach Berchtesgaden – heute habe ich mein Feuilleton in der Tasche.“
„Und da sind Sie wirklich zu Fuß nach Bartlmä gelaufen?“ fragte das Mädchen mit großen Augen.
„Nun – soweit, als es nötig war, um das richtige Lokalkolorit und die Stimmung heraus zu bekommen, dann setzte ich mich in einen vorüberkommenden Schlitten, es war auch so noch kalt genug. Aber ich wunderte mich, daß nicht halb Salzburg auf dem herrlichen Spiegeleis Schlittschuhe lief.“
„Warum nicht gar! So lang in der Kälten fahren, um eine Stunde Schlittschuh zu laufen! Das haben wir viel näher in Leopoldskron, dort ist das schönste Eis und Musik auch noch.“
„Und nette Leute dazu, nicht wahr?“ neckte Fräulein Panke.
„Na – passiert!“ meinte Toni gleichmütig. „Wenn die paar Offiziere nicht wären – wegen den anderen wär’s nicht der Mühe wert, hinauszugehen. Was man so interessante Leute heißt, das giebt’s bei uns nicht. Mein Schwager sagt immer: Salzburg wäre eine sehr schöne Stadt, wenn nur keine Salzburger drin wären!“
„Na aber hören Sie! Das scheint mir doch ein sehr subjektiver Standpunkt Ihres Herrn Schwagers. In Salzburg, der berühmt schönen und als Aufenthalt gesuchten Stadt giebt es doch gewiß eine Menge angenehmer, gebildeter Menschen zum Umgang –“
„Das kann schon sein, aber die ich kenne, sind halt langweilig. Oder vielmehr, es ist langweilig in Salzburg, es steht ordentlich die Zeit still, und passieren thut das ganze Jahr nichts. Das muß bei Ihrem Leben schon anders sein mit Ihren vielen Reisen!“
„Möchten Sie tauschen?“
„O, auf der Stelle!“ rief Toni.
„Nun, sehen Sie, ich gäbe manchmal meinen Sommer auf Reisen gern für ein behagliches Leben in einer der hübschen Villen, wie sie in Ihren Salzburger Vorstädten stehen.“
„Na, in einer Villa, das ginge am Ende auch noch, da wohnen ja lauter reiche Leute, die ’s gut haben. Aber unsere Stadtwohnung in der Getreidegasse, da möchten Sie auch nicht hin.“
„Nun, eine junge Dame in Ihrem Alter kann ja bald die Wohnung ändern,“ spielte Fräulein Panke an.
„Ueber die Gassen hinüber, in ein Gewölb’ mit Spezereiwaren – na, ich dank!“ erwiderte die Kleine aufrichtig. „Das könnt’ ich freilich alle Tage haben, wenn ich nur möchte, aber ich muß schon sagen, das tauget mir nicht!“
„Sie möchten höher hinaus?“ sagte die andere, belustigt von dieser Unumwundenheit.
„Ja!“ versetzte Toni ohne Zögern, mit lebhaft glänzenden Augen. „Ich möcht’ einmal etwas ganz Apartes haben. Sie [119] müssen nicht denken, daß ich mir selber so apart vorkomme, aber ich meine eben, das Heiraten muß nicht auch so ein alltägliches Geschäft sein, wo man sich erst besinnt, mag man eigentlich oder mag man nicht. Das kommt mir zu armselig vor, gerade wie Talmigold gegen ein echtes. So ein gewöhnlicher gutmütiger Mann – können Sie die sanften Männer leiden, Fräulein?“
„Warum nicht? Fürs Haus sollen sie die besten sein.“
„Na, da danket ich schönstens dafür, das wär’ mir zu zahm. Nein, ich denk mir immer, ein Mann muß sein wie ein Vulkan, donnern und blitzen, daß man sich fürchtet, weil man weiß, er ist imstande, einen totzustechen aus Eifersucht. Und rasend interessant muß er sein und zugleich so unsinnig verliebt – kurz, ein wahrer Abgrund von Leidenschaft, ja lachen Sie nur, das ist halt einmal mein Ideal!“
„Und weil Sie das in Salzburg nicht finden, deshalb reisen Sie fort?“
„Schauens, das haben Sie jetzt g’rad’ getroffen,“ fuhr Toni lebhaft heraus. „Mir ist der Salzburger Karneval doch so fad, mit die paar langweiligen Bäll’! Mitten heraus geh’ ich jetzt fort, nach München zu dem Künstlerfest, das wird anders lustig werden!“
„Haben Sie dort Verwandte?“
„Nun freilich. Ist ja der Volkhard mein Schwager.“
„Sie meinen doch nicht den Maler Volkhard? den berühmten Volkhard?“
„Accurat den meine ich. Sehe ich vielleicht aus, als ob ich keine Schwester haben könnte, die einen berühmten Maler geheiratet hat?“
„Natürlich nicht“ – Fräulein Panke erschöpfte sich in Versicherungen des Gegenteils, und ihr Ton wurde sehr warm dabei, denn die braunäugige Toni erschien ihr plötzlich in ganz neuem, bedeutendem Licht. Schwägerin von Volkhard! Einziehend in das berühmte Haus an der Schwabinger Landstraße, dessen Inneres den Neugierigen so fest verschlossen blieb, daß sogar die unternehmende Sophie Panke noch keinen Vorwand zum Eindringen gefunden hatte – ja, mehr noch, selbstverständliche Genossin der „oberen Götter“ beim bevorstehenden Künstlerfest im Odeon! Diese unbedeutende kleine Salzburgerin mit den lachenden Augen und dem fragwürdigen Deutsch! Fräulein Panke fühlte sich wieder einmal gegen das Schicksal empört. Sie selbst hatte nur mit großer Mühe eine Karte erhalten und kannte niemand von den berühmten Hauptfiguren des Zuges. Sie würde nur aus der Entfernung sehen, was dieses Kind mit unbewußten Augen so verständnislos anstarren würde, wie etwa ein kleiner Seidenspitz, den man im Zuge mitführt! O, es war schändlich! –
Aber bald gewann die Reporterin in ihr wieder die Oberhand und mit vorsichtigen Fragen suchte sie eine Anzahl interessanter Personalnotizen über Volkhard dem Munde seiner Schwägerin zu entlocken. Auch hier harrte ihrer eine Enttäuschung. Die hübsche Toni wußte zwar, daß Volkhard „ein Heidengeld“ mit seinen Bildern verdiene, auch konnte sie dies oder jenes namhaft machen, zu welchem „die Resi“ oder sie selbst gesessen, aber jeder Versuch, nach Denkungsart oder Charakterzügen des Berühmten zu forschen, scheiterte an Tonis mangelhafter psychologischer Begabung. Daß er manchmal „recht kurios“ sein könne, gab sie zwar zu, welcher Art und Richtung aber seine Kuriositäten angehörten, war aus ihren vagen Antworten nicht herauszubringen, so daß Fräulein Panke schließlich von dem Versuch abstand, durch dieses undurchsichtige Medium einen Blick in die Tiefen einer Künstlerseele zu thun.
Desto bereitwilliger erzählte Toni von dem schönen Haus, und wie gut es ihre Schwester darin habe, abgesehen natürlich von den bewußten Kuriositäten. Die drei Kinder seien herzig, wahre kleine Engerln mit den schönsten Haaren. Toiletten habe die Resi, daß es nur so eine Pracht sei, schwere Seide, Sammet und Spitzen, alles „ganz echt“, und sie sei wirklich eine wunderschöne Frau. „Warten Sie, ich zeige Ihnen die Photographie.“
Toni griff über sich, holte den Reisesack herunter und entnahm ihm eine kleine Ledermappe voll Photographien und Briefe. Einer davon, in länglichem blauem Couvert, fiel während des Oeffnens zu Boden. Fräulein Panke hob ihn auf und las die in schwunghafter Kaufmannshand geschriebene Adresse: Fräulein Antonie Burghofer, hierselbst. Sie reichte ihn dem Mädchen, das mit flüchtigem Erröten danach griff und ihn rasch wieder zu den anderen in das Mäppchen schob. Dann betrachtete jene das dargebotene Bild der schönen Frau im spitz und tief ausgeschnittenen Gesellschaftskleid: ein über die Achsel zurückgewandtes Profil mit niederer Stirn unter dichtem Haarknoten, feiner geraden Nase und großgeöffnetem Auge. Die Aehnlichkeit mit der jüngeren Schwester war unverkennbar, freilich war Frau Resi ohne Frage viel schöner als Toni, aber der Ausdruck des Kopfes stand nicht auf der Höhe seiner Linien.
„Nicht wahr – dekorativ?“ fragte Toni triumphierend. „So sagt mein Schwager immer, wenn er von Resi spricht.“
„Ja, sehr ‚dekorativ‘,“ erwiderte die andere. „Man könnte kein besseres Wort finden. Haben Sie auch ein Bild Ihres Schwagers?“
Toni durchblätterte das Päckchen Photographien. „Nein, der ist nicht da. Aber sehen Sie einmal den Papa, ist er nicht gut getroffen?“
„Ja freilich!“ Fräulein Panke betrachtete ergötzt das ängstliche Männchen mit dem gewaltsam würdevollen Photographiegesicht. „Und das ist wohl Ihre Frau Mutter?“ Sie deutete auf eine breit hingesetzte, unendlich gutmütig aussehende Frau mit sehr großen dunkeln Augen.
„Ja, ja. Die arme Mama! Sie ist viel krank, deswegen leben wir auch so still, sie kann gar nichts vertragen von Lustbarkeiten und dergleichen.“
„Ihr Herr Vater ist wohl Beamter?“
„Er ist jetzt pensioniert, er war früher beim Zoll angestellt. Warten Sie, jetzt muß ich Ihnen Volkhards Kinder noch zeigen.“
Während ihre Gefährtin die schönen Blondköpfe bewunderte, entströmten dem Munde der jungen Tante Erzählungen, die manchen Kilometer überdauerten. Fräulein Panke hörte erst mit Ergebung zu, dann mit Interesse, und als der Zug in Rosenheim einfuhr, begaben sich beide als ganz gute Freunde zu dem bescheidenen Genuß eines Bahnhofsmittagessens. Die weiteren Stunden bis München verflogen schnell, die Schriftstellerin mußte zwar definitiv auf Beendigung ihres Feuilletons verzichten, aber eine leise Hoffnung, Anknüpfung mit Volkhard betreffend, sproßte in ihrer Seele empor. Wenn das möglich war, dann wollte sie den Zeitverlust noch segnen!
Und siehe! Das Glück schien günstig. Als der Zug im Bahnhof stand, streckte Toni den Kopf heraus, um sofort in eifriges Grüß Gott! und Händewinken auszubrechen.
Gleich darauf öffnete ein großer, blondbärtiger Mann, eine wahre Hünengestalt, die Coupéthüre und rief: „Na, Mädel, bist Du glücklich da? Gieb mir Deine Siebensachen, dann schnell heraus, in die Droschke! Kathi, nehmen Sie einmal das Zeugs da zusammen!“
„Ja, Hans!“ rief derweil im höchsten Erstaunen das Mädchen, indem sie seine dargebotene Hand kräftig drückte, „wo muß man denn das hinschreiben, daß Du selbst herkommst mich abholen? Das ist ja fabelhaft liebenswürdig von Dir!“
„Ist nicht so gefährlich,“ lachte er dagegen, „komme doch gerade des Wegs vorüber, da wollte ich schauen, ob Du glücklich da bist. Ich muß auch gleich weiter, will Dich nur noch in die Droschke setzen. Sind wir’s? Also voran!“
„Einen Augenblick!“ Toni wandte sich nach der mittlerweile auch ausgestiegenen Reisegenossin zurück, deren Blicke mit größtem Interesse an Volkhards energischen Zügen hingen. „Das ist Fräulein Panke, mit der ich von Salzburg hergefahren bin. Eine berühmte Schriftstellerin. Sie war sehr gut gegen mich. Ich danke auch nochmals bestens, Fräulein.“
„Sehr verbunden,“ sagte der Maler mit einem kühlen Blick auf das ältliche Gesicht, indem er oberflächlich den Schlapphut lüpfte: „Habe die Ehre, mich zu empfehlen, Gnädige!“
Nun war der ersehnte Augenblick da, aber ach! er sollte ungenützt verstreichen! Ehe Fräulein Panke sich soweit gesammelt hatte, um außer dem Händedruck an Toni etwas ihrer und der Situation Würdiges hervorzubringen, empfing sie den Abschiedsgruß Volkhards, der seine Schwägerin an den Arm nahm und sich zum Gehen wandte.
Im nächsten Augenblick war sein breiter Paletotrücken und Tonis zierliche Taille in dem Gedränge der ausgestiegenen Reisenden spurlos verschwunden.
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Es war schon ein paar Jahre her, seit Toni, damals noch ein schmächtiges Backfischlein, zum letztenmal auf Besuch in München gewesen war, seither hatten sich die Schwestern nur bei den Sommeraufenthalten der Familie Volkhard im Salzkammergut gesehen. Deshalb freute sich nun die Kleine „unbändig“, im erwachsenen Zustand wieder einmal das schöne behagliche Haus zu betreten, welches für sie in der Enge ihrer Salzburger Verhältnisse den Inbegriff alles Wünschenswerten vorstellte. Auch das Zusammenleben mit der Schwester, dachte sie, müßte jetzt doch ganz anders werden als früher, viel wärmer und zutraulicher – kurz, Toni konnte das Anfahren des Wagens kaum erwarten und bog wieder und wieder den Kopf aus dem Fenster.
Richtig, da schimmerte es ja schon weiß aus den dürren grauen Bäumen hervor. Erst sah man den vorgebauten Balkon, dann die breiten holländischen Fenster mit den gemalten Einfassungen, die Glaswand des Ateliers im Dachstock und zuletzt die zum Turm abgerundete Hausecke mit der in der Eingangshalle zurückliegenden eisenbeschlagenen Hausthüre. Diese flog auf, als der Wagen hielt, und an den Hals der jungen Tante stürzten sich zwei schlanke Mädchen mit wehenden Blondhaaren – Irmgard und Ursula – während der erst zweijährige Hansel auf dicken Wackelbeinchen eifrig hinterherstrebte.
Toni nahm ihn noch in die allgemeine Umarmung mit hinein, war aber unter allem Küssen und Drängen nur bemüht, die Kinder aus der Winterkälte zurück in das durchwärmte dämmerige Treppenhaus zu schaffen. Dort trat ihr auch die Schwester entgegen, eine prächtige Figur im eleganten Hauskleid, die eine Atmosphäre von Veilchenduft um sich her verbreitete. Herzlich faßte sie Toni in ihre kräftigen Arme, küßte sie wiederholt und sagte:
„Na, das ist schön, Kleine, daß Du glücklich wieder da bist! Nun lege nur gleich in Deinem Zimmer droben ab und komme zum Kaffee. Du mußt ja unterwegs tüchtig durchgefroren sein!“
„O nein, der Wagen war geheizt,“ sagte Toni, immer noch bemüht, die eifrigen Bestrebungen der kleinen Patschhändchen auf ihr Gesicht und Haar zu mäßigen.
„Einerlei,“ erwiderte Frau Volkhard, „Hansel, laß doch die Tante! – Du kommst jetzt herauf; warte, ich zeige Dir das jetzige Fremdenzimmer; der kleine Bursche da hat ja das frühere bekommen. Deine Sachen sind schon oben, da richtest Du Dich ein bissel zusammen und kommst gleich wieder herunter.“
Sie wehrte die nachdringenden Kinder ab und stieg mit der Schwester die teppichbelegte Treppe empor. Dann traten sie, im Oberstock angekomnnen, in ein niederes, aber geräumiges und sehr behaglich aussehendes Zimmer. Ein dicker Teppich bedeckte den Boden, rote Stoffvorhänge teilten die halbrunde Fensterwand, das oberste Stockwerk des Türmchens, von dem übrigen Zimmer ab. Frau Resi zündete die von der Decke niederhängende schwere Messinglampe an, und in ihrem Licht erglänzte freundlich die des Gastes harrende Einrichtung: alte Schränke und Polstermöbel, ein hübscher neuer Schreibtisch, das große Himmelbett und das rosa Meißener Porzellangeschirr des Waschtisches.
„Ach, wie hübsch ist es hier, wie gemütlich!“ rief Toni, sich nach der Schwester umwendend. Aber in demselben Augenblick, wo sie diese deutlich im Licht sah, erstarb ihr das Wort im Munde, sie starrte sie einen Augenblick wie verstört an und rief dann im höchsten Erstaunen:
„Ja, nun Gotteswillen, Resi, wie schaust denn Du aus?“ … Ihre Hände, die soeben das Reisetäschchen von der Schulter nehmen wollten, blieben mit dem Riemen unbeweglich in der Luft stehen.
„Nun, ich meine, ich schau’ aus wie alle Tage,“ versetzte Resi gleichmütig.
„Aber Du hast ja Deine schwarzen Haare nicht mehr, bist ja ganz rot geworden, ist denn das gef–“
„Nur mit einer Essenz gewaschen, die sie hell beizt, das macht man ganz leicht in einem Vierteljahr. Der Hans meinte, die dunkeln Augen müßten zu rotem Haar eigentlich noch viel besser stehen als zu braunem – schwarz war ich ja doch nie, Toni! – Und ich muß sagen, ich finde, er hat recht.“ Die schöne Frau drückte wohlgefällig vor dem Spiegel die weichen goldigen Löckchen fester inn die Stirn. „Kommt es Dir nicht auch so hübscher vor, Kleine?“
Diese war der Handbewegnung starr mit den Augen gefolgt.
„Aber Resi,“ flüsterte sie leise, „so hat ja Deine Haut früher auch nicht ausgesehen. Du bist ja auch geschm–“
„Wirst Du jetzt bald fertig sein mit Deiner Verwunderung!“ fuhr die andere geärgert auf. „Das ist ja doch ganz natürlich, daß der Teint auch hergerichtet werden muß für rot. Darüber faß’ Dich jetzt nur gleich ein für allemal und mach’ vor dem Hans keine Bemerkungen. So was verträgt er nicht, das weißt Du!“
Toni war es gewohnt, von der Aelteren zurecht gewiesen zu werden, sie machte sich also schweigend daran, das uralte rostige Hängeschloß ihres Reisesackes zu öffnen, und Resi griff zu, um zu helfen. Während die einfachen Toilettegeräte auf den schönen Waschtisch verteilt wurden, entspannn sich das Gespräch von neuem, und über den Erzählungen von Papa und Mama hatte die gutherzige Toni rasch den unangenehmen Eindruck vergessen. Um so mehr, als ihr die so veränderte Schwester nach kurzer Zeit wirklich viel „aparter“ so vorkann. Sie selbst war halt ein kleinstädtisches Ding und verstand nichts von dem künstlerischen Geschmack!
[133] „Du, Resi –“ sagte Toni nach einer kleinen Pause zu der ihr helfenden Schwester, indem sie eifrig an dem verknüpften Bindfaden der Pappschachtel herumarbeitete.
„Was denn?“
„Ich soll ja heiraten!“ stieß sie halb lachend, halb verlegen heraus.
„Du?! – Ja, wen denn?“
„Den Lorenz! gestern hat er mir drum geschrieben. aber ich hab’ ihm noch nicht geantwortet.“
Den Käsmeyer-Lenzel, den Heringskramer! Warum nicht gar – so eine elende Partie.“
„Nun,“ erwiderte Toni mit einer gewissen Lebhaftigkeit, [134] „gar so zum Verachten ist er nicht. Freilich, der Name ist schreckbar – aber seine Eltern haben ein gehöriges Geld, wenn sie sich’s auch nicht merken lassen, und er selbst ist ja doch ein ganz hübscher und lieber Mensch –“
„Nun, wenn Du ihn magst, so nimm ihn!“ erwiderte Frau Resi gleichmütig. „Mein Geschmack wär’ er nicht!“
„Fällt mir ja gar nicht ein!“ ereiferte sich Toni. „Zum Heiraten mag ich ihn nicht. Aber wir sind doch schon so lange gut Freund miteinander, und er ist so ein Mensch, der sich über alles kränken kann, da muß man sich überlegen, was man schreibt. Ich hab’ den Papa gebeten, daß er ihm sagt, die Reise hätt’ ich nicht mehr aufgeben können – ich glaub’, er hat nur deswegen noch schnell angehalten, weil ihm angst geworden ist, es schnappt mich ihm hier einer weg!“ schloß sie mit einem kinderhaft vergnügten Lachen.
„Nun, da schickst Du ihm halt seinen Abschlag von hier aus,“ entschied Resi, indem sie den letzten der vielen Knoten löste und den Schachteldeckel hob. „Hast denn ein Bauernkostüm mitgebracht?“
Toni fand im stillen, daß die Schwester ihren ersten Heiratsantrag nicht mit gebührender Wichtigkeit behandelte. „Ja,“ sagte sie etwas enttäuscht über die kurze Abfertigung, „und ein sehr schönes sogar.“ Sie enthob der Schachtel ein rotes Wollröckchen mit Gold- und Silberlitzen und hielt es der Schwester hin.
„Du grundgütiger Heiland!“ sagte diese, „ich hab’ mir’s ja gedacht!“ Sie nahm das zierlich gefaltete weiße Mullschürzchen mit den roten Atlasbändern und hielt es Toni vor. „Unglückskind, das kannst Du ja alles nicht anziehen!“
„Warum denn nicht?“ fragte diese erschreckt. „Ist ja doch alles schön und neu!“
„Aber nicht echt! Das ist ja Theaterstaat, so was kann man ja absolut nicht tragen. Was meinst Du denn von einem Künstlerfest? Da muß alles echt sein bis aufs Tüpferl, sonst ist’s unanständig. Na, komm’ nur herunter, es hat mir halb und halb geschwant von so etwas und ich habe auch vorgesorgt mit einem Bauernkostüm. Die Base von unserer Kathi in Dachau draußen hat ihr Sonntagsgewand hergeliehen, das ist echt, das probierst Du hernach einmal gleich an.“
Toni fühlte nahendes Unheil aus diesen diktatorischen Worten drohen. „Aber Resi,“ wandte sie angstvoll ein, „so ein gemeines Dachauer Weiberl paßt doch nicht auf einen feinen Maskenball. Ist’s denn nicht etwas aus der Ritterzeit, was Ihr vorstellt?“
„Warum nicht gar,“ erwiderte Resi. „‚Im Reich der Phantasie‘ heißt der Titel, da hat alles drin Platz, Götter und Helden und Bauern und Hanswürste. Bist Du fertig? Nicht? Da gehe ich voraus und mache den Kaffee. Komm’ bald nach, nicht wahr?“
Sie ging hinaus, und seufzend legte Toni das verurteilte Kleidungsstück wieder in den Kasten zurück. Sie würde es also nicht tragen, das allerliebste Sammetmieder mit dem ausgeschnittenen weißen Hemdchen und den koketten Kurzärmeln – wie gut müßte ihr alles das gestanden haben! Aus dem ersten Salzburger Masken-Leihgeschäft hatte sie’s geholt, voll Freude, etwas so Schönes zu bekommen … O, und welche Greuel fand sie sicher da unten vor! Sie wußte zu gut, wie manchmal in ihr eine geheime Stimme: Schauderhaft! geflüstert hatte, wenn Volkhard: Famos echt! rief. Das wär ihr gleichgültig gewesen, so lange es sich um gemalte Leute handelte, aber jetzt, wo ihr eigenes Gesichtchen in Gefahr der Echtheit geriet, jetzt war ihr die Sache doch ganz außer dem Spaß, und mit düsteren Ahnungen stieg sie ein Weilchen später durch das getäfelte, teppichbelegte Treppenhaus zum Speisezimmer hinab. Dort fand sie an dem breiten, vom Licht einer großen Hängelampe überstrahlten Eßtisch außer ihrer Schwester und den Kindern, die sich sofort lebhaft um die junge Tante drängten, ein paar Hausfreunde, wie sie öfter hier um die Kaffeestunde vorzusprechen pflegten, besonders eben jetzt, wo zu dem großen Feste doch täglich Vorberatungen und Vereinbarungen nötig waren.
Eine Anzahl von Kostümskizzen lag am unteren Ende des großen Tisches ausgebreitet, am oberen goß Frau Resi den Kaffee aus der blanken Messingmaschine in die Tassen. Sein feiner Duft füllte das behagliche Gemach, dessen kunstvolle Vertäfelung mit den altersdunklen, geschnitzten Möbeln und schweren Vorhängen zusammen einen ganz ausnehmend „echten“ Charakter trug. Auch der Anzug der Hausfrau hob sich durch reizende kleine Besonderheiten in Anordnung und Schmuck weit über das Modejournal heraus. Ihr Anblick sowie der der schönen Mädchen in dunkeln Sammetkleidern mit den lang herabfallenden, über der Stirne gerade geschnittenen dichten Haaren und den prachtvoll großen Augen mußten jedes Kennerauge mit Entzücken erfüllen. Man erhielt in diesem Raum den Eindruck einer erhöhten Existenz – traulich und vornehm zugleich, schien er ein Aufenthalt für Bevorzugte, in reiner Schönheit Lebende zu sein. Mit dieser Ueberzeugung dachte jeder daran zurück, der einmal einen Abend lang hier an dem gastlichen Tisch gesessen hatte. Die alle Tage daran saßen, waren freilich von einer so hochfliegenden Auffassung weit entfernt.
„Lassen Sie sich Zeit, Hachinger,“ sagte die Hausfrau, indem sie die silberne Rahmkanne und den Kuchenkorb in Zirkulation setzte, „die Bilder laufen Ihnen nicht davon. Toni, gieb ihm einmal den Zucker hinunter!“
Diese that, wie ihr geheißen, mit ziemlich gleichgültiger Miene. Ihr war der kleine blonde Krauskopf mit dem roten Gesicht nicht im mindesten anziehend, ebensowenig freilich der andere, der dürre langweilige Kunstsammler Scholz, ein großer Bewunderer Volkhards, den sie im stillen den Ritter von der traurigen Gestalt nannte.
Die waren also auch wieder da – natürlich! Hätte jetzt, wo sie kein Backfisch mehr war, der Hans nicht ebensogut nettere Leute zu Freunden haben können?
Wenigstens mit der Unterhaltung gedachte sie nicht, sich anzustrengen, nahm also den gerade von der Kinderfrau hereingebrachten dicken Prachtjungen auf den Schoß und begann, ihm mit allerhand Schmeichelworten seine Milch einzulöffeln.
Währenddessen sagte Scholz zur Hausfrau:
„Der Zwiesler hat ja sein großes Bild verkauft, wissen Sie’s schon? Für dreißigtausend Mark.“
„Den Schmarren!“ fügte Hachinger im Brustton der Ueberzeugung hinzu.
„Was stellt es denn vor?“ fragte Toni.
„Drei geweißte Wände und eine Hobelbank,“ erwiderte er.
„Aber das ist ja doch nicht möglich,“ rief sie im größten Erstaunen, „daß man für eine gemalte Wand und eine Hobelbank dreißigtausend Mark bezahlt!“
„Da haben Sie ganz recht, liebes Fräulein,“ versetzte Scholz. „Für diese wenigen Gegenstände – eine Leimpfanne war übrigens auch noch dabei, Hachinger! – würde man wohl eine solche Summe nicht zahlen. Aber die Idee! Die neue Mode! Das ist gerade wie mit den Pariser Modellhüten. Jedes Frühjahr haben wir so ein Paar neue Modelle im Glaspalast; grüne Menschen, lila Wiesen, transparente Heilige. Heuer war das neueste eine Leinwand mit gar nichts darauf, das hat unser Zwiesler glücklich vorausgeahnt und streicht sein Erfinderhonorar ein. Nächstes Jahr hängen dann ein paar Dutzend der gleichen „Stimmungsbilder“ herum, aber die bringen es zu keinem so schönen Preis mehr.“
„Ja ja,“ lachte der mittlerweile eingetretene Volkhard, „spotten Sie nur, Scholz! Aber wenn ein Schlaumeier, wie der Zwiesler, es mit zwei solchen Bildern zu einem neuen Haus bringt, das ist doch ein nicht ‚wegzuleugnender Erfolg‘, wie sein Freund, der Kritiker im Tageblatt, sagt.“
„Ob ihm das mit einem dritten noch einmal so glückt, wollen wir erst abwarten,“ sagte Scholz bedächtig und fügte nach einer Pause hinzu: „Der schöne Philipp hat noch einen kürzeren Weg zu dem neuen Haus gefunden, der hat sich gestern mit der reichen Loderbräutochter verlobt.“
„Herrschaft!“ fuhr Hachinger mit schaudernder Bewunderung heraus.
„Sie können’s ihm ja nachmachen,“ sagte Frau Resi aufmunternd.
Aber er schüttelte den Kopf. „So dick fällt’s für unsereinen nicht ab. Und wenn man halt keine Aussicht für eine ordentliche Partie hat, dann bleibt man am gescheitesten ledig. Nur keine Elendsheirat!“
„Schau schau den Hachinger,“ lachte die schöne Frau belustigt. „Das hab’ ich ja noch gar nicht gewußt, was Sie für ein Finanzgenie sind! Na, gestehen Sie einmal ehrlich: Wie viel muß sie haben, damit Sie es der Mühe wert finden?“
Er kraute sich nachdenklich den tief in die Stirne reichenden krausen Schopf. „Das hat nach oben keine Grenzen,“ sagte er endlich. „Je mehr, je lieber. Aber was die Grenze nach unten betrifft, da muß ich sagen: Wenn eine nur 40000 Mark hat, das ist für mich noch a Mannsbild!“
Alle lachten, nur Toni saß unbehaglich da. Sie war nicht gerade hervorragend ideal veranlagt, aber solche Reden stießen sie [135] doch gewaltig ab. Blitzgeschwind mußte sie zwischendurch an ihr gutes Vaterl in Salzburg denken, der so „delikat“ in seinen Gefühlen war. Was der wohl dazu sagen würde?
„Ich habe gemeint,“ sagte sie mit geröteten Wangen und etwas spitz, „für die Künstler ist erst die Kunst die Hauptsache und lang’ nachher kommt das Geld. Es scheint, das ändert sich auch mit der Mode!“
„Na,“ sagte Volkhard, indem er die Cigarrenasche in eine schön getriebene Metallschale streifte, „die Mode ist schon ziemlich alt, wir haben sie nur in Deutschland ein bissel spät von den anderen überkommen. Uebrigens, Kunst und Geld gehören zusammen, Tonerl. Da braucht’s kein Nacheinander zu geben, das Miteinander ist immer das Beste.“
„Wie Figura zeigt,“ lachte Scholz mit einer bezeichnenden Rundbewegung seiner Hand gegen das Zimmer.
„Passiert!“ erwiderte Volkhard gleichmütig. „Was man eben zum Leben braucht. Aber da geht einmal zu dem Pereda und betrachtet Euch seine neuen Prunkgemächer, so ’was habt Ihr hier noch nicht gesehen von indischem und persischem Zeug. Ganz famos!“
„Ja,“ erwiderte Hachinger in einem aus Bewunderung und Neid gemischten Ton, „der mit seinen orientalischen Aquarellen, der kann freilich Preise machen.“
„Er kann Bilder machen,“ ergänzte Volkhard, „und überhaupt ist er ein Prachtkerl. So lange wir noch ein paar solche haben, so lange kann man lachen zu dem Gewinsel um den ‚Niedergang der Kunst‘.“
Toni hörte ohne besonderen Anteil diesen Reden zu. Sie wußte noch nichts von dem in München neuerdings aufgegangenen Stern, dem jungen Niederländer spanischer Herkunft, dessen große Aquarelle, Meisterstücke der Technik und zugleich Manifestationen einer machtvollen künstlerischen Persönlichkeit, ihrem Urheber rasch den Platz unter den anerkanntesten Größen der Kunststadt verschafft hatten. Unter die gesellschaftlichen reihte er sich selbst kurzer Hand ein und war bereits vor Ablauf des Winters Gegenstand des allgemeinsten Interesses geworden. Wer ihn nicht persönlich kannte, hatte ihn wenigstens einmal auf prächtigem Pferd neben schönen Damen reiten sehen oder hatte von dem sündhaften Luxus seines Junggesellenheims reden hören, vielleicht auch sonst noch allerhand – kurz, der Name: Adrian Pereda hallte von vielen Lippen wieder, ohne daß sein Träger sich scheinbar im geringsten darum kümmerte.
Dies alles wurde, als bekannt, im Verlauf des begonnenen Gesprächs nicht erwähnt, die Herren kamen vielmehr ausschließlich auf Peredas Bilder zu sprechen und die Damen fingen an, an andere Sachen zu denken.
Toni hatte schon während der letzten Minuten aufmerksam der seltsamen Hantierung zugesehen, welche Frau Resi nach eigenommenem Kaffee vorgenommen hatte und eifrig betrieb. Sie hatte eine Anzahl großer Knopfformen mit Goldfaden überhäkelt, nun zog sie die Schale mit Zigarrenasche über den Tisch zu sich her und fing an, die glänzenden Knöpfe darin zu reiben, bis sie ganz stumpf wurden.
„Damit sie alt aussehen!“ beantwortete sie die stumme Frage in Tonis erstaunten Augen. „Das neue Gold würde zu gemein glänzen. Den Sammet zu meinem Mieder hab’ ich auch famos hergerichtet, erst gewaschen, dann mit einer scharfen Bürste bearbeitet, daß er die schönsten Spiegel bekam. Das war ein guter Rat, Hachinger! Jetzt sieht er ungeheuer echt aus, so ein schöner verschossener alter Purpur!“
„Uebrigens“ – fuhr sie lebhaft fort, „weil wir doch gerade beisammen sind: zieh’ doch einmal das Bauernkleid an, Toni, daß man sieht, wie Dir’s steht, ich hab’s einen Tag lang gelüftet,“ wandte sie sich lachend an ihren Mann. „Der Dachauer Truhengeruch war mir doch ein bissel gar zu natürlich. Komm, Toni, ich will Dir helfen, es muß Dir prächtig stehen!“
Dies alles fiel wie Blitz und Donner auf die arme Toni nieder. Sie machte freilich noch einen letzten Versuch, auf das beiseite gesetzte Bauernkostüm zurückzukommen, hörte dasselbe aber alsbald von der Schwester mit Ausdrücken charakterisieren, die ihre letzte Hoffnung niederschlugen, und ergab sich also resigniert in ihr Schicksal.
Eine Anwandlung von Verzweiflung erfaßte sie indessen gleich darauf, als sie im Volkhardschen Schlafzimmer das rasch herbeigeschaffte „G’wand“ der Frau Base vor sich ausgebreitet sah: den faßartigen Tuchrock, die fürchterlichen Keulenärmel, die Haube, unter welcher ihr schönes braunes Haar bis aufs letzte Fädchen verschwinden sollte; und die schlimme Empfindung wich nicht, trotzdem Resi beim Anlegen jedes neuen Stückes: Ausgezeichnet! Wunderschön! rief. Diese drückte ihr zum Schluß noch einen Eierkorb und einen großen roten Regenschirm in die Hände, führte die ganz Vernichtete ins Eßzimmer binunter und rief unter der Thüre triumphierend aus: „Da schaut einmal her! Ist das nicht echt?“
Die Männer sprangen auf. „Famos!“ rief Hachinger. „Schauts nur die braunen Augen unter den Haubenspitzen hervor, wie das zu einander steht!“
Und Volkhard setzte hinzu. „Tonerl, so mußt Du mir sitzen, wenn das Fest vorbei ist, das giebt ein nettes Bild.“
„Fein!“ sagte Scholz. „Ganz fein!“
Toni ließ zwischen den Bewundernden durch, die sie umstanden, die Blicke in den gegenüberhängenden großen Spiegel fallen, ob etwa ein geheimes Wunder in ihrem Aussehen geschehen sei? – Ach nein, da stand sie so gerade wie droben, kurz, dick, krummbucklig in dem gräßlichen Mieder, ein kläglicher Anblick! Aber was war das? … Ueber ihrem eigenen Kopf spiegelte sich ein zweiter, fremder, mit sonderbaren dunklen Augen – sie fuhr herum und mit ihr die anderen, als im gleichen Augenblick eine tiefe Stimme sagte:
„Guten Abend, meine Verehrten. Und Verzeihung, wenn ich ohne ‚herein‘ eintrete: ich habe redlich angeklopft. Darf man die Kostümprobe mit ansehen?“
„Pereda!“ rief Volkhard erfreut und streckte diesem die Hand hin. Auch Frau Resi begrüßte den schlanken, vornehm aussehenden Mann mit beflissenerer Höflichkeit, als es sonst ihre Art war, und die anderen folgten ihrem Beispiel. Nur die arme Dachauerin wider Willen stand stumm, vernichtet unter der Last der ihr auferlegten Häßlichkeit und sah kaum vom Boden auf, als Resi, ihre Hand ergreifend, sagte:
„Wir ziehen gerade mein Schwesterchen Toni zum Künstlerfest an.“
„Oh!“ – es konnte ebensogut Mitleid als Bewunderung sein, was in diesem langgezogenen Tone klang. Toni fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß, und jetzt hob sie ihre Augen und funkelte den Fremden mit einem so großen zornvoll leuchtenden Blick an, daß dieser sofort einen der Beachtung werten Gegenstand unter diesem Berg von muffigem Tuch und altem Leinenzeug zu ahnen begann.
„Aber gnädige Frau,“ wandte er sich an Resi, „warum stecken Sie denn das Fräulein in solch ein plumpes Bauernkleid? Das ist doch wahrhaft schade – gestatten Sie mir die freimütige Bemerkung.“
Die Stimme eines Retters vom Himmel!
Toni horchte mit Entzücken auf ihren vibrierenden Klang, auf die etwas fremdartige Betonung der Worte. Und als sie jetzt noch einen raschen Blick auf dies beherrschende Gesicht warf, dessen dunkle eindringliche Augen und kräftig gewölbte Lippen zu dem Ausdruck großer Energie der übrigen Züge das ihrige beitrugen, da ging ihr eine starke Hoffnung der Erlösung auf.
„Es ist so echt,“ wandte mittlerweile ihre Schwester ein, „und wir finden, es paßt so gut zu der Kleinen.“
„Darüber eine Ansicht zu haben, ist mir vor der Hand unmöglich,“ versetzte Pereda, indem er einen zweiten forschenden Blick unter die überhängenden Haubenspitzen bohrte, „– man sieht ja von dem Fräulein selbst so gut wie gar nichts.“
Jetzt aber faßte Toni rasch ihren Entschluß. Mit einer kurzen Bewegung nahm sie Korb und Schirm zusammen, sagte sehr entschieden: „Da Ihr mich nun hinreichend gesehen habt, kann ich wohl gehen, mich umzuziehen!“ und war im nächsten Augenblick zur Thüre hinaus.
Die Zurückbleibenden setzten sich nieder, Pereda nahm Kaffee und Cigarre an, dann wandte er sich an Volkhard und sagte:
„Ihr Münchener seid schrecklich mit Eurer Echtheit. Stecken Sie doch das hübsche Kind in irgend etwas Nettes – es giebt ja doch noch allerhand Graziöses in dem Zug: Blumen, Libellen, Zigeunerin, wenn Sie wollen, aber doch nicht in solch einen barbarischen Bauernrock, den man ohne Schauder nicht ansehen kann!“
Die Hausfrau machte ein säuerliches Gesicht. Das fehlte gerade [136] noch, jetzt für Toni eine neue Arbeit zu bekommen, wo man ohnedies alle Hände voll zu thun hatte, ein paar Tage nur vor dem Fest!
Sie ließ also ihres Mannes halb fragendes, halb zustimmendes: Na, ja, das kann man ja noch machen! unbeachtet fallen und bemühte sich, mit raschen Fragen über seine eigene Rolle den unbequemen Mahner auf ein anderes Gebiet zu bringen. Ob er wirklich den Wagen der „Phantasie“ führen werde? Ob deren Darstellerin, Baronin Hetvary sehr schön sein werde? Er gab allerhand Auskunft, aber auf letzteres hin zog er lächelnd und geheimnisvoll die Achseln in die Höhe. Da fuhr Hachinger derb heraus:
„Na, das müssen Sie doch genau wissen!“
Pereda wandte sich und warf ihm einen Blick wolkenhohen Heruntersehens zu, welcher dem kecken kleinen Krauskopf die nähere Begründung seiner Rede im Munde versiegelte, dann fuhr er, als habe niemand gesprochen, zu Resi gewendet fort:
„Ich darf nichts verraten, Frau von Hetvary hat mich auch nur soweit ins Vertrauen gezogen, als zum gemeinsamen Effekt notwendig ist. Daß unser Wagen sich aber sehen lassen darf, das glaube ich heute schon sagen zu können.“
Es klang bei aller Freundlichkeit so ablehnend, daß niemand den Gegenstand weiter verfolgen mochte. Mitten in die entstehende kleine Pause hinein öffnete sich die Thüre und Toni erschien darin. War es der Kontrast mit der Dachauer Unform, war es die Erregung des Augenblicks – sie sah reizend aus trotz ihres einfachen Kleidchens und Herr Pereda würdigte rasch emporspringend durch ein lebhaftes: Ah! den Eindruck von so viel frischer Jugendlichkeit.
Und nun kam es genau, wie Toni im stillen gehofft, nun erhob er, auf seine frühere Rede zurückkommend, einen so entrüsteten und energischen Protest gegen Faßrock und Pappdeckel-Mieder, daß Frau Resi dagegen nicht mehr aufkam. Freilich von ihrem mitgebrachten Kostüm wagte die Kleine nicht mehr zu reden – wie durch ein inneres Schauen war ihr plötzlich dessen ganze Armseligkeit in den Augen eines so Hochgebietenden klar geworden, sie zitterte jetzt vor einer Anspielung von seiten der Schwester. Aber Frau Resi war klug genug, die Kleinbürgerlichkeit der Familie bei sich zu behalten. Sie sagte nur: „Woher soll man denn etwas anderes nehmen in der kurzen Zeit?“
Und wieder wie eine himmlische Botschaft klang die leichthin gesprochene Erwiderung:
„Wenn die Damen mir die Ehre erweisen wollen, morgen auf mein Atelier zu kommen – ich habe ganze Kästen voll Sachen, Spanisches und Orientalisches, oder auch – was meinen Sie, Volkhard? – solch einen schweren byzantiner Goldstoff, ganz einfach um das Figürchen gesteckt, da und dort ein paar Quasten, und ein kleines goldenes Käppchen in die braunen Locken gedrückt, wäre das nicht reizend?“
Seine mandelförmigen Augen, die gewöhnlich etwas von den dunkelgesäumten Lidern bedeckt blieben, richteten sich mit einem Ausdruck wie Liebkosen nach der jungen Gestalt hin und Toni fühlte ein leises Zittern durch ihre Nerven gehen. Sie neigte stumm und glücklich das Köpfchen mit, als ihre Schwester das Anerbieten annahm und den Besuch für morgen in Aussicht stellte.
Dann verabschiedete sich Pereda bald und auch die anderen gingen.
Als Toni später in ihr Stübchen hinauf stieg und, am Fenster lehnend, über die dunklen Massen der Bäume und fernen Häuserdächer weg den sternfunkelnden Nachthimmel betrachtete, da war es ihr, als müsse jetzt etwas kommen, was noch niemals dagewesen sein konnte, etwas Wundervolles, Unaussprechliches!
Der Ton des großen Gong, laut durchs ganze Haus schallend, riß sie endlich aus ihren Träumen und sie eilte, zum Abendessen hinunter zu kommen. Die versprochene Postkarte über glückliche Ankunft an den Papa hatte sie ganz vergessen!
Des andern Morgens freilich holte sie ihre Versäumnis nach. Und als die „gehorsame Tochter Toni“ in großen, kindlich steifen Buchstaben auf der gelben Karte stand, da griff die Schreiberin, weil es noch früh am Tag und sie in ihrem Stübchen allein war, nach einem Briefbogen, um den schwierigen Brief an ihren Bewerber erst einmal aufzusetzen. Sie wußte, daß von da bis zur Vollendung noch ein weiter Weg war, und seufzte in dieser Gewißheit, aber es half nichts, geschrieben mußte sein, also lieber gleich beginnen!
„Geehrter Herr Käsmeyer!“
das stand verhältnismäßig geschwind da. Ja, so mußte es bleiben,
denn „Lieber Lorenz“ ging nicht, sie nannten sich ja schon seit zwei
Jahren „Sie“. Und es sollte ja auch eine Absage werden. Wie
er sie wohl aufnehmen würde? Toni stützte den Ellbogen auf und
fuhr, während ihre Augen unverwandt ins Weite blickten, mit dem
Federhalter ein übers andere Mal durch die krausen Schläfenhärchen.
Sie sah ihn deutlich vor sich, den Lorenz mit den gutmütigen
Augen und dem glänzend gebürsteten Scheitel, wie er in seinem
karrierten Anzug daherkam, einen roten Sacktuchzipfel so recht
staatsmäßig aus der Brusttasche gezogen, ganz Hausbesitzerssohn
und künftiger Geschäftsinhaber. Aber ach! dieser rote Zipfel leitete
ihre Gedanken mit elektrischer Schnelle auf einen anderen von
weißem Batist mit blaugestreiften Rändern, der gestern aus einer
anderen Brusttasche ein wenig hervorgeschaut hatte. Ein fremdartiges
Parfüm war ihm entströmt, als die schlanke Hand des
Malers das Tuch einmal hervorzog. Und diese Hand selbst mit
den kostbaren Ringen, der etwas dandymäßige Anzug mit den
kleinen Feinheiten von scheinbarer Nachlässigkeit, alles das
überschauerte Toni wieder in der Erinnerung mit dem überwältigenden
Entzücken, welches männliche Eleganz, mit Kraft und Nonchalance
vereinigt, in unerfahrenen weiblichen Gemütern hervorzubringen
pflegt. Nicht gerade ein Gott – aber wenn man sich Phöbos
Apollo in modernem Anzug denken wollte: viel anders als Adrian
Pereda könnte er auch nicht aussehen!
Es war bei solchen Gedankengängen erklärlich, daß der angefangene Brief an Lorenz Käsmeyer nicht viel über den höflichen Anfang hinauswuchs. Toni raffte sich zwar nach einer guten Viertelstunde aus den Gedanken an zwei beherrschende Augen und aus den Zweifeln, wie diese wohl aussehen müßten, wenn sie Liebe blickten, soweit auf, um zur zweiten Zeile zu schreiten. Aber dort geriet sie sofort in Zwiespalt, ob sie den Satz besser mit. „Ihr geehrter Antrag –“ oder: „Ihren geehrten Antrag“ beginnen würde. Kaum stand das erstere da, so erkannte sie auch, wie sehr der „Geehrte Herr“ der Anrede auf diese neue Wendung drückte. Aber, wie sie sich auch hin und her besann, eine andere wollte ihr nicht einfallen, geschweige ein Schluß des begonnenen Satzes. Sie kannte diesen Zustand von den Weihnachtsbriefen an die Pate her, so schlimm wie heute war es ihr aber noch nie ergangen. Rein zum Verzweifeln! Warum kann man denn reden, so viel man will, und sowie man die Feder anfaßt, fällt einem in Gottesnamen auch gar nichts ein?
Während die Kleine mit neuerdings aufgestütztem Kopf diesem unlösbaren Rätsel nachsann, tönte es von drunten. Toni! Toni! Eilfertig warf sie das Schreibgerät beiseite, um zur Schwester hinabzueilen, und empfing dort die Weisung, sich rasch zurecht zu machen. Der Besuch in Peredas Atelier sollte zeitig ausgeführt werden, auch hatte Frau Resi noch eine Menge anderer Besorgungen, sie nahm Toni in Beschlag wie früher auch, und diese war in Anbetracht des ersten Ganges zu allem weiteren froh bereit.
Eine halbe Stunde später bogen die Schwestern, von der Pferdebahn absteigend, in die Briennerstraße ein, an deren unterem Ende das bewußte Atelier als Gartenhaus einer eleganten kleinen Villa stand. In ihren Räumen pflegte es oft abends laut und lustig genug herzugehen, desto stiller waren die Morgenstunden im Atelier, wo der übermütige Gesellschafter von gestern abend als ein mit ungeteilter und angespannter Geisteskraft Arbeitender hinter seinen Rahmen und Staffeleien saß! Es durfte ihn dabei niemand stören oder doch „beinahe niemand“, wie sein Diener Philipp mit einem gewissen Augenzwinkern zu sagen pflegte. Heute schien der Fall dieses „Beinahe“ sich ereignet zu haben, denn in dem sonst so stillen Raume, der übrigens durch eine gute Doppelthüre vor den Lauscherohren Philipps geschützt war, klangen Stimmen, bald heftig und erregt, bald augenblicklich wieder gedämpft.
„Sie streiten sich wieder einmal und zwar gehörig,“ murmelte der vortreffliche Jüngling, aus der gebeugten Haltung am Schlüsselloch sich aufrichtend, „das war eine kurze Herrlichkeit! Wird nicht lange mehr dauern,“ fügte er kopfschüttelnd hinzu, „darauf kenne ich ihn – Weiberspektakel verträgt er nicht. Wenn sie gescheit wäre, ließe sie’s bleiben.“ Und Philipp wandte sich von neuem der geöffneten Schrankthüre zu, wo die vielfachen Anzüge des Herrn seiner prüfenden Hand warteten. Denn fehlende Knöpfe vertrug dieser ebenfalls nicht, darüber hatte Philipp schreckliche Erfahrungen und sorgte deshalb für ihre Erneuerung mit einer seinem sonstigen Charakter ganz fremden Pünktlichkeit.
[149] Drinnen hinter den verschlossenen Thüren des Ateliers sah es inzwischen allerdings nach Kriegsfuß aus. Pereda stand mit bitterböse gerunzelten Brauen am Fenster, er rollte hastig eine Cigarette zwischen den Fingern und wandte keinen Blick nach rückwärts, wo ihn ein Paar großer zorniger Augen aus einem nervösen Gesichtchen anstarrte. Die feingliedrige, sehr elegant gekleidete Dame schien mit einem Ruck aus ihrem Sessel emporgefahren zu sein, sie stand, den Arm auf der Lehne, und wartete ein paar Sekunden auf ein Wort von ihm, als aber nichts weiter erfolgte, wandte sie sich plötzlich rückwärts nach einem fellüberhangenen Diwan, um den dort abgelegten Mantel so rasch als möglich anzuziehen. Mit hastigen Fingern rückte sie vor dem Spiegel das Hütchen, ein kleines Wunderwerk von Flügeln und schillernden Metallfäden, über den schwarzen weichen Haaren zurecht, zog aufmerksam das schmale Gazeschleierchen [150] in die richtige Mitte zwischen den sehr roten Lippen und den sehr schwarzumgebenen blauen Augen, hüllte die Schultern in das weiche, federnbesetzte Sammetjackett und nahm nach dieser kleinen technischen Abschweifung die beleidigte Entrüstungsmiene wieder voll auf.
„Ich gehe!“ sagte sie, die Handschuhe überstreifend, sehr nachdrücklich, indem sie sich nach dem Fenster hinwandte. „Und es bleibt dabei. Sie machen die Geschichte mit den zwei Genien rückgängig. Ich brauche niemand auf meinem Wagen, ich will niemand weiter, verstehen Sie?! …“ Und in einem Rückfall ihres kaum gedämpften Zornes stampfte sie heftig auf den Boden.
Er fuhr herum, sein Gesicht war blaß und in seinen Augen funkelte etwas Bösartiges.
„Aber ich will nicht,“ stieß er heraus. „Ich verspreche nicht heute, um morgen zurückzunehmen. Und außerdem: es ist gegen Ihr eigenes Interesse. Wir sind schon genugsam miteinander im Gerede!“
„Ah–h!“ rief sie, blaß vor Wut.
„Ich kann nicht mehr anders,“ beeilte er sich, hinzuzusetzen. „Herrgott, wofür erkläre ich denn seit einer Stunde, daß ich nicht allein über die Sache verfüge! Ich kann nicht in der Komiteesitzung die Mädels ablehnen – ein paar helle Backfische noch dazu – wenn man mich bittet, sie noch unterzubringen und als Grund angeben, daß ich allein mit Ihnen zu sein wünsche!“
„Genug im Gerede!“ rief sie, das Hauptwort herausgreifend, mit bebenden Lippen. „Ihr seid einer wie der andere – Feiglinge und Verräter sämtlich. O – das ist der Dank! Man opfert sich für Euch, man wird weggeworfen – ganz recht! Warum war man so einfältig, an Eure Liebe zu glauben!“
„Sei doch vernünftig, Ilona,“ sagte Pereda nähertretend und mit Augen, die noch keineswegs von Ueberdruß sprachen, ihre bei aller Aufregung reizende Person umfassend. „Was mußt Du denn immer gleich solche große Worte brauchen und Dir tolles Zeug in den Kopf setzen ohne alle Not –“
Er wollte sich zu ihr niederbeugen, sie stieß ihn zurück.
„Helle Backfische,“ nahm sie mit unverminderter Heftigkeit das zweite Thema auf. „Siebzehn und achtzehn Jahre, und schöne Mädchen! Die älteste schwärmt ja wohl für Dich – ja ja, ich habe meine Quellen … Denke nicht, daß ich mich vor ihnen fürchte,“ fuhr sie auf sein vielsagendes Achselzucken mit neuem Eifer auf, „aber ich will sie nicht, die blöden Dinger, ich will niemand, es stört meinen Effekt, ich muß als ‚Phantasie‘ ganz allein stehen – auf dem Gold- und Palmenhintergrund, den leuchtenden Stern über dem Kopf“ – ihre Augen vergrößerten sich, sie erhob die Hand mit einer anmutig feierlichen Gebärde, „und Du dann zu meinen Füßen als Wagenlenker in Deinem silbernen Gewand – sahst Du denn nicht ein, daß das der größte Effekt des Zuges werden muß? Was sollen dabei noch ein paar dumme Geniusse? …“
„Wir bringen sie auf der Rückseite unter,“ erwiderte er, „daß man auf den ersten Blick gar nichts von ihnen sieht. Ich kann nicht ausweichen, Ilona, der Vater ist einer der einflußreichsten Leute hier, ich habe im Haus dort vielfach verkehrt und bin ihm verpflichtet. Mir liegt ja gar nichts an den Mädels, Du weißt es, aber sie haben sich nun einmal darauf gefreut.“ …
„O,“ rief sie mit neu aufloderndem Zorn und einem häßlichen Lachen, das ihren Zügen plötzlich einen niedrigen Ausdruck gab, „ja, ich weiß! Stelle Dich, wie Du willst, ich sehe, was dahinter steckt. Aber düpieren lasse ich mich nicht, lieber gleich reine Arbeit gemacht. Also nur noch zwei Worte!“ Sie stellte sich mit funkelnden Augen vor ihn hin und klopfte mit dem steinbesetzten Griff des Schirmes in ihre behandschuhte Linke. „Entweder Du machst das rückgängig, sofort und definitiv –“
„Oder?“ fiel er halb belustigt, halb verächtlich ein.
„Oder Du wirst mich kennenlernen. Aber ich rate Dir, laß es nicht darauf ankommen! Adieu, ich erwarte Deine Entscheidung morgen!“
Sie war schon in der Thüre, als er ihr zornig nachrief: „Die kannst Du schon heute haben –“ er verstummte aber sofort, als er durch den geöffneten inneren Flügel Stimmen im Vorzimmer hörte. Er machte den äußeren auf, verbeugte sich tief gegen die rasch hinauseilende, nur flüchtig mit dem Kopfe nickende Frau von Hetvary und kam eben recht, seinem getreuen Philipp aus der verzweifeltet Lage einer befohlenen, aber Frau Volkhards Energie gegenüber schwer ausführbaren Verleugnung zu befreien.
„Das ist wieder eine von Ihren Dummheiten, Philipp,“ sprach er strafend, „ich hatte Ihnen doch gesagt, daß ich die gnädige Frau heute morgen erwarte. Das haben Sie wohl ganz vergessen? Verzeihen Sie, meine Damen, und erweisen Sie mir die Gnade, hier einzutreten!“
Er öffnete diensteifrig die Thürflügel und ließ, sich verbeugend, Frau Volkhard und Toni vorangehen.
Philipp stand sprachlos und sah seinem entschwindenden Herrn nach. Donnerwetter – der verstand es! Da konnte selbst Philipp noch etwas lernen, der doch auch im Fach der Notlügen kein Anfänger war. Und durch diese mit seiner gerechten Empörung streitenden Anerkennung bewogen, vergab er ihm großmütig das erlittene Unrecht und ging aufs neue zu seiner Beschäftigung über.
Drinnen im Atelier, während Frau Volkhard ein neugieriges Wörtlein über die interessante Baronin fallen ließ und von Pereda aufs harmloseste und offenherzigste über die noch notwendig gewesene Besprechnug für das Fest übermorgen beschieden wurde, stand Toni in stummer Betrachtung und Bewunderung der umgebenden Herrlichkeit versunken. Sie kannte ja wohl Volkhards berühmte Werkstatt und das harmonische Zusammenstimmen der alten Möbel, Gobelins, Waffen und Palmen mit prachtvollen farbendunkeln Stoffen, aber hier trat ihr etwas völlig Neues entgegen: raffinierter Luxus von fast weichlichem Charakter, untermischt mit der Beute des Weltfahrers, die wie auf gut Glück herumgestreut oder an den Wänden verteilt war. … Zwischen Seidenvorhängen und goldglänzenden Wandschirmen hervor erblickte ihr Auge allerhand seltsam geformte Dinge von Metall, Flechtwerk, Elfenbein und Sandelholz, die ihr völlig rätselhaft waren, deren Besitz ihr aber gleichwohl sofort die höchste Stufe menschlicher Auszeichnung zu bedeuten schien. In einer sonderbar süßen Beklommenheit atmete sie den von ihnen ausgehenden scharfen und feinen Duft ein, und endlich wagte sie es auch, die Blicke zu „Ihm“ zu erheben, der mittlerweile Frau Resi vor die Staffelei gefolgt war und sein neuestes Bild, einen ‚Sklavenmarkt in Aden‘, erklärte. Leise näherte sich auch Toni, und während sie sich alle Mühe gab, den tiefblauen Himmel, die scharf gelb hineinragenden Gebäude und das bunte Menschengewimmel zu betrachten, fühlte sie nur eines: daß er neben ihr stand, daß sie den sonoren Ton seiner Stimme hörte und sich glücklich fühlte, so glücklich wie noch niemals in ihrem kurzen Menschenleben.
Mehr als unumgänglich war, von Frau Resis Bewunderungsrufen mit anzuhören, fühlte sich Pereda nicht geneigt, er fragte also sehr bald, ob er den Damen jetzt das Wertvollste in seinem Atelier zeigen dürfe, und öffnete dann einen mächtigen alten Eichenschrank, dessen Inneres eine Reihe großer Schubladen enthielt. Ihnen entnahm er einen wahren Reichtum von Kostümen, Stoffen und Schmuckgegenständen und häufte alles vor Tonis geblendeten Augen auf. Jedes neue schien ihr wieder das schönste zu sein: hatte sie sich in Gedanken eine spanische Tänzerin ausgesucht, so lockte ein zigeunerischer Kopfschmuck von klirrenden Münzen und Perlenschnüren; hielt sie diesen in der Hand, so schillerte daneben bunte japanische Seide höchst verführerisch oder feine halbdurchsichtig weiße orientalische Stoffe, deren Umwandlung in ein altägyptisches oder griechisches Kostüm Pereda als eine wahre Kleinigkeit darstellte. Hierüber hatte Frau Resi leider ganz verschiedene Ansichten, auch wollte sie, als wohlgezogene Künstlersgattin, trotz Peredas lebhaften Zureden, keinen Scheerenschnitt in seine Stoffe verantworten. So blieb denn schließlich, nachdem das Verschiedenartigste gemustert und verworfen war, nachdem sie erklärt hatte, die Spanierinnen würden zu Dutzenden herumlaufen und die Japanerinnen seien einem allmählich entleidet, außer dem Zigeunerkleid nur noch der prachtvolle rotgoldene Byzantinerstoff, dessen Verwendung für eine Tunika der Maler feurig empfahl, als das unbedingt Schönste von allem. Dies schien in der That leicht genug ohne Zerschneiden und Toni versöhnte sich auch mit der einfachen Form, als sie bei flüchtigem Ueberwerfen Peredas entzückten Ausruf hörte und selbst im Spiegel sah, wie prächtig der edelsteinbesetzte Reif im Haar und der schwere goldene Halsschmuck über den Purpurfalten ihrer jungen Schönheit stand.
„Das ist doch was anderes als die garstige Dachauerhaube!“ konnte sie nicht umhin, zu der Schwester zu sagen. Aber stark empörte sie deren Antwort:
„Sie hätte eigentlich besser zu Dir gepaßt.“
[151] „Schrecklich!“ rief der Maler. „Glauben Sie kein Wort davon, gnädiges Fräulein. Ihre Frau Schwester findet nur aus pädagogischen Gründen gut, Ihnen zu verschweigen, welch’ liebreizende Praxedis Sie morgen abend sein werden. Zur Strafe dafür sage ich es Ihnen jetzt gleich ins Gesicht. Freuen Sie sich einstweilen auf Ihre Triumphe!“
Toni löste erglühend das Geschmeide vom Hals und streifte das Purpurkleid von den Schultern. Sie wagte nicht mehr, die Augen zu erheben, denn ein Blick aus den seinen hatte sie gestreift, so eindringlich, so verliebt-entzückt, wie Adrian Pereda – jedesmal ein schönes Modell anzusehen pflegte. Nur wußte dies die gute Toni nicht.
Ehe sie sich recht besinnen konnte, war schon der Augenblick des Abschieds gekommen. Frau Volkhard sah nach abgethanem Geschäft keinen Grund, länger zu verweilen, und Pereda hielt sie nicht. Er rief nach Philipp und beauftragte ihn, den Damen die Sachen nach Hause zu bringen, dann schickte er sich an, sie bis zum Vorgarten hinauszugeleiten.
Während Philipp seinen Pack zusammenlegte und aufnahm, suchte er zu ergründen, ob dieser Besuch mit dem vorausgegangenen Streit etwas zu thun habe. Das hübsche Gesicht war ihm neu: Frau Volkhards Schwester – hm! das schlug freilich in ein anderes Fach als das bisherige, aber vielleicht wollte er endlich solid werden? … Jedenfalls, ganz ohne schien die Sache nicht, ein Zusammenhang war sehr wahrscheinlich, wenn auch Philipps Kombinationsgabe nicht ausreichte, darüber ins klare zu kommen.
Desto mehr war dies der Fall bei der Dame, welche, seit einer halben Stunde unbeweglich wartend, in einer der auf dem Standplatz gerade gegenüber haltenden Droschke saß. Je mehr Minuten verrannen, um so zorniger nagten ihre Zähne die Unterlippe, um so durchdringender hafteten ihre Augen auf der eisernen Gitterthüre. Jetzt – endlich! da kamen sie, Pereda mit ihnen, sie nahmen Abschied, hinterdrein folgte Philipp mit dem Pack.
Im Flug hatte Frau von Hetvary den Eindruck der schönen braunen Augen und dunklen Kraushärchen unter dem Hutrand hervor gehabt, jetzt sah sie den behend Dahinschreitenden nach und murmelte:
„Das ist eine von ihnen. Frau Volkhard hat sie hergebracht. Er schickt ihnen Kostümstoffe nach Haus – o, der Treulose, der Verräter! … Aber ich will mich rächen, er soll an mich denken!“ …
Sie nickte ingrimmig ein paarmal mit dem Kopfe gegen den Eingang, hinter welchem Pereda verschwunden war, dann rief sie dem Kutscher ihre Hausnummer zu und lehnte sich, in ihren Gedankensturm verloren, achtlos gegen äußere Eindrücke in die frugale Polsterung einer Münchener Droschke zurück.
Ein feines Schneegeriesel fegte in langen Streifen vor dem Wind her, als Toni des folgenden Morgens kurz geschürzt, in Pelzjacke und Käppchen, mit rotangelaufenen Wangen über den alten Marienplatz schritt. Sie hatte es eilig, denn es war schon zehn Uhr und die Schwester hatte ihr aufgetragen, einen schönen Fisch zu besorgen für den heutigen Freitagstisch.
„Schau, daß Du eine Lachsforelle kriegst,“ hatte sie gesagt, „das ist sein Leibgericht. Ich muß ihn heute bei guter Laune erhalten, denn – na, einerlei. Mach’, daß Du fortkommst!“
Toni wußte wohl, daß in dem dienstbotenreichen Hause manchmal ein großer Mangel an verfügbaren Arbeitskräften herrschte, sie kannte auch Frau Volkhards Scheu, der dicken, schlampigen, aber sehr vortrefflichen Köchin einen Gang zuzumuten, wenn diese bei schlechtem Wetter von „ihrem Fuß“ sprach, so lief sie also, ohne Einwendungen zu machen, willig und auf flinken Füßen, an den verlockendsten Modeauslagen vorüber durch die Theatiner- und Weinstraße. Sie hatte keinen Blick dafür, wie feinduftig sich die Umrisse des Rathauses und der alten Türme aus dem Nebel hoben, sondern eilte nur rasch vorwärts durch das enge Gäßchen der Peterskirche zu. Diese war ihr als bequemer Durchgang längst bekannt: ihr Deckelkörbchen würde wohl den lieben Gott nicht beleidigen, sah er doch den Morgen über noch ganz andere Ungeheuer am Arm von dicken Marktfrauen durchpassieren! Flüchtig schlug sie beim Eintreten in das Kirchenschiff ein Kreuz und verneigte sich, dabei fiel ihr Blick seitwärts auf ein verstaubtes Eisengitter, hinter welchem die Kerzen brannten, so hier der Mutter Gottes für geheime und offene Wünsche aufgesteckt werden. Nach außen angehängte Papptäfelchen sprachen den Vorübergehenden um die Unterstützung von ein paar mildthätigen „Ave Maria“ an für kranke Herzen und Augen, für vorzunehmende schwierige Geschäfte und Reisen, ja eins davon meldete sogar: Ein junger Mann, welcher eben das Staatsexamen macht, bittet um das Gebet!
Wie der Blitz schlug es in Tonis Bewußtsein ein, als sie diese Bitte las: sie stak ja auch in einer sehr schweren Unternehmung, denn ach! vor lauter Seligkeit und Kostümrichten war der bewußte Brief noch immer ungeschrieben! Es war schrecklich … Toni fühlte sich tief niedergeschlagen und fing an, ernstlich nachzudenken. Ob ihr wohl eine gute Erleuchtung kommen würde, wenn sie hier auch eine Kerze aufsteckte?! …
Sie warf einen fragenden Blick um sich, und sofort humpelte die alte „Kerzlerin“ aus einer Ecke herbei und bot ihren Vorrat an. Um ein paar Pfennig erstand Toni ein Wachslichtchen; als sie es dann auf dem Brett befestigt und brennen sah, fühlte sie sich ganz außerordentlich erleichtert. Jetzt war der Brief schon so gut wie geschrieben, sie hatte ihn sozusagen der Mutter Gottes übergeben, wenn die sich seiner annahm, dann konnte es ja nicht fehlen.
Vergnügt schritt sie das „Petersbergl“ hinunter und in das dichte Gewühl des großen Marktes hinein. Sie war stets gern dort: das laute Rufen und Bieten, die übervollen Stände mit Gemüse, Obst, Geflügel und Wildbret aller Art machten einen so lustigen Eindruck, und Toni verstand sich auf den Handel trotz einer gewiegten Hausfrau. Mit dem Fisch traf es sich glücklich: eine schöne fette Lachsforelle schien eigens auf sie gewartet zu haben, sie packte sie in den Korb und eilte jetzt, den Rückweg anzutreten.
Als sie eben durch den Rathausbogen schritt, sah sie in einiger Entfernung vor sich eine Frauengestalt gehen in einem graugrünen Mantel, den verstaubten alten Hut etwas schräg aufgesetzt – du lieber Gott! das mußte ja Fräulein Panke sein, die Reisegefährtin, an welche sie bis jetzt mit keinem Gedanken mehr gedacht hatte! Indem Toni ihre Schritte beschleunigte, sah sie, daß die Schriftstellerin nicht selbst den aufgespannten Schirm trug, es hielt ihn ein Herr über ihren Kopf, und dieser Herr – ja, wie konnte denn das möglich sein? … War’s der Lorenz oder war er’s nicht? Sein Paletot war’s und der schwarze Kopf, aber der Hut nicht – nun, er konnte sich in München einen neuen gekauft haben. Toni stand wie angewurzelt und starrte den beiden nach, die quer vor der Mariensäule vorübergingen. Wenn er nur den Kopf wenden wollte! Da – jetzt kam auch noch die „Tram“ angerasselt und von der rechten Seite ein schwerer Wagen voll Bierfässer, der die Passage für ein paar Augenblicke sperrte. Als sie dahinter vorbei war, sah sie nichts mehr von beiden Gestalten und mußte sich schleunigst aufs Trottoir retten, um jetzt nicht unter eine schnellfahrende Droschke zu geraten.
Den ganzen Heimweg über hatte sie nur den einen Gedanken: wie kam der Lorenz hierher? Wollte er sie gar aufsuchen, um sich die Antwort selbst zu holen? O, nur das nicht! … Sie sah schon der Schwester spöttisches Gesicht, den Schwager fürchtete sie weit weniger, der hatte mit allen Leuten die gleiche Art. Aber konnte nicht ein schrecklicher Zufall es fügen: „Herr Pereda, Herr Käsmeyer –“ Toni fühlte, daß diese Vorstellung ihr letzter Augenblick werden müßte. Nein, nein! Sie wollte nicht zu Hause sein, zu keiner Stunde, wenn nach ihr gefragt wurde – das würde sie gleich beim Heimkommen dem Hausmädchen einschärfen.
Während sie eiligst durch die Dienersgasse und Ludwigstraße mehr rannte als ging, waren die beiden von ihr Gesehenen durch die Burggasse in den „Alten Hof“ gelangt. Fräulein Panke, die keine Gelegenheit versäumte, etwas „mitzunehmen“, lenkte dorthin, um die winkelige Residenz der alten Bayernherzöge, die sie bei früheren Aufenthalten nicht gesehen, in Augenschein zu nehmen, und erklärte ihrem etwas teilnahmlos dreinschauenden Begleiter, daß sie sich höchst befriedigt durch den Anblick fühle.
„Es ist halt ein alter Kasten,“ sagte er, „solche giebt’s in Salzburg gerade genug. Aber zum Hofbräuhaus ist’s von da nimmer weit, wie wär’s, gnädiges Fräulein, wenn wir dort miteinander eine Maß trinketen?“
Fräulein Panke sah ihn zweifelhaft an. Ueber die gewöhnliche weibliche Schüchternheit war die Reporterin eines Weltblattes hinaus, ihre Musterung galt nur der Total-Persönlichkeit, die ihr heute beim Frühstück im „Hotel Leinfelder“ höflich die „Neuesten Nachrichten“ abgetreten und bei der jetzigen zweiten Begegnung [152] sich zum Führer nach ein paar von ihr aus Geschäftsgründen aufgesuchten, aber schwer zu findenden Sträßlein der innersten Stadt erboten hatte. Das Resultat war befriedigend: er sah entschieden anständig und treuherzig aus, also gab sie ihre Zustimmung, und wenige Augenblicke später saßen die beiden in dem berühmten, von Tabaksrauch erfüllten Lokal hinter einer schäumenden Maß, zu deren Teilung sich Lorenz durch Trinkgeld und gute Worte von der Kellnerin ein Glas verschafft hatte.
Nun stellte er sich auch ganz ergebenst vor als Sohn seines Vaters, Geschäftsinhabers und Hausbesitzers in Salzburg, im weiteren Verlaufe der Unterhaltung konnte Fräulein Panke nicht umhin ihrer neulichen Fahrt mit einer jungen Salzburgerin, der Schwägerin Volkhards, zu erwähnen. Dabei sah sie, wie ihres Begleiters frisches Gesicht um eine Schattierung dunkler wurde, während ein ungewisses. „Ja, das ist ja – eine Nachbarstochter von uns!“ seinen Lippen entfloh.
Nun hätte Fraulein Panke nicht die findige Durchschauerin von Menschen und Verhältnissen sein müssen, wäre ihr nicht sofort der Verdacht aufgestiegen, daß hier der Mann vor ihr sitze, dessen Hauptfehler darin bestand, kein „Abgrund“ zu sein. In der That sah Herr Lorenz Käsmeyer nicht nach einem solchen aus, er war offenbar ein guter Junge und ließ sich sehr bald durch die erst verblümten, dann ziemlich direkten Fragen seiner Nachbarin zu einem offenen Geständnis seiner Wünsche und Hoffnungen verlocken, er verhehlte auch nicht, daß er „dem Tonerl“ nachgereist sei, als ihm ihre schnelle Abreise hierher zum Künstlerball mitgeteilt wurde.
„Wollen Sie sie bei Volkhards aufsuchen?“ fragte die Schriftstellerin mit ihrem scharfen Inquisitorenblick.
Lorenz gab nicht sogleich Antwort. Er klopfte mit seinem Stöckchen an den Stiefeln herum und sagte endlich, wieder aufsehend:
„Nein, das nicht gerade, ich weiß ja nicht, ob ich sie allein zu sehen bekäme. Ich gehe morgen auf den Ball, da hat man doch am leichtesten Gelegenheit, miteinander zu reden. Und da werde ich die Sache ins reine bringen. Der Papa hat nichts dawider, ganz im Gegenteil, mit dem hab’ ich gestern noch geredet, er meint, es war eine Dummheit, daß ich überhaupt geschrieben habe. Na ja! Ich wollt’ sie halt damit einmal fest bekommen, damit sie mir nicht immer mit ihren Spasseteln ausweicht, wie sie das in der Gewohnheit hat.“
„Aber –“ fühlte sich die Menschenkennerin verpflichtet zu warnen, „wenn Fräulein Burghofer Ihren Brief noch in Salzburg erhielt und abreiste, ohne ‚Ja‘ zu sagen, das sieht doch nicht nach einer freudigen Zustimmung aus!“
„O,“ fiel er eifrig ein, „das müssen Sie nicht so auffassen! Sie ist so eine, die einmal das Sekieren nicht lassen kann. Das macht ihr jetzt Spaß, daß sie denkt, ich bin in einer rechten Unruhe, derweil sie sich hier amüsiert. Aber daß sie ernsthaft nicht wollte – ah, ba ist ja gar kein Gedanke dran. Wen soll sie denn anders heiraten als mich? Das versteht sich ja schon sechs Jahre lang sozusagen von selbst!“
Und mit sieghafter Zuversicht leerte er den stattlichen Rest seiner Maß auf einen Zug.
Fräulein Panke verzichtete darauf, weitere Zweifel zu äußern, sie fühlte bereits etwas wie Wohlwollen dem gutmütigen Menschen gegenüber, nebenbei gedachte sie auch des morgenden Abends und daß zum Hingehen eine männliche Begleitung, stehe sie auch nicht auf den Höhen der Bildung, immer besser sei als gar keine. Ihre erste Andeutung traf sofort auf lebhafte Bereitwilligkeit, denn Lorenz seinerseits berechnete sich auch den Nutzen einer gutgesinnten Gardedame für das zu hoffende Beisammensein, und somit schloß die Sitzung im Hofbräuhaus unter zufriedener gegenseitiger Abrede für morgen abend 8 Uhr.
Toni hatte den Fisch in der Küche abgegeben und dem Hausmädchen die Abweisung für Besuch so lange überhört, bis sie ohne Anstoß ging. Dann stieg sie hinauf, um die Schwester im Atelier aufzusuchen.
Nicht in dem berühmten Prunkraum, wo die Staffeleien mit Bildern sich wie köstliche Leuchtpunkte aus der farbendunkeln Pracht des Ganzen heraushoben, hier arbeitete Volkhard nicht, hier stand er nur zur Besuchsstunde, die Palette in der Hand, die Cigarre im Mund, vor einem Bild, das in der Hauptsache fertig war und deshalb vor den Augen des Publikums vollendet werden konnte. Rechts von seiner Hünengestalt im farbenbeklexten Sammetrock saß dann, so recht dem ersten Blick des hereintretenden Beschauers dargeboten, auf einer teppichbedeckten von Palmen überwölbten Estrade die schöne Frau und hielt, in scheinbarer Arbeit, einen schweren grauen Seidenstoff mit violettem Sammetfutter über die Knie gebreitet. Ihr weißes Gesicht und das leuchtende Rothaar mit diesen Farben zusammen – dekorativ im höchsten Grade! …
Noch war aber nicht Besuchsstunde, deshalb suchte Toni das Ehepaar hinter der nächsten Thüre in dem wirklichen, sehr einfach eingerichteten Arbeitsraum, wo verschiedentliche Fensteröffnungen und Verschlüsse, sowie elektrische Lampen die berühmten Volkhardschen Lichteffekte hervorbringen halfen. Hier studierte er, hier stand der Unermüdliche wochenlang bis zu sechzehn Stunden am Tage, bis dann wieder einmal die Zeit kam, wo er alles wegwarf, um auf der Jagd und bei sonstigen voll geschlürften Genüssen dem mächtigen Körper sein Recht angedeihen zu lassen. Zu einem gleichmäßigen Leben brachte er es nicht, so wenig als zu geordneten Verhältnissen, trotz der enormen Einnahmen für seine Bilder.
Aber manchmal erfolgte ein plötzlicher Anstoß zur Sparsamkeit mit ungeheuren Vorsätzen totaler Umkehr. Gewöhnlich dann, wenn Frau Resi sich genötigt sah, ein paar schwere Toilettenrechnungen zur Zeit der Ebbe zu präsentieren, statt sie, wie sonst bei hoher Flut, stillschweigend mit dem übrigen flott zu machen.
Dann tobte der Mann unmäßig und warf mit verzweifelten Redensarten um sich, wie eben in dem Augenblick, als Toni nach wiederholtem vergeblichen Klopfen schüchtern die Thür öffnete.
Das Unglück hatte gewollt, daß eine dringend nötige Zahlung den Ausbruch des Gewitters schon jetzt, vor der Lachsforelle, veranlaßte, und so verharrte eben Frau Resi, um seinen Verlauf abzuwarten, im doppelten Schutz ihres natürlichen Phlegmas und einer ganz respektabeln Fähigkeit, auch ihrerseits „loszulegen“, wenn sie den Augenblick für gekommen erachtete. Sie saß, über den Tisch gebeugt, anscheinend ganz ruhig in dem runden Lutherstuhl, ihr fester weißer Nacken mit den goldroten Halshärchen und dem ansteigenden Schwall des dunkelroten Knotens ragte reizvoll aus der Spitzenumrandung des grausammetnen Schlafrocks heraus, dessen Schleppe seitwärts über das Parkett hinfiel. Auf dem Tisch stand die geöffnete Geldkasse, eine höchst echte alte Truhe von Schmiedeeisen mit großen Schnappschlössern, deren geschwundenen Inhalt zu erspähen Frau Resi ihren Hals so weit vorbeugte.
Weder sie noch der im Zimmer auf und ab rennende Volkhard nahmen Notiz von Tonis Eintreten. Er hielt die verhängnisvoll langen Zettel in der Hand und schwang sie zornig hin und her.
„Zweihundert – Fünfhundertundsechzig – Achthundertundneunzig Mark –“ addierte er jetzt, stehen bleibend, voll Ingrimm und schlug dabei auf jedes Blatt einzeln. „Und noch dazu grade heut’, vor dem Fest!“
„Ja,“ sagte Frau Resi gleichmütig, „übermorgen wär’ mir auch lieber gewesen. Aber die Müller schreibt, sie kann das Kostüm nicht schicken, eh’ nicht das andere zuvor bezahlt ist. Das benutzen solche Leut’ halt immer.“
„Lauter Sachen, von denen ich nichts weiß,“ fuhr Volkhard fort, der sich inzwischen in die Lektüre der Rechnungen vertieft hatte. „So eine Frau! Sie läßt nicht aus, bis sie mich ruiniert hat vom Kopf bis zu den Füßen!“
„So ist es allemal!“ rief sie, sich energisch umdrehend, „alles, was ich brauche, ist zuviel, während der gnädige Herr für sich –“
„Mach’ mich nicht wild!“ schnob Volkhard. „Was Du ‚brauchst‘, das geht schon über die Möglichkeit. Meinst Du denn, ich finde das Geld auf der Straße?“
„Es sind lauter notwendige Sachen,“ beharrte sie trotzig. „Wenn Du eine elegante Frau haben willst, mußt Du die Schneiderrechnungen zahlen. Ich kann nicht auf der einen Seite ein großes Haus führen und auf der anderen sparen und selbst schneidern wie ein notiges Beamtenweiberl. Das paßt mir nicht und dafür hab’ ich nicht geheiratet.“
„Meint man nicht wunder, wo sie herkäme, wenn man sie so reden hört!“ rief Volkhard höhnisch nach der betretenen Zuhörerin hin. „Herrgott!“ er fing wieder an, auf und ab zu rasen, „wenn ich denk’ – das Haus steht voll Hypotheken, die Kinder haben heute nichts, wenn ich die Augen zuthue, und eine solche Wirtschaft –“
„Jetzt hör’ auf!“ rief Frau Resi mit blitzenden Augen in die Höhe fahrend und trat ihm fest in den Weg. „Sonst frag’ ich [154] einmal, wo die vielen Gelder hinkomnen, die so nebenher eingehen und von denen kein Mensch mehr ’was sieht –“
„Resi um Gotteswillen!“ rief Toni voll Entsetzen über ihre herausfordernde Gebärde. Sie eilte auf die Schwester zu und suchte ihr mit der Hand den Mund zu schließen, während sie den anderen Arm schützend um sie schlang, denn sie fürchtete wirklich, die wütend geballte Faust da drüben werde im nächsten Augenblick auf sie niederfahren.
„Schweig’ doch, reize ihn nicht noch mehr!“ flüsterte sie bebend vor Angst, aber Frau Resi schob sie mit kräftiger Bewegung von sich ab nach der Thüre zu und sagte ganz ruhig:
„Geh’ hinunter, Kleine, das ist nichts für Dich. Wir werden schon miteinander fertig, er frißt mich nicht, da brauchst keine Angst zu haben. Geh’ und sieh’ nach den Kindern!“
Toni eilte hinaus, ihr zitterten die Knie über eine solche Scene, daß sie sich eine Weile am Treppengeländer halten mußte; sie fühlte sich innerlich ganz elend und enttäuscht.
Guter Gott, konnten denn Eheleute so miteinander hadern, war dies das große Glück der Schwester, das sie selbst oft im stillen beneidet hatte? Nicht um alles möchte sie an deren Stelle sein! …
Sie horchte angstvoll, wie vor einem plötzlichen Schrei zitternd. Aber es blieb alles still und sie besann sich, daß ja das große Atelier dazwischen liege. So konnte wenigstens niemand den Streit im kleineren hören, das war noch einigermaßen tröstlich. Langsam begann Toni die Treppe hinabzusteigen. Es war ihr, als ginge sie am liebsten gleich ganz zum Hause hinaus, fort und heim zu ihrem guten Papa, der niemals ein zorniges Wort gegen die Mama brauchte, in die weiträumigen getünchten Stuben mit den spärlichen Möbeln, die ihr sonst so armselig vorgekommen waren gegen das herrliche Volkhardsche Haus.
Ob wohl jeder Künstler sich als Ehemann so aufführte? Resis oft gebrauchte Redensart: Das ist halt bei Künstlern nicht anders! fiel ihr ein. „Nein!“ flüsterte das gläubige Herzlein dazwischen, „einer gewiß nicht.“ Der breitete sicher einmal seiner Frau alle Schätze Indiens zu Füßen und bewahrte sie vor jedem rauhen Lufthauch, der hatte doch auch eine andere feinere Natur und Gewohnheit als Volkhard, bei dem immer wieder einmal der Bauernsohn herausschlug. Nein, wenn alle so waren, er war gewiß nicht so, das wußte Toni so fest, als ob es im Evangelium stünde!
Bedeutend leichteren Herzens kam sie am Fuß der Treppe an, wandte sich aber schnell nach dem Kinderzimmer, denn von dorther erschollen Töne, welche andeuteten, daß auch hier Unfriede eingekehrt sei.
[165] Das laute aus dem Kinderzimmer schallende Zorngeheul des sonst so gutmütigen dicken Hansels ließ vermuten, daß die necklustigen Schwestern etwas mit ihm angestellt hatten. Toni eilte, ihren kleinen Liebling zu schützen, und fand ihn denn auch richtig in höchster Wut, mit den dicken Beinchen strampelnd und gegen die hohnlächelnde Ursula anspringend, welche durch ein ewig wiederholtes: Hansel dummer Bub’ ist! ihn, der vorher friedlich mit seinen Schäfchen spielte, in diesen Zustand versetzt hatte. Voll des heftigsten Bedürfnisses, dagegen zu schimpfen, und doch wegen der Beschränktheit seines Wortschatzes ganz außerstande dazu, schrie er nur wütend in abgebrochenen Stößen: „Supp! Feis! Doboffel! ’Müs! Meh – speis!“ und sah dabei so komisch [166] aus, daß Toni an sich halten mußte, um nicht in das Gelächter der beiden schwesterlichen Plagegeister mit einzustimmen. Sie schalt die Mädchen tüchtig aus, nahm den schluchzenden Kleinen in ihre Arme und fragte mit dem ganzen Aufgebot ihrer jungen Tantenwürde: „Hast Du keine Aufgaben, Ursi? Es wäre gerade vor dem Essen noch Zeit, damit anzufangen.“
„Fällt mir gar nicht ein!“ jubelte diese, indem sie langbeinig mit fliegenden Röcken und Haaren im Zimmer herumsprang und ihr Heft nach der Decke empor wirbelte. „Unser Fräulein ist so zuwider, und sie mag mich nicht, deswegen lern’ ich extra nichts – hopsasa und tralala!“
„Auf der Stelle kommst Du her und setzest Dich hinter Deine Bücher!“ rief Toni mit so energischem Ton und Fingerdeuten, daß Ursula es für geraten fand, dem Befehl zu folgen, und widerwillig ihren Schulranzen herbeiholte.
Währenddessen trat Irmgard, die ältere und sittigere von beiden, heran und sagte: „Tante Toni, soll ich Dir einmal unsere Kostüme für morgen zeigen? Wir werden zwei Königskinder und bekommen goldgestickte Leibchen und Blumenkränze auf. Unsere Haare werden schon seit acht Tagen abends gewaschen, daß sie wie Goldschaum aussehen, und morgen lockt sie die Mama, so ganz in großen Wellen, weißt Du, damit wir die Schönsten von allen sind.“
„Na,“ sagte Toni, „bis Du einmal die Schönste bist, da kannst noch eine Weile warten, Dirndl, bis dahin hat’s noch gute Zeit!“
„O, durchaus nicht mehr so lange!“ erwiderte die Elfjährige pikiert. „Herr Pereda hat neulich gesagt: das giebt einmal eine wirkliche Schönheit! Damit meinte er mich, und ich hab’s wohl gehört, obwohl er mit der Mama sprach. Der Papa sagt ja auch immer: die Mädeln sind zum Schönsein da!“
„Zum Bravsein wäre gescheiter!“
„Gar nicht!“ beharrte Gertrud. „Wer recht schön ist, bekommt einmal den reichsten Mann und schöne Kleider und Blumen und eine Equipage –“
„Un Wetschekuchen un Nüss’,“ ergänzte Hansel die in seinen Augen lückenhafte Aufzählung, brach aber unmittelbar darauf in ein neues fürchterliches Gebrüll aus, denn Ursula hatte sich herumgeschlichen und fletschte ihn mit aufgerissenen Augen und in die Nasenlöcher gebohrtem Finger aus bedrohlicher Nähe an. Die wohlverdiente Ohrfeige ereilte sie zwar im nächsten Augenblick, aber nur, um auch bei ihr ein zorniges Aufheulen zu entfesseln. Der armen Toni wurde schwül bei diesem pädagogischen Praktikum an ihren schönen Nichten, und es dauerte, trotzdem sie ihre entschlossenste Miene aufsetzte, eine ordentliche Weile, bis sie Herrin der Situation war. Zwischen allem Wehren und Verbieten dachte sie seufzend: „Es ist halt heute auch Freitag, da ist’s ja natürlich, daß alles verkehrt geht, da darf man sich nicht wundern, was auch geschieht!“
Und doch wunderte sich Toni über etwas – noch keine Stunde später, als sie mit den Kindern zum Essen kam; über das seelenvergnügte Gesicht Volkhards nämlich, der im Hereintreten den kleinen Buben abfing und gegen die Decke emporwarf, daß sofort ein lauter Jubel und Hallo losging. Auch Frau Resi schöpfte die Suppe mit gewohnter heiterer Behaglichkeit, sie sah schön aus wie immer in ihrem gestickten granatfarbenen Tuchkleid und wechselte aufs unbefangenste mit ihrem Mann Rede und Antwort, während sie die Teller füllte. Als dann vollends die prächtige Lachsforelle erschien, von der verständigen Köchin zierlich mit Petersilie umkränzt und von neuen Kartoffeln begleitet, da ging dem Manne das Herz auf und er sagte mit bedeutungsvollem Augenzwinkern:
„Bist halt doch eine famose Frau, Resel, verstehst Dein’ Sach’! Kinder, wißt’s was? Morgen wollen wir lustig sein, solid werden wir dann von übermorgen an!“
Nachmittag vor dem Ball …. Aufregung und Hetzerei schon unter gewöhnlichen Verhältnissen, in schlichtbürgerlichen Familien! Wie aber erst in einem Künstlerhause, wo alles kostümiert werden muß, Mann, Frau und Kinder, wo alles Apartheit atmet, Erfordernisse wie Hilfsmittel, und das Kleinste mit derselben Sorgsamkeit behandelt wird wie das Größte, damit schließlich der wahre, unnachahmliche Totaleffekt herauskommt! Da gilt es hin und her laufen, malen, nähen, kleistern, vergolden bis zum letzten Augenblick, das ganze Haus ist in Bewegung bis zur Thürklingel, die auch unausgesetzt geht, um Gärtnerjungen, Schneidermamsells mit großen Schachteln, ausgestopfte Pfauen, vergoldete Palmenwedel und vieles andere, sowie bedrängte Freunde und Kollegen hereinzulassen, die alle noch geschwind etwas zu fragen und zu borgen haben. Nur der Friseur läßt warten, und die Sehnsucht nach ihm steigt mit jeder Viertelstunde. Aber hier heißt es Geduld lernen. Es giebt nur einen in München, dessen Begabung und Darstellungsvermögen in die wahre künstlerische Höhe reicht, und dieser Vielbegehrte fährt seit morgens um acht Uhr wie rasend in der Stadt herum. Bei jedem Klingelzug hofft man: er ist’s! aber siehe da, es ist jedesmal ein anderer.
Es dämmerte bereits; den Kaffee hatte man rasch getrunken, Hachinger, der zu allen Tageszeiten Erscheinende, war, wie Toni hoffte, zum letztenmal für heute dagewesen und mit Volkhards letzter Hellebarde abgezogen, nun wandte sich Toni, nachdem sie der Kinderfrau geholfen, die schönen blonden Mädchen bis aufs Kostümüberwerfen herzurichten, ihrem eigenen Stübchen zu, wo seit dem frühen Morgen schon alle Gewandstücke sorgsam auf dem Bette ausgebreitet lagen: das Unterkleid von altem Goldbrokat, die purpurne Tunika samt allem Schmuck und den seltsam verschnürten Sandalen.
Toni brauchte den Friseur nicht, ihr dichtes lockiges Haar durfte nur aufgelöst werden, um sich in großen Wellen bis zum Gürtel zu ergießen; dann würde sie den juwelengeschmückten Reif darauf setzen, die ‚mystische Krone‘, wie er gesagt hatte! Sie wußte zwar nicht, was das heißen solle, aber es klang doch wunderschön und sie stand lange, verträumt die großen Perlen und Rubinen anstarrend. Dann machte sie sich daran, das Haar zu lösen, denn bei seiner großen Fülle war das glatt Auskämmen eine ziemliche Arbeit. Kaum hatte sie die ersten Nadeln gezogen, als ein scharfer Riß der Thürglocke durchs ganze Haus gellte. Aha! der Friseur … Aber nein, es war eine bekannte Stimme, die hastig und laut nach Frau Volkhard und Fräulein Schwester fragte. Jetzt, um halb fünf Uhr – was mochte das zu bedeuten haben?! …
Toni steckte eilig die Haare wieder auf, dann trat sie ganz leise auf den kleinen Vorplatz hinaus, wo sie das erleuchtete Treppenhaus übersehen konnte. Richtig! Da unten stand Pereda in lebhafter Verhandlung mit dem Hausmädchen Greti, welches erklärte, die Damen seien für niemand mehr zu sprechen.
„Ich weiß schon; melden Sie mich nur gleich an,“ erwiderte er mit imponierender Selbstverständlichkeit. „Flink! ich habe keine Zeit zum Warten.“
Die dicke Greti sah in sprachloser Bedrängnis nach oben, ob sich vielleicht jemand zeige. Pereda folgte dem Blick und eilte, als er Toni sich über das Geländer beugen sah, ohne ein weiteres Wort die Treppe empor zu ihr. Es war fast ein Kniefall, mit dem er von der vorletzten Stufe aus ihre Hand erfaßte und rief: „Mein gnädiges Fräulein, helfen Sie mir, ich bin ohne Sie ein verlorener Mann.“
Sie sah ihn voll Bestürzung mit großen Augen an. Was mochte ihm begegnet sein? Er sah so blaß und aufgeregt aus, daß sie Angst für ihn empfand. „Gern –,“ stammelte sie, „wenn ich Ihnen etwas helfen kann – aber, was ist es denn? …“
„Sie müssen heute abend auf meinem Wagen die ‚Phantasie‘ vorstellen,“ erklärte er hastig, indem er, sich zu ihr herabbeugend, ihr dringend in die Augen sah. „Wollen Sie? Ja, nicht wahr? O, Sie ahnen nicht, was Sie mir damit erweisen!“ Und er küßte ihr feurig die Hand.
Toni hatte nicht Ja gesagt, sie hätte gar nichts sagen können vor dem Sturm von wirbelnden Gedanken, der durch ihren Kopf fuhr. Sie hörte, ohne zu begreifen, sie hatte nur ein Gefühl der vollkommenen Unmöglichkeit … Sie auf Peredas Wagen?! Eine Hauptfigur im Zug … jetzt, drei Stunden vor dem Ball … ja, warum denn und wieso? Sie verstand ja keine Silbe von allem, was er, sich überstürzend, an sie hinsprach.
Da kam aber schon hinter ihnen Frau Resi, von dem bestürzten Hausmädchen benachrichtigt, eilig die Treppe herauf. Sie knöpfte noch eben den Schlafrock am Halse zu und fuhr dann mit beiden Händen auf den Kopf, um die halb herabfallenden roten Haarmassen eilig wieder mit dem Kamme zusammenzudrücken.
„Was giebt’s denn?“ rief sie vom untern Absatz herauf. „Was wollen Sie denn, Herr Pereda? Kommen Sie doch da herein, daß man mit Ihnen reden kann!“
[167] Sie öffnete die Salonthüre, Pereda sprang die Stufen herab, Toni folgte, und als sie eingetreten waren, erfuhr sie denn auch endlich den Grund der plötzlichen Schicksalsfügung.
„Frau von Hetvary hat mich benachrichtigt, daß sie die ‚Phantasie‘ nicht vorstellen kann,“ sagte Pereda mit einer gewaltsamen Anstrengung, unbefangen zu scheinen. Ein gewisses Vibrieren der Stimme konnte er aber dabei doch nicht unterdrücken.
Frau Resi starrte ihm ein paar Sekunden sprachlos ins Gesicht. „Nein – so etwas!“ rief sie endlich mit gut bürgerlichem Erstaunen. „Was hat’s denn da – ich meine, was verhindert denn die Frau Baronin?“ … Die lebhafteste Neugier funkelte ihr aus den Augen, während sie auf Pereda zutrat und ihm dringend die Hand auf den Arm legte.
„Sie ist – indisponiert …“ erwiderte er kalt abweisend. „Aber darum handelt es sich jetzt nicht. Mein Fräulein“ – Toni fühlte einen wonnigen Schauer, als die schon in der Gleichgültigkeit bestrickenden Augen jetzt so warm und bittend in die ihrigen drangen – „mein Fräulein, werden Sie mir die Gnade erweisen, um die ich Sie anflehe?“
„Ja – gern,“ erwiderte das erglühende Mädchen, „aber wie soll denn das möglich sein – in der kurzen Zeit?“
„O, das ist die einfachste Sache von der Welt. Ich habe mir erlaubt, das Kostüm gleich mitzubringen … Hier ist es …“ Er öffnete das mitgebrachte Paket und zog ein paar zarte Gewebe mit Goldsäumen heraus, die er auf den Diwan breitete.
„Das von der Baronin?“ warf Frau Resi, nun doch etwas empört, dazwischen.
„Verzeihung – es ist mein Eigentum, ich habe es herstellen lassen und niemand hat es bis jetzt berührt. Lauter lose Schleiergewänder,“ er wandte sich wieder an Toni, die in ihrer wachsenden Glückseligkeit ganz verklärt aussah, „wenn Sie gestatten, so zeige ich Ihnen, wie sie gesteckt werden müssen, wenn Sie angezogen sind.“
„Nein – so etwas!“ rief Frau Resi, die sich noch durchaus nicht in diese plötzliche Sachlage finden konnte, aufs neue aus. „Das Tonerl als ‚Phantasie!‘ Nehmen Sie mir’s nicht übel, lieber Herr von Pereda, aber mir scheint, Sie vergreifen sich in der Person. Das ist doch ein Unterschied von dem stumpfsinnigen Gesichterl da mit Ihrer süperben Ungarin.“
„Ja - der Unterschied zwischen einer verblühten Schönheit und einer aufblühenden,“ fuhr er mit einem grimmigen Stoß heraus, faßte sich aber gleich wieder zusammen. „Ohne Sorge, gnädige Frau! Diese ‚Phantasie‘ wird alle Augen entzücken – und die Herzen auch. Geben Sie Ihr Ja dazu und stimmen Sie den Gemahl ebenfalls günstig! Aber so schnell als möglich, wir haben wirklich keine Zeit mehr zu verlieren.“
„Ja so, der Hans!“ erwiderte Frau Resi gemütsruhig, „den sollt’ man auch noch fragen. Na, den nehm’ ich auf mich, dagegen haben kann er ja nichts. Also gut, kommen Sie in einer Stunde angezogen wieder, dann richten wir das Tonerl zusammen – Jesus –“ fuhr sie bei einem heftigen Läuten empor, „das ist aber jetzt gewiß der Friseur, ja, Greti, ich komme schon! Also adieu,“ sie war schon halb auf der Treppe, „adieu, eilen Sie sich, machen Sie, daß Sie fortkommen, ich wollte sagen, daß Sie wiederkommen, wenn wir soweit in Ordnung sind … um sieben … pünktlich … Wagen bestellt …“
Das Uebrige verhallte in dem von unten empordringenden Stimmengeräusch und im eilfertigen Thürenzuschlagen.
Die beiden im Salon standen sich ein paar Augenblicke gegenüber, ohne zu reden. Der Vielerfahrene sah die innere Bewegung des Mädchens, den strahlenden Glanz ihrer dunklen Augen, er fand sie zu seiner Ueberraschung heute noch sehr viel hübscher als vor drei Tagen und begann die Hoffnung auf einen wirklichen Effekt zu fassen, statt des Lückenbüßers, wegen dessen er hergekommen war. Wenn die Kleine diesen Ausdruck behielte – den schwärmerischen Blick, die leicht geöffneten Lippen, während sie das Köpfchen ein wenig zurückbog – ausgezeichnet! So sah sie geradezu reizend aus. … Nun, diese Stimmung konnte man ihr ja erhalten! …
Sein Gesicht zeigte so deutlich, was er dachte, daß Toni über und über errötete und umsonst nach einem Wort suchte, um sich der heftigen Beklommenheit zu erwehren. Nun trat Pereda rasch auf sie zu mit einer Bewegung, als wollte er sie an sich ziehen, sie wich zur Seite und glaubte im nächsten Augenblicke schon, sich geirrt zu haben, denn er ergriff nur ihre Hand und zog sie zu einem nochmaligen warmen, bedeutungsvollen und langen Kuß an seine Lippen.
„Meine Phantasie!“ hörte sie ihn leise sagen, und sie zürnte nicht darüber. Im Gegenteil! Der Zauber seiner Nähe und Vornehmheit entzückte sie ebenso wie der feine Duft des Bartes, der sich so leicht und zart auf ihre Hand drückte – sie fühlte eine nie vorher gekannte Glückseligkeit und zum erstenmal regte sich in ihrem Herzen die Empfindung: wäre es denn möglich? Könnte das möglich sein? …
Ein paar Herzschläge lang dauerte es, dann besann sich Toni und schüttelte die Gedanken, welchen sie jetzt nicht nachhängen durfte, gewaltsam von sich ab, die resolute Seite ihrer Natur gewann rasch wieder die Oberhand, sie befreite sich aus der gefährlichen Nähe und sagte, nach den Gewändern deutend:
„Ich weiß aber doch gar nicht – Sie müssen mir erst noch sagen – was ich denn eigentlich zu thun habe. Soll ich wirklich vor den vielen Menschen allein da oben stehen?“
„Sie meinen: allein mit mir?“ fragte er bedeutungsvoll. „Nein, leider nicht, wir haben noch zwei Garde-Engel an Bord. Aber die Hauptfigur sind Sie allerdings und Sie müssen mir alle Ehre machen, das Köpfchen hoch und frei wagen, sehen Sie, so!“
Und in seine Brusttasche greifend, zog er ein Blatt Papier heraus und legte es vor Toni hin, eine Farbenskizze des Wagens mit dem Palmendach, und, aus dem dunkeln Grün sich vorhebend, die Figur der „Phantasie“, von einem Flug bunter Schmetterlinge umschwärmt und einen davon einen großen dunkelfarbigen Wunderfalter auf der erhobenen rechten Hand tragend.
„O wie schön, wie schön!“ rief Toni, die Hände zusammenschlagend. „Ach, und der glänzende Stern über der Stirn, kann man den wirklich so fest machen, daß er stehen bleibt? O, ich bin lange, lange nicht schön genug für eine solche Figur! Und die Palmen – die goldenen Zweige – die großen weißen Blumen –“
„Lotosblüten! Ein paar davon werden lose in das Haar geflochten und fallen von den Schultern herab.“
„Wundervoll! Aber –“ fügte sie etwas nachdenklich hinzu, „Sie sprachen doch vorhin von zwei Engeln, die mitfahren sollten. Die sehe ich ja nicht. Sie werden doch noch dazu kommen?“
„Unbesorgt,“ sagte er, laut auflachend über den Kontrast dieser Anschauung zu einer gewissen anderen, „die stellen sich in der Garderobe sicher ein. Wir können sie rechts und links an den Wagen hängen, wenn kein Platz mehr unter den Palmen ist!“
Sie sah ihn ungewiß an. Sonst war es ihr doch nicht schwer, auf einen Spaß eine Antwort zu finden, aber diesem gegenüber – nein, da kam sie schon immer noch einmal so ungeschickt heraus, als sie von Natur war.
„Toni!“ rief es jetzt laut von unten.
Pereda griff nach seinem Hut.
„Darf ich das Blatt bis heute abend behalten?“ erkühnte sie sich nun doch, hastig zu fragen, indem sie die Hand danach ausstreckte.
„Es gehört Ihnen, wenn Sie es nicht verschmähen,“ erwiderte er, sich verbeugend. „Eine kleine Gegengabe für eine sehr große Liebenswürdigkeit!“
„Er ist doch ein wunderbarer Mensch!“ dachte sie, während sich die Thüre hinter seiner schlanken Gestalt schloß. „Herrgott – wenn der einen wirklich lieb hätte und heiraten wollte, das müßt’ schon ein Glück sein über alle Möglichkeit! … Ach nein, nur gar nicht denken, er denkt ja auch nicht daran, ich bin eine Närrin, daß ich auf so ’was komm’! … Aber heut’ abend, heut’ abend, da soll’s herrlich werden!“ …
„Sie ist doch ein bißchen klein,“ faßte er seinerseits das Ergebnis des Abschiedsblickes im Treppe-Herabgehen zusammen und spann, aus der Hausthüre tretend, den Gedanken weiter. „Ich muß noch rasch ein Piedestal festmachen lassen, daß die Wirkung ordentlich herauskommt. Das Kleid ist ja lang genug. Ah – Satansweib!“ Seine Gedanken fielen mit einem Schlag in ihren früheren Mittelpunkt zurück. „Diesen Streich sollst Du mir noch bereuen!“ Er schlug mit dem Stöckchen auf ein paar verdorrte Stauden am Wege ein. „Wo sie heute abend wohl stecken mag, wenn der Zug losgeht? Im Saale ist sie sicherlich, um sich an meiner Niederlage zu ergötzen. Haha! sie soll sich wundern über die Stellvertreterin … und sie weiß nicht, wer es ist, das ist das Schönste!“ Er lächelte boshaft vor sich hin. „Ich gäbe etwas darum, wenn ich ihr Gesicht sehen könnte, so wütend wie sie sein wird. Na – lange wird es ja nicht dauern, bis ich es zu sehen bekomme, zwölf Stunden zum höchsten. Aber dann – eisige Kälte, je toller sie wird – Ihr Diener, gnädige Frau! Und fertig für immer. Ich hätte es früher schon so machen sollen …“
[168] Er blieb stehen, um die Pferdebahn zu erwarten, sprang auf und fuhr dem Odeon zu, wo ihn vor einer Stunde, mitten im Drange der vielen Schlußvorbereitungen, die wohlberechnete Absage ereilt hatte. Nun galt es, in fliegender Eile das Versäumte nachholen. Einen Teil davon würde ja wohl der unermüdliche Hachinger, der Allerwelts-Packesel, wie ihn Pereda im stillen nannte, bereits besorgt haben.
Aber dieser sonst so Anspruchslose, der schon seit dem Morgen hier im Schweiße seines Angesichts als Schreiner, Tüncher und Tapezierer wirkte, er hatte das plötzliche Weglaufen des „eingebildeten Hochmutspinsels“, wie er seinerseits den schönen Niederländer und nicht einmal nur im stillen bezeichnete, als Rücksichtslosigkeit empfunden und polterte jetzt mit einer Kühnheit, die ihn selbst erstaunte, allerdings hinter der Deckung des Phantasiewagens, hervor: „Hören Sie, Pereda, wenn Sie jetzt nicht fix dabei bleiben, so werden wir nicht mehr zur rechten Zeit fertig. Um acht Uhr muß die Geschichte anfangen, wissen Sie?“ …
Pereda trat langsam um den Wagen herum und maß den erhitzten und sofort in Verlegenheit geratenden Kleinen, der, ohne die Augen zu erheben, doppelt eifrig an den Rädern herum [169] hantierte, mit einem Blick unendlicher Geringschätzung, wie von Wolkenhöhe herab.
„Die Geschichte fängt an, wenn wir fertig sind, mein Bester,“ sagte er kühl. „Und so lange das nicht der Fall ist, werden die da draußen sich gedulden müssen. Das Warten schadet ihnen nicht!“
Und sie warteten in der That, die dichtgedrängten Tausende im reichgeschmückten Odeonssaal, warteten mit der rühmlichen Geduld, welche das Münchener Publikum den Veranstaltungen seiner Künstler stets entgegenbringt, und konnten dies um so leichter, als die gegenseitige Betrachtung schon Unterhaltungsstoff für verschiedene Viertelstunden gewährte. Im „Reich der Phantasie“ war Platz für jede Erscheinung, und so sah man denn alle Formen und Farben hier wandeln, von den olympischen Göttern an bis zu Schnapphähnen und Galgenvögeln, deren schauerliche Echtheit ihnen auf jedem anderen civilisierten Maskenball den schleunigsten Hinauswurf zugezogen haben würde, hier aber eines bedeutenden Achtungserfolges sicher war. Was anderwärts die Hauptsumme eines Maskenballes ausmacht und sich auch hier als Grundgewebe [170] durcheinander schob an Türken, Chinesen, Volks- und historischen Trachten, Zulu- und anderen Negern, das würdigte kein Kundiger eines Blickes. Aber als Arm in Arm Rubens und van Dyck erschienen, in vollendeter Porträttreue wie aus dem Rahmen niedergestiegen, da entstand überall eine Gasse, es schloß sich auch gleich ein freiwilliges Gefolge an, aus dessen Mitte der Ritter von der traurigen Gestalt, neben einer langen Gelbrübe wandelnd, hoch hervorragte. Mit lauten Bewunderungsrufen grüßten die großen Meister ihrerseits ein wildes Germanenpaar, das ihnen plötzlich in den Weg trat. Der Mann, eine Hünengestalt mit mächtigem Haarbusch, viel Trikot und wenig Tierfellen um die muskelstarken Glieder, schwang den plumpen, stierhautumzogenen Schild und die schwere Streitaxt unter lautem Klirren seiner Armringe von Bronze. Das Weib, von roter Mähne umwallt, trug ein grobes, mit Leder gegürtetes Leinengewand, das mit schmalen Streifen vom Fell der Wildkatze besetzt war. Barbarisches Schmuckgehänge von Thonperlen und Metallstücken umgab Hals und Arme, grobe Fellsandalen, mit Riemen geschnürt, boten den Füßen Schutz. So zogen sie hin: zwei auserlesene Menschenbilder voll Urkraft und wilden Reizes.
„Das ist doch ein bißchen gar zu echt,“ sagte, als sie vorüber kamen und die Germanin, mit blanken Zähnen lachend, zum Dank für die Bravorufe die Faust ins Publikum ballte, eine vor dem Andrang zwischen die Säulenstellung hinaufgeflüchtete ältliche Gestalt in dunkelm Rock mit einem auf bretagnische Weise gesteckten Kopftuch zu ihrem Begleiter, einem jungen rotbackigen Krauskopf, dessen ritterlicher Stand unzweifelhaft dargethan wurde durch ein violettes Wams von Baumwollsammet, einen zackigen Spitzenkragen und ein steifes Barett mit schmutzigen Federn und einem wunderschönen Glasfluß-Smaragd als Agraffe.
Sie hatte es ihm anders geraten, die erfahrene Reisende, die ihre Bretagnerin mit Vermeidung jedes Leihgeschäftes einzig den Schätzen ihres Koffers entnahm und selbst herstellte, sie wollte ihm in der Maskengarderobe eine schwarze Lederhose, den breiten grünen Tirolergürtel und einen Lodenhut mit Gemsbart aufnötigen, weil ihm das entschieden am besten stände. Aber damit war sie bei Lorenz Käsmeyer übel angekommen. Einen Bauern machen, warum nicht gar! Auf einem solchen nobeln Ball mußte es etwas „Schönes“ sein. Ob das Fräulein denn meine, frug er beleidigt, daß er gar so grob und gemein aussehe, daß er nur für einen Bauernlackel tauge.
Hierauf hatte Sophie Panke nichts mehr erwidert und seufzend Stück für Stück des „spanischen Hofkostüms“ aus den Händen der Verleiherin in die seinigen übergehen sehen. Der Totaleffekt am Abend entsprach denn auch durchaus ihren Erwartungen, und sie wunderte sich nicht, hier und dort ein lachendes Gesicht oder einen Ellbogenstoß zu bemerken, wenn sie mit ihrem Schützling vorüberschritt. Nur dachte sie nicht, daß die Hälfte davon ihrer eigenen gesetzten Persönlichkeit galt, deren kritische Hakennase auch sonderbar genug in dies Reich der Phantasie hineinragte.
„Hier unter den Säulen kann man wenigstens wieder einen Atemzug thun,“ sagte sie nach Besitzergreifung eines kleinen freien Raumes, „das Gedränge dort unten ist greulich. Und welche Verspätung!“ Sie zog die Uhr. „Dreiviertel Neun, wahrhaftig. Das ist doch auch wieder eine echte Münchener Bummelei. So etwas kommt bei uns in Berlin entschieden nicht vor.“
Lorenz sah sich unbehaglich und mit einer gewissen Vorsicht um. Aber in dem allgemeinen Stimmengeräusch hatte niemand auf die strafende Rede geachtet.
„Ja, ja,“ versetzte er begütigend, „es sind halt viele Leut’ bei dem Zug, da kann’s auch nicht gerade so accurat zusammengehen. Und die Völle da oben auf der Galerie, schauen Sie nur gerade da hinauf,“ er wies, um abzulenken, nach den dichtgedrängten Kopfreihen empor. „Und die prachtvolle Dekoration! Die Säulen stecken ja ganz in lauter Laub und Blumen. Käfer und Eidechsen, fußgroß, und Schmetterlinge von allen Farben, das ist ja doch wunderschön!“
Sie sprach ihre Zustimmung aus, währenddessen wanderten seine Blicke weiter auf die abgeblaßten alten Deckengemälde und nach einem Weilchen fragte er:
„Sagen Sie einmal, Fräulein, ist das jetzt schön gemalt, die Figuren da oben? Gefallen sie Ihnen?“
„Hm!“ erwiderte sie, sich in das Anschauen des Königs Midas und des göttlichen Citharöden Apollo vertiefend, „schön wird das heute wohl niemand nennen. Aber was ist denn heutzutage schön? Darauf giebt es keine Antwort. Und – ja, sehen Sie, eben darum können einem die alten Bilder gefallen. Die sie malten, die haben’s gewußt, was sie für schön hielten, und haben es so recht überzeugt hingemalt. Solch ein gläubiges Selbstvertrauen bringt heutzutage niemand mehr fertig, so viel geschickter und gescheiter die heutigen geworden sind. Wenn sie könnten, schlügen sie die alten Fresken da oben gewiß herunter. Ob sie aber mit aller Geschicklichkeit etwas Erfreulicheres an die Stelle setzen könnten, das fragt sich noch sehr!“
„Verrückte alte Schachtel!“ sagte ein hübscher, halb schwarz, halb roter Florentiner gegen einen anderen gewandt. „So ’was will von Kunst reden!“
„Es geht los!“ rief im gleichen Augenblick ein anderer. Durch die plötzlich eintretende Stille von wenigen Augenblicken hörte man gedämpfte Kommandorufe jenseits des deckenhohen Vorhangs, der das obere Halbrund des Saales verhüllend abschloß. Alles drängte in dichtem Getümmel der durch Schranken freigehaltenen Saalmitte zu, Lorenz und seine Begleiterin aber verharrten auf ihrem erhöhten Standpunkt unter den Säulen.
[182] Hinter dem Vorhang, der den Festsaal teilte, in der hochgewölbten phantastischen Wundergrotte, wo sich eine von bläulichem Glanz und farbigem Glühlicht erhellte Perspektive in geheimnisvolle, glitzernde Tiefen aufthat, war man mit den letzten Vorbereitungen beinahe fertig. Im Mittelgrund stand der trotz Hachingers trüben Ahnungen aufs entzückendste dekorierte Wagen mit den aus tiefem Grün schlank aufragenden Palmen und den großen märchenhaften Blumenkelchen, deren üppige Blätter und Ranken tief an den Seiten niederhingen. Der künftige Lenker befand sich in fieberhafter Thätigkeit, um alle glücklich an ihren Platz zu schaffen; erst hatte er die bewegenden acht Packträger unter die Seitendraperien geschoben, dann drei Jungen, welche in den Flügeln des Zugtieres, eines grünschillernden Drachens, sowie in dem hochgetragenen Halse gehen sollten, noch mit den notwendigen Ermahnungen bedacht und hierauf die Schwestergenien zu ihrem blumenbekränzten Sitz an der Rückseite des Wagens geleitet. Ihren lebhaften Protest gegen diesen unvorteilhaften Platz hatte er durch noch lebhaftere Versicherungen beschwichtigt, wie ganz eigentümlich eben das sei, daß sie auf solche Weise als besonderes Bild vom Publikum bewundert würden.
„Reizend, aber ganz reizend!“ rief er, als sie glücklich saßen, im Ton des echtesten Enthusiasmus, lief schnell und holte noch ein Blumengewinde, das er der einen in die Hand gab. „So, das fehlte noch!“ Dann, zurücktretend und die Augen halb schließend: „Ein wundervoller Effekt! Bleiben Sie ja in dieser Stellung, sie macht sich ausgezeichnet!“
Dann eilte er, um das Hauptwerk in Angriff zu nehmen, seitwärts, wo in einer der Tropfsteincoulissen Toni, mit dem Gewand der „Phantasie“ angethan, schon geraume Zeit wartend saß. Sie war ihr nicht lang geworden, ihre Augen hatten unablässig seine schlanke, in dem knappanliegenden Silberbrokat-Wams so herrlich sich zeichnende Gestalt betrachtet. Wie schön er war! Welche Kraft und Anmut in jeder Bewegung, und wie er seinen Kopf trug, diesen herrschaftsgewohnten stolzen Kopf mit dem goldschimmernden Barett auf den dunklen Haarwellen und den darüber herunternickenden langen weißen Federn!
Nun trat er plötzlich auf sie zu. „Gnädiges Fräulein, darf ich jetzt bitten? Die letzte Hand muß ich droben anlegen, wenn Sie auf dem Piedestal feststehen. Auch dies hier,“ er zeigte ihr ein paar zarte durchsichtig rot schillernde Libellenflügel, „kann ich erst dort befestigen. Aber – wie sehen Sie denn aus? Sie werden mir doch nicht am Ende Angst bekommen?“
Er sah erschrocken in ihr bleich gewordenes Gesicht, aber sie schüttelte energisch den Kopf. Daß ihr sein plötzliches Nahen alles Blut zum Herzen gedrängt hatte, konnte sie ihm doch nicht sagen, und so flüsterte sie im Hingehen zum Wagen:
„Es ist nichts, ich fürchtete mich wohl ein wenig vor all den fremden Leuten, aber jetzt, wo Sie bei mir sind –“
Sie stockte, im gleichen Augenblick ergriff er ihren Arm und schob ihn in den seinigen.
„Das lange Kleid hindert Sie im Gehen,“ sagte er laut, und dann drückte er den Arm fest und warm gegen seine Brust. Nun waren sie an den Stufen angekommen, Toni trat auf das für sie viel zu lange Kleid und strauchelte.
„Kommen Sie,“ sagte Pereda, hob sie vom Boden und trug sie vorsichtig, indem er, die Enge des Weges benutzend, sie innig in seine Arme schloß, zwischen den Gesträuchen empor. Er warf, oben angekommen, einen raschen Blick umher: niemand achtete auf sie. Die Gebüschwand schützte vor dem Hintergrund, wo sich der Rest des Zuges ordnete, und die Zwerge, die vorhin noch den Drachen umstanden, waren dem neuen Schauspiel nachgelaufen.
Pereda ließ seine leichte Bürde auf das Piedestal niedergleiten und sah ihr dabei auf die kurze Entfernung mit einem so unverhüllten Zärtlichkeitsblick in die Angen, daß ein ungekanntes Gefühl, halb Schauder, halb Wonne, ihr durch alle Nerven rieselte. Und jetzt näherten sich die dunkelbewimperten heißen Augen immer mehr, sie wurde von zwei Armen erfaßt, und im gleichen Augenblick fühlten ihre Lippen einen Kuß, so süß, so wonnevoll überwältigend, wie Toni noch nicht gewußt hatte, daß Menschen küssen können.
Es war ein Augenblick – ehe sie noch eine Bewegung der Abwehr hätte machen können, war er bereits vorüber und Pereda sagte laut, in der Hörweite der beiden Genien und des allmählich zur Aufstellung vor dem Drachen herbeikommenden Zwergenvolkes.
„Nun müssen zuerst die Flügel daran,“ nahm dieselben und befestigte sie mit Kreuzbändern geschickt und fest hinter den Schultern. Aber Toni griff rasch nach den Enden und band sie selbst über dem Gürtel zusammen.
„Und nun, um das zu verdecken, das letzte Schleierzeug,“ sprach er wieder in demselben unbefangenen Ton, während seine Augen fortwährend eine andere stumme Sprache redeten, nahm ein bereitliegendes zartes Gewebe, das in Regenbogenfarben schillerte, und zog dasselbe, behutsam anfassend, von der rechten Schulter zur linken Seite nieder über das weiße Gewand, es in engen Falten formend und mit leichten Händen an diesem feststeckend.
„Nun noch eine verdeckte Stütze für den linken Arm!“ Er sollte den Schmetterling tragen, während der rechte, herabhängend, den goldenen Zauberstab umschloß.
„So!“ … Pereda trat zurück, um die Wirkung zu prüfen, und was er sah, entzückte ihn.
Tadellos – über alles Erwarten! Die zarten Formen der Gestalt durch die Gewänder aufs schönste gehoben, die Stellung so glücklich, und der Ausdruck des Köpfchens – famos! Sehnsüchtige Schwärmerei in den groß offenen Augen, ein verträumtes Lächeln um die Lippen: die reine wirkliche Phantasie, wie man sie sich nur vorstellen konnte. Er war entzückt über seinen Effekt.
Eilig ordneten sich währenddem die Herolde und ihr Gefolge, Zwerge und Erdgeister, paarweise vor dem Drachen. Pereda neigte noch einmal den Kopf nahe zu Toni und wie ein Hauch tönte es in ihre Ohren.
„Mein süßes Mädchen!“
Ehe sie sich von dem schwindelnden Glücksgefühl nur halb erholt hatte, sah sie ihn bereits vorn auf dem Wagen sitzen, die Zügel in der Hand, und hörte seinen leisen Ruf: „Fertig – los!“
Da strahlte von allen Seiten elektrisches Licht auf, brausende Orchesteraccorde ertönten, der große Vorhang schob sich mit einem gewaltigen Ruck auseinander und der Zug überschritt die Schwelle der Grotte.
Ein lauter Bewunderungsruf aus der Kopf an Kopf stehenden Menge ertönte und pflanzte sich unaufhaltsam mit dem weiterschreitenden Zuge fort. Am lebhaftesten wurde überall der Phantasiewagen empfangen, sein Lenker lächelte dann und wann unmerklich vor sich hin, besonders wenn er in erstaunten Bekanntenaugen die Frage las: „Na, wer ist denn das, wo kommt diese neue Schönheit her?“
Er genoß seinen Erfolg und spähte zugleich mit raschen Blicken umher, ob er nicht irgendwo das Gesicht auftauchen fehe, das verhaßte Gesicht, dessen Wutblick ihm soviel Vergnügen machen sollte. Aber es zeigte sich nirgends, so viel fremde und bekannte Augen auch auf ihn und die rätselhafte „Phantasie“ gerichtet waren. Diese selbst schwebte auf ihrem luftigen Standpunkt wie in goldenen Wolken, ihre Blicke streiften über die Menge weg, ohne sie zu sehen, so völlig verloren war sie in die Erinnerung an das ungeheuere süße Erlebnis dort in der dämmerigen Zaubergrotte!
„Ist sie’s denn wirklich?“ wandte sich, zweifelnd über die große Veränderung durch das Kostüm und über den seltsam abwesenden Blick, der ihn ohne Zeichen des Erkennens gestreift hatte, der gute Ritter Lorenz an seine Begleiterin. Einen Augenblick vorher hatte sie, krampfhaft seinen Arm fassend, ausgerufen: „Da – sehen Sie! Fräulein Toni!“
„Natürlich ist sie’s,“ fuhr Sophie Panke eifrig fort. „Sie können sich auf mein Auge verlassen. Und reizend sieht sie aus, das muß man sagen.“
Lorenz stand und schaute mit festgebannten Augen. „Ja – wunderschön!“ sagte er, endlich zu sich kommend, als nur noch die nickenden Palmenwedel von rückwärts zu sehen waren. „Aber wer mag der Schwarze sein, der sie da auf seinem Wagen fährt? Sie hat, scheint’s, rasch Bekanntschaft gemacht mit den Herren Malern!“
„Der Schwarze?“ fragte neben ihm ein höchst naturwahrer Packträger. „Kennen’s den nicht? Das ist ja der Pereda, der [183] berühmte Maler, der Spanier, in den die Frauenzimmer rein vernarrt sind. Der sucht sich allemal die Schönste aus, darauf kann man zuerst schon schwören.“
Lorenz maß den Harmlosen mit einem stummen Wutblick, aber seine Begleiterin legte ihm warnend die Hand auf den Arm und jener wandte sich auch bereits, um die dem Wagen der Phantasie nachfolgenden „Vier Menschenalter“ anschauend zu genießen.
Lorenz hatte keine Augen mehr für das von einem großen Elefanten gezogene goldene Zeitalter in Indiens seligen Hainen, er ließ auch das silberne, dargestellt durch einen herrlichen Zug griechischer Mädchen und Jünglinge und einen Prachtwagen perikleischer Kunst, ungerührt passieren. Erst als die eiserne Zeit des Mittelalters kam und der Boden unter dem Tritt der Geharnischten erzitterte, wurde er aufmerksam, weil eine weibliche Stimme aus der Nähe rief: „Seht, da kommt der Kaiserwagen! Das ist der Volkhard und seine Frau, die stellen das Kaiserpaar vor. Ach, sind die schön!“
Nun sah er hin und betrachtete wohlgefällig den prächtigen Hohenstaufen, den zweiten Friedrich, der unter sarazenischem Baldachin mit seiner schönen Gemahlin Hof hielt, umgeben von morgen- und abendländischen Glanzfiguren und von schönen Kindern, die sich zu Füßen des Kaiserpaares gelagert hatten.
„Dort hätte sie hingehört!“ grollte Lorenz, als der Prachtwagen langsam vorüberzog. „Nicht allein mit so einem spanischen Windbeutel auf das grüne Gestell da hinauf! Das hätte der Schwager nicht leiden dürfen!“
Er erhielt keine Antwort, denn Fräulein Pankes Finger flogen stenographierend in rasender Eile über die Seiten ihres Notizbuchs. Was war ihr in diesem Augenblick der Liebeskummer des guten Lorenz! Sie fühlte sich einzig als Reporterin, erhaben über menschliche Herzensregungen, groß in mustergültiger Ausübung ihrer Pflicht. Aber die Arme sanken ihr, als nun, mit großem Plakat sich ankündigend, „das Papier- oder Schwindelzeitalter“ auf den Plan trat und mit einer wahren Explosion der ungewöhnlichsten elektrischen, maritimen und hygieinischen Erfindungen, Verkehrsmittel und -hindernisse im großen Schwarm hereinplatzte. Hier hörte die Berichterstattung auf und fing der Unsinn an, der sich auch alsbald unwiderstehlich ansteckend durch den ganzen Saal ergoß und selbst die Gesetzten und Soliden in seinen Wirbel riß.
Sobald der Umzug und das daran anschließende sarazenische Kampf- und Fechtspiel vor dem kaiserlichen Hofe vollendet war, lockte der Wiener Walzer und bald drehte sich ein großer Teil des Publikums trotz Platzmangels und Hitze in der Mitte des großen Saales, während zugleich ein langsames Vorwärtsschieben der anderen nach dem oberen Ende stattfand, um die dort auf einer Estrade ausruhenden Hauptfiguren des Zuges noch einmal im Vorbeigehen zu betrachten.
Darum schien es besonders einer schlanken Frauengestalt zu thun zu sein, die sich rasch und gewandt zwischen den Einzelgruppen durchschmiegte, um dann wieder hinter der Deckung von Säulen und Strauchwerk angelegentlich nach jener Seite hinüberzuspähen. Sie trug ein schillerndes Pfauenfederngewand, da und dort mit kleinen Spiegeln behängt, und um den Hals einen blitzenden Diamantschmuck. Die schwarze Maske aber schloß so fest um Wangen und Kinn, daß von dem Gesicht nichts zu sehen war, als ein Paar rastlos hin und her fahrender Augen.
„Schau einmal an! Wer ist denn das?“ rief der hohenstaufische Gefolgsmann Hachinger, indem er sich breitbeinig auf sein großes Schlachtschwert stützte und vor die Lauschende hinpflanzte. „In welches Zeitalter gehörst denn Du, liebe Eitelkeit?“
„In alle!“ versetzte sie rasch. „Aber am meisten hab’ ich doch in dem Eurigen zu thun, weil jetzt die Männer noch viel eitler sind als die Weiber und die Künstler am eitelsten von allen!“
„Schau, schau, das Mundwerk!“ murmelte er, der Enteilenden nachblickend. „Wer mag’s sein? Und z’wegen wem hat sie da auf dem Lauerposten gestanden: das sollt’ man ’rauskriegen können und sie dann ein bissel vexieren!“
Er war nicht der einzige, dem das kostbare und raffiniert ausgedachte Kostüm, sowie die Figur der Trägerin auffiel. Frau Eitelkeit mußte noch manchem Rede stehen und that es mit großer Schlagfertigkeit, bis sie den Menschenstrom durchkreuzt und die andere Seite gewonnen hatte.
Dort setzte sie sich nahe der Estrade in ein Rosengebüsch, von Zeit zu Zeit den Kopf hinüberwendend nach der Brüstung, von welcher herunter Pereda etwas gelangweilt das Gewühl musterte. Toni war nicht mehr an seiner Seite, sie flog dort in den Reihen der Tanzenden und er sandte ihr keinen Blick nach: sie würde immer noch frühe genug wieder zu ihm zurückkehren!
Dafür streiften seine Blicke erst flüchtig, dann immer aufmerksamer und unruhiger die Gestalt im grüngoldenen Federkleid, die dort unter den Ranken saß, die zierlichen Füßchen in Goldschuhen, halb von der weich herabfallenden Pfauenaugenschleppe verdeckt, den großen Fächer lässig in schönen nackten Armen bewegend, während sie mit seitwärts gesenktem Kopf hinter der Larve hervor ihn selbst auffallend fixierte. Er glaubte, ein halb spöttisches, halb verlockendes Kopfnicken zu sehen, und ehe er sich noch Rechenschaft über seine Absicht gegeben hatte, war er mit einem Satz die drei Stufen hinabgesprungen und hatte sich in das Gewühl gestürzt. Aber als er mit Mühe bis zu der Säule durchgedrungen war, fand er den Platz zwischen den papiernen Rosenbüschen von einem dicken Domino besetzt und das Pfauenkleid war verschwunden. Er drängte sich kreuz und quer durch die Menge, es zu suchen – vergebens! Das Rätsel blieb ungelöst, nur ein verräterisches Pochen seines Herzens ließ ahnen, in welcher Richtung Adrian Pereda die Lösung allenfalls suchen würde! …
Zwei Stunden später saß Volkhards ganze Gesellschaft, Freunde und Wagengenossen, in einem der vielen Seitenzimmer des Odeonsaales, einzig von dem Wunsche beseelt, jetzt endlich einmal nach all der Poesie etwas Ordentliches zu essen zu bekommen. Den vereinten Anstrengungen der Männer war es gelungen, einen der durch das Gewühl eilenden Kellner zu erhaschen und ihm seine über den Häuptern balancierte Traglast von Braten und Salat abzunehmen. Der Lärm umher war groß. Von allen Tischen her schrieen die Hungrigen nach den mit Windeseile daherkeuchenden Speisenträgern, Teller und Schüsseln verschwanden über den Köpfen weg, aber zwanzigmal soviel, als da war, wurde begehrt, und wer einen Sitzplatz erobert hatte, durfte sich glücklich schätzen. Ein Strom von solchen, die ihn erst suchten, ergoß sich von der Eingangsthüre her und mußte schließlich auf der entgegengesetzten Seite wieder hinaus, um sein Heil anderweitig zu versuchen.
„Das ist doch einmal wie das andere,“ sagte Hachinger, indem er, im Vollbesitz seines Kalbsbratens und die Hand um den Bierkrughenkel gelegt, behaglich nach jenen Wanderern hinüberblickte. „Immer nicht Platz und nicht Essen genug für all’ die Leut’! Ob das jemals anders werden wird?“
„Warum nicht gar!“ erwiderte Pereda. „Damit wäre ja Eurer berühmten Münchener Gemütlichkeit der Todesstoß versetzt. Soviel ich bis jetzt gesehen habe, besteht sie hauptsächlich in einer leidenschaftlichen Abneigung gegen Bequemlichkeit und Komfort jeder Art.“
Das verdroß Hachinger bedeutend.
„Warum kommen denn hernach alle die Fremden immer nach dem schlechten München?“ fragte er anzüglich. „Wir haben sie nicht gerufen und es wär’ uns manchmal viel lieber, sie blieben draußen.“
„Sein’s doch nicht gleich so grantig, Hachinger,“ mischte sich jetzt Ihre Majestät die Kaiserin ins Gespräch. „Sie haben ja mit Räsonnieren angefangen, da wird ein anderer wohl auch etwas sagen dürfen.“
Frau Resi hatte heute ihren schönen Tag. Von dem züchtigen Schleier und Diadem strahlte ein ungewohnt fraulicher Liebreiz über ihre energischen Züge, und selbst ihre unbekümmerte Redeweise vermochte den Eindruck einer Prachtpersönlichkeit nicht zu beeinträchtigen. „Uebrigens,“ fuhr sie fort, „sind wir doch alle heute abend von Herzen vergnügt, gelt, Hans? Und so ’was giebt’s halt doch nur in München,“ wandte sie sich zu Pereda hin, „in anderen Städten thun sie auch so dergleichen aber hier ist’s, als ob das alles eine Zeit lang wirklich so wäre. Ich kann’s nicht so sagen, aber spüren thu’ ich’s ganz genau, wie schön das ist.“
„Sie hat ganz recht,“ sagte Volkhard, dessen kraftvolle Reckengestalt seinen Hohenstaufenkaiser ebenfalls mit allen Ehren repräsentierte.
Er that einen majestätischen Griff nach dem Bierkrug. „Wir fühlen uns heute ganz besonders als Lehensherr der bajuvarischen Lande und raten Euch, Prinz von Arkadien, keine anzüglichen Reden zu führen. So lange die da draußen uns so ’was nicht nachmachen können, so lange bleibt München München, wenn man sich drinnen auch manchmal seinen Stuhl selber holen muß oder [184] seinen Maßkrug. Das schadet den größten Genies nichts und bewahrt vor dem ‚celebren‘ Wesen. Haben Sie hier schon einmal eine richtige Celebrität gesehen, so eine, die sich fühlt und wegen der die anderen verstummen, wenn sie in eine Gesellschaft tritt? Gott bewahre, das giebt’s nicht. Manchmal kommt eine von außen herein, die stirbt entweder schnellstens ab und verwandelt sich in einen natürlichen Menschen, oder aber sie geht bald wieder durch, weil sie die allgemeine Respektlosigkeit nicht aushalten kann. Bleiben Sie hier fünfundzwanzig und dreißig Jahre, werden Sie Ehemann und Hausbesitzer, verkaufen Sie Bilder zu den höchsten Preisen und heimsen die goldenen Medaillen nach dem halben Dutzend ein, Sie können es doch nicht soweit bringen, daß, wenn ein richtiger Münchener in befriedigtem Nationalstolz ausruft: ‚Herrgott, san mir Leut’!‘ – er nicht zuerst sich meint und lange hernach einmal Sie!“
Pereda lachte. „Das Vergnügen lasse ich ihm gern, bis zur Celebrität hat es bei mir ohnehin noch gute Wege. Uebrigens sind Sie vorhin alle ohne Grund über mich dreingefahren: mir gefällt es ja in München. Sehr sogar, sehr!“ wiederholte er, indem er zwischen den halbgeschlossenen Lidern hervor wieder einen seiner eindringlichen heißen Koseblicke über die an seiner Seite sitzende Toni hinabgleiten ließ und, sich im Stuhl zurücklehnend und dabei wie zufällig seinen Arm auf die Lehne des ihrigen stützend, mit leisem Finger ihre Achsel streifte. Ihr freiansteigender Nacken mit dem schlanken Halsansatz und den feinen Löckchen darüber sah so hübsch aus den Gewandfalten heraus, er hätte etwas drum gegeben, sachte über das zarte Fellchen streicheln zu dürfen. Warum ging doch die Maskenfreiheit nicht noch ein bißchen weiter? … Zu der übrigen Münchener Gemütlichkeit würde das ja vortrefflich passen … Pereda dachte es mit dem vielsagenden Lächeln, welches den ehrlichen Hachinger empörte, so oft er es zu sehen bekam. Auch jetzt mißfiel ihm die nachlässige Grazie, mit welcher Pereda seine Bartspitze zwischen den Fingern wirbelte, durchaus.
„Fader, zuwiderer Kerl!“ murmelte er durch die Zähne. „Was nur die Frauenzimmer an dem haben – ’s ist rein unbegreiflich!“ …
Toni saß ganz still da, sie hatte die leise Berührung mit seligen Schauern gefühlt. Wenn die anderen wüßten! Was sie nur sagen werden, wenn’s einmal offenbar wird! … Und die zu Hause erst … wenn die erfahren, daß die Burghofer Toni ein solches Glück macht! Ihr schwindelte völlig vor dem Gedanken, so unmöglich schien er, und doch verlor sie sich schon im nächsten Augenblick in Zukunftsbilder des eleganten Hauses, das sie haben würde, des verliebten und berühmten Mannes, der schönen Reisen, der Toiletten und tausend Luxusgegenstände, die dann alle, alle erreichbar waren … Sie saß träumend mit groß offenen Augen da, ohne Anteil an den zwischen den Tischgenossen weiterhin gewechselten Reden. Das Lachen und die vielen schlechten Witze schlugen nur wie von ferne an ihr Ohr, sie schien den immer noch durch das Zimmer passierenden Menschenstrom zu betrachten, in Wirklichkeit aber waren ihre Gedanken weit entfernt davon.
Da erweckte ein unerwarteter Anblick ihr mit einem Schreckensschlag Bewußtsein und Erinnerung wieder. Aus dem Haufen der noch überall nach Platz spähenden Menschen lösten sich jetzt zwei Gestalten los, welche Toni kannte und mit so starrem Entsetzen betrachtete, als seien es ein paar Gespenster, die ihr hier erschienen. Kein Zweifel, das war das alte Fräulein von unterwegs und Lorenz – du lieber Gott – in welcher Gestalt! Wie schrecklich ordinär sah er aus in denn unbeholfenen armseligen Sammetwams, und sein Gesicht unter dem schauderhaften Barett, sein rotes, verlegenes Gesicht, das war noch das Aergste von allem. Rein wie ein maskierter Bauer, der merkt, daß er an einen solchen Ort nicht hingehört!
Noch hatte er sie nicht gesehen; Toni zitterte, daß es im nächsten Augenblick geschehen könne; sie wandte voll Todesangst nur schnell den Kopf ab und begann, indem sie dem Platz, wo jene standen, ganz den Rücken kehrte, ein lebhaftes Gespräch mit Hachinger, der an ihrer anderen Seite saß. Ihr Herz schlug zum Zerspringen, die Sekunden wurden lang, daß es fast nicht zum Aushalten war, umzuschauen wagte sie nicht, sie bog sich immer mehr nach ihrem über dieses plötzliche Interesse ebenso verwunderten als erfreuten Nachbar hin und stützte dabei den Kopf in die Hand, um den letzten schmalen Streifen ihres Gesichtes zu verdecken. Vielleicht verschwanden die beiden doch wieder im Menschengedränge, ohne herüberzuschauen und sie zu erkennen!
Aber diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Fräulein Pankes Falkenaugen hatten sowohl die Tischgesellschaft, als auch so viel leeren Raum am unteren Ende entdeckt, daß sich zwei Personen zur Not noch setzen konnten, und ihr erfinderischer Geist zögerte nicht, die unverhoffte Gelegenheit auszunutzen. In bescheidener Haltung, aber unverlegen, näherte sie sich dem in der Mitte der Langseite sitzenden Volkhard und sagte:
„Dürften wohl zwei recht Müde und Hungrige es wagen, hier in diesem hohen Kreis um ein Plätzchen zu bitten? Dort unten ist noch eins frei, und ganz Unbekannte sind wir ja nicht. Ich hatte vor einigen Tagen das Vergnügen –“ ihre Augen hefteten sich anfordernd auf die gegenübersitzende Toni, die bei dem ersten Wort ihre Wangen heiß werden fühlte, aber den Kopf nur um so eifriger abgewandt hielt, indem sie laut mit Hachinger sprach und lachte.
„Ihr Fräulein Schwägerin dort wird sich gewiß erinnern,“ klang es jetzt in nicht mehr zu überhörendem Ton. Diese hob über und über erglühend die Augen, ein ängstlich verlegenes Lächeln irrte über ihr Gesicht, aber sie schien die rings um sie Sitzenden als genügende Verhinderung zum Aufstehen anzusehen und begnügte sich mit einer kaum merklichen Grußbewegung. Dann wandte sie schnell den Blick wieder ab, als habe sie keine Ahnung, um was es sich hier handle.
Volkhard hatte sich inzwischen zögernd halb von seinem Stuhle erhoben, zugleich aber drehte Pereda den Kopf und sagte über die Achsel weg in eisigem Tone. „Bedaure, wir erwarten noch zwei Personen.“
„Kommen Sie, Fräulein,“ hörte man jetzt die Stimme des bisher von allen unbeachteten Ritterjünglings mit sehr entschiedenem Tone sagen. Seine Augen hatten während der letzten Sekunden erst mit Staunen, dann mit wachsender Entrüstung auf Toni gehaftet, jetzt wandte er sich kurz um. „Sie sehen ja, das Fräulein kennt uns nicht mehr. Ueberlästig wollen wir nicht fallen!“
Toni hatte seinen Blick trotz der niedergeschlagenen Wimpern gespürt und mit sich gekämpft, endlich sah sie auf, entschlossen, sich zu erheben und, was auch kommen möge, den Schwergekränkten mindestens in ein kurzes Gespräch zu ziehen. Aber die Stelle, wo beide Gestalten eben noch gestanden, war leer, der Menschenstrom hatte sie wieder verschlungen.
„Na,“ sagte Volkhard, „wer war denn das? … Doch nicht am Ende … ja freilich, das war ja die alte Jungfer, mit der Du im Damencoupé fuhrst – nicht?“
Toni nickte stumm.
„Das hätte uns gerade abgehen können,“ meinte Hachinger. „Jung, wenn sie gewesen wär’ und hübsch, nachher hätt’ man zusammenrucken können. Aber so eine alte Schachtel –“
„Sie ist Schriftstellerin,“ sagte Toni.
„O Gott, auch das noch – es wär’ an ihrer Nasen schon genug gewesen. Na, sind wir halt froh, daß wir’s losgebracht haben, so ’was könnt’ einem ja rein das ganze Fest verderben!“
„Hör' Du!“ sagte mittlerweile Frau Resi leise zur Schwester, „war denn das nicht –“
„Schweig’!“ erwiderte diese scheu und beklommen. „’s ist mir arg, aber wie kann er denn auch nur daran denken …“
Volkhard, der Ahnungslose, in dessen Salzburger Erinnerungen Lorenz Käsmeyer nicht vorkam, sagte gutmütig tröstend zu Toni:
„Nimm Dir’s nicht zu Herzen, Tonerl. Du kannst nichts dafür. Wer weiß, ob Dir das Fräulein nur je noch einmal begegnet. Und wenn ja, dann schiebst Du die ganze Schuld auf den Pereda, kannst ihn so schwarz machen, als Du willst, ’s ist immer noch hellgrau gegen sein natürliches Kolorit.“
„Zu schmeichelhaft,“ entgegnete dieser salutierend. „Uebrigens – haben wir nun lange genug gesessen?“
„Wollen Sie tanzen?“ fragte Frau Resi dagegen.
Er zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Eigentlich hätte er sich einmal selbst überlassen sein mögen, um ungestört auf Entdeckungen ausgehen zu können. Aber man erwartete es offenbar anders! So sprang er denn auf und neigte sich vor Toni, die, vor Vergnügen errötend, ihren Arm in den seinigen legte, und führte sie in den großen Saal hinaus, wo sie bald genug im Tanze das unangenehme Gefühl vergaß, das ihr vorhin die Kehle zusammengeschnürt hatte. Sie ließ sich willenlos halten und führen, fühlte sich von einem festen Arm zärtlich umschlossen, sah emporblickend in [186] zwei Augen voll süßer Gewalt und gab sich ganz dem seligen Wiegen von Musik und Empfindung hin. Sie war eine gute, leichtschwebende Tänzerin, man bewunderte laut das schöne Paar, und Pereda fühlte auch bald den leichten Rausch, der ihn bei solchen Gelegenheiten anzuwandeln pflegte. Er sagte ihr, als der Tanz aufhörte und sie an seinem Arme im Saale umherging, eine Menge von Schmeicheleien, die Toni wie ein einziges großes Liebesgeständnis vorkamen. Dann verschwand er wohl auch wieder für eine Zeit lang, aber die anderen, die zahlreich genug herbeikamen, um einen Tanz mit der reizenden „Phantasie“ zu machen, sie sparten auch nicht mit stark kolorierten Huldigungen, so daß sich Toni bald wie eine kleine Königin vorkam. Es war wie ein stundenlanges Fliegen in lauter Wonne, in einer neuen Existenz, himmelweit entfernt von der gewohnten Kleinbürgerlichkeit; sie fühlte sich plötzlich ganz einfach dazu gehörig zu all den vornehmen, feinen Leuten, die sie alle mit solcher Auszeichnung behandelten, wenn sie wieder und wieder am Arm des Stolzen und Gefeierten in eine Quadrille oder während der Pausen in einen Kreis von Plaudernden eintrat. Er wollte sie zeigen, das fühlte sie ganz sicher, und erstaunte sich selbst, wie schnell sie es fertig brachte, ohne Verlegenheitserröten den Platz an seiner Seite auszufüllen, die Scherzreden der Herren munter zu beantworten, den Blicken der Damen unbefangen stand zu halten, mochten dieselben sich bewundernd oder kritisch aus sie richten.
Nur ein Augenpaar fiel ihr gelegentlich sonderbar auf: wäre sie nicht überzeugt gewesen, die blasse, elegante Trägerin eines grüngoldenen Pfauenkleides nie gesehen zu haben, so hätte sie denken müssen, dieselbe schleiche ihr absichtlich nach, um sie zu beobachten. So oft funkelten plötzlich die schwarzen Augen für einen Augenblick in ihrer Nähe auf und starrten sie mit einem unverhohlenen Ausdruck von Geringschätzung oder Haß an. Pereda, welchen Toni fragte, konnte sich nicht denken, wer die Dame sei. Er geleitete Toni zu ihrer Schwester unter die Säulen hinüber und verschwand dann für eine Zeit lang, bis die letzte Quadrille kam, die sie wieder zusammenführte. Und – da stand ihnen plötzlich dieselbe schöne Pfauendame am Arm eines vornehm aussehenden Maltesers gegenüber. Den Namen verstand Toni bei der Vorstellung nicht, sie sah aber sehr genau, daß jene während der Unterhaltung mit ihrem Kavalier immer wieder über den Fächerrand weg sie selbst und Pereda fixierte. Deshalb machte es ihr eine große Freude, als dieser zum Schlusse das Wiederfinden bei der grande chaîne angesichts der anderen mit einem raschen Kuß auf ihre Hand feierte, und voll glückseligen Uebermuts flog sie mit ihm in dem feurigen Galopp davon. –
Endlich aber war es drei Uhr morgens geworden und ein allgemeines großes Aufbrechen begann.
Toni, welche den letzten Walzer mit einem fremden jungen Bulgaren getanzt hatte, wurde sich plötzlich bewußt, Schwester und Schwager schon eine ziemliche Zeit nicht mehr gesehen zu haben, und trachtete durch das Menschengewühl hindurch an das obere Saalende zu kommen, um vom Podium herunter die Möglichkeit besserer Umschau zu gewinnen. Aber das Gedränge war sehr stark, sie kam nur mühsam vorwärts und spähte umsonst rechts und links nach einem bekannten Gesichte aus. Plötzlich – welch ein Glück! – da ragte ja ganz nahe vor ihr Peredas Federbarett über die Köpfe hinaus. Sie drängte sich durch die Nächststehenden, bekam ihn aber nur von rückwärts zu sehen, denn auch er schien irgend jemand eilig nachzustreben. Einerlei – er mußte ihr helfen! Sie hielt sich dicht auf seinen Fersen und rührte, sobald es ihr möglich war, an seinen Ellbogen. Er wandte sich schnell und sah sie mit einer gewissen Ueberraschung an.
„Ach, Herr Pereda,“ beeilte sie sich zu sagen, „würden Sie mir wohl helfen, meine Schwester zu suchen? Ich habe sie ganz verloren, vermutlich sucht sie mich auch schon, aber es ist ein so furchtbares Gedränge im Saal, ich komme allein nicht da hinüber.“
Einen ganz kurzen Augenblick fand sie seinen Gesichtsausdruck sonderbar, aber schon bot er ihr den Arm und sagte voll hastiger Beflissenheit mit dem gewohnten weichen Ton der Stimme:
„Gewiß, gewiß! Sie dürfen hier nicht allein bleiben. Schnell, dort hinüber – so, nun sind wir aus dem Schlimmsten heraus.“
Er fragte links und rechts bei Bekannten, die aber alle Volkhards nicht gesehen hatten, tröstete die an seinem Arm gar nicht trostlose Toni damit, daß hier niemand verloren gehen könne, und machte ihr bald den Vorschlag, sie in eines der Garderobezimmer zu geleiten, wo sie ruhig warten solle, bis er, schnell überall umhersuchend, Volkhard und seine Frau gefunden habe.
Das schien auch ihr das Beste, sie traten also in eines der großen Vorzimmer, Toni nahm auf der roten Polsterbank Platz, während Pereda sich durch die aus dem Saal herausströmende Menge wieder hineinzwängte.
[201] Es waren viele in dem Garderobezimmer, die es jetzt eilig hatten, hier das bunte Kostüm unter Mänteln und Kopfhüllen zu verbergen, um sich in dichten Gruppen zur Treppenthür hinauszudrängen. Immer neue folgten, lauter Unbekannte, während Toni angelegentlich die offene Saalthüre im Auge behielt und sich ganz im geheimen vorstellte, wie wundervoll es sein müßte, wenn Schwager und Schwester aus irgend einem Grunde nicht aufzufinden wären, und Er sie heimführte, ganz allein in der funkelnden Sternennacht! … Lange Minuten träumte sie diesem Phantasiebild nach, endlich aber kam es ihr doch zum Bewußtsein, daß sie schon mindestens eine Viertelstunde hier saß, und sie begann, unruhig zu werden. Warum kam niemand? … Pereda nicht und die Schwester auch nicht? … Vielleicht hatte ihn diese – ähnlich genug sah es ihr! – kurzer Hand verabschiedet und suchte sie nun im unrechten Garderobezimmer. Von diesem Gedanken bewegt, erhob sich Toni und trachtete, durch die dichten Menschengruppen steuernd, in den Nebenraum zu dringen. Auch hier keine Spur der Gesuchten. Toni wollte zurück, aber durch das Herumgeschobenwerden war sie nicht mehr sicher, zu welcher der drei Thüren sie hereingekommen war, und zögerte unschlüssig, bald hier-, bald dorthin blickend, um vielleicht ein bekanntes Gesicht zu entdecken. Es wurde ihr immer unheimlicher in dieser Einsamkeit unter denn vielen fremden Menschen, sie eilte in den nächsten Raum, setzte sich auf eine rote Bank nieder und war doch nicht sicher, ob es die gleiche sei, auf der Pereda sie verlassen hatte. Ganz unglücklich fühlte sie sich jetzt, sie wünschte, ach wie sehnlich! ihren Retter herbei oder wenigstens die Resi, den Schwager, Hachinger sogar – nur irgend jemand, der sie kannte, mit dem sie reden konnte!
Und siehe da! Kaum gedacht, sollte dieser Wunsch sich erfüllen. Durch die Saalthüre trat jetzt eine längliche braune Gestalt mit weißem Kopftuch, zog aus den Rockfalten ein Portemonnaie, entnahm demselben den Garderobezettel und näherte sich mit ihm dem Tische. Toni vermochte nicht zu erkennen, ob Fräulein Panke sie nicht sah oder nicht sehen wollte, sie kämpfte mit sich, bis dieselbe ihr Kleid hochgeschlagen und mit verschiedenen Nadeln festgesteckt, den großen grauen Mantel sowie die Ueberschuhe angezogen hatte und sich zum Gehen anschickte. Dann aber, in der Angst, hier allein zurückzubleiben, trat sie schüchtern auf sie zu.
„Fräulein Panke!“ …
Diese hob scharf die Nase in die Höhe und betrachtete Toni mit einem niederschmetternden Blick.
„Sie wünschen, mein Fräulein?“
„Ach,“ stammelte das Mädchen in tödlicher Verlegenheit, „ach, bitte, seien Sie mir doch nicht böse! Es ging vorhin alles so rasch … ich konnte nicht … ich wollte gerade aufstehen …“
[202] „Strengen Sie sich nicht mit Unwahrheiten an,“ schnitt ihr die Schriftstellerin das Wort ab, „das verfängt bei mir nicht. Ich habe meine guten Augen und sah wohl, daß Sie mich nicht kennen wollten. Nun, Freunde sind wir ja nicht, Sie haben gegen mich so wenig Verpflichtungen wie ich gegen Sie, also brauchen wir die Sache nicht weiter zu erörtern. Ich empfehle mich Ihnen, mein Fräulein!“ Und sie machte eine Bewegung, um den sturmbewährten grauen Mantel, welchen Toni wie ein bittendes Kind am Zipfel gefaßt hielt, feindselig um ihre hageren Glieder zusammenzuziehen. Aber die Kleine ließ nicht los.
„Ach, gehen Sie nicht so weg!“ flehte sie von neuem. „Ich bitte Sie herzlich um Verzeihung, wenn mein Benehmen Sie gekränkt hat. Es thut mir gar zu leid und ich möchte es gerne gutmachen, wenn ich könnte!“
Fräulein Panke sah noch immer abweisend genug drein, aber wenigstens blieb sie stehen. Prinzipiell war sie gegen Weichherzigkeit jeder Art und empfand stets eine große Genugthuung, wenn es ihr gelungen war, ihr Recht irgendwo durchzufechten und unverschämter Anmaßung einen Wink mit dem Zaunspfahl zu erteilen. Aber einer dringenden Bitte widerstand sie erfahrungsgemäß schlecht, so ärgerlich ihr dies in jedem neuen Falle war. Zu dumm, als reiner Verstandesmensch solchen Anwandlungen ausgesetzt zu sein! Aber es half nichts – auch diesmal fühlte sie, widerwillig zwar, aber ganz deutlich, den umgenommenen Eispanzer unter Tonis bittenden Blicken schmelzen, und außerdem – wie bildhübsch stand sie da, die kleine Ungezogene in ihrer weißen Schlankheit mit dem reuevoll zur Seite gesenkten lockigen Köpfchen!
Fräulein Panke räusperte sich also einmal und sprach dann mit ernstem Blick, aber bedeutend milderem Ton:
„Na, es ist wahr, ich habe mich über Sie geärgert, und das tüchtig, denn Sie haben uns in einer wahrhaft schnöden Weise verleugnet. Ich sage das nicht allein um meinetwillen. Sie haben ein gutes, treues Herz bitter gekränkt, Fräulein Toni. Und das war ein großes Unrecht.“
Das Köpfchen sank um einen Zoll tiefer. „Ach – ich weiß! Aber in diese Gesellschaft hätte er nicht gepaßt – sagen Sie selbst …“
„So! Warum denn nicht? Ein stiller und bescheidener Mensch kann an jedem Tisch sitzen. Sie sind ja schon recht hochmütig geworden in den paar Tagen Künstlerleben. Aber sehen Sie sich vor, mein Kind! Hochmut kommt vor dem Fall, und wenn die Herrlichkeit hier ein Ende hat, so sind Sie wieder, was Sie vorher waren, und bereuen es vielleicht bald, um der Courmachereien dieser Herren Maler willen sich einen Mann verscherzt zu haben, der Sie herzlich liebte und besser zu Ihnen gepaßt hätte als Sie selbst vielleicht zu Ihrer heutigen Gesellschaft!“
Diesen letzten Schuß um der guten Sache willen abzufeuern, hatte sich die gestrenge Mahnerin nicht versagen können; er entbehrte aber sichtlich der gehofften Wirkung. Um die Mundwinkel der Kleinen zuckte es verräterisch, sie bezwang sich aber und gab die Erwiderung nicht, die ihr auf den Lippen brannte. Nur einen Seitensprung machte sie, um das gefährliche Thema etwas ins allgemeinere zu ziehen, und fragte möglichst harmlos:
„Woher kennen denn Sie eigentlich den Lorenz?“
„Wir wohnen in demselben Gasthof und sind miteinander hergekommen. Nein – Sie brauchen sich nicht so erschrocken umzusehen, er ist schon lange nicht mehr hier, er hatte genug und ging gleich nach dem Abendessen … Mich hielt die Pflicht,“ fügte sie gemessenen Tones hinzu, „ich würde sonst auch schon früher gegangen sein. Aber –“ Fräulein Panke erhob kritisch Augen und Nase – „warum stehen Sie denn so verlassen hier in der Garderobe ohne Schutz und Begleitung?“
„Ach,“ erwiderte Toni, „ich weiß ja selbst nicht, wie das zugeht. Herr Pereda ist schon lange da hinein, um meine Schwester zu suchen und den Schwager auch, es kommt aber niemand von ihnen und ich fürchte mich so unter all’ den fremden Leuten.“
„So! hm … sehr rücksichtsvoll kann man das nicht nennen. Aber jedenfalls: Sie allein hier stehen lassen, das kann ich doch entschieden nicht!“
„Ach, Sie sind so gut …“ schmeichelte Toni.
„Ich bin gar nicht gut,“ schnitt ihr die andere streng das Wort ab. „Das ist pure Verstandessache. Hier allein bleiben können Sie nicht. Ich will Sie heimbringen, das wird unter den gegebenen Umständen wohl das Richtigste sein!“
„Tonerl!“ rief’s in demselben Augenblick, und Frau Volkhard kam erhitzt und etwas aufgeregt herbei. „Wo in Gottesnamen steckst Du denn? Der Pereda sagte mir, Du seiest in der ersten Garderobe“ – sie sah sich um – „ja, wo ist er denn? Ich denke, er ist gleich wieder zu Dir zurückgegangen …?“
„Ich habe ihn nicht mehr gesehen,“ erwiderte Toni etwas kleinlaut. „Vielleicht hat er mich in dem andern Zimmer gesucht, während ich hier nach Euch sah.“
„Unsinn! So geht’s allemal, wenn man nicht fest am Platz bleibt. Ich hab’ soviel Zeit gebraucht, um den Hans aus dem Bierstübel loszukriegen. Wen ich nach ihm geschickt habe, der ist nicht wiedergekommen, endlich bin ich selbst gegangen und habe ihm das Gewissen erweckt. Aha, da kommt er ja! So, jetzt nur schnell unsere Sachen und dann in einen Wagen, ich bin zum Umfallen müde.“ Während Volkhard die Mäntel holte, stellte Toni die Schriftstellerin so warm beflissen vor, daß Frau Resi ihr mit freundlichen Augen und Worten für die Beschützung der Schwester dankte. Und der mit Pelzen und Ueberwürfen beladen zurückkehrende Volkhard fügte, als er hörte, wovon die Rede war, hinzu, während die Schwestern in ihre Hüllen schlüpften: „Dann mußt Du halt das Fräulein bitten, Tonerl, daß sie einmal bei Tag nach Dir schaut, statt sich jetzt unser Haus in der Stockfinsternis zu betrachten. Nicht wahr, Gnädige?“
„Oh“ – erwiderte Fräulein Panke mit plötzlich verklärten Gesichtszügen – „ich werde glücklich sein – ich würde nie gewagt haben –“
„Na, also, dann ist ja alles in schönster Ordnung!“ schloß er leichtherzig. „Seid Ihr’s?“ wandte er sich an seine Damen. „Dann macht’s voran und kommt herunter, daß ich Euch in einen Wagen setze!“
„Uns?! …“ rief Frau Resi empört. „Ich denke, Du fährst mit, Hans!“
„Fällt mir ja gar nicht ein!“ erwiderte er mit großer Seelenruhe.
„Es ist ja schon halb vier Uhr!“
„Na, dabei ist doch nichts Auffallendes. Wenn’s einmal drei ist, wird es auch bald halb vier!“
„Aber Hans – was hast Du mir versprochen …?!“
„Ich bitt’ Dich, mach’ nur jetzt keine langen Sprüch’ mehr!“ erwiderte er, ihren Arm nehmend und mit den beiden Frauen dem Saalausgang zusteuernd. „Hachinger!“ rief er den gerade über den Vorplatz Kommenden an, „sinds so gut und lassens drunten eine Droschke vorfahren, wir kommen gleich nach.“
Frau Resi stellte daraufhin das weitere Reden ein, sie hatte diesen Ausgang schon zu oft erlebt, um sich noch einmal darüber aufzuregen, stieg also an des Gatten Seite die Treppe hinab, als Ziel manches Bewunderungsblickes, den Kopf stolz aus dem silberhellen Vließ ihres Plüschmantels gehoben, und Toni, in Schleier und Tücher verpackt, folgte ihnen, nicht ohne zögernd noch ein paarmal umzuschauen.
Nun hieß es einsteigen. Volkhard schob sehr dienstfertig die Decken zurecht und klappte den Schlag zu. „Fort, Kutscher! – So“, wandte er sich dann an den dabei stehenden Hachinger, „nun hätt’ man einmal seine Ruh’. Gehen Sie mit ins Bierstübel?“
Der andere nickte, und Volkhard fragte weiter, während sie wieder in den hellen Treppenraum eintraten: „Wo steckt denn eigentlich der Pereda? Meine Frau sagte, er sei so plötzlich verduftet. Haben Sie ihn nicht gesehen?“
„Den – Herrn – von – Pereda?“ entgegnete Hachinger, indem er näselnd mit langgezogenem Ton dessen Sprechweise nachzuahmen suchte, „ja, den hab’ ich freilich gesehen, vorhin, wie er seiner schönen Ungarin das Geleit gab.“
„Nicht möglich! Ich denke, die sind gesprengt! Sie hat ihn ja mit der ‚Phantasie‘ sitzen lassen, das war doch ein infamer Streich. Wie soll er ihr trotzdem wieder so schnell beigegangen sein?“
„Trotzdem?! … Eben deswegen!“ lachte der andere. „Die kennt ihren Mann und weiß ihn zu behandeln. Teufelmäßig hübsch sah sie aus, das muß man sagen, ich bin ihr im Anfang nachgegangen, um zu erfahren, wer hinter der Maske steckt, und hernach, als ich’s wußte, erst recht. Denn jetzt beobachtete ich die beiden; ich sage Ihnen, das war wirklich interessant. Erst wütende Blicke und Ignorieren, dann Auflauern, wenn sie so recht von Herzen mit andern kokettierte, und schließlich große Scene drinnen in der Muschelgrotte. Es ging heiß her mit Blicken und heftigen Redensarten, ungarisch oder spanisch, was weiß ich? Der Kerl spricht ja alle Sprachen. Die Versöhnung habe ich nicht gesehen, es kamen andere dazu, und sie wurden verscheucht, aber das Finale vor einer halben Stunde in der Garderobe: Mantelumlegen, verklärte Blicke, Arm in Arm die Treppe hinunter und weg! … Die zwei sind einander wert, sage ich Ihnen, die kommen so bald nicht voneinander los!“
[203] „So, so!“ meinte Volkhard. „Ja, da begreife ich schon warum er keine Zeit hatte, sonstige Ritterdienste zu thun. Na – trinken wir jetzt noch eins, Hachinger!“
Obwohl Fräulein Toni Burghofer im allgemeinen sich eines
guten zehnstündigen Schlafes erfreute und im besondern Ursache
gehabt hätte, ihn am Morgen nach dem Ball bis Mittag fortzusetzen,
fuhr sie doch, als kaum das erste Tagesgrau zwischen den
Vorhängen hereinfiel, auf, als ob sie jemand gerufen hätte, und
öffnete ihre Augen mit dem Gefühl wie die Kinder am Weihnachtsmorgen. Und da stand es denn auch gleich wieder klar und hell,
was ihr letzter Gedanke beim Einschlafen gewesen war: das neue
schwindelnde Glück und die Erwartung, was nun heute noch folgen
werde. Am liebsten wäre sie mit gleichen Füßen aus dem Bett
gesprungen, um sich anzuziehen, nur die Erwägung, daß an diesem
Ausschlafemorgen auch die Küchengeister einer ziemlich verlängerten
Ruhe pflegen würden, hielt sie zurück. So kreuzte sie denn die
Arme unter dem Kopf und gab sich, warm und behaglich in ihrem
Nestchen liegend, den lieblichsten Zukunftsträumen und Erinnerungen
an gestern hin. Alles lebte sie noch einmal durch: die heimlichen
berauschenden Blicke und beziehungsreichen Worte, den Augenblick,
wo Pereda sie einem andern, der gerade mit ihr tanzen wollte, sozusagen aus den Armen wegnahm und, sie stürmisch an sich drückend,
im Triumph mit ihr dahinflog – und dann dachte sie wieder an
jenen Kuß in der Grotte, durch welchen er sie für immer zu der
Seinigen gemacht hatte, und fühlte neu den süßen Schauer durch
ihre Nerven rieseln.
So vergingen ein paar Stunden zwischen wachen und wirklichem Träumen, endlich schlug es halb zehn Uhr, und aus dem Treppenhaus drang ein kräftiges, frühstückverheißendes Rumoren. Flink schlüpfte Toni aus dem Bett, plätscherte wohlig im frischen Wasser herum, zwängte die braunen Kraushaare unter ein Häubchen und stieg endlich, mit einem netten Morgenkleid angethan, die Treppe hinunter. Im Eßzimmer fand sie noch niemand vor als den Sonnenschein, der zwischen den schneebelasteten Zweigen draußen vom blauen Himmel hereinfiel und den behaglich warmen Raum mit seinem Licht erfüllte. Die dunkeln Eichenschränke, die alten Bilder und Gobelins, alles sah heute so besonders hübsch aus und Toni betrachtete, an dem gedeckten großen Tisch sitzend, diese ganze prunklose Apartheit, als sähe sie sie zum erstenmal. Sie rückte eine Schale mit italienischen Anemonen, welche zwischen dem Frühstücksservice stand, ins volle Sonnenlicht und dachte, während sie die hübsche Wirkung der bunten Farben zwischen dem blauen Porzellan und den Silbergeräten beobachtete: So muß es auch einmal bei uns aussehen! Mit dem angenehmsten Behagen machte sie sich dann daran, den von dem Mädchen gebrachten Theekessel anzuzünden und eine kleine Kanne für sich zu füllen, da von den Andern doch noch nichts zu merken war.
Auf dem Tisch lag die Morgenzeitung. Toni entfaltete sie und sah auf die dritte Seite. Richtig! – da stand bereits das ganze Künstlerfest schwarz auf weiß. Neugierig vertiefte sie sich in die langen Spalten und genoß, nachdem der erste Schrecken über ihre hier mit Vor- und Zunamen in die Oeffentlichkeit geratene Person überwunden war, mit großer Befriedigung die schönen Worte, welche der Herr Zeitungsschreiber zu deren Preis gefunden hatte. Wieder und wieder las sie den Absatz – das, was von andern handelte, bekümmerte sie nicht besonders – und als sie ihn ziemlich auswendig wußte, legte sie das Blatt nieder, um sich nun das Frühstück schmecken zu lassen. Dabei fielen ihre Augen auf einen Brief, welchen vorhin die Zeitung verdeckt hatte, und sie erschrak. Von Lorenz! …
Es gab ihr einen gewissen Stoß, als sie die Handschrift erkannte. Was hatte er ihr jetzt noch zu schreiben, nachdem ja, was? … sein Brief war ja noch unbeantwortet! … O Himmel, wie hatte sie nur das so ganz vergessen können! … Und jetzt, nach gestern abend vollends, jetzt wird er schön wild sein! … Sie hielt das blaue Couvert unschlüssig ein paar Augenblicke in der Hand, endlich schnitt sie es mit dem Frühstücksmesserchen auf und las:
„Geehrtes Fräulein!
Sie sind mir noch die Antwort schuldig auf meinen Brief, den ich Ihnen in gutem Glauben vor acht Tagen geschrieben habe. Aber es brauchts jetzt nicht mehr, daß Sie antworten, was ich heute nacht habe sehen und erleben müssen und erst gar nicht glauben konnte, das zeigt mir, daß Sie jemand ganz anderes sind als die Burghofer Toni, an welche ich den Brief geschrieben habe. Ich ersuche Sie also, denselben als ungeschehen zu betrachten.
In aller Achtung
Lorenz Käsmayer.“
Doni saß regungslos mit dem Blatt in der Hand. Eine heiße Röte stieg ihr in die Stirne empor und dabei war es ihr ganz so zu Mute wie früher, wenn sie in der Schule einmal etwas recht Arges angestellt hatte. Nach einigen Augenblicken versuchte sie zwar mit einem verächtlichen Pah! über den hingeworfenen blauen Bogen zu anderem überzugehen, goß sich Rahm ein, strich Brötchen und begann zu frühstücken, las auch jetzt den ganzen Festbericht von Anfang bis zu Ende aufmerksam durch, aber das bewußte Gefühl wich nicht und Toni war recht froh, als jetzt die beiden Mädchen mit dem Kleinen hereinstürmten und die Eltern ihnen nachkamen. Frau Resi hatte den Gatten mit Gewalt aus dem Bette geholt, weil ein fürstlicher Besuch heute zu erwarten war. Der betreffende Standesherr, ein großer Freund der Kunst und warmer Bewunderer von Volkhards Bildern, hatte dessen persönliche Bekanntschaft gestern gemacht und sich im Bierstübel mit ihm festgekneipt, dann war er zu Frau Resi gegangen, um ihr sein Entzücken über Volkhards urwüchsige Derbheit auszusprechen. „Ich muß Ihr berühmtes Haus auch sehen,“ hatte er hinzugefügt, „und das Atelier – alles! Kann ich morgen kommen – sagen wir um zehn Uhr?“
„Ja, Durchlaucht,“ hatte die schöne Frau sehr gemütsruhig geantwortet, „kommen können Sie schon, aber Sie finden ihn halt dann noch im Bett.“
Der Fürst hatte sehr gelacht und dann seinen Besuch auf elf Uhr verschoben. Aber noch später dürfte es nicht werden; er müßte um ein Uhr schon abreisen!
Dieser in Aussicht stehende Besuch nun nahm die Gedanken des Ehepaars ziemlich ausschließlich in Anspruch, so daß nicht viel für die Erinnerung von gestern übrig blieb. Der Fürst war sehr reich und ein guter Käufer, sein Besuch hatte also größere Wichtigkeit als der mancher andern hochgestellten Schaulustigen. Es wurde hastig gefrühstückt, dann verschwand Frau Resi, um eine ihrer raffinierten Besonderheitstoiletten zu machen, und Volkhard nahm nach ein paar kurzen Bemerkungen gegen Toni die Zeitung vor. Hachinger kam und sah seine Hoffnung auf einen gemütlichen Ballschwatz getäuscht, denn Toni entschwand gerade durch die andere Thüre, der nachkommende Scholz wartete gleichfalls umsonst auf das Wiedererscheinen der Damen und beide zogen nach einer Viertelstunde miteinander ab.
Wieder klingelte es und wieder. Droben am Treppengeländer stand Eine und beugte sich jedesmal vor, um hinabzusehen. Aber der Erwartete kam nicht.
„Er wird auch ausschlafen,“ dachte sie, „und wird denken, wir thun es ebenfalls. Heute nachmittag! …“
Der das nächste Mal klingelte, war der Fürst, und sie mußte mit den Kindern in den Salon zur Vorstellung. Daß es ein ganz einfach aussehender junger Mann war und so ohne Umstände sprach und lachte wie andere auch, gewährte Toni eine große Beruhigung, denn nun getraute sie sich, herzhaft zu antworten. Daß sich aber offenbar kein Erinnerungsband zwischen ihrem heutigen Gesicht und der gestrigen „Phantasie“ knüpfte, das fand sie doch, aufrichtig gesprochen, unbegreiflich!
Es war auch nicht schön von Resi und Volkhard, daß sie gar nichts darüber sagten.
Letzterer machte statt dessen den Besucher auf seinen größten Schatz aufmerksam. Es war dies ein stark nachgedunkelter Tizian, der in schwerem Prachtrahmen über dem Kamin hing, eine flüchtige Studie zum Porträt Karls V., „schreckbar garstig“, wie Toni im stillen das bleiche Gesicht im dunkeln Sammetpelz bezeichnete. Die Durchlaucht wagte es, derselben Ansicht Ausdruck zu geben.
„Das muß ich nun ehrlich sagen, daß mir Ihre Bilder viel besser gefallen, lieber Herr Volkhard,“ sagte er lachend.
„Das zeigt nur, daß Sie gar nichts davon verstehen, Durchlaucht!“ erwiderte jener mit der größten Unbefangenheit.
„O, er ist köstlich!“ rief der hohe Herr voll Vergnügen. „Zur Strafe zeigen Sie sie mir jetzt gleich samt und sonders, Ihr ganzes Atelier mit allem, was darin ist.“ Er zog die Uhr. „Noch eine halbe Stunde! Begleiten Sie uns, gnädige Frau?“
Und die Drei stiegen die Treppe zum Atelier hinauf.
[204] Es war vier und fünf und halb sechs Uhr geworden, der weite Abendhimmel hinter den Bäumen begann, sich golden und purpurn zu färben, man unterschied von dem Erkerfenster des Fremdenzimmers im Oberstock nicht mehr deutlich, wer unter den Alleepappeln der Schwabinger Landstraße draußen sich dem Gartenthor näherte. Toni, welche in diesem Erker still hinter den großen Vorhängen saß und hinausspähte, begann allmählich müde zu werden und legte ihren Kopf rückwärts gegen das hohe Gesimse. Sie spürte eine Art von Bangigkeit im Herzen. Warum kam er nicht …?! So viele waren heute schon dagewesen, um nachzufragen, wie den Damen der Ball bekommen sei, es ging ja den ganzen Nachmittag hier im Hause zu wie in einem Taubenschlag, nur einer ließ sich nicht blicken …! Vielleicht hielt ihn etwas ab, er konnte auch unwohl sein … Toni stellte sich alle Möglichkeiten vor und wurde doch mit jeder verrinnenden Viertelstunde unruhiger und niedergeschlagener. So oft das Gitterthor ging, hob sie schnell den Kopf, um ihn sogleich enttäuscht wieder sinken zu lassen. So wartete sie schon eine geraume Weile, sie hatte sich, nachdem die letzten Gäste der starkbesuchten Kaffeestunde gegangen waren und man ihrer nicht mehr bedurfte, hierher zurückgezogen, um nach dem vielen ermüdenden Gerede auszuruhen und ihren Gedanken nachzuhängen. Allmählich aber wurde ihr dies immer unerfreulicher und sie verfiel auf die altbewährte Erfahrung, daß etwas Erwünschtes um so eher eintreffe, wenn man nicht darauf zu warten scheine. Schnell sprang sie auf und sah sich nach irgend einer Beschäftigung um. Sie brauchte nicht weit zu suchen: auf dem Sofa lag noch das ganze Phantasiekostüm von gestern und dicht daneben auf einem Stuhl ein zweiter Kleiderpack, den die Schwester heute früh hatte heraufschaffen lassen, um in der Garderobekammer neben dem Atelier verwahrt zu werden. Ueber den sonstigen Anforderungen des Tages war dies dann in Vergessenheit geraten.
Toni nahm die feinen Gewänder auf, in welchen sie gestern so glücklich gewesen war, sie drückte die Wange liebkosend an den duftigen Stoff, mit geschlossenen Augen ein Weilchen träumend. Dann aber legte sie alles sorgfältig zusammen, wickelte Sandalen und Spangen besonders in ein feines Seidenpapier, bis alles in schönster Ordnung war und nicht das Geringste fehlte. Das bißchen Thätigkeit erfrischte ihre Lebensgeister, sie machte sich also emsig an das weitere, indem sie die anderen Kostüme auf den Arm packte, um sie in die Garderobe zu tragen. Diese befand sich zwischen dem Fremdenzimmer und dem Atelier und bestand in einer abgeschrägten Dachkammer mit großen Wandschränken. Eine Tapetenthüre führte vom Fremdenzimmer hinein, welche Toni jetzt öffnete. Der Raum lag schon in tiefem Dunkel, nur drüben von der Atelierseite her fiel dämmeriges Licht durch eine angelehnte Thüre. Dort befand sich ein neben dem Atelier liegender und nur durch einen Vorhang davon getrennter kleiner Waschraum, der hier seinen Ausgang hatte.
Toni blieb horchend stehen: vom Atelier her schallten lebhafte Stimmen in heiterem Gespräch und Lachen. Einen Augenblick durchzuckte sie’s: wenn er dort drüben wäre! – Aber nein, das war ja Scholz (sie erkannte seine Sprechweise genau) und außer ihm noch Volkhard und Resi. Vermutlich gratulierte er diesem – der fürstliche Besuch heute morgen hatte mit einem großen Ankauf geendigt, und das Ehepaar befand sich deshalb in rosigster Stimmung. An solchen Tagen war Volkhard der zufriedenste Mann von der Welt und seine Resi die famoseste Frau – das wußte Toni bereits aus früherer Erfahrung und fühlte kein Bedürfnis, sich neu davon zu überzeugen. Schon war sie im Begriff, die Kleider in den geöffneten Schrank zu hängen und sich dann wieder zurückzuziehen, als sie deutlich: „Pereda –“ herüberklingen hörte und nochmals: „Pereda.“
Was wurde dort verhandelt? Das mußte sie mit anhören!
Leise legte sie ihre Last auf den Boden nieder, erweiterte behutsam den Thürspalt und betrat unhörbar den Zwischenraum. Der Vorhang nach dem Atelier war niedergelassen, durch seine Ritzen schien die große Helle des elektrischen Lichtes herein, Cigarrendunst und Cognacgeruch erfüllten die warme Luft.
„Er treibt es immer großartig,“ hörte sie den Kritiker sagen, „was mag ihn der Wagen allein gekostet haben. Nun, dafür war er denn auch die Hauptfigur, wenigstens in seiner Einbildung! Denn eitel ist er – maßlos. Man glaubt’s gar nicht, wenn man ihn so in seiner scheinbaren Unbefangenheit sieht.“
„Das macht auch gar nichts,“ sagte Frau Resi trocken. „Daß ein schöner Kerl eitel ist, das ist ganz natürlich. Nur bei den Häßlichen nimmt sich’s komisch aus!“
Toni hätte der Schwester um den Hals fallen mögen für diesen wohlgezielten Hieb. Sie fühlte einen furchtbaren Zorn über den Unverschämten, der so etwas zu sagen wagte. Und es war ihr eine wahre Erleichterung, als sie erkannte, daß er sich im Abschiednehmen befand. Die letzten Worte waren nahe der Thür gewechselt worden, er lachte noch einmal krähend auf über den Spaß und empfahl sich dann, baldiges Wiederkommen verheißend.
„Sag’ einmal, Hans,“ hörte Toni, unmittelbar nachdem die Thüre sich geschlossen hatte, die Stimme der Schwester wieder, „was er da vorhin angebracht hat von „Phantasie und Wirklichkeit“, das war nicht ohne. Ich glaube, der Pereda hat sich gestern ganz ernsthaft in das Tonerl verliebt. Fortwährend war er um sie herum – es ist den andern auch aufgefallen. Meinst Du, daß daraus am Ende ’was werden könnt’? Herrgott, so eine Partie – das wär’ ja ein Riesenglück für das Mädel!“
„Warum nicht gar!“ erwiderte jener sehr gemütsruhig. „Da bildest Du Dir wieder einmal ’was Schönes ein. Der und heiraten! Wenn er sogar die Liebschaft mit der ungarischen Baronin nicht hätte, würde es ihm schwerlich einfallen, aber so erst! … Die läßt ihn nicht aus.“
„Aber er hat dem Tonerl ganz riesig die Cour gemacht, sag’ ich Dir!“
„Um die andere recht wütend zu ärgern, jawohl! Weil sie ihm das angethan hat mit der ‚Phantasie‘. Aber die Versöhnung ist nachgefolgt. Der Hachinger hat sie miteinander aufbrechen sehen zur selben Zeit, wo Ihr ihn in der Garderobe vergeblich erwartetet. – Hoffentlich hat sich das Mädel nichts in den Kopf gesetzt,“ schloß Volkhard mit lebhafterem Ton, „das wäre eine große Dummheit von ihr.“
„Hoffentlich,“ stimmte seine Frau etwas nachdenklich bei. „Aber ich muß schon sagen, wenn es so steht, wäre mir’s lieber, er hätte sich jemand anderen für seine ‚Phantasie‘ gesucht! …“
Toni stand regungslos, totenblaß mit weitgeöffneten Augen in dem dämmerigen Raum. Dann, in plötzlicher Angst, sie möchte hier gefunden werden, setzte sie langsam Fuß für Fuß rückwärts und schlüpfte, während Schwester und Schwager drinnen von anderen Dingen sprachen, geräuschlos hinaus, die Thüre leise ins Schloß drückend. Sie nahm auch noch tastend die Kleider vom Boden auf und schloß die Schrankflügel ganz mechanisch. Aber in ihrem Zimmer wieder angekommen, warf sie alles weit von sich und fiel mit dem Kopf in die Diwankissen, verzweifelt schluchzend und zugleich angstvoll bemüht, daß der Schall davon nicht draußen gehört werde. So lag sie lange, lange, während die Dunkelheit immer dichter hernieder sank und niemand im Hause daran dachte, sich nach dem jungen Geschöpfe umzusehen, das hier in der Finsternis mit dem ersten großen Leid seines Lebens kämpfte.
[232] „Du siehst so blaß aus, Tonerl, es ist mir gestern beim Nachtessen schon aufgefallen,“ sagte des andern Morgens beim Frühstück die Schwester, „wirst uns doch nicht am Ende krank werden?“
„Krank? O nein!“ erwiderte Toni mit raschem Erröten, „ich habe nur so ein dummes Kopfweh schon seit gestern, und ich meine fast – ich glaube, es wäre besser – wenn ich bald wieder nach Hause ginge! …“ Nun war’s heraus, was sie sich diese Nacht vor dem späten Einschlafen fest vorgenommen hatte, jetzt mußte es vollends durchgesetzt werden.
„Du? Wieder nach Hause?“ fragte Frau Resi überrascht. „Ja, warum denn? Bist ja gerade erst gekommen!“
„Nun, ich bin doch schon über acht Tage da,“ erwiderte Toni, „und der Papa hat nicht gemeint, daß ich überhaupt wochenlang bleiben soll. Ich hab’ keine rechte Ruh’ wegen der Mama, sie braucht doch immer viel Hilfe und – und – es ist wirklich besser, wenn ich meine Sachen heute packe und morgen gehe.“
„Nein – so ’was!“ rief jene im höchsten Erstaunen und richtete ihre Augen forschend auf das mit dem Theelöffel beschäftigte und verlegen in die Tasse niederblickende Mädchen. „Hör’ Du! Da steckt noch etwas anderes dahinter, bekenne es nur gleich!“ Sie hielt inne, betrachtete die Schwester nochmals, aber sie zögerte, das Wort auszusprechen, welches ihr auf den Lippen schwebte. Wenn’s wirklich so war, wie sie vermutete, wozu dann drüber reden? Besser, die Kleine verwand es allein …
„Nein, nein,“ versicherte diese mittlerweile mit ungewisser Stimme, „es steckt nichts weiter dahinter als – daß ich halt gern wieder heim ginge. Das Fest ist vorüber – es war ja so wunderschön – aber jetzt sollte ich wieder heim. Es ist mir wie eine Ahnung, daß mich die Mama braucht.“
„So, so!“ – Frau Resi überschlug in Gedanken schnell die Situation und fand, daß es allerdings vielleicht so am besten wäre. Schade! Sie könnte das Tonerl gut noch ein paar Wochen brauchen. [234] Aber, wenn sie sich wirklich „etwas in den Kopf gesetzt“ hatte und jetzt über Peredas Ausbleiben unglücklich war – ja dann ging sie wohl besser heim, statt ihm hier ferner zu begegnen. Eine „Geschichte“ durfte das nicht werden, was würde Volkhard dazu sagen! …
„Na, wie Du meinst,“ sagte sie endlich ganz ruhig. „Gegen Deinen Willen will ich Dich nicht halten. Schreib’ halt dem Papa eine Karte, daß Du morgen kommst!“
Toni flog hinauf, dies zu besorgen, dann, als es geschehen war, zog sie hastig den großen Reisesack und die Schachtel hervor, um einzupacken. „Gottlob, daß ich fort darf,“ murmelte sie dabei, „ich schämte mich zu Tode, wenn ich ihn nochmals sehen müßte. O, so dumm zu sein, sich so anführen zu lassen!“ Heute waren es schon Zornesthränen, die ihr bei solchen Gedanken neu strömten. Sie wischte sie ab, dabei fiel ihr Blick auf den Spiegel, der ihr verweintes Gesicht mit der geröteten Nase und den zerzausten Haaren zurückwarf. „Ja wohl, so muß man aussehen, um von so Einem geheiratet zu werden,“ höhnte sie sich selber aus. „Aber jetzt,“ sie sprang auf ihre beiden Füße und schleuderte das Tuch weg, „jetzt nähme ich ihn gar nicht mehr und wenn er mich zehnmal wollte, der grundschlechte, falsche Mensch! Wenn ich das dem Schwager sagen wollte von dem Kuß … das möchte ihm doch noch schlimm bekommen … aber lieber auf der Stelle tot sein … als davon reden! … Ach, wer mir das vorgestern gesagt hätte, als ich mich hier beim Anziehen so fürchterlich freute! …“ Die Thränen wollten wiederkommen, sie schüttelte den Kopf. „Jetzt heißt’s die Zähn’ zusammenbeißen und nicht dergleichen thun, ich muß fortkommen, ohne daß es jemand merkt!“ Sie kühlte ihre Augen im Waschbecken und trocknete sie ab. „Ob es wohl dem Lorenz neulich auch so zu Mute war wie mir jetzt? … Aber nein, das kann gar nicht sein, ich hab’ ihm ja vorher nicht schöngethan, er hat sich’s allein eingebildet, dabei hab’ ich doch keine Schuld! O … so falsch, so falsch … wie nur ein Mensch so sein kann!“ Sie stand wieder lange in finstern Gedanken, dann raffte sie sich zusammen. „Es hilft alles nichts, ich muß es verwinden! Nicht mehr dran denken, das wär’ das Beste … Und jetzt einpacken ohne weiteres! …“
Sie setzte die große Schachtel auf den Tisch und hob den Deckel. Da lag das jüngst so verachtete und deshalb gleich wieder eingepackte Bauernmieder in seiner ganzen harmlosen Unmöglichkeit vor ihren Augen, Toni nahm es in die Hand, ein bitteres Lachen wandelte sie bei dem Anblick an. „Ja, Du warst halt auch nicht ‚echt‘ genug,“ sagte sie und nickte ihm zu wie einem lebenden Wesen, „aber mit all’ Deiner Unechtheit bist Du mir viel lieber als die echten Kleider hier, wo die falschen Leut’ drin stecken. Na, b’hüt Gott! Morgen um diese Zeit bin ich schon weit fort und fahr’ zu meinem Vaterl heim. Wenn’s nur schon so weit wäre!“
Ueber Nacht hatte sich der Föhnsturm aufgemacht und
schleuderte aus schwarzen Wolkenfetzen Wassergüsse herunter, die sogar
für das regenreiche München ihr Ungemütliches hatten. Ein dicker
grauer Dunst hüllte alles ein – die Stadt, den Bahnhof mit seinem
Gewirr von Schienensträngen und den Zug, welcher gerade qualmend
und pustend die große Halle verließ.
Toni schloß schnell das Fenster, aus welchem sie noch soeben der heldenmütig mit herausgefahrenen Schwester einen Abschiedsgruß zugewinkt, weil allsogleich ein Sturzbach darauf niederprasselte, und nahm, so gut es gehen wollte, ihren Eckplatz ein. Das Coupé war stark besetzt: außer einer Mutter mit vier kleinen Kindern und einer ältlichen Dame eine solche Ueberfülle von Handgepäck, daß Toni Mühe und Not hatte, ihren Reisesack noch unter die vielen Ballen und Koffer des Gepäcknetzes hineinzustopfen. Mit der Schachtel mußte sie ihren Sitz teilen.
Als alles soweit untergebracht war, legte sie müde den Kopf an die Seitenlehne und sah zum Fenster hinaus. Aber was sie da zwischen den grauen Regenstreifen unterscheiden konnte, war von einförmiger Trostlosigkeit. Die langgedehnte Hochebene zwischen München und Rosenheim gehört, vom Postzug aus bewachtet, schon bei schönem Wetter nicht gerade zu den entzückenden Reiseeindrücken, bei schlechtem aber heißt es, sich in Geduld fassen, bis die Stationen Haar, Zorneding, Trudering, und ihre ebenso wohltönenden Nachfolgerinnen alle im beschaulichen Trab überwunden und zurückgelegt sind. Ein spannender Roman thut da ausgezeichnete Dienste.
Toni hatte keinen solchen mitgenommen, als sie heute früh vom Volkhardschen Hause schied, lebhaft beklagt von den Kindern, welche die junge Tante rasch liebgewonnen hatten und nur gegen das Versprechen baldiger Wiederkehr ziehen ließen. Sie war froh, jetzt einmal ein paar Stunden ganz allein für sich zu sein, aber sie sah heute schon viel zuversichtlicher in die Welt und wunderte sich selbst darüber, daß ihr das Herz nicht weher that. Ganz so zerrissen, als sie gestern dachte, war es also doch nicht. Auch beschäftigten sich ihre Gedanken, während sie unbeweglich auf die draußen vorüberfliehenden Schneeflächen mit ihren schwarzen Wassertümpeln hinstarrte, viel mehr mit der nahen Heimkehr als mit dem, was hinter ihr lag. Sie stellte sich das gute warme Eckzimmer und seine alten einfachen Möbel vor, die lieben Gesichter von Vater und Mutter, die hinter dem Kaffeetisch auf sie warteten, Burgis vergnügtes Lachen und das Freudengekläff ihres zurückgelassenen Fido. Zum erstenmal in ihrem Leben fühlte sie mit, Bewußtsein das Glück, eine Heimat zu haben.
„Dort bin ich recht, so wie ich bin,“ dachte sie. „Und so lieb wie die Eltern hat mich doch niemand auf der Welt. Sie sollen’s aber auch jetzt gut haben mit mir.“
Die Freundinnen fielen ihr ein, der Eisplatz in Leopoldskron – freilich, der Lorenz wird jetzt nimmer kommen, sie abholen und die Schlittschuhe tragen. Zu dumm, daß das jetzt so geworden ist! Und an eins hatte sie bisher gar nicht gedacht: mit dem Papa wird es noch einen schweren Stand geben, wenn er erfährt, wie sie den Lorenz hat in München abfallen lassen. In solchen Dingen versteht er keinen Spaß.
Hier wurde ihre Gedankenreihe, die sie trotz des steigenden Kinderlärms fortgesponnen, plötzlich unterbrochen durch einen Plumps von rechts her, wodurch sich ein kleiner rothaariger Junge mit ungeputztem Näschen gewaltsam auf ihren Schoß beförderte.
„Da will ich her,“ erklärte er kurz und bündig und krallte sich sofort ans Fenster an, seine schmutzigen Stiefel ruhig auf Tonis Paletot abwischend. Diese warf einen entrüsteten, hilfebegehrenden Blick nach der Mutter; aber die arme Frau befand sich in solcher Notlage, ihren drei andern auf- und abspringenden und kreischenden Unholden gegenüber, daß sie die vorläufige Unterbringung des vierten als ein unverhofftes Glück anzusehen schien und keine Miene machte, ihn zurückzurufen.
„Sehen Sie, so machen sie mir’s immer, wenn ich mit ihnen unterwegs bin,“ sagte sie klagenden Tons, indem sie ihre wässerigen Augen mit wehmütigem Ausdruck nach Toni hinwandte, „ach, und ich muß so viel reisen! Mein Mann ist Künstler, der seinen Aufenthalt oft wechselt, das ist für die Kleinen nicht gut, sie verwildern mir so sehr!“
Ihre und der Kinder merkwürdige Kleidung, sowie die frühzeitigen Jongleurkünste der Jungen, ließen die Art der Künstlerschaft des vorangereisten Vaters mit Sicherheit vermuten. Toni sah die vermagerte Frau an und brachte es nicht übers Herz, den ungezogenen kleinen Bengel rücksichtslos abzuschütteln, obgleich die alte Dame am andern Ende jetzt auch mit scharfer Stimme ihre Mißbilligung einer für die Mitreisenden so belästigenden Jugend aussprach. Aber im stillen nahm sie sich vor, den zehn Minuten langen Aufenthalt in Rosenheim zu benutzen, um ein anderes Coupé zu suchen und dieser Gesellschaft zu entrinnen. Mit einem festen Ruck bändigte sie den kleinen Plagegeist, als er Miene machte, ihr ins Gesicht zu langen, und die Drohung, ihn auf den Boden zu setzen, bewirkte, daß er sich die fernere Zeit über leidlich ruhig hielt.
Endlich – ein langer Pfiff. Station Rosenheim! …
Toni langte schnell ihren Reisesack herunter, griff nach dem Uebrigen und sprang, sobald das Coupé geöffnet wurde, hinaus, dem nächsten Kondukteur zurufend: „Ist noch ein anderes Damencoupé im Zug?“
„Bedauere, nein.“
„Nichtraucher?“
„Auch stark besetzt. Aber dort steht der Schnellzug, der in fünf Minuten auch nach Salzburg geht; wollen Sie noch ein Zuschlagsbillet nehmen?“
„Ja, ja!“ Sie reichte ihm hastig ein Geldstück. „Lassen Sie mein Gepäck an das Coupé hinbringen, ich hole schnell das Billet.“
Sie eilte dem Bahnhofsgebäude zu, kam zuerst auf die unrechte Seite, fand dann den richtigen Schalter und flog, während [235] das grelle Läuten und der Ruf „Einsteigen, einsteigen!“ ertönte, wieder die Tunneltreppen hinauf nach dem Perron.
Der Schaffner rief und telegraphierte mit beiden Armen, sie rannte, was sie konnte, dem Träger zu, der mit ihrem Gepäck vor der geöffneten Coupéthür wartete. Als er sie gewahrte, warf er rasch ein Stück ums andere hinein und hob sie hinterher. „Fertig!“ rief’s im gleichen Augenblick und die Thür fiel zu.
„Halt!“ rief Toni, als sie im Gepäcknetz ihr gegenüber einen Männerhut bemerkte, schnell wieder zum Fenster hinaus, „ich wollte ja ins Damencoupé!“
„Voll besetzt – Nichtraucher,“ tönte es nur dem bereits rollenden Zug nach. Toni ließ sich erschöpft auf den Sitz fallen, wendete dann die Augen nach dem am anderen Ende sitzenden Mitreisenden und sah – in Lorenz Käsmeyers Gesicht! …
Die Ueberraschung war beiderseits eine so große und peinliche, daß keines die Stille unterbrach. Beide wandten, wie auf Kommando, die Augen zur Seite, um zu überlegen was nun zu thun sei. Endlich griff Lorenz nach dem noch auf dem Sitze liegenden Gepäck und brachte es im Netz unter.
„Ich danke!“ hauchte Toni.
„Bitte sehr, mein Fräulein!“ versetzte er eisig mit steifer Zurückhaltung und nahm wieder an dem andern Ende Platz. Dann schwiegen beide und jedes schaute in seiner Ecke zum Fenster hinaus.
Es war zum Verzweifeln, Toni wünschte sich hunderttausend Stunden weit fort, zu den Schwarzen in Afrika oder an den Nordpol, gleichviel, nur hinweg von diesem Lorenz, dessen sonst so harmlose Gegenwart ihr nun ganz fürchterlich war. Das fehlte jetzt gerade noch zu den Alterationen, die sie seit vorgestern auszustehen gehabt! … Und nun saß man im Schnellzug und konnte vor Prien nicht aussteigen. Rein fürchterlich!
Zehn Minuten vergingen. Draußen flogen in endloser Reihe Telegraphenstangen und Bahnwärterhäuschen vorüber, die lange Rauchwolke qualmte unaufhörlich längs dem Fenster hin und mischte sich mit dem Schneeregen zu einer häßlich grauen Masse. Toni fühlte, daß Lorenz sie von der Seite ansah, und faßte einen Entschluß. So konnte es nicht fortgehen.
„Was für ein schreckliches Wetter!“ sagte sie, als wieder einmal ein starker Regenguß gegen die Scheiben prasselte, halb für sich, halb gegen den andern.
„Ja, zum Reisen ist es schlimm,“ kam es nach einer Pause zögernd zurück.
„Sind Sie heute um elf Uhr von München abgefahren?“ fragte sie, sich jetzt voll nach ihm umwendend in möglichst unbefangenem Tone.
„Nein, ich hatte Geschäfte mit einer Rosenheimer Fabrik,“ erwiderte er, nun auch ganz gefaßt. „Von München bin ich schon vorgestern abgereist. Aber daß Sie auch schon so bald heimkehren?“
„Ich wollte nie länger bleiben als eine Woche,“ sagte sie mit einer überzeugenden Sicherheit.
„So–o!“
Wieder eine Pause. Toni besann sich schnell auf eine neue Rede. Sie schöpfte aus dem bisherigen Verlauf die Hoffnung, allmählich ein unbefangenes Gespräch anzubahnen. Die ganze unangenehme Sache mit Stillschweigen übergehen, das war doch das Allergescheiteste! Sicherlich würde er das auch einsehen und sich danach richten, wie schon so oft, wenn Toni angab und er ihr den Willen that.
„Ist Fräulein Panke noch dort geblieben?“ fragte sie jetzt mit ihrem natürlichsten Ton, indem sie ihr Reisetäschchen vornahm und begann, die einzelnen Kleinigkeiten darin zu ordnen.
„Ich meine schon“ erwiderte Lorenz. „Sie wollte Sie in den nächsten Tagen bei Ihrer Schwester aufsuchen, denn sie glaubte von Ihnen gehört zu haben, daß Sie den ganzen Karneval dort mitmachen wollten.“
Toni biß sich auf die Lippen. „Es ist dem Papa lieber so!“ sagte sie ausweichend. „Und wie hat Ihnen das Fräulein gefallen?“ fragte sie, indem sie ein buntgerändertes Taschentuch hervorzog und dasselbe mit dem Zipfel nach außen in die Tasche ihres Jäckchens steckte. „Ist sie nicht ein bisserl komisch im Umgang?“
Ohne einen Blick nach ihr hinzuwerfen, antwortete er: „Das kann schon sein, aber sie ist daneben eine gescheite Person und hat trotz ihrer scharfen Reden ein sehr gutes Herz. Ich glaube auch, man kann sich ganz verlassen auf das, was sie sagt.“
Ueber den versteckten Vorwurf dieser Worte vergaß Toni die so notwendige Behutsamkeit und erwiderte spitz im Ton ihrer früheren endlosen Dispute:
„Nun, das trifft bei anderen Leuten auch zu. An der Aufrichtigkeit fehlt’s bei uns auch nicht.“
„Es kommt darauf an,“ erwiderte er bedeutsam.
Jetzt aber fühlte sich Toni von einem heftigen Zorn erfaßt.
„Lorenz!“ sie blitzte ihn an, wie sie es von Schulzeiten her gewohnt war, „das verbitt’ ich mir! Wann bin ich je falsch gegen Sie gewesen? Wann hab’ ich je dergleichen gethan, daß Sie glauben sollten – na, Sie wissen schon –“
Er rückte mit einem Schwung von seinem Eckplatz her und ihr gerade gegenüber.
„Nein, das haben Sie nicht, das war meine eigene Dummheit,“ sagte er nun auch voll Erregung. „Aber wenn ich Ihnen nicht gut genug zum Heiraten war, Toni, Freunde sind wir von Kindheit an gewesen, und an mir hätten Sie einen Freund fürs ganze Leben gehabt, auch wenn Sie mir gleich geschrieben hätten, daß es mit dem andern nichts werden kann. Aber daß ich erleben muß, daß Sie mir gar nicht antworten und derweil mit dem liederlichen Maler – Himmel, Herrgott noch einmal! ich hab’s wohl gehört, was der für einen Ruf hat! – da auf dem Wagen herum scharmieren und hernach ihm zulieb Ihren alten guten Freund verleugnen, das, Toni, das vergeß’ ich Ihnen mein Leben lang nicht und deswegen ist’s jetzt auch mit der Freundschaft aus und vorbei. Ich hab’ Sie lieb gehabt seit Jahren, Gott weiß, wie sehr, und hab’ mir deshalb viel zu viel von Ihnen gefallen lassen, aber so ’was hinunterzuschlucken – da müßt’ ich ein armseliger Tropf sein! Meinem schlimmsten Feind möcht’ ich die Tage nicht wünschen, die ich durchgemacht habe; fort und fort habe ich mir’s vorgesagt, wie schlecht Sie mich behandelt haben, und darüber ist mir doch der richtige Stolz gekommen.“ … Er that einen tiefen Atemzug. „Ich hätte es Ihnen nie aus freien Stücken gesagt, aber jetzt, wo es heraus ist, jetzt ist mir’s wohl. Und glauben Sie nur nicht, daß ich jetzt unglücklich bin – das giebt’s nicht bei mir. So oder so! Man kann mit allem fertig werden und vorab, wenn’s einem so leicht gemacht wird wie mir von Ihnen!“
Toni saß starr und schaute den Zürnenden an. In ihrem Leben hätte sie nie geglaubt, daß der schüchterne Mensch so „herauslangen“ könne. Fluchen sogar vor Zorn – der Lorenz! … Und was er jetzt für feindselige Augen machte, es sah ja wahrhaftig aus, als ob es ihm bitterer Ernst sei mit dem, was er sagte!
Noch gestern würde ihr das von dem Abwesenden ziemlich gleichgültig gewesen sein, aber heute, ihm persönlich gegenüber und in sein altvertrautes gutes Gesicht schauend, kam es ihr auf einmal ganz undenkbar vor, daß dieser da im Zorn gegen sie beharren solle, und zwar im gerechten Zorn! …
„Lorenz!“ begann sie kleinlaut, „daß es mit dem Heiraten nichts ist zwischen uns, da haben Sie wohl recht. Sie haben mir ja selbst den Absagebrief geschrieben, also brauche ich Ihnen nicht lang zu sagen, daß ich nicht gewollt hätte. Das ist also fertig und begraben, und wir wollen nie mehr davon reden. Das mit dem ‚nicht gut genug sein‘,“ fuhr sie mit steigender Lebhaftigkeit fort, „das ist übrigens eine Dummheit! Und das andere, daß jetzt alle Freundschaft aus sein soll, erst recht, das giebt’s einfach nicht.“
Sie hielt inne, weil sie glaubte, ihm hiermit genügend entgegengekommen zu sein. Aber Lorenz Käsmeyer schlug ungerührt ein Bein über das andere, warf den Kopf zurück und sagte verbissen:
„Bedaure! Ich habe neulich gesehen, was Sie sich aus meiner Freundschaft machen. Da hilft kein Reden heute, das vergißt sich nicht mehr.“
Er sah, innerlich stolz über diese Probe von Charakterfestigkeit, zum Fenster hinaus, um dem Anblick der kleinen Person auszuweichen, die ihn früher so unzähligemal um den Finger gewickelt hatte. Seit sie hier vor ihm saß und mit ihm redete, konnte er nicht mehr so wütend sein als die Tage her, wenn er nur an sie dachte. Aber sich wieder herumkriegen lassen? Nein, davon war keine Rede! Absolut nicht! …
Er betrachtete angelegentlich die eintönigen Tannenwälder und die dunkelgrünen Wasser des Simsees, an dessen Ufern der Zug hineilte. Es wurde für ein Weilchen still. Toni saß mit [236] gesenktem Kopf unter der Last dessen, was der früher so gutmütige, harmlose Lorenz ihr auf die Seele gelegt hatte. Endlich hob sie den Kopf und sah ihn voll an.
„Lorenz!“ sagte sie entschlossen, „jetzt will ich Ihnen zeigen, daß ich mir aus Ihrer Freundschaft wohl was mache und daß ich ein schweres Opfer dafür bringe. Sehen Sie, ich kann mich, wie ich auch hin und her denke, nicht anders entschuldigen über – über die Geschichte im ‚Odeon‘, als indem ich Ihnen ganz ehrlich erzähle, was dazumal gerade alles geschehen ist, und warum ich keine Lust gehabt habe, aufzustehen, wie Sie mit dem Fräulein gekommen sind … Es war übrigens nur ein Augenblick; bis ich mich besonnen hab’ und wollte hin zu Ihnen, da waren Sie schon verschwunden …“
„Ich werd’ wohl dort stehen bleiben, bis mich die vornehmen Herren wegweisen!“ knurrte er.
„Aber ich will es thun,“ fuhr sie unbeirrt fort, „weil ich einsehe, daß es nicht anders geht. Und ich habe dabei ein ganz sicheres Vertrauen, daß Sie es niemand weiter sagen werden!“
„Darauf können Sie sich verlassen,“ sagte er einfach.
„Nun also!“
[251] Toni begann dem aufhorchenden Lorenz vom Anfang an die Geschichte der letzten Tage zu erzählen und schonte sich nicht. Es war ihr ganz wohl, endlich einmal gegen einen Menschen frei heraus reden zu können, und sie that es mit der ihr eigenen Unumwundenheit; sie erzählte alles, oder doch beinahe alles: Peredas gewissenloses Spiel, ihre eigene thörichte Leichtgläubigkeit und wie sie eben keinen andern Wunsch und Gedanken gehabt habe als ihn, der ihr dafür so schlecht lohnen sollte. Nur eines – das Bekenntnis von dem Kuß in der Grotte – das wollte doch nicht über ihre Lippen. Sie hätte es nicht fertig bringen können, das zu sagen. Und schließlich: alles brauchte der Lorenz auch nicht zu wissen!
Dies war richtig: das Vernommene genügte vollständig, um einen schweren Zorn in seinem ehrlichen Herzen emporsteigen zu lassen.
„Auf dem Fleck erschlagen sollt’ man so einen niederträchtigen Kerl,“ sagte er, als Toni erschöpft und mit ein paar Thränenspuren auf den Wangen endlich schwieg. Er reichte ihr jetzt die Hand hin. „Trösten Sie sich, Tonerl, der ist’s nicht wert, daß Sie um ihn weinen. Und jetzt wollen wir die ganze Geschichte sein lassen und nimmer davon reden.“
„Sind Sie mir jetzt noch bös, wo Sie hören, daß mir viel ärger weh geschehen ist als Ihnen?“ fragte sie mit einem jeden Widerspruch ausschließenden Ueberzeugungston.
„Na,“ antwortete er, „über den Punkt wäre wohl noch zu reden. Aber einerlei, ich sehe jetzt, daß Sie’s doch nicht so schlimm gemeint haben –“
„Also?! …“
„Ja, also!“ Sein altes gutmütiges Lächeln erschien zum erstenmal an diesem Tage. „Es ist schon wieder recht, Tonerl!“
„Sind wir jetzt wieder ganz gut Freund, wie früher? Ohne Nachtragen und hinterher fremd thun?“ Sie streckte ihm die Hand hin.
„Ohne Nachtragen!“ bekräftigte er einschlagend. „Ich mein’, soweit dürften Sie mich kennen, Toni!“
„Ja, Sie sind gut,“ sagte sie aufrichtig. „Und daß ich auch nicht so schlimm bin, als Sie mir’s manchmal zutrauen, das werden Sie künftig schon merken. Und wenn Sie heiraten, Lorenz, dann mach’ ich die erste Kranzeljungfer und werde die beste Freundin von Ihrer Frau!“
„Damit hat’s noch gute Wege,“ sagte er lachend. Aber innerlich dachte er: „Sie ist doch ein ehrliches Mädel, und wie ihr das steht, wenn sie einmal so ernsthaft vom Herzen herunter redet! Rein nicht zum Wiedererkennen!“
Und sie dachte sich. „Der ist ‚echt‘, mit seinem guten treuen Gemüt. Sonderbar, daß man das nicht früher einsieht und so einen für nichts achtet. Er versteht halt nicht, etwas aus sich zu machen. Na, ich werde ihn künftig gewiß nicht mehr schlecht behandeln …“
„Prien,“ ertönte jetzt draußen der Ruf des Schaffners und der Zug hielt vor dem Stationsgebäude.
„Wünschen Sie vielleicht jetzt das Coupé zu wechseln, Fräulein Burghofer?“ fragle Lorenz mit ernsthafter Verneigung.
„Wenn es Ihnen einerlei ist, Herr Käsmeyer, bleibe ich lieber hier,“ versetzte sie ebenso, um gleich darauf lachend fortzufahren. „Das hätt’ ich mir freilich nicht gedacht, wie ich vorhin den Mordsschrecken bekam, daß g’rad wir allein in einem Coupé fahren müssen. Und jetzt bin ich so froh darüber, ich kann’s gar nicht sagen! Und gelt, Lorenz, der Papa erfährt nichts von allem, was in München gewesen ist!“
„Ja – von meinem Brief weiß er aber schon!“ erwiderte Lorenz bedenklich.
Toni dachte einen Augenblick nach. „Nun, ein bisserl muß ich dann schon beichten! Aber Sie besuchen uns wieder wie früher, gelt?“
„Ich werde es nicht mehr lange können.“
„Warum denn nicht?“
„Weil ich in acht Tagen eine große Reise antrete. Ich will mir London und Paris ansehen und dann bei meinem Onkel in Triest einmal das große Geschäft kennenlernen. Es wäre auch in Salzburg allerhand zu machen für einen, der richtige Verbindungen hätte. Vielleicht bleibe ich ein ganzes Jahr aus; der Vater kann mich ja leicht entbehren und ich möchte einmal aus den kleinen Verhältnissen hinauskommen und dann später in Salzburg ganz anders anfangen.“
Fabelhaft, was dieser Lorenz heute für Reden führte! Toni sah ihn ganz erstaunt an ob solcher unerhörten Selbständigkeitsgelüste. Er machte wirklich einen viel männlicheren Eindruck als [252] früher und sah gar nicht übel aus in seinem neuen Münchener Anzug mit der dunkelblauen Krawatte, wenn er auch freilich zum Elegant noch weit hin hatte! Ach – da gab’s schon wieder einen Stich ins Herz! …
„Sie haben’s gut, daß Sie so in die Welt hinaus können,“ sagte sie nachdenklich. „Die Männer sind halt immer besser dran als unsereins.“
Von da ab wandte sich das Gespräch ganz unbefangen andern Dingen zu, sogar dem Münchener Fest, dessen Einzelheiten – mit alleiniger Ausnahme des Phantasiewagens! – nun ohne Bitterkeit besprochen werden konnten. So flogen die nächsten zwei Stunden hin, und ehe man sich’s versah, rollte der Zug über die Salzachbrücke und in den Bahnhof ein.
Von Ferne schon sah Toni den Papa, mit Taschentuch und Regenschirm winkend, auf dem Perron stehen, sie fiel ihm buchstäblich aus der geöffneten Coupéthüre herunter um den Hals und küßte ihn zärtlich auf beide Wangen.
Der kleine Herr warf einen ausdrucksvollen, fragenden und hoffenden Blick über sie hinweg auf den jetzt gleichfalls heraussteigenden Lorenz, der die Gepäckstücke aus dem Coupé herunter beförderte, aber nur ein unmerkliches Achselzucken zur Antwort gab; dann verabschiedete er sich mit ein paar kurzen Worten und ging den Droschken zu.
Die beiden folgten zu Fuß, den Träger hinter sich, aber kaum waren sie auf der Straße, so fragte der Papa, nach der Richtung weisend, die Lorenz genommen hatte:
„Nun? … Was ist’s mit dem?! …“
„Wir haben uns unterwegs ausgesprochen, Papa. Ich erzähle Dir alles nachher. Geheiratet wird nicht, aber gute Freunde bleiben wir doch!“
Beinahe fünf Jahre waren über die Welt hingezogen, seit
Toni Burghofer von dem Münchener Künstlerfest nach Salzburg
zurückkehrte. In unveränderter Schöne ruhte diese heitere Stadt
inmitten ihres Bergkranzes und der Fülle von Grün, das sich
ringsumher von den Wäldern abwärts als blumenreiche Matte zu
Thale zieht. Drüben, wo das Schloß Aigen auf geringer Höhe
über dem weiten Rundbilde thront, wiegen mächtige Buchen ihre
Wipfel im tiefen Blau des Sommerhimmels und legen einen
breiten Schattenrand über die ansteigenden Wiesenhalden. Ueberall
rauscht es unter den Bäumen der Bergfalten von kleinen Wasserstürzen, und am heißesten Nachmittag, wenn drinnen am Residenzplatz die Pflastersteine glühen, ist hier köstliche Waldfrische und
leis bewegte Luft zu finden. Deshalb wird der Aigener Aufenthalt
vorzugsweise von Einheimischen aufgesucht, die hierher nach des
Tages Last und Hitze herausfahren, um den Abend mit ihrer
Familie im Genuß der freien Natur zu verleben. Große und
kleine Landhäuser umgeben den herrlichen Schloßpark, meist wenden
sie ihre Aussichtsterrassen dem Untersberg zu, dessen steile Wände
hinter der thalbeherrschenden Feste Hohen-Salzburg majestätisch
emporsteigen.
Auf solchen von wildem Wein umzogenen Veranden sitzt es sich herrlich im Schatten, wenn an einem wolkenlosen Augustnachmittag die warme Sonnenluft über die Gartenwipfel streicht und die fernen Bergwände silberhell mit blauen Schatten über das gesättigte Grün hereinschauen. Wer dieses selige Ausruhen nur ein paar Wochen lang genießen kann, nimmt eine unverlöschbare Erinnerung daran mit heim; wem es aber so gut wird, ein Landhaus mit solchem Ausblick sein eigen zu nennen, der pflegt genau zu wissen, welche ungeheure Gunst ihm das Geschick hiermit erwiesen hat.
In diesem angenehmen Fall schien sich eine kleine Gesellschaft zu befinden, deren Schattenbalkon jedenfalls zu den schönstgelegenen des Aigener Berghanges gehörte, obwohl das Haus selbst keine prächtige Villa war, sondern sich in bürgerlicher Behaglichkeit mit seinen weißen Wänden und grünen Holzläden inmitten eines großen Blumengartens erhob. Jeder Windhauch trug die warmen Heliotrop- und Resedadüfte in leichten Wellen durch die drei großen Bogenöffnungen der Altane herein, deren dichter Kranz von wilden Weinranken die weite Rundsicht als einzelne Bilder mit seinem Rahmen einfaßte.
Ein zierlich gedeckter Kaffeetisch mit bunter Decke trug die funkelnde „Wiener Maschine“, und ihr entströmte jenes starke Arom, das man auch jenseits der schwarzgelben Grenzpfähle zu schätzen weiß. Mit dieser Empfindung saß denn auch eine Dame, die von dorther stammte, als Gast vor der Mitte des bis hart zur Brüstung vorgerückten Tisches und betrachtete voll Wohlgefallen die flink und gewandt mit den Tassen hantierende junge Hausfrau im hellen Sommerkleid und gestickten Schürzchen. Die letztere hat eine ganz unverkennbare Aehnlichkeit mit unserer Freundin Toni Burghofer: dieselbe muntere Beweglichkeit in Blick und Wort, wie sie ihr vor jenen verhängnisvollen Tagen der Niedergeschlagenheit in München eigen war, derselbe glänzende Blick unter den braunen Kraushaaren hervor. Eine gewisse frauliche Fülle der Gestalt und der frischresolute Gesichtsausdruck deuten darauf hin, daß sich Frau Toni nicht nach der Phantasieseite hin weiter entwickelt hat. Sie überläßt das Träumen und Dichten andern Leuten und bewegt sich indessen vollbefriedigt in ihrer kleinen wirklichen Welt, die, seitdem der dicke Stammhalter seinen Platz daran ergriffen hat und voll Energie behauptet, alle ihre Gedanken und Kräfte vollauf in Anspruch nimmt.
Und der gegenüber sitzende Gatte, aus dessen behaglichem Gesicht eine vollkommene Zufriedenheit mit der Welt und sich selbst hervorschaut, er scheint solche Thätigkeit ihr nicht einmal auf den Knieen zu danken! Der schüchterne Lorenz Käsmeyer hat sich in einen völlig normalen Eheherrn verwandelt, der die an ihn gewandte Sorge und Mühe nur ganz natürlich findet und seine Zufriedenheit mehr schweigend als redend kund giebt. Der Aufenthalt in der Fremde hat ihm etwas größere Weltläufigkeit verliehen: seine Anzüge sind jetzt von einem guten Schneider ganz aus einem Stoff gearbeitet, und er trägt keine buntgestreiften Krawatten mehr. Aber – es giebt Elegantere in Salzburg, darüber kann kein Zweifel bestehen! … Das „gewisse Etwas“, einstens Tonis höchstes Ideal, ist ihm nicht verliehen, sie muß sich trösten mit dem Eindruck von gesunder Tüchtigkeit und ruhiger Thatkraft, den der jetzige Inhaber einer der solidesten Salzburger Handelsfirmen auf jeden Unbefangenen macht. Und, nach ihrem vergnügten Gesicht zu urteilen, wird ihr dies nicht einmal schwer.
Zwischen ihnen sitzt, etwas grauer und spitzer geworden, aber im übrigen in gewohnter Rüstigkeit und Untermehmungslust, die Verfasserin der bemerkenswerten „Streifzüge durchs Salzkammergut“, Fräulein Sophie Panke. Die damals in München mit Lorenz angeknüpfte Bekanntschaft war von der praktischen Reisenden nicht vergessen worden: zwei Jahre nach ihren gemeinsam erlebten Abenteuern stand sie eines schönen Tages in seinem Comptoir in Salzburg, voll Wünschen nach Auskunft und Beistand in den verschiedensten Angelegenheiten. Er hatte ihr alles besorgt und geordnet, sie auch noch des Abends zur Musik in den Mirabellgarten begleitet und sich dadurch ihren lebhaften Dank erworben. Aber es gelang ihr trotz aller freundschaftlichen Teilnahme nicht, nochmals einen Blick in sein früher so offen daliegendes Innere zu thun; er blieb einsilbig, sobald ihre Fragen ein gewisses Thema streiften, und alles, was sie erfuhr, war nur, daß Fräulein Toni schon beinahe ein Jahr von Salzburg weg sei. Es schien, er wollte weder an den Morgen nach dem Ball erinnert werden, wo sich seine ganze Bitterkeit in einem heftigen Ausbruch gegen Toni Luft gemacht hatte, noch an ihre Person überhaupt. Somit schwieg Fräulein Panke. Sie hatte sich ja auch damals, alles in allem, mehr über die „kleine Kröte“ geärgert als gefreut, und ihr flatteriges Persönchen schien ihr für einen so braven, grundehrlichen und – offenbar sehr vermöglichen Menschen wie diesen da noch lange nicht gut genug.
Den Frühling darauf – die Verlobungskarten! Toni Burghofer, Lorenz Käsmeyer schwarz auf weiß und nichts weiter! Der etwas kühl gehaltene Gratulationsbrief wurde nicht beantwortet, und Fräulein Panke kam zwei Sommer lang nicht nach Salzburg, weil sie ihre „Streifzüge“ nach dem Ortlergebiet und Grödnerthal richtete und dort Material für lange Artikelreihen fand. Nun aber, wo es sich für die nach immer höheren Zielen ausschauende Touristin um nichts Geringeres handelte als um eine Glocknerfahrt mit nachfolgendem Feuilleton „Ueber den Wolken!“ – nun hatte sie auf der Durchreise wieder im Comptoir vorgesprochen und man hatte sie hier heraus gewiesen.
Der herzliche Empfang von Tonis Seite übertraf ihre Erwartungen, sie mußte gleich zum Mittagessen bleiben und erfragte während desselben alles, was ihr zu wissen not that, denn Lorenz kannte als eifriges Alpenvereinsmitglied die ganze Tour aus eigener Erfahrung. Ihre Hoffnung auf „Adlersruhe“ schlug er zwar durch die Schilderungen der dahin führenden Schaueranstiege [254] über stundenlange Gletscher gründlich nieder, aber was er von der leichter erreichbaren „Stüdlhütte“ mitteilte, erweckte ihr die bestimmte Aussicht auf so viel Lokalkolorit, um obengedachtes Feuilleton auch ohne persönliche Anwesenheit auf „Adlersruhe“ mit Ehren in die Welt senden zu können.
Infolgedessen war die Stimmung der verdienstvollen Schriftstellerin eine sehr rosige geworden, und als man nun nach vollendetem sehr guten Mittagessen sich hier auf dem Altane zum Kaffee zusammensetzte, da fühlte sie sich geneigt, die Thatsache, daß diese „schlaue kleine Person“ den „guten armen Lorenz“ schließlich doch noch eingethan hatte, in einem milderen Lichte zu betrachten. Offenbar waren die zwei Leute ganz glücklich miteinander, aber diese Beobachtung genügte ihr doch noch nicht, sie mußte jetzt wissen, auf welche Weise diese früher beiderseits gegen sie so hoch verschworene Verbindung zustande gekommen war.
„Und nun erzählen Sie mir,“ begann sie, nachdem Lorenz ihren Stuhl auf den besten Aussichtsplatz gerückt und Toni sie mit Kaffee versorgt hatte, „aber ganz aufrichtig und ausführlich, wie denn das alles mit Ihnen beiden gekommen ist!“
„Was ist da viel zu erzählen?“ antwortete ihr der junge Ehemann mit einem vergnügten Blick auf seine Frau. „Sie wissen doch, daß ich damals von Salzburg weg bin, um einmal die ganze Geschichte aus den Gedanken zu kriegen. Aber das Reisen hat mir nicht geholfen und das Tonerl hab’ ich nicht vergessen können über den Mädels draußen. Hab’ mir aber immer wieder gesagt: nein, du fangst nicht noch einmal davon an, wenn du heimkommst, sie läßt dich doch nur wieder abfallen und lacht dich hinterher aus. Aber bis ich nach einem Jahr heimgekommen bin, da hat sie überhaupt nicht mehr gelacht, da ist zuerst nach schwerem Leiden ihre Mutter gestorben und ein halb Jahr darauf der Vater auch.“
„O! das wußte ich ja gar nicht!“ sagte Fräulein Panke bedauernd, indem sie die Hand nach Toni ausstreckte.
„Ja,“ erwiderte diese, „das war wohl schwere Zeit. Und sehen Sie, Fräulein, damals hab’ ich meinen Lorenz erst kennen gelernt, so lang’ vorher ich ihn auch schon gekannt habe. Na, ich will ihn jetzt nicht lang’ ins Gesicht loben, aber wie ich über die Zeiten, die letzten meine ich vom Vaterl, hätt’ ohne ihn hinauskommen sollen, das weiß ich heute noch nicht.“
„Aber Ihre Schwester und Ihr Schwager waren doch auch da!“
„Zu den Begräbnissen sind sie gekommen, ja. – Wie dann, nach ein paar Wochen, alles auseinandergethan und versteigert war, da mußte ich natürlich zu ihnen nach München, denn eine andere Heimat hab’ ich ja nicht mehr gehabt. Aber gerade dort – wenn auch viel inzwischen anders geworden war – dort hab’ ich immer mehr eingesehen, daß ich in das Leben nicht hineinpasse. Man meint so was manchmal, und da ist es ein Glück, wenn man beizeiten innewird, daß es nichts ist damit. Die wirklich Vornehmen und Eleganten – du liebe Zeit, da kann unsereins nicht hin, und die vielen anderen Künstler wirtschaften mit Not und Sorgen, und nicht dergleichen thun – das hielt’ ich nicht aus, dafür wär’ ich zu spießbürgerlich. Es war mir auch damals gar nicht d’rum, solche Gedanken zu haben. Ein recht trübseliger Winter war’s deshalb; die Resi hat bald die Trauerkleider abgelegt und ist wieder auf die Bälle gegangen, aber ich hätt’ das nicht gekonnt. So war ich meistens abends in der Kinderstube, wenn sie miteinander aus sind, und die Zeit ist mir lang geworden bis zum Frühjahr. Aber dann, wie die Bäum’ einmal ausgeschlagen haben, da hat’s mich nicht mehr in München gelitten, ich hab’ ein solches Heimweh nach die Berg’ gehabt –“
„Und wohl auch nach dem Herrn hier?“
„Kann sein – gewußt hab’ ich’s nicht. Aber wie ich zu seinen Eltern, die mich eingeladen haben, auf Besuch gekommen bin –“
„Da hat sich alles von selber verstanden,“ fügte Lorenz bei. „Punktum!“
„Ja,“ lachte seine kleine Frau, „wir sind unserem Vorsatz treu geblieben. Damals, als wir uns im Zug beim Heimfahren miteinander ausgesprochen und als gute Freunde versöhnt haben, da haben wir ausgemacht, daß wir nie mehr vom Heiraten reden wollten. Und dabei ist’s wortwörtlich geblieben: geredet haben wir so gut wie nichts, gelt, Lorenz?“
Sie sah ihn mit lachenden Augen an.
„Nur geheiratet,“ bekräftigte er lakonisch. „Das hat gerade gereicht.“
„Obwohl er kein ‚Abgrund‘ ist, Frau Toni?“
„Meinen Sie?“ erwiderte diese, „da irren Sie sich aber! Der ist wohl ein Abgrund, den sollten Sie einmal kennenlernen, wenn’s blitzt und donnert, da macht man gern, daß man beiseite kommt. Und was die übrigen Abgrundseigenschaften betrifft – da ist es mir schon lieber, daß er sie nicht hat, die gefallen mir heute lange nicht mehr so gut wie ehemals.“ …
Jetzt erschien nach seinem Mittagsschlaf der kleine dicke Prachtbubi auf dem Arm seiner Kindsmagd und Fräulein Panke mußte notgedrungen bewundern und alle die erstaunlichen Kunden anhören, womit glückliche Eltern auch die abgesagtesten Kinderfeinde so freigebig überschütten. Zu diesen gehörte sie wohl gerade nicht, aber es war ihr doch eine gewisse Erleichterung, als Toni, über die Brüstung blickend, rief: „Da kommen Volkhards“ und, den Kleinen seiner Wärterin zurückgebend, sich beeilte, noch ein paar Tassen zu holen.
Unmittelbar darauf erschien in dem Thürrahmen Volkhards breite Gestalt, neben ihm die immer noch sehr schöne Frau Resi. Sie wohnten mit ihren Kindern in einer benachbarten Villa und kamen oft am späteren Nachmittag zu einem Tarock hier herüber. Volkhards geübtes Auge umfaßte mit einem Blick die heutige Situation und ein bedauerndes Pfeifen durch die Zähne ging seiner Begrüßung voraus, die gerade keinen sehr angelegentlichen Charakter trug.
Aber Toni, die aus den vorhergehenden alpinen Gesprächen ersehen hatte, wie hoch Fräulein Panke das herrliche Auskunftsmittel für eingeschneite Tage in den Bergwirtshäusern, das edle Tarockspiel, zu schätzen wußte, sie stellte mit den Worten: „Das Fräulein spielt mit!“ des Schwagers gute Laune wieder her und holte nach den ersten Begrüßungen gleich die Karten herbei. Dann rückte sie sich einen Schaukelstuhl an die Altanbrüstung und streckte sich behaglich ausruhend darin aus, während drüben am Tisch diese so verschiedenen Lebenskreisen angehörigen Vier sich alsbald mit Eifer und Gründlichkeit in ihr Spiel vertieften.
Das Gespräch durfte nur in den Gebepausen geführt werden. Fräulein Panke benutzte sie, um aus Volkhard dies und jenes von künstlerischen Dingen herauszufragen, das ihr später von großem Nutzen sein konnte. Er ließ es an freimütigen Aeußerungen über Freunde und Gegner auch durchaus nicht fehlen. O, hätte Sophie Panke statt des Eichelober und Schellendaus eine Notiztafel und einen Griffel in Händen halten dürfen! Wie viel von den kostbaren Urteilen ging da verloren, bis sie endlich in stiller Nachtstunde zum Aufschreiben kam!
„Was mag denn,“ fragte sie, nach Beendigung des ersten Spieles, „an der Notiz sein, die kürzlich durch die Blätter lief: der Maler Pereda habe in Paris im Duell wegen einer skandalösen Liebesgeschichte seinen Gegner schwer verwundet und deshalb schnell die Stadt verlassen müssen?“
„Ich weiß nichts Näheres,“ erwiderte Volkhard. „Wird aber schon so sein. Dem sein Unglück sind die Weiber. Schade! ’s ist ein verteufelt geschickter und auch sonst ein braver Kerl.“
„Was halt die Männer so heißen,“ sagte Frau Resi mit einem verächtlichen Achselzucken. „Unsereins möcht’ sich für so einen bedanken.“ Sie warf einen Blick nach der Schwester hinüber, welche mit großer Gemütsruhe Stich um Stich an einem Kinderjäckchen machte.
„Er möchte sich auch für Euereins bedanken!“ lachte Volkhard. „Für den sind die guten, ordentlichen Frauen nicht gewachsen, der braucht eine andere Sorte. Wenn er nur nicht einmal an solchen Geschichten völlig zu Grunde geht! Er muß es jetzt, nach allem, was man hört, viel toller treiben als damals in München!“
„Uebrigens -,“ hier schlug er das Kartenspiel, das er bisher zwischen den Fingern bewegt hatte, auf den Tisch und erhob den mächtigen Körper in voller Länge – „übrigens ist’s doch eigentlich eine Sünd’, hier zu spielen, wenn draußen eine solche Beleuchtung losgeht!“ Er deutete hinaus auf die in tiefem Rosenrot glühenden Schrofen und die ganze friedevolle Landschaft zu ihre Füßen.
„Da schaut hin, wie das wieder einmal prachtvoll ist heute abend! Jetzt, wo wir wegen den dummen Schulen bald heim müssen, jetzt möchte ich am liebsten gar nicht fort. Wißt Ihr was – Ihr zwei? Ihr habt’s am besten von uns alle, das sage ich. Keine Sorgen und so ein Besitz! Ihr seid beneidenswerte Leute.“
Nun ging es ans Aufbrechen. Die beiden Töchter, blonde aufblühende Schönheiten, wie Toni der Schriftftellerin eifrig versicherte, waren umsonst erwartet worden. Nicht etwa, daß sie den Kuchen und Aprikosen der Tante nicht im Vorbeigehen gerne alle Ehre angethan hätten, aber – sie hatten hier viel vornehme Gesellschaft: junge gräfliche Institutsfreundinnen auf einem benachbarten [255] Schloß und einen Kreis sehr junger, aber eleganter Verehrer, da konnte man sich doch nicht an einem Sonntagnachmittag auf den Balkon der Villa Käsmeyer den Blicken der Vorüberfahrenden und -reitenden aussetzen. Das ging einfach nicht. Sie hatten dies der Mama mit aller Entschiedenheit erklärt, und diese, die es längst aufgegeben, ihre frühreifen damenhaften Backfischchen mit mütterlicher Autorität meistern zu wollen, sie konnte gegen eine solche Unmöglichkeit selbstverständlich nicht aufkommen. So ließ sie eben dieses wie manches andere mit einem stillen Seufzer gehen, vor allem stets einzig bestrebt, ihres Mannes oft sehr mißmutige Stimmung über die riesenhaft wachsenden Ausgaben durch den Hinweis auf die gewiß sicher eintreffenden glänzenden Versorgungen der beiden zu verscheuchen. Aber immer gelang ihr dies nicht. –
Als sie beide gegangen waren und später die zurückgebliebenen Drei das vortrefflich zubereitete und mit österreichischer Zierlichkeit angerichtete Abendessen auf der Veranda einnahmen, da sagte Fräulein Panke, über den mondbeschienenen Garten hinsehend: „Meine lieben Freunde, ich habe eine Idee. Sie geht mir schon den ganzen Nachmittag im Kopf herum, ich muß sie aussprechen! Herr Volkhard hat recht, Sie sind beneidenswert. Aber wäre es nicht eine schöne Aufgabe, dieses Ihr Glück auf andere auszudehnen, die es mitgenießen könnten, ohne Sie zu schädigen? … Dieses Haus hat soviel Raum, Frau Toni ist eine so vortreffliche Hausfrau, wie wäre es, wenn Sie hier – eine Pension für Ausgewählte und Empfohlene einrichteten, die Ihnen eine angenehme Gesellschaft sein könnten, während sie selbst den herrlichen Aufenthalt hier genössen? … Ich darf, ohne mir zu schmeicheln, sagen, daß ich etwas zu dem litterarischen Charakter dieser Gesellschaft beitragen könnte. Und richtig geleitet, sind solche Unternehmen wahre Goldgruben!“
Aber weder die eine noch die andere dieser Lockungen verfing bei Lorenz Käsmeyer. Er lachte aus vollem Hals. „Nein, liebes Fräulein, da ist kein Gedanke daran. Als Gast sind Sie hier im Haus stets willkommen, aber Pensionärin können Sie bei uns nicht werden!“
„Schade, sehr schade!“ sagte die Schriftstellerin und neigte trauernd ihr großes Haupt. „So läßt uns das Leben doch immer einen Punkt des Ungenügens, wie erfreulich und genußvoll auch der Tag im übrigen sein möge!
An diesen Satz dachte Toni, nachdem die kühne Alpenfahrerin des andern Morgens glocknerwärts abgezogen war, im stillen zurück und in der Folge noch oft genug, denn auch sie spürte den bewußten Punkt auf dem Grund ihrer Seele, trotz Liebe und Glück, trotz Haus und Bubi: den nie verwundenen Namen Käsmeyer!
Dem ahnungslosen Lorenz verheimlichte sie es streng; aber sie konnte sich nicht helfen, dieser Klang fiel ihr stets neu auf die Nerven. Es war ja nicht viel, aber es war etwas, ein kleiner Wolkenschatten im Sonnenschein ihres Glückes.
Doch auch dieser sollte sich ein Jahr später, nachdem dem Stammhalter ein rundes Schwesterlein gefolgt war, aufs glänzendste aufhellen. Als Pate stand neben Frau Resi zum großen Stolz des Ehepaares ein gelehrtes Alpenvereinsmitglied aus Wien, dessen Hochachtung und Freundschaft sich Lorenz bei gefährlichen Steigereien im Gebiet der Dolomiten erworben hatte. Jener nun, welcher Namenskunde als zweites Steckenpferd neben seinem medizinischen Berufe betrieb, erklärte Frau Toni gelegentlich die gänzliche Verwerflichkeit der Schreibweise „Käsmeyer“. Kein Maier ziehe seinen Namen von den Käsen, welche er, wie alle andern Maier auch, verfertige, sondern von dem Ort, da sein Hof stehe. Dies sei nun ganz unzweifelhaft bei dem Stammvater ihres Gatten der Platz unterhalb eines „Kees“ oder Gletschers gewesen, folglich müßten sich seine Nachkommen von Gott- und Rechtswegen für ewige Zeiten nicht Käsmeyer, sondern „Keesmaier“ schreiben.
Daß Toni diese Heilsbotschaft mit Jubel begrüßte und voll Feuereifer die neue Rechtschreibung in ihren Briefen begann, ist nur selbstverständlich. Schwieriger hält des konservativen Lorenz Bekehrung, doch Toni verzweifelt nicht daran: sie hat schon viel mit ihm hingebracht, sie wird auch dies noch hinbringen! Seine Ausflüchte und Bedenken über notwendige Eingaben wegen Namensänderung sind rein lächerlich: wozu hat man Papier, als um darauf zu schreiben? An wen man schreibt, ist auch ganz einerlei, wenn es eine gute Sache gilt! Und daß diese Sache gut ist – darüber kann er heute schon, nach den zahlreichen, lebhaften und eindringlichen Vorträgen seiner kleinen Frau, nicht mehr im Zweifel sein. Ihre Haupthoffnung setzt diese nebenbei auf den Zustand des alten Firmenschildes in der Getreidegasse. Es zählt seine guten sechzig Jahre und ist ganz schauderhaft verwittert, geradezu eine Schande für das Geschäft. Ein neues wird in Bälde nötig sein, und wie dessen Inschrift dann lauten wird – das dürften die Leser dieser wahrhaftigen Geschichte schon heute ziemlich genau im voraus wissen.