Die Gartenlaube (1895)/Heft 43

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[725]

Nr. 43.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Die Lampe der Psyche.

Roman von Ida Boy-Ed.

     (3. Fortsetzung.)

Wie der Zug der Polonaise nun im großen Saal umging, während in den Thüren zu den Nebenräumen die nichttanzenden Gäste zusahen, begann Lilly das Gespräch mit dem neben ihr schreitenden René.

„Finden Sie nicht, daß es bei Großmama aussieht wie in einem Wartesaal erster Klasse. Ich bin neugierig, ob nachher so viel Stühle da sind, daß wir alle sitzen können,“ sagte sie.

„Die alte Dame, die doch wohl den größten Teil ihrer Einrichtung draußen auf den Gütern ihrer Söhne hat, konnte sich doch unmöglich für die wenigen Wintermonate neu einrichten,“ meinte er.

Lilly fuhr fort, sich über alles zu moquieren, über die sperrigen Kronleuchter mit den langen Lichtern, über die roten Plüschbänke an den Wänden und über das Durcheinander von eigener und gemieteter Dienerschaft.

René erschien dergleichen immer als ein Zeichen von gesellschaftlicher Ueberlegenheit. Er, der aus kleinen, bürgerlichen Verhältnissen Emporgekommene, hätte sich geniert gefühlt, wenn bei einer Gasterei in seinem Hause nicht alles von tadellosem Stil gewesen wäre; die innere Freiheit, selbst mit seinen Gästen darüber zu scherzen, hätte er sicher noch nicht gehabt. Aber er merkte sich den Zug wohl.

Dann stellte Lilly ein förmliches Verhör mit ihm an: wo er wohne, wie er wohne, ob er viel zu thun habe. Und René erzählte nicht ohne Freude an so viel Teilnahme, daß er in der Ringstraße in der Nähe des Opernhauses eine reizende Parterrewohnung habe, daß eine alte Magd seiner verstorbenen Eltern bei ihm Wirtschafterin und Köchin in einer Person sei, und daß er, wenn seine Dirigentenpflicht ihn nicht ins Opernhaus rufe, abends viel daheim bleibe.

Sie besprachen die alltäglichsten Sachen, aber durch die lebhafte Art des Fragens und Hörens wußte Lilly sie wichtig zu machen. Sie hatte auch eine besondere Art, von der Seite ihn anzusehen, die auf ihn wirkte.

René fand, daß sie unglaublich kokett sei, aber es gefiel ihm ungemein, weil sie es mit ihm war.

Sein Gefallen wuchs aber zu einer prickelnden Freude, als er bei den folgenden Tänzen beobachtete, daß Lilly den übrigen Herren gegenüber nicht das gleiche, sprühende Wesen entfaltete.

Er wagte es, sie inmitten einer Polka zu einer Extratour zu holen. „Sie haben mich wahrhaft erlöst,“ flüsterte sie, „Himmel, was giebt es für langweilige Männer bei euch in Leopoldsburg.“

Also er war willkommen und vielleicht sogar erwartet gewesen.

„Der nächste Tanz ist eine Quadrille,“ sagte er, „darf ich mit Sibylle von Lenzow Ihr Vis à vis sein?“

„Ich habe Baron Krausneck. Gut, das machen wir.“

Während der Quadrille geschah nun etwas ganz Natürliches. René, von dem offenkundigen

Der kleine Eifersüchtige.
Nach einer Originalzeichnung von P. Bauer.

[726] Wohlgefallen Lillys an ihm in seiner Eitelkeit aufgestachelt, fing auch seinerseits an, eine besondere Lebhaftigkeit zu entfalten. Er fühlte mit einem großen Vergnügen, daß seine Erscheinung jeden Vergleich mit allen anwesenden Männern aushalten konnte. Die Persönlichkeit auf einem ernsten Gebiet zur Geltung zu bringen, war Renés tägliches Ringen. Nun erschien es ihm als lustige Spielerei, auf diesem kleinen, flachen Turnierfeld sie ebenfalls durchzusetzen und andere zu übertrumpfen, vielleicht war es auch noch besonders deshalb reizvoll, weil er ein Neuling war.

Lilly hatte sich offenbar von weitem ein bißchen in ihn verliebt – wie junge Mädchen es in einen Künstler thun, der mit Recht oder Unrecht als interessant gilt. Sie sollte sehen, daß er immerhin unterhaltender war als zum Beispiel der hochnasige Krausneck an ihrer Seite. Und so wechselten sie schnelle Worte, bedeutungsvolle Blicke hin und her, als bestehe seit langem ein vertrautes Einvernehmen zwischen ihnen. Sie thaten voreinander, als ob sie sich nur über den ungeschickten Krausneck moquierten, der kein hervorragender Quadrilletänzer war, während in der That das Thema ihren Flüsterworten und bedeutungsvollen Blicken nur der Vorwand war, um diese selbst zu wechseln. Da Sibylle Lenzow ihre Augen meist bei der Nebenquadrille hatte, in welcher Wallwitz tanzte, so fühlten sie sich ganz unbeobachtet und Krausneck trauten sie nicht einmal Verstand genug zu, daß er ihr Benehmen bemerke.

René blieb den ganzen Abend in der glänzendsten Laune. Das reizende Mädchen machte ihm viel Spaß. Und seit er bemerkt hatte, daß sie nur mit ihm so kokettierte, nannte er sie auch nicht mehr kokett, sondern natürlich und wahrhaft.

Beim Cotillon saßen sie in einer Ecke beisammen.

„Ein bißchen versteckt,“ bat Lilly, als sie den Platz suchten, „sonst wird man ewig geholt.“

Aber die Herren, welche stark beleidigt waren, daß die junge Dame in ihrer doppelten Eigenschaft als „Haustochter“ und „neue Erscheinung“ sich ihnen so sehr entzogen und Flemming gewidmet hatte, die Herren holten Lilly fast gar nicht.

Wallwitz hatte im Lauf des Abends flüchtig seiner Schwester zugeraunt: „Die Kameraden klagen, daß Du nur Augen für Flemming hast. Ich bitte Dich – wir sind nicht in einer Weltstadt! Hier wird gleich alles ausgedeutet und besprochen.“

Danach aber hatte er sich nicht mehr darum kümmern können, ob Lilly seine Warnung befolge. Denn er war selbst so vollauf mit Sibylle Lenzow beschäftigt und so voll Sorge und Liebe, daß er genug mit seiner eigenen Sache zu thun hatte.

Die Warnung reizte Lilly, eine noch größere Intimität zur Schau zu tragen. Sie erzählte sogar René lachend davon und sagte, daß es zu ihren Specialvergnügungen gehöre, Klatschbasen zu ärgern und zu entsetzen.

„Ueberhaupt,“ erklärte sie, „es ist mein Vorsatz, mich den Leopoldsburger Winter noch gründlich zu amüsieren. Es ist mein einziger Winter – nachher, o …“

Sie seufzte mysteriös.

„Was ist denn nachher?“ fragte er und nahm ihren Fächer.

„Man wird mich verheiraten,“ sagte sie und nickte in plötzlicher Melancholie vor sich hin.

Er faltete den Fächer auf und zu.

„Doch nur, wenn Sie aus Liebe selbst den Wunsch haben.“

„Wir armen Mädels können nicht immer den Mann bekommen, den wir am liebsten nähmen,“ sprach sie leise. Sie sah ihn an. Er fühlte den Blick und schlug langsam die gesenkten Lider auf, um diesem Blick voll zu begegnen. Und in ihren Augen wie in den seinen stand ein heißer Wunsch.

René aber war sich seines Blicks und Ausdrucks vollkommen bewußt. Obschon ihn das Temperament des kecken Mädchens reizte und ihm eine ungemeine Unterhaltung gewährte, erwiderte er ihren Blick nur mit den neugierigen Hintergedanken „wie weit geht sie?“

„Glauben Sie, daß die Liebe langsam erwächst oder wie der Blitz kommt?“ fragte er langsam, ohne die Augen von den ihren zu wenden.

„Ein Blitzschlag – vollständig,“ flüsterte sie.

René wurde hier von Sibylle Lenzow geholt. Das gute kleine Ding sah in ihm ein höheres Wesen, weil Wallwitz einmal so etwas gesagt hatte, als hielte er Flemming für den berufenen Nachfolger Richard Wagners.

Als er an seinen Platz zurückkehrte, war auch Lilly fort. Ihre Wiedervereinigung erschien dann beinahe eine Freude nach ungeduldig und unnütz verbrachten Minuten. Sie setzten sich unwillkürlich näher zusammen.

Da war es René, als genierte ihn etwas. Er sah suchend umher und erblickte unfern in einer Thür Hortense von Eschen am Arm irgend eines alten Würdenträgers. Sie schaute aufmerksam und, wie es ihm schien, ernst zu ihm herüber.

Ein kurzer Trotz wallte in ihm auf. War er denn in einem Zwang? Hatte er denn die Freiheit nicht mehr, sich mit einer Dame harmlos zu amüsieren, die ihm auf allen Wegen entgegen kam? Das war ja nur ein Scherz, der zu Ende ging mit den letzten Klängen der Ballmusik. Das alles hatte ja mit Magda nichts zu thun. Er fühlte sich plötzlich gereizt gegen Hortense und beinahe auch gegen die ferne Magda. Er erinnerte sich mit einem Mal, daß sie ein trauriges Gesicht gemacht, als er davon sprach, daß er auf diesen Ball gehe. Und ganz grundlos ärgerte er sich.

Er wollte sich durchaus seine Unabhängigkeit beweisen und fand dazu kein anderes Mittel, als mit erhöhter Eindringlichkeit zu Lilly zu reden.

Die letzte Tour begann. Dann war es so wie so aus. Wer wußte, ob er Lilly Wallwitz noch oft wiedersah. Jedenfalls so lustig und so traulich niemals mehr.

„Es war sehr schön heute,“ sprach er „Ich erinnere mich eines gleich animierten Balles in meiner Leopoldsburger Praxis nicht.“

„Und früher? Haben Sie viel glänzende Sachen mitgemacht? Wo?“

„Ach, gar keine. Für mich hieß es immer, studieren und mein kleines Erbe einteilen, daß es so ziemlich für die Studienjahre ausreichte. Ich wollte in jungen Jahren schon auf bemerktem Posten stehen. Da mußte ich mich an die Arbeit halten. In die sogenannte Welt bin ich hier erst in Leopoldsburg getreten,“ erzählte er offenherzig, eingedenk ihrer Offenheit über die Mängel des Hauses.

„Das interessiert mich sehr. Sie müssen mir einmal Ihr ganzes Leben erzählen, auch alles – alles – Schreckliche daraus. Ja?“

Er lächelte über ihre Neugier auf das „Schreckliche“.

„Mein Leben ist viel eintöniger gewesen, als Sie denken. Ich will es Ihnen gern erzählen. Aber die Gelegenheit dazu wird sich schwerlich finden.“

„Sie wird sich finden. Geben Sie mir als Unterpfand, daß Sie Ihr Versprechen halten, die Gardenie aus Ihrem Knopfloch!“

„Sie ist aber schon angebräunt.“

„Das schadet nichts. Und ich gebe Ihnen die Rose aus meinem Taillenbouquet.“ Sie breitete sich den Fächer vor und löste mit einiger Mühe eine Rosenknospe aus dem Strauß, der sich von der Mitte des Leibchens bis zur Schulter erstreckte. René sah zu und sah besonders auf die schönen Schultern.

„So habe wir jeder ein Andenken an den Abend, und wenn ich Sie wiedersehe, werde ich immer fragen: haben Sie die Rose noch?“

Er fand dies nun reichlich kindisch, nahm aber die Blume und sagte „Und ich werde Ihnen immer antworten: ich trage sie bei mir.“

Der Cotillon war aus. Wie ein bunter Schwarm bewegten sich die Paare durcheinander und verloren sich dann in den übrigen Räumen; die einen, um sich zu verabschieden, die andern, um still zu verschwinden. Wallwitz suchte noch einen engeren Freundeskreis zu einer kleinen Schlußplauderei zusammen zu halten.

René wie auch Lilly zögerte; in stillem Einverständnis wußten sie es zu machen, daß sie die letzten in dem großen, kahlen Tanzsaal waren. Ihnen war es, als hätten sie sich noch etwas zu sagen, als könnte der Abend so noch nicht zu Ende sein.

Und als sie sich allein befanden, dicht an der Wand, neben einer Thür stehend, die in das Wohnzimmer der alten Gräfin führte, schwiegen sie doch. René sah das Mädchen lächelnd und erwartend an. Sie hob das Gesicht zu ihm empor und lächelte auch – es war ein unsicheres Lächeln und die goldenen Augen schlossen sich halb. Da, als René so die schwellenden Lippen sah und die Perlenreihe der Zähne mit der kleinen Lücke darin, kam ihm das Verlangen, diesen durstigen Mund einmal, nur einmal mit einem Kuß zu schließen.

Das starke Wagnis, die Gefahr, jeden Augenblick überrascht werden zu können, die Neugier, wie sie die Kühnheit, die sie so sehr herausgefordert hatte, aufnehmen werde, reizte ihn und steigerte [727] sein Verlangen bis zur Unwiderstehlichkeit. Ihm wäre es gewesen, als hätte seine Männlichkeit eine Niederlage erlitten, wenn er Lilly nicht küßte.

Er neigte sich, und schnell und heiß fühlte sie seine Lippen sich auf die ihren pressen.

In dem Stimmengeschwirr nebenan rief man nach Lilly.

Ohne René Flemming noch anzusehen, huschte sie davon. Er wußte nicht, ob er ihr folgen sollte, hatte auch auf einmal keine Lust mehr, noch dazubleiben, und ging durch den Saal in den Flur hinaus. Dort traf er Bekannte, schloß sich ihnen an und ging mit ihnen noch in den „Wilden“, wo er eine Stunde beim Glas Bier in höchst gemütlicher und völlig harmloser Stimmung verbrachte. Das Ballfest war sehr amüsant und für ihn ein ganzer kleiner Roman gewesen, der in dem eroberten Kuß seinen triumphierenden Abschluß gefunden. Innerlich war das Erlebnis für ihn ganz beendet, hatte aber den Wert einer sehr schmeichelhaften Erinnerung, welche ihm die gute Laune erhöhte.

Er schlief traumlos und fuhr am andern Morgen sehr ungnädig auf, als seine Wirtschafterin ihn weckte. Was, jetzt schon aufstehen? Ach ja, er hatte es, bevor er zum Ball ging, ausdrücklich befohlen, man solle ihn früh wecken. Um halb Zehn war eine Probe, vor der ihm graute.

Eine neue Oper, die ein Vetter Seiner Hoheit komponiert hatte, wurde einstudiert. René hatte das erst seinem Kollegen Viebig zuwälzen wollen, aber Hoheit hatten, so gütig wie sie stets waren, zu René gesagt „Mein lieber Flemming, ich hoffe, daß Sie selbst Ihr Interesse dem Werk zuwenden und es mit unsern besten Kräften besetzen werden. Insbesondere könnten Sie, wenn Sie auch der Meinung sind, die ‚Zenobia‘ mit der Lorenzen besetzen.“

René war nun zwar nicht der Meinung, aber man pflegt die von den Wünschen einer Hoheit abweichende nicht auszusprechen. Die Intelligenz der Kaspari, mit welcher letzteren er selbst die Rolle besetzt haben würde, hätte ihm die Arbeit erleichtert, welche mit der von Hoheit protegierten Lorenzen eine wahre Schinderei ward.

Er fuhr in seine Kleider, überflog beim Thee die eingegangene Post und stürzte ins Theater.

Hier umwuchsen ihn die Schwierigkeit seiner Aufgabe, daß er zehnmal dachte, er würde den Kopf verlieren, und dabei durfte er nicht einmal loswettern, denn Hoheit kamen selbst, um der ersten Orchesterprobe zuzuhören. Und obendrein ward ihm der „lebhafte Wunsch“ Hoheits überbracht, das neue Werk Sonntag in acht Tagen oder längstens in zwei Wochen zur Aufführung gebracht zu sehen. So ein „lebhafter Wunsch“ war ein Befehl. Der ganze Probezettel, der schon für die Woche festgestanden, wurde umgeworfen und für den Nachmittag und für jeden Morgen und Abend wurden Proben von „Zenobia“ angesetzt.

René prophezeite sich Verrücktheit als Folge davon, sprach sich gegen die Kaspari gründlich über die Borniertheit der Lorenzen, die schauderhaften Unzulänglichkeiten des Werkes aus und wünschte seinen Beruf zehnmal zu allen Teufeln.

Mittags aß er mit dem Tenor und dem Bariton, um ihnen bei Tisch gesprächsweise einige Lichter über ihre Rollen aufzustecken. Dann schlief er eine Stunde wie ein Toter und verbrachte den ganzen langen Nachmittag und Abend mit Klavierproben, in welchen er mit den Solokräften ihre Partien durchnahm. Abends dankte er seinem Schöpfer, als er im „Wilden Mann“ sein Beefsteak essen und mit guten Bekannten in übermütigen Späßen seinem überarbeiteten Hirn Beruhigung und Gegengewicht gönnen konnte.

Er hatte den ganzen Tag nicht an Magda gedacht, nur als er ins Bett ging, fiel ihm ein, daß er ihr eine Zeile schreiben wolle, um ihr zu sagen, wie er diese ganze Woche schwer beschäftigt sei. Er verschob es bis morgen.

Am andern Morgen fand er einen Brief von Wallwitz neben seiner Theetasse. Da erst fiel ihm die schöne Lilly wieder ein und mit einer kleinen Neugier öffnete er den Brief.

„Lieber Flemming! Du warst gleich nach dem Cotillon Dienstag Abend verschwunden, während wir noch riesig gemütlich zusammen blieben. Eine der jungen Damen, ich glaube es war meine Schwester, machte den Vorschlag, wir unverheirateten Kameraden sollten in unserm Kasino zur Nachfeier einen Nachmittagsthee geben; der Gedanke fand enormen Beifall. Meine gütige Gönnerin, unsere Majorin, erklärte gleich, die Honneurs machen zu wollen. Natürlich wählten wir einen Tag, an welchem keine große Oper ist. Also Freitag. Ich lade Dich hiermit im Namen der Kameraden ein. Auf Lillys Wunsch spielt unsere Musik aus Deiner ‚Suite‘ den ‚Reigen‘. Dein Wallwitz.“ 

René fühlte bei dieser letzteren Mitteilung einen kleinen nervösen Schauer. Die schmetternde Militärmusik sollte seinen „Reigen“ verarbeiten, dessen Wirkung von traumhafter Zartheit auf den Geigen, den Holzblasinstrumenten und der Harfe beruhte.

Dann dachte er ungefähr: „Ei, seh’ einer an. Lilly Wallwitz scheint den kleinen Ballroman weiterspinnen zu wollen.“

Er hatte nur gerade im Moment so gar wenig Zeit für solchen Zeitvertreib. Und doch in all der greulichen Arbeit, die so gar nichts Erhebendes hatte und dennoch alle Kräfte anspannte, war das ein amüsanter Zwischenfall.

„Viebig muß Freitag Nachmittag mit der Lorenzen repetieren,“ beschloß er bei sich.

In Gedanken über diese kleine Angelegenheit verloren, vergaß er wieder, an Magda zu schreiben. Abends war der „Freischütz“. Renés Auge überflog jedesmal den ersten Rang, wenn er in den Orchesterraum trat. Von Magda konnte er nichts entdecken. Wohl aber saß Lilly in der äußersten Loge rechts und vorn, so daß er nicht nur grüßen mußte, sondern auch immer das Bewußtsein ihrer Anwesenheit behielt. Sowie er sich nur ein wenig nach rechts wandte, sah er den hellen Fleck, den ihr Kleid im verdunkelten Haus bildete, und sah, daß ihr Opernglas auf ihn gerichtet war.

Freitag morgen empfing er einen Strauß Gardenien, ein Kärtchen hing daran und es stand darauf zu lesen:

„Dem großen Meister.“

René lachte laut und warf das Kärtchen achtlos in den Papierkorb.

Er wußte ganz genau, daß der Spenderin seine „Meister-“, respektive „Künstlerschaft“ ziemlich fremdes Land war und nur die willkommene Etikette freieren Verkehrs.

Indessen stellte er doch den Strauß sogleich ins Wasser und schmückte sein Knopfloch nachmittags mit einer Blume aus demselben.

Dabei fiel ihm etwas Merkwürdiges ein. Im Verkehr mit der ernsten Magda fühlte er alle herrischen Instinkte in sich erwachen und war wie von selbst der Leitende, Belehrende. Von der thörichten kleinen Lilly Wallwitz hatte er sich beinahe lenken und kommandieren lassen. Das kam: hier lieh er sich zu einem Spiel her, dort aber war der Ernst des Lebens!

Und just war ihm so recht ums Spielen. Er hatte den ganzen Morgen wieder Aerger und Plage gehabt.

Im Kasino ging es lustig zu. „Wenn Junggesellen Damen ein Fest geben, ist die Stimmung immer von vornherein eine besondre. Das Außerordentliche des Ereignisses scheint alle Schranken der Steifheit niederzureißen,“ sagte Hortense, die auch anwesend war und gleich auf René traf.

Er widmete sich ihr artig eine ganze Weile und war dabei neugierig, ob sie ihre von ihr prophezeite Herrschsucht bethätigen und etwas über den Wallwitzschen Ballabend sagen werde. Aber Hortense sagte nichts und der Name „Magda“ wurde zwischen ihnen nicht ausgesprochen.

Dann fand er sich mit Lilly zusammen, welche keck fragte: „Wieder eine Gardenie? Gekauft? Geschenkt bekommen?“

„Geschenkt bekommen! Und wenn ich die holde Spenderin nur ahnte, würde ich die kleine Geberhand so küssen“ sagte er und nahm ihre Hand und küßte sie.

Natürlich wollten die jungen Damen tanzen, obgleich sie in Besuchstoiletten waren und die Hüte auf dem Kopfe hatten. Die zum Konzertieren bestellte Kapelle war darauf vorbereitet.

Lilly wollte nach dem „Reigen“ aus der „Suite“ tanzen.

„Mir stehen die Haare zu Berge,“ flehte René lachend, „ich beschwöre Sie, von der Idee abzukommen.“

Aber gespielt sollte der Reigen werden. Alle hörten andächtig zu und klatschten stark Beifall. René jedoch war zu Mut, als liefen ihm Ameisen den Rücken entlang, ein so körperliches Unbehagen machten die brutalen Töne seinen Nerven. Dann überschüttete Lilly, die in schwärmerischer Haltung dagesessen, ihn mit überschwenglichem Lob für das Werk, dessen Geist und äußere Züge er selbst nicht wiedergekannt hatte in der harten Uebertragung.

In ihm war eine Doppelstimmung. Er fühlte ganz wohl, wie geschmacklos, wie gewollt das alles war, und dennoch gab er sich hin und dennoch reizte es ihn.

Er stellte keine Vergleiche an und ihm kam keine Erinnerung

[728]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
In der Barbierstube.
Nach einem Gemälde von D. Col.

[729] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [730] an Magdas feines, wortkarges Verständnis. Er dachte überhaupt gar nicht an Magda.

Man war sehr vergnügt, aber für einen Nachmittagsthee schien denn doch, als es Neun schlug, das Ende gekommen. Das Aufbrechen Hortensens und der vier oder fünf älteren Damen, die außer ihr noch anwesend waren, gebot den jungen Mädchen schleunigen Abschied.

Lilly hatte keinen Dienstboten nachgeschickt bekommen, sie besaß ja in ihrem Bruder die natürliche Begleitung. Sibylle Lenzow ihrerseits war im Wagen von Lilly abgeholt worden und hatte ohne weiteres angenommen, daß sie ebenso wieder heimbefördert werden würde. Die Geschwister Wallwitz hatten aber keinen Wagen bestellt, weil Lilly nach Hause gehen wollte – ein Vorsatz, der von der Hoffnung eingegeben war, auf diese Weise vielleicht das Zusammensein mit Flemming zu verlängern.

Während des Theeabends hatte Sibylle einige Andeutungen über die zu Weihnacht bevorstehende Ankunft einer kinderlosen, reichen Tante gemacht, von deren Dasein in der Lenzowschen Familie Wallwitz bisher keine Ahnung gehabt. Dies war eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit für ihn und Sibylle. Wenn das eine Tante war, der man die Hergabe des zur Heirat nötigen Vermögens zutrauen konnte, so durfte am Ende doch noch zur Aussprache kommen, was bis jetzt noch immer unausgesprochen zwischen ihm und Sibylle schwebte. Er war daher von dem Wunsch bewegt, Sibylle nach Haus bringen zu dürfen, um mit ihr unterwegs über die Tante zu sprechen.

Als die Vier, die sich wie natürlich zusammengefunden hatten, vor dem Kasernenthor standen, gingen zunächst die zwei jungen Damen voran. Diese Einteilung behielten sie bei, so lange Bekannte dicht vor oder hinter ihnen waren.

Die Kaserne lag an den Abhängen eines der die Stadt umgebenden Hügel und man hatte noch fast zwanzig Minuten zu gehen, bis man in die Ringstraße kam.

Als man sich derselben näherte, wandte Lilly sich mit einer Frage an den hinter ihr gehenden René. Er antwortete und kam einen Schritt vor und so verschob sich die Gruppierung und sie gingen paarweise.

An der Ecke des von der Kaserne her in die Ringstraße hineinführenden Weges sagte Lilly: „Höre, Wallfried, ich fände es bei dem Nebelwetter unsinnig, wenn wir erst alle Sibylle heimbringen wollten. Nicht, Schätzchen, Du nimmst es nicht übel, wenn Wallfried Dich allein in Deine Johannesstraße bringt? Herr Flemming begleitet mich heim – ich hoffe wenigstens.“

Eine Sekunde zögerte Wallwitz. Es wäre so viel natürlicher gewesen, mit der Schwester zu gehen und Flemming Sibylles Begleitung zu überlassen. Aber er sagte sich dann: ich vertraue die Schwester dem Freunde.

„Sie bieten mir nicht den Arm an?“ fragte Lilly, als sie allein gingen.

„Es ist in Leopoldsburg nicht Sitte, morgen würde die ganze Stadt davon sprechen,“ antwortete er.

„Ja!“ sagte sie und ließ ihren Schleier herunter. „Wer kennt mich denn schon hier so genau?“

Er gab ihr den Arm und drückte ihn leise. Die Luft war von abendlichem Oktobernebel gesättigt, der wie eine weiße Wand die Ferne vermauerte und die nächsten hundert Schritt weit wie eine Krepphülle um die Gaslaternen lag. Die Quadersteine auf dem Bürgerstieg waren blank vom nassen Niederschlag. Ab und zu rollte auf dem Fahrdamm eine Droschke vorüber; in den Häuserwänden standen die hell erleuchteten Fenster wie gelbe Dominosteine auf dunklem Grund.

Die beiden späten Spaziergänger – denn sie hatte schweigend einen unnötig weiten Weg gewählt, sprachen nur wenig zusammen und die ganze Welt hätte jedes Wort hören können.

Aber dennoch lag es auf ihnen wie Reiz und Spannung von etwas Verbotenem. Ihre Stimmen waren unklar und ihre Gespräche nichtig. Die Antwort des einen auf die Bemerkung des andern hatte meist weder Sinn noch Zusammenhang. Sie wurden sich dessen nicht bewußt.

Ihr Weg führte sie am Opernhaus vorbei. „Hier wohnen Sie?“ fragte Lilly.

René zeigte bald danach das Haus. Seine Fenster waren erleuchtet. Er hatte gesagt, er würde nach acht Uhr heimkommen.

Sie standen einen Augenblick still und sahen die hellen Fenster an. – Und dann gingen sie sehr schnell bis zum Hause von Lillys Großmutter, wo René sich im Vestibül sehr förmlich verabschiedete und Lilly seinen Blick vermied.

Zu Hause blieb René lange so zerstreut, daß er nicht wußte, was er zunächst beginnen wollte.

Endlich setzte er sich an den Schreibtisch. Ihm war eingefallen, daß Magda seit vielen Tagen keine Nachricht von ihm hatte. Er schrieb:

„Liebe Magda! Bis zu dem Tag, wo die unglückliche ‚Zenobia‘ heraus ist, darfst Du gar nicht auf mich rechnen. Die unfreudige Arbeit drückt so auf meine Laune, daß wir doch keine liebe, schöne Stimmung zusammen haben würden. Versäume nicht, an jenem Abend ins Theater zu kommen, damit Du ermißt, wie viel Langeweile und Mühe ich hatte. Dein René.“ 

Nach diesem Brief, den er sofort zur Post tragen ließ, war ihm so leicht und frei ums Herz, als ruhe er von großer Pflichterfüllung aus.

Am andern Morgen zeigte er einen hinreißenden Eifer bei der Probe. Er befeuerte die Künstler, die verzagen wollten.

„In die unklare Aufgabe Klarheit zu bringen, sei unser Ehrgeiz! Seht, Kinder, bei solchen Sachen kann man beweisen, daß wir nicht nur reproduzierende Künstler sind,“ sagte er.

Und wenn seine Hand mit dem Dirigentenstab sich erhob, so war sie wie ein ehernes Merkmal der Sicherheit für alle.

Hoheit kamen und waren so entzückt, daß sie zum Regisseur äußerten: „Unser Flemming ist doch ein einziger Mensch.“ Und in seiner frohen Laune, die schon die Bewunderung des fürstlichen Vetters im Geist vorweg genoß, versprach der Herzog René die Mittel zu einer Musteraufführung von Wagners Nibelungenring, welche, wie er wußte, Renés heißer Wunsch für diesen Winter war.

In allen Pulsen fühlte René Thatkraft, Freude, weiteren Schaffensdurst klopfen. Das Gelingen erfüllte ihn immer wie mit einem prickelnden Rausch. Ihm war es, als würfe sich ihm der Reichtum des Lebens so üppig entgegen, daß er nur mühelos zuzugreifen brauche.

In der Mittagspause fand er ein Briefchen auf seinem Schreibtisch.

„Jemand, der den brennenden Wunsch hat, die Stätte einmal nur sehen zu dürfen, wo der Meister schafft und lebt, wird heute abend um sechs Uhr kommen, einen kurzen Blick in das Heiligtum werfen und wieder still von dannen gehen.“

Es war dieselbe Handschrift wie auf der Karte, die den Gardenienstrauß begleitet hatte. René hatte solches Herzklopfen, daß seine Finger, die das Briefchen hielten, zitterten.

Er dachte Verworrenes: nein, das ist ja undenkbar – welcher Wahnsinn – eine Kühnheit, die unaussprechlich gefährlich ist – ein dummer Backfischstreich ohne Ueberlegung – überspannter Hang zur Romantik – so weit, nein, so weit kann sie nicht gehen – –

Diese Gedanken wirbelten wie lauter zerhackte Sätze durch seinen Kopf.

Er faßte kurz den Entschluß, nicht zu Hause zu sein. Dann den andern: jetzt gleich bei der alten Gräfin einen Besuch zu machen und dabei Lilly zu verstehen zu geben, daß sie im Begriff gewesen sei, durch eine wahrscheinlich ganz unschuldige, romantische Idee sich in große Gefahr zu begeben.

Dann sagte er sich, er wisse ja gar nicht, ob die Briefschreiberin Lilly Wallwitz sei; zu dem Gardenienstrauß hatte sie sich mit klaren Worten ja nicht bekannt.

Es war so bequem, vor sich selbst zu thun, als wisse er’s nicht.

Plötzlich fiel ihm ein, daß er in seiner öffentliche Stellung sehr oft schon Damenbesuch empfangen hatte. Noch neulich war die junge Pastorin Windermann bei ihm gewesen und hatte gefragt, ob er wohl ihren kleinen Knaben unterrichten könne, der das reine musikalische Wunderkind sei. Und erst vorige Woche hatte er Frau von Palzow mit ihrer Tochter empfangen, um die Stimme der schönen, jungen, armen Dame auf ihre Bühnenfähigkeit zu prüfen.

Im Grunde war es etwas so Einfaches, daß nur die unnötig thörichte Form der Anmeldung als auffallend blieb.

Nachdem René seine Gedanken auf diese Weise in Ordnung gebracht und sich bewiesen hatte, daß er nichts Voreiliges thun dürfe, sondern einfach abzuwarten habe, wer sich als diese überspannte Verehrerin entpuppe, ordnete er seine Arbeiten so, daß er von sechs Uhr an ein Stündchen frei hatte.

Schließlich: er war nicht der Hüter junger Damen, die ein [731] Abenteuer suchten. Dieses hier, das sagte er sich mit heiterer Ruhe, hatte er nicht eingefädelt.

Aber seine heitere Ruhe wich doch einer unerträglichen Spannung, als er gegen Sechs heimkam und seine Zimmer durchschritt, sie auf ihre gefällige Ordnung prüfend.

In seinen Ohren brauste es. Er mußte ein Glas Wasser trinken, um seine Nerven zu beruhigen.

Er hatte genau dasselbe Gefühl wie damals, als er zuerst den Dirigentenschemel bestieg und die erste Oper leitete. Ihm fiel die ganze Situation so deutlich wieder ein, daß er plötzlich das rosige, dicke Gesicht des ersten Hautboisten wieder vor sich sah und die Glatze des Mannes, über die von hinten her Haarsträhne nach vorn gekämmt waren, die nun wie Sardellen aussahen. Die Oper aber war „Die Weiße Dame“. Noch hing der Theaterzettel eingerahmt in irgend einer Ecke des Musikzimmers.

„Komm, o holde Dame, sag’ an, wie ist Dein Name.“ Der Tenor damals hatte „einen Knödel im Halse“ gehabt und René hörte ihn im Geist deutlich singen:

„Komm o ho holde – he Da – hame.“

Die elektrische Klingel ließ ihren schrillen Ton erbeben.

René fühlte, wie ihm Knie und Hände zitterten.

Nein, es war nicht möglich, sie konnte es nicht sein, sie würde es nicht sein – –

Er hörte, wie die Wirtschafterin, die auf den Besuch vorbereitet war, die Außenthür öffnete – zum Verzweifeln langsam öffnete. Dann ein Kleiderrauschen auf dem Korridor.

Die Thür öffnete sich.

Die zögernd eintretende Gestalt war verschleiert. Aber René erkannte sie doch.

Er ergriff die beiden Hände und zog die unsicher Schreitende weiter ins Zimmer hinein, dem Licht zu.

„Wie gefährlich,“ murmelte er, „welche holde Thorheit.“

Lilly schlug den Schleier zurück und warf mit der gleichen Bewegung ihren Mantel ab.

„Was wagt Liebe nicht!“ rief sie.

(Fortsetzung folgt.)


Gefährliches Kochgeschirr.

Von M. Hagenau.

Von Zeit zu Zeit liest man in Tagesblättern Nachrichten über Unglücksfälle, die ganze Familien betroffen haben. Alt und jung hatte sich mit gutem Appetit an die Tafel gesetzt und tapfer dem von der sorgsamen Hausfrau bereiteten Mahl zugesprochen. Vortrefflich hatte es gemundet, aber siehe da, am Abend oder im Laufe der Nacht erkrankte eins der Familienmitglieder nach dem andern und der herbeigerufene Arzt erklärte, daß hier eine Vergiftung vorliege, eine Vergiftung durch die im Hause selbst zubereiteten Speisen. In den allermeisten solcher Fälle war jede verbrecherische Absicht ausgeschlossen, das Gift war durch Zufall, Unvorsichtigkeit, Unwissenheit in die Speisen geraten oder hatte sich in denselben gebildet. Das schwere Leid, das über die Familie ergangen war, hätte vermieden werden können, wenn Hausfrau und Köchin in der Gesundheitslehre und der so hochwichtigen Küchenchemie mehr bewandert gewesen wären. Einen solchen Vorwurf wollen allerdings die wenigsten hinnehmen; es wird da ein Sündenbock gesucht und auch leicht gefunden. Man sagt dann, der Kochtopf sei schlecht gewesen, er habe Blei, Kupfer oder ein anderes Gift enthalten und an die Speisen abgegeben. Möglich ist das wohl. Es giebt recht gefährliche Kochtöpfe, welche das Leben und die Gesundheit der Menschen bedrohen können; aber so gar häufig kommen gegenwärtig diese giftigen Kochtöpfe nicht vor, während durch unzweckmäßige Behandlung der Speisen schweres Unheil angerichtet werden kann.

Für das Volkswohl ist es von hoher Bedeutung, daß namentlich in den weitesten Kreisen der Hausfrauen über diese Fragen sich klare Vorstellungen verbreiten; denn nur auf diese Weise können zahlreiche dieser zufälligen und oft verderblichen Vergiftungen vermieden werden. Wir wollen also an dieser Stelle diese Angelegenheit erörtern und zunächst prüfen, wodurch das Kochgeschirr an sich zur Schädigung der Gesundheit Anlaß geben kann.

Gefährlich ist das Kochgeschirr dann, wenn es aus einem Material hergestellt ist, das gesundheitsschädliche Stoffe enthält und diese an die Speisen abgiebt. Es handelt sich dabei stets um metallische Gifte wie Blei, Kupfer, Zinn u. dergl., denn selbst bei der irdenen Topfware wird zur Herstellung der Glasur Blei verwendet. Die in den Gefäßwandungen vorhandenen Metallmassen werden durch Säuren und Salzlösungen, die in den Speisen stets vorhanden sind, angegriffen und gehen in Gestalt verschiedenartiger chemischer Verbindungen in die Speisen über. Nicht alle der zur Herstellung von Kochgeschirr verwendeten Metalle sind in gleichem Maße gesundheitsschädlich. Am gefährlichsten ist das Blei; es ist ein heimtückisches Gift und die Erfahrung hat gelehrt, daß der Mensch bereits krank wird, wenn er längere Zeit hindurch täglich nur ein einziges Milligramm Blei einnimmt. In früheren Zeiten verfertigte man allerlei Geschirr aus stark bleihaltigen Massen, und Vergiftungen durch solche Kessel und Trinkbecher waren häufig. Gegenwärtig ist dieser Mißbrauch durch Gesetze wesentlich eingeschränkt. Leider ist es aber nicht möglich, die Verwendung von Blei zur Herstellung des Kochgeschirrs ganz und gar zu verbieten. Namentlich bei Anfertigung des irdenen Geschirrs muß man sich dieses Metalls bedienen, und zwar aus folgenden Gründen. Das gewöhnliche irdene Geschirr ist porös, es läßt die Flüssigkeiten, die in ihm aufbewahrt werden, durchschwitzen. Darum muß es, wenn man es im Haushalt zu Kochzwecken u. dergl. verwenden will, mit einer für das Wasser undurchlässigen Masse, mit der „Glasur“, versehen werden. Leider hält die ordinäre irdene Topfware beim Brennen keine sehr hohen Hitzegrade aus, wie dies beim Steingut und Porzellan der Fall ist. Darum ist man genötigt, zum Glasieren derselben leicht schmelzbare Glasflüsse zu gebrauchen, und diese werden gerade aus einer Mischung von Lehm und Bleiglanz bereitet. Beim Erhitzen dieses Gemenges entsteht die Glasur oder Aluminbleiglas. Werden solche Bleiglasuren sorgfältig und in richtigem Mischungsverhältnis hergestellt, so sind sie vollkommen unschädlich. Das Blei verbindet sich so fest mit der Kieselerde, daß die Glasur weder durch Essig noch durch andere in unseren Speisen vorkommende Säuren angegriffen wird. Leider wird nicht immer bei der Fabrikation die nötige Vorsicht verwendet und so kommen Töpfe in den Handel, deren Glasur Blei an die Speisen abgiebt. Folge davon sind dann Vergiftungen, die sich durch Schmerzen in der Magengegend, Uebelkeit, Erbrechen, Kolik, hartnäckige Verstopfung und Mattigkeit äußern. Werden aber solche Töpfe längere Zeit hindurch gebraucht, so können Personen, die aus ihnen essen, auch an der chronischen schleichenden Bleivergiftung erkranken.

Die Behörden lassen von Zeit zu Zeit das im Handel vorkommende Geschirr auf die Beschaffenheit der Glasur untersuchen, aber jeden Topf können sie nicht prüfen lassen. Das Publikum muß also in dieser Hinsicht sich selbst zu schützen verstehen und es ist ihm das auch möglich, da eine Untersuchung der Glasur auf deren hygieinische Brauchbarkeit nicht schwierig ist. Schon seit langer Zeit wird zu diesem Zwecke folgendes Verfahren empfohlen: „Man fülle die zu untersuchenden Gefäße mit heißem, möglichst farblosem Essig, der etwa mit ein Drittel Wasser verdünnt ist, lasse das Gefäß an einer warmen Stelle des Herdes etwa eine Stunde lang stehen und gieße dann die Flüssigkeit in ein farbloses durchsichtiges Trinkglas. Nun bringe man in die Flüssigkeit einige Tropfen klarer Schwefelleberlösung, die man in der Apotheke bekommt. Wenn darauf die Flüssigkeit sich nur weißlich trübt, so war in ihr kein Blei gelöst: war wenig Blei gelöst, so färbt sich die Flüssigkeit bräunlich: wenn aber größere Mengen Blei gelöst waren, so färbt sie sich braunschwarz und es scheidet sich ein braunschwarzes Pulver (Schwefelblei) ab.“ Die Gefäße von letzterer Beschaffenheit sind nun besonders gefährlich.

Weit günstiger als die Töpfer sind die Fabrikanten des Eisengeschirrs gestellt. Da das Eisen leicht rostet, wird es vielfach mit einer Emailglasur versehen. Bei der Herstellung dieser Glasuren braucht man nicht zu Bleiverbindungen zu greifen und so sind auch die emaillierten eisernen Kochtöpfe fast durchweg so beschaffen, daß man in ihnen saure und salzige Speisen unbedenklich kochen kann.

Sehr häufig wurde ferner das Kupfergeschirr als gesundheitsschädlich bezeichnet. In der That sind die Kupfersalze giftig; ein Kind starb, nachdem es 1,25 Gramm Grünspan eingenommen hatte; Erwachsene können wohl durch eine Gabe von 10 Gramm getötet werden. Selbst in kleineren Mengen wirken die Kupfersalze schädlich, indem sie Schlund, Magen und Darm reizen und ätzen. Trotzdem sind hervorragende Forscher der Ansicht, daß man die Gefährlichkeit des kupfernen Geschirrs bedeutend übertrieben habe. Die Kupfersalze, die da entstehen, wenn man saure oder salzige Speisen in kupfernen Kesseln kocht, haben einen höchst auffallenden widerwärtigen Geschmack; die Speisen werden durch deren Beimengung geradezu ungenießbar, bevor sich in ihnen Kupfer in gefährlicher Menge gesammelt hat. Und doch sind im Laufe der Jahrzehnte zahlreiche Unglücksfälle bekannt geworden, in welchen Menschen, die aus kupfernen Kesseln oder Töpfen gegessen hatten, schwer erkrankten und selbst starben! In jüngster Zeit hat man die Ursache dieser Vergiftungen auf eine andere Weise gedeutet. Da das Kupfer durch Säuren, die in der Nahrung vorkommen, leicht angegriffen wird, pflegt man vielfach das Kupfergeschirr zu verzinnen, denn das Zinn erweist sich gegen derartige Einflüsse widerstandsfähiger. Mitunter wird zu solchen Zwecken schlechtes, stark bleihaltiges Zinn verwendet. Kocht man in solchen Gefäßen, so geht Blei in die Speisen über. Von dem Genuß derselben können nun Menschen erkranken; es handelt sich aber alsdann nicht um eine Vergiftung mit Kupfer, sondern um eine Bleivergiftung. Ein neues Licht auf die Erkrankungen nach Genuß verschiedener Speisen wurde anderseits durch die bakteriologische Forschung geworfen. Wir wissen heute, daß Nahrungsmittel, die längere Zeit stehen bleiben, sich leicht zersetzen. In ihnen entwickeln sich alsdann Bakterien verschiedener Art und sie können in den Speisen, ohne deren Wohlgeschmack wesentlich zu beeinträchtigen, sehr gefährliche Gifte erzeugen, die schon in den kleinsten Mengen gesundheitsschädlich wirken, ja selbst den Tod verursachen. Als man früher diese Thatsachen nicht kannte, glaubte man, daß derartige Vergiftungen durch die in dem Kochgeschirr vorhandenen Metalle erzeugt wurden. Das Kupfer mußte gewissermaßen den Sündenbock abgeben.

Diese neue Auffassung ist gewiß sehr berechtigt. Trotzdem darf man nicht vergessen, daß Kupfersalze doch giftig sind und ein andauernder [732] Genuß derselben selbst in kleinen Mengen wohl geeignet ist, Schädigungen der Gesundheit hervorzurufen. Darum sollte die Hausfrau, die Kupfergeschirr benutzt, stets darauf achten, daß es mit peinlichster Sorgfalt gereinigt werde. Bleiben nämlich im Kupfergeschirr auch nur kleine Speisereste übrig, so bilden sich an den Gefäßwänden Kupfersalze, die beim Benutzen des Topfes zum Kochen in dem zur Speisebereitung bestimmten Wasser sich auflösen; ferner ist das Kupfergeschirr völlig ungeeignet, um in ihm saure und salzige Gerichte selbst kürzere Zeit aufzubewahren; die Speisen sollen in demselben nicht länger verbleiben, als es gerade zum Kochen nötig ist.

Seit emiger Zeit ist Nickelgeschirr in die Küche eingeführt. Ueber seine Gefährlichkeit sind die Meinungen geteilt. Nickelsalze sind wohl giftig, wie alle Metallsalze, aber verhältnismäßig wenig gefährlich, da sie von dem gesunden Darm in die Blutbahn nicht aufgenommen werden. Vergiftungen von Menschen durch Nickel sind bislang unseres Wissens nicht bekannt geworden. Trotzdem ist die Verwendung von Nickelgeschirr zu Kochzwecken in manchen Staaten verboten. Wo sie erlaubt ist, sollte die Hausfrau, die an dem schönen und dauerhaften Geschirr Gefallen findet, dieselben Vorsichtsmaßregeln wie beim Kupfer anwenden.

Auch das Eisen im Kochgeschirr kann zu Klagen in hygieinischer Beziehung Anlaß geben. Wird in eisernen Töpfen die Emaille rissig, so wird das Eisen bloßgelegt und wie alle anderen bisher erwähnten Metalle von den Speisen aufgelöst. Geht nun viel Eisen in die Nahrung über, so kann es wohl vorkommen, daß dadurch Magen- und Darmbeschwerden verursacht werden. Zu ernsteren Erkrankungen kommt es aber in diesem Falle nicht.

Am wenigsten schädlich dürften für die Gesundheit die Aluminiumsalze sein. Man kann darum gegen Verwendung des Aluminiums zu Kochgeschirr vom hygieinischen Standpunkte nichts einwenden. Es sei noch schließlich bemerkt, daß auch Zinn und Zink zu Vergiftungen Anlaß geben können. Dies geschieht aber nur dann, wenn Nahrungsmittel, die Säuren oder Salzlösungen enthalten, wie z. B. verschiedene Konserven, lange Zeit in verzinnten Gefäßen verbleiben, so daß in der Speiseflüssigkeit größere Mengen Zinn aufgelöst werden. Bei der üblichen Benutzung von Kochtöpfen kommen jedoch solche Gesundheitsschädigungen schwerlich vor.

Wir ersehen aus dieser kurzen Rundschau, daß das Kochgeschirr an sich die menschliche Gesundheit mitunter bedrohen kann, daß aber dank den Fortschritten der Technik und der Aufsicht der Behörden diese Gefahren gegen früher geringer geworden sind. Die Hausfrau und die Köchin können ihrerseits Weiteres zur Abschwächung dieses Uebelstandes beitragen, wenn sie nur in Metallgeschirr und irdenen Topfwaren kochen, sich der größten Reinlichkeit befleißigen und zum Aufbewahren von Speisen Gesäße aus Porzellan oder Glas benutzen.

Sehr wichtig ist aber ferner die im Laufe der Untersuchungen gewonnene Erkenntnis, daß viele Vergiftungen und Erkrankungen, die man früher auf Metallgifte der Töpfe zurückführte, in Wirklichkeit durch verdorbene oder zersetzte Speisen verursacht wurden. Darauf sollte man in weiten Kreisen des Volkes, mehr als dies bis jetzt der Fall war, die Aufmerksamkeit richten. Die Hausfrauen sollten Speisereste nicht zu lange aufbewahren und, wenn sie einmal verdorben sind oder einen „Stich“ bekommen haben, sie nicht mehr verwenden. Man sucht ja solche Reste durch Klärmittel und Aufkochen zu verbessern. Wohl vertreibt man dadurch vielfach den üblen Geruch, aber nicht immer werden dabei die Gifte zerstört, die sich inzwischen in den Speisen gebildet haben. Dann hat der Genuß solcher Gerichte oft üble Folgen, und wenn es glücklicherweise nur selten zum Schlimmsten kommt, so sind doch leichtere Erkrankungen, wie Magen- und Darmkatarrhe, sehr oft Folgen solcher Mißgriffe in der Küche.


Lehren und Lernen im Blindeninstitute.

Von J. Mohr, Direktor der Provinzial-Blindenanstalt in Hannover. Mit Illustrationen von Colanus.

„O, eine edle Himmelsgabe ist
Das Licht des Auges – Alle Wesen leben
Vom Lichte, jedes glückliche Geschöpf –
Die Pflanze selbst kehrt freudig sich zum Lichte.
Und er muß sitzen, fühlend, in der Nacht,
Im ewig Finstern – ihn erquickt nicht mehr
Der Matten warmes Grün, der Blumen Schmelz,
Die roten Firnen kann er nicht mehr schauen –
Sterben ist nichts – doch leben und nicht sehen,
Das ist ein Unglück – Warum seht ihr mich
So jammernd an? Ich hab’ zwei frische Augen
Und kann dem blinden Vater keines geben,
Nicht einen Schimmer von dem Meer des Lichts,
Das glanzvoll, blendend mir ins Auge dringt.“


So klagt Melchthal, als er die Nachricht erhält, daß sein alter Vater von dem tyrannischen Landenberger geblendet worden ist. Und wir, wir fühlen den tiefen Jammer mit; wir sind noch im Besitz der edlen Himmelsgabe; aber wir zittern bei dem Gedanken, daß irgend ein Unglück uns oder eins der Unsern blind machen könne.

Und es giebt schon so viel Blinde in der Welt. In Deutschland kommt im Durchschnitt auf etwa 1100 Sehende ein Blinder, in Norwegen einer auf 737, in Aegypten gar auf 300 Sehende ein Blinder. – Gottlob, daß unsere Zeit, die fälschlich des engherzigsten Materialismus so sehr angeklagte Gegenwart, sich dieser Unglücklichen mehr und mehr annimmt, daß wenigstens in allen kultivierten Staaten die Fürsorge und Teilnahme für die Blinden immer reger wird.

Es sind jetzt mehr als hundert Jahre, daß in Paris die erste Blin- denunterrichtsanstalt durch den edlen Valentin Hauy im Jahre 1784 eröffnet wurde. Der Anlaß hierzu war folgender. An einem öffentlichen Orte sah Hauy täglich 10 blinde Bettler, die höchst erbärmlich musizierten und, um dennoch Zuhörer anzulocken, sich selbst lächerlich herausgeputzt hatten. Der eine unter ihnen, als Midas mit langen Ohren und einem Pfauenschweife auf dem Rücken, sang, die übrigen begleiteten, äußerst burlesk gekleidet, mit hohen spitzen Mützen auf dem Kopfe und großen Brillen von Pappe ohne Gläser auf der Nase; selbst die Noten, welche vor ihnen lagen, sollten noch das Lächerliche erhöhen. Durch diesen Anblick aufs lebhafteste ergriffen und empört, faßte Hauy den Entschluß, durch Unterricht und Erziehung eine geistige Hebung der Blinden anzustreben. Da er sah, daß die Blinden die ihnen geschenkten Geldstücke an dem Gepräge unterschieden, kam ihm der Gedanke an die Möglichkeit, den Blinden zum Lesen einer tastbaren erhabenen Schrift verhelfen zu können. Das Beispiel Hauys fand überall Nachahmung; heute sind auf der ganzen Erde in civilisierten Staaten etwa 170 Blindenanstalten vorhanden, wobei Deutschland allein deren 33 und Oesterreich-Ungarn 13 besitzt. Und fast alle diese Stätten, in welchen das harte Los der unglücklichen Blinden in so hohem Maße gemildert wird, sind von der Privatwohlthätigkeit gestiftet; sie zeugen beredt von der echte Nächstenliebe und Barmherzigkeit, die unser Jahrhundert durchdringen.

Turnunterricht.

Bezüglich der Aufgabe, welche zu lösen die Blindenanstalt bestrebt sein muß, hat sich im Laufe der Zeit die Auffassung, wie es begreiflich ist, bedeutend geändert. Zwar erkannte [733] man gleich anfangs, daß den Blinden außer dem Unterricht in den eigentlichen Schulgegenständen noch Anleitung gegeben werden müsse zur Erlernung irgend einer nützlichen Beschäftigung fürs spätere Leben. Der Zweck dieser technischen Ausbildung wurde aber hauptsächlich darin erblickt, durch Beschäftigung die Blinden der Nacht tödlicher Langweile zu entreißen.

Lese- und Schreibunterricht.

Erst in zweiter Reihe stand der Gedanke, sie durch Erlernung einer beruflichen Thätigkeit erwerbsfähig zu machen. Nachdem indes durch unzählige Beispiele der Beweis geliefert worden ist, daß auch der Blinde dahin kommen kann, sein eigenes Brot zu essen, darf die Blindenanstalt ihre Aufgabe erst dann als erfüllt ansehen, wenn sie ihrem Zögling zur vollen Erwerbsfähigkeit verholfen hat. Hilfe zur Selbsthilfe! ist hier das Losungswort. Um dieses hohe Ziel zu erreichen, ist es erforderlich, daß der eigentlichen professionellen Ausbildung eine gründliche körperliche, moralische und intellektuelle Erziehung vorausgehe, denn es ist auch hier wie überall

Schreibe-Lineal.

im Leben der intelligente und sittlich gefestigte Blinde der leistungsfähigere. Dieser Teil der Aufgabe fällt der Blindenschule zu. Derselben wird das blinde Kind in der Regel im 8. bis 10. Jahre zugeführt, und es verbleibt in ihr bis zur Konfirmation. Ihr Ziel ist das einer guten Bürgerschule. Auch die Gegenstände sind die der Volksschule, also Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen, Formenlehre, Naturkunde, Geographie, Geschichte, Deutsch (Grammatik und

Blindenschrift.

Litteratur), Zeichnen und Turnen; besonders betont wird dann noch aus dem Gebiet der Musik der Gesang, und zwar für alle, und die Pflege einzelner Instrumente von seiten der musikalisch Begabten.

Was zunächst die physische Seite der Erziehung betrifft, so bedarf diese bei Blinden einer besondern Sorgfalt. Das blinde Kind neigt infolge seines Gebrechens zu einer Ruhe und Unthätigkeit, die dem vollsinnigen im höchsten Grade unnatürlich ist. Gesunden Kindern ist Beweglichkeit eigentümlich, ihre Spiele sind nicht selten mit einem Kraftaufwande verbunden, der in keinem Verhältnis zu den schwachen Gliedern zu stehen scheint. Bei Blinden ist das gerade Gegenteil der Fall; sie bewegen sich wenig und furchtsam, um sich nicht zu verletzen. Dieser Scheu vor Bewegung tritt das Elternhaus in vielen Fällen nicht mit dem nötigen Nachdruck entgegen, und oft wird der Anstalt das blinde Kind in einem Grade der Verwahrlosung übergeben, welcher geradezu erschreckend ist. Die Blindenschule sucht diese Schäden einer unzweckmäßigen Pflege auszugleicheu, indem sie ihren Zöglingen möglichst viel Bewegnng, namentlich im Anstaltsgarten, bietet, sie zu freien Spielen und gymnastischen Uebungen anhält; nicht selten aber ist alle Mühe vergebens. Die erschlafften Glieder bleiben kraftlos und ungelenkig für immer und auch der Geist ist aus dem dumpfen Vorsichhinbrüten nicht aufzurütteln. Solchen Thatsachen gegenüber muß der häufig laut gewordene Wunsch, das blinde Kind so früh wie möglich in die Anstalt aufzunehmen, als gerechtfertigt erscheinen. Auf ihm beruht auch das Streben der Blindenfreunde, überall, wo solches noch nicht geschehen, zu den eigentlichen Blindenanstalten sogenannte Vorschulen zu errichten. In dieser sollen blinde Kinder vom 6. Jahre an Aufnahme finden, auch, wenn es wünschenswert erscheint, schon früher. Frühzeitig sucht auch die Blindenschule ihre Zöglinge im Gebrauch der Hand zu üben und erreicht dieses Ziel durch die sogenannten Fröbelbeschäftigungen, durch das Modellieren in Thon oder besonders präpariertem Wachs und durch das Holzschnitzen.

Wenn nach dem Vorhergehenden schon die körperliche Erziehung des Blinden ein gut Stück Erzicherarbeit erfordert, so sind die Schwierigkeiten seiner geistigen Ausbildung nicht geringer, da hier die Unterrichtsmethode eine eigentümliche ist und besondere oft recht komplizierte Lehrmittel zur Verwendung kommen. In manchen Fächern ist es zwar ganz gleich, ob der Lehrer sehende oder blinde Kinder vor sich hat, z. B. in Religion, Deutsch, Geschichte, Kopfrechnen etc.; in anderen dagegen, wie im Lesen, Schreiben, Geographie, Geometrie, sind besondere Hilfsmittel zur Veranschaulichung und besondere Apparate nötig. Erstere zielen darauf ab, überall, wo es erforderlich, eine Ersetzung der Farbe durch das Relief vorzunehmen und dadurch dem Blinden die Aneignung der sinnlichen Vorstellungselemente zu ermöglichen. Statt des gebräuchlichen schwarzen Drucks und schwarzer Schrift muß der Blinde erhabene Schrift gebrauchen, die er mit den Fingerspitzen liest. Die Bücher für Blinde sind entweder mit den großen lateinischen Buchstaben (A B C D) oder in dem sogenannten Brailleschen Punktschriftsystem gedruckt.

Klavierunterricht.

Es ist einleuchtend, daß diese Bücher sehr dickleibig werden müssen. So umfaßt eine von der Bibelgesellschaft in Stuttgart besorgte Ausgabe der Bibel mit Druck in lateinischen Schriftzeichen 64 große Bände. Zu seiner Korrespondenz hat der Blinde ebenfalls zwei Systeme. Will er an einen Blinden schreiben, so gebraucht er die schon mehrfach erwähnte tastbare Punktschrift; handelt es sich dagegen um einen Brief an seine sehenden Verwandten, so benutzt er die großen lateinischen Buchstaben, die er mit Hilfe eines unter [734] das zu beschreibende Blatt gelegten Blaubogens oder mit einer Bleifeder farbig zu schreiben erlernt. Zur Herstellung dieser beiden Schriftarten ist ein besonderer Apparat notwendig. Derselbe besteht aus einer in der Richtung der Breite mit Rillen versehenen Zinkplatte, über welche ein Holzrahmen fällt, der mit Löchern versehen ist. Letztere dienen zur Aufnahme eines aus Messing hergestellten Lineals, in welchem sich zwei Reihen rechteckiger Ausschnitte befinden (s. S. 733). Das Lineal läßt sich auf der Platte fortrücken. Legt man nun auf die Platte ein Stück Papier und über dieses das Lineal, so lassen sich, wie in der Zeichnung angedeutet, in jedes Rechteck, da es über 3 Rillen reicht, mit Hilfe eines Stahlstiftes im ganzen 6 Punkte stechen, 3 links und 3 rechts. Aus der Zahl und dem Ort der gestochenen Punkte ergiebt sich die Verschiedenheit der entstandenen Zeichen. Die Gesamtzahl der möglichen Zeichen beträgt 62, ist also zur Bezeichnung der vorhandenen Buchstaben, Satzzeichen und Ziffern mehr als ausreichend. Wie der Titel unsres Blattes in dieser Blindenschrift geschrieben wird, ist auf S. 733 zu ersehen.

Datei:Die Gartenlaube (1895) b 734 1.jpg

Korbflechter und Scherenschleifer.

Im geographischen Unterricht werden statt der farbigen Karten ebenfalls solche in Hochdruck gebraucht. Die Flüsse und Seen sind vertieft, die Städte durch kleine Nägel mit Knopf, die Grenzen durch eine Stiftreihe dargestellt. Das Rechnen ist meistens Kopfrechnen, doch kommen auch in einigen Anstalten besondere Lehrmittel fürs schriftliche Rechnen zur Anwendung. Der musikalische Unterricht wird meistens nach dem Gehör erteilt, welches bei den Blinden oft sehr fein ist. Um indes den Blinden von der Hilfe eines Sehenden unabhängiger zu machen, läßt man ihn, namentlich wenn er die Musik zum Broterwerb ausüben soll, eine eigene Musknotenschrift erlernen, in der wir bereits eine reiche musikalische Litteratur besitzen. In der Kopenhagener Anstalt wird sogar nach Noten gesungen. Wird der Klavierunterricht nach Noten erteilt, so hat die Schülerin, wie dieses unser Bild zeigt, mit der einen Hand zu spielen, was die andere liest. Zuerst spielt die rechte und es liest die linke; ist ein Abschnitt eingeübt, so vertauschen die Hände ihre Rollen. Der Unterricht in den Naturwissenschaften zeigt ebenfalls ein eigentümliches Gepräge. Die zu betrachtenden Objekte muß der Schüler in Wirklichkeit oder im Modell zur Betastung vor sich haben, um sie kennenzulernen. Er sucht sich dann über alle ihm zugänglichen Eigenschaften derselben zu unterrichten. Sind ihm seine Fingerspitzen nicht fein genug, so nimmt er wohl auch die Zunge zu Hilfe. Die sittlich-religiöse Erziehung wird in allen Anstalten stark betont. Die Trostgründe der Religion sollen die Leuchte sein, welche dem Blinden den dunkeln Weg durchs Erdendasein erhellt.

Datei:Die Gartenlaube (1895) b 734 2.jpg

Herstellung der Punktdruckbücher.

Hat nun die Blindenschule dem Zögling eine gründliche physische, moralische und intellektuelle Erziehung gegeben, so setzt die technische Ausbildung die Krone darauf, denn sie macht es ihm möglich, daß er ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden kann. Als für den Blinden geeignete Berufsarten sind anzusehen das Lehramt, die Musik uud das Handwerk. In Frankreich, England und Amerika giebt es sehr viele blinde Lehrer an Blinden-Anslalten, in Deutschland nur wenige, da sich hier die Ansicht ziemlich allgemein ausgebildet hat, ein Blinder dürfe, abgesehen vom Musikunterricht, nicht der Leiter seiner blinden Genossen sein. Als Musiklehrer und Organist kann der Blinde Tüchtiges leisten und als solcher findet er in manchen Ländern auch später ein gutes Fortkommen. Kopenhagen hat 11 blinde Organisten versorgt, Amerika gar 88, außerdem noch 463 nicht an Anstalten beschäftigte Musiklehrer. In Deutschland ist die Zahl der blinden Organisten nicht groß, weil hier das Organistenamt meistens mit dem Schulamt verbunden ist. Der praktische Gesichtspunkt, ob der ausgebildete Zögling Gelegenheit finden könne, seine Kenntnisse und Fertigkeiten für sich nutzbar zu machen, muß bei der Berufswahl der entscheidende sein. Weil es nun, wie die Erfahrung gelehrt hat, häufig schwer hält, einen ausgebildeten Musiker passend unterzubringen, so hat bei uns die Musik mehr und mehr an Boden verloren. In demselben Grade hat das Handwerk daran gewonnen, denn es hat sich gezeigt, daß dieses „auch für den Blinden einen wenn auch nicht goldenen, so doch einen eisernen Boden“ hat. Am geeignetsten haben sich erwiesen das Korbmachen, die Seilerei und die Bürstenbinderei. In Kopenhagen wird außerdem noch die Schuhmacherei betrieben, die aus den deutschen Anstalten, soweit sie hier Eingang gefunden, als zu wenig ergiebig wieder verschwunden ist. Daß es übrigens noch weitere Erwerbszweige giebt, in welchen der Blinde mit Nutzen beschäftigt werden kann, geht aus obiger Abbildung hervor, die uns neben dem Korbmacher den Scherenschleifer an der Arbeit zeigt. Ob indes dieser in der Berliner Anstalt angestellte Versuch in anderen Anstalten Nachahmung finden wird, nnuß erst noch die Zukunft lehren. Auch das neuerdings in deutschen Anstalten nach dem Vorgange Englands [735] und Frankreichs in Aufnahme gekommene Klavierstimmen darf nicht unerwähnt bleiben. Leider ist das Mißtrauen, dem der Blinde mit seiner Arbeit fast überall beim Publikum begegnet, auch auf diesem Gebiete schwer zu überwinden. Und doch ist hier seine Leistungsfähigkeit, falls er über ein gutes Gehör verfügt und von einem tüchtigen Stimmlehrer ausgebildet ist, über allen Zweifel erhaben. So ist der erste Stimmer der Weltfirma Steinway in New York ein Blinder; die Hamburger Filiale beschäftigt ebenfalls Blinde, ebenso Blüthner in Leipzig und viele andere der berühmtesten Fabriken. Endlich ist noch eine Beschäftigung zu nennen, die von dem Bilde S. 734 veranschaulicht wird, nämlich die Herstellung von Punktdruckbüchern. Man benutzt dazu dünne Zinkplatten, reichlich doppelt so lang als die Seite des zu druckenden Buches, falzt sie in der Mitte zusammen und versieht diese Doppelplatte dann mit Punktschriftzeichen, ähnlich wie beim Beschreiben des Papiers auf der Tafel. Da zum Eindrücken der Punkte in das Zinkblech größere Kraftanstrengung nötig ist, so bedient man sich bei dieser Arbeit einer von Direktor Kull in Berlin erfundenen sinnreichen Maschine. Man sieht auf dem Bilde deutlich, wie sie gehandhabt wird. Auf dem Tisch derselben liegt der Apparat, in welchen die Zinkplatte eingespannt worden ist. Auch das Lineal mit den Ausschnitten ist sichtbar und der Stift, der die Punkte eindrücken soll. Ueber dem senkrecht gehaltenen Stift befindet sich ein beweglicher Querbalken, der in Verbindung steht mit dem Schemel, auf welchen das blinde Mädchen die Füße gestellt hat. Tritt es den Schemel jetzt herunter, so geht auch der Querbalken nach unten, drückt auf den Stift und dieser ruft in der Zinkplatte einen erhabenen Punkt hervor, nur daß er nicht nach oben, sondern nach unten gerichtet ist. Noch ein zweiter, ein dritter Punkt, und der Buchstabe ist fertig. Während die rechte Hand den Stift hält, liest die linke das Manuskript. Ist die ganze Platte bunziert, so wird sie auseinander gebogen, zwischen dieselbe ein vorher angefeuchtetes Blatt Papier gelegt und, mit einer Guttaperchaplatte bedeckt, unter die Presse geschoben. Das zweite junge Mädchen ist eben im Begriff, den Hebel der Presse in Bewegung zu setzen.

Bürstenfabrikation.

In größeren Anstalten sind für die hier aufgezählten Professionen besondere Werkmeister fest angestellt; kleinere müssen sich mit einem Stundengeber und blinden Hilfslehrern behelfen. In einer 4- bis 6jährigen Lehrzeit vom 14. bis 18. resp. 20. Jahre lernt der blinde Zögling fast alle in dem betreffenden Fache vorkommenden Arbeiten, ausgenommen die allerfeinsten, gut und rasch anfertigen, so daß er bezüglich seiner Leistungsfähigkeit in seinem Fache dem sehenden Genossen durchaus nicht nachsteht. Minder begabte Blinde erreichen dies hohe Ziel freilich nicht, aber auch diese werden befähigt, durch ihr Handwerk einen großen Teil ihres Lebensunterhaltes sich selbst zu verdienen. Ueber die Höhe des Verdienstes, den die ausgebildeten entlassenen Handwerker zu erzielen wissen, liegen bestimmte Angaben vor. Dieselben schwanken bei den Korbmachern zwischen 2 und 18 Mark pro Woche, bei den Bürstenmachern zwischen 3 und 18 Mark und bei den Seilern zwischen 6 und 18 Mark. 6 bis 12 Mark darf man als denjenigen Betrag bezeichnen, den ein Blinder mit gewöhnlicher Begabung, wenn er fleißig ist und Arbeit findet, bei seiner Geschäftsthätigkeit wöchentlich verdienen kann. Das sind freilich bescheidene Einkünfte, aber es ist damit thatsächlich der Beweis erbracht, daß die Mehrzahl der bildungsfähigen Blinden erwerbsfähig gemacht werden kann.

Trotz seiner Erwerbsfähigkeit hält es nun für den Blinden oft schwer, dieselbe in wirklichen Erwerb umzusetzen. In unserer geschäftlich und wirtschaftlich so hoch entwickelten Zeit hat eben jeder, der vorwärts will, alle seine Sinne nötig, und da ist der viersinnige Blinde dem Vollsinnigen gegenüber im Nachteil. Soll darum das auf seine Ausbildung verwandte Kapital nicht gänzlich unproduktiv bleiben, so darf die Anstalt ihre sorgende Hand nicht von ihm ziehen. Die Pflicht der Fürsorge für die Entlassenen wird daher auch von vielen Anstalten als ein wesentlicher Teil ihrer Aufgabe angesehen. Die dabei eingeschlagenen Wege gehen indes weit auseinander. Die einfachste Form der Versorgung ist die in den sogenannten Blinden-Asylen, die man früher als den Schlußstein des schützenden Gewölbes betrachtete, unter dem der arme Blinde eine sichere Zuflucht finden könne. Diese Art der Fürsorge hat aber ihre großen Nachteile. Abgesehen davon, daß sie recht kostspielig ist und immer nur auf wenige sich erstrecken konnte, macht sie den Blinden nicht wahrhaft glücklich. Auch er will nicht lediglich empfangen ohne Gegenleistung. Ueberdies ist dem erwachsenen Blinden die in einer Anstalt notwendige Beschränkung der persönlichen Freiheit unerträglich. Er hat es daher meistens vorgezogen, sich durch seiner Hände Arbeit ehrlich, wenn auch kümmerlich, durchzuschlagen, als sich im Asyl versorgen zu lassen. Als den blinden Asylisten in Dresden freigestellt wurde, ob sie im Asyl verbleiben oder mit Zusicherung einer geringen Leibrente in ihre Heimat gehen wollten, da zogen über zwei Drittel das letztere vor. Seitdem sind hier wie auch in manchen andern Städten die Asyle eingegangen. Diejenige Form der Unterstützung, welche die Freiheit und Selbständigkeit des Blinden unangetastet läßt, wird also die bessere sein. Hierzu gehört die schon berührte Unterhaltung gemeinschaftlicher Werkstätten für blinde Handwerker sowie die Errichtung von Blindenheimen für Mädchen. Diese Veranstaltungen, besonders die Mädchenheime, wirken mit großem Segen und finden überall Nachahmung. Um den Absatz [736] zu erleichtern, bestehen in einigen Städten besondere Verkaufsläden, in welche der Blinde seine fertigen Waren bringt. Die meiste Anerkennung hat sich dasjenige System der Fürsorge zu verschaffen gewußt, welches im Königreich Sachsen befolgt wird. Es ist kurz folgendes. Ist der Zögling ausgebildet, so wird er in die Heimat oder, falls es aus irgend einem Grunde für zweckmäßiger gehalten wird, nach irgend einen andern Ort des Landes hin entlassen. Der Anstaltsdirektor hat eine passende Wohnung gemietet und für ihn einrichten lassen. Mit dem nötigen Handwerksgerät und Material versehen, beginnt der Blinde seine Arbeit. Durch eine Anzeige im Lokalblatt wird er dem Publikum empfohlen. Eine angesehene Persönlichkeit des Orts (ein Gutsbesitzer, Geistlicher, Beamter, Lehrer etc.) wird gewonnen, sich in jeder Weise für das Fortkommen des Blinden zu verwenden. Dieselbe dient sowohl dem Blinden als auch der Anstalt als Mittels- und Vertrauensperson. Durch Ueberlassung des Materials zu Engrospreisen, durch Ueberweisung von Arbeitsaufträgen, durch Abnahme fertiger Waren, die der Blinde an seinem Wohnort nicht absetzen kann, durch kleine Geldunterstützungen etc. wird er in Fällen der Not vor Mutlosigkeit bewahrt und zur Anstrengung aller Kräfte angespornt. Weiß er doch, daß ihn die Anstalt nicht verläßt, wenn er selbst nur redlich seine Pflicht thut. In allen wichtigeren Unternehmungen holt er den Rat der Anstalt, seines Vaterhauses, ein. Auf jährlichen Inspektionsreisen sucht der Anstaltsdirektor sich durch den Augenschein über die Lage jedes einzelnen Entlassenen zu unterrichten, so daß er fortwährend genau weiß, wem Hilfe not thut und in welcher Form sie am zweckmäßigsten zu gewähren ist. In dieser Weise hat Sachsen alle seine früheren Anstalts-Blinden versorgt. Manche von ihnen haben sich ein eigenes Haus erworben und stehen sich gut.

Dies System der Fürsorge ist allerdings nur durchführbar, wenn der Anstalt ein bedeutender „Fonds für Entlassene“ zur Verfügung steht, wie das in Sachsen der Fall ist. Durch freiwillige Beiträge (Vermächtnisse, Geschenke etc.) ist er dort auf die bedeutende Höhe von etwa 11/4 Million Mark gebracht, wovon die Zinsen zur Verwendung kommen. In den übrigen deutschen Staaten sucht man das glänzende Beispiel Sachsens nachzuahmen, wenn auch mit entsprechenden Abweichungen.

Dank dem opferfreudigen Gemeinsinn unseres Zeitalters hat sich die Lage der Blinden gegen früher wesentlich gebessert. Immer mehr kommt das Publikum zu der Einsicht, daß der arbeitsfähige Blinde seine Teilnahme beanspruchen darf, nicht in der Form des Almosens, mit dem sich der blinde Vagabund begnügt, sondern dadurch, daß man von seiner Arbeitsfähigkeit Gebrauch macht und ihm sein Arbeitsprodukt abkauft. Das ist für den Blinden „Hilfe zur Selbsthilfe“. Möge die Zeit nicht mehr fern sein, wo „blind sein“ und „betteln müssen“ für den Unbemittelten aufgehört haben, zusammengehörige Begriffe zu sein!


0 Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Sturm im Wasserglase.

Roman aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts.
Von Stefanie Keyser.

 (9. Fortsetzung)

Als der Abend hereindämmerte, ging Märten mit weitausgreifenden Schritten auf den Wegen, die noch die Spuren der Husarenpferde, die tiefen Furchen der Kanonenräder zeigten.

Die Nacht kam rasch; dickes Gewölk bedeckte den Himmel; eine drückende Schwüle lagerte auf den der Sense harrenden Getreidefeldern, von denen sich, schwarz auf dunklem Grunde, hier und da eine Baumgruppe abhob.

In dem Feldhölzchen, in das er einbog, vermochte Märten nicht die Hand vor Augen zu sehen.

Er schlug Feuer an, brannte einen dürren Ast an, und ihn schwingend, wanderte er weiter.

Als er unter den Bäumen hervortrat, ragte vor ihm in der Nacht eine wunderliche Gestalt auf, dreibeinig – es war der Galgen. Auf der Erde, über die er schritt, hatten dermaleinst die verstreuten Knochen der Rädleinsführer gebleicht.

Aber die mußten fest schlafen; denn er wußte von Fiekchen: wenn es an einem Ort nicht geheuer war, zeigte es sich durch ein Grauen an, das einen überlief. Ihm aber war ganz freudig zu Mute. Er konnte jetzt wettmachen, daß ein reputierlicher Mensch ihm seine Abkunft nicht nachgetragen hatte.

Vergnügt wirbelte er seinen Brand in der Luft.

Ein Schrei von einer hohen Stimme ertönte.

Ein kleiner Trupp Menschen, tauchte vor ihm auf.

Dreieckige Hüte, eine Haube und ein Köpfchen mit einem Tüchlein zeichneten sich dunkel ab.

„Ich bin der Lattermann!“ brüllte Märten. „Wer seid Ihr?“

Die Haube und der kleinere Hut gaben Fersengeld. Aber das junge sich umschlungen haltende Paar blieb stehen.

„Wir sind gottesfürchtige Kantoren,“ antwortete der Mann wohlgemut.

„Brüt’gam und Brut,“ fügte eine Lerchenstimme bei.

„Die Demoiselle Bachin!“ 0„Märten!“ erklang es zu gleicher Zeit.

„Wir kommen von Dornheim und haben die Trauung bestellt,“ fuhr Bärbchen Marei fort, „wozu der gute Herr Sekretarius uns die Erlaubnis verschafft hat. Der Arme!“

„Da Sie hier im Feld herummarschiert ist, hat Sie vielleicht gehört, wie weit die Husaren mit ihm gekommen sind?“ fragte Märten.

„Er hat nicht weit zu suchen,“ sagte Bärbchen Marei. „Den ganzen Nachmittag haben die Soldaten mit den Kanonen im Hohlweg gesteckt und geflucht, daß die Bauern vor Schrecken von ihren Feldern weggelaufen sind.“

„Haltet den Mund darüber, wer der Lattermann ist, auch gegen Euren Vetter Bach und Eure Jungfer Muhme da vorn,“ sprach Märten. „Wenn Er aber dem Sekretarius auch wieder eine Liebe thun will, Herr Kantor, so bleibe Er bereit, noch diese Nacht zu orgeln. Denn Struve hat heute noch Hochzeit und soll mit Sang und Klang getraut werden. Adjes!“

Nach verschiedenen Seiten setzten sie ihren Weg fort.

Da hob die hohe Stimme an zu singen: „Wachet!“, die große Haube sekundierte: „Betet!“ Der junge Kantor setzte mit der Gegenstimme ein: „Seid bereit!“ Der Vetter folgte nach. Die Melodien verwickelten, begegneten sich, die Familie Bach verschwand hinter dem Gebüsch des Raines; die Töne verklangen, und noch schien der Verwicklungen und Entwicklungen kein Ende zu werden.

Märten fand Geschmack an seiner Rolle als Lattermann. Er schwärzte sein Gesicht mit dem verkohlten Holz, hielt seinen Brand gen Himmel, wie es vom Lattermann erzählt wird, und wanderte so dem Dorfe zu, dessen Turmspitze sich in der Ferne schwarz in das Gewölk streckte.

Nun vernahm er schon ein Wiehern.

Vorsichtig schlich er sich heran.

Da kam er an die erste Scheune. Die Thore waren weit aufgethan. Stampfen, Schnauben tönte daraus hervor und lautes Schnarchen. Hier hatten die Husaren schon Nachtquartier bezogen.

Leise schloß er das Scheunenthor, schob die Riegel vor und schritt in die Dorfgasse hinein.

„Halt! Wer schleicht da herum?“ schrie ihn eine Stimme an. Es war der Nachtwächter.

Märten wirbelte seinen Brand. „Ich bin der Lattermann und will Euren Gefangenen holen. Wo habt Ihr ihn eingesteckt?“

Der Mann fiel auf die Kniee. „Alle guten Geister!“ begann er zähneklappernd zu beten. „Dort am Brunnen beim Schulzen.“

Märten faßte ihn am Kragen wie ein Häslein an den Löffeln, nahm ihm sein Horn ab, daß er nicht nach Hilfe tuten konnte, und warf ihn über einen Zaun.

Er ging auf das bezeichnete Haus zu.

In der Stube des oberen Gestockes brannte noch ein mattes Oellämpchen.

Den Schrei des Käuzchens nachahmend, pfiff Märten sein Struve wohlbekanntes Erkennungszeichen.

Das Fenster wurde aufgerissen.

Märten flüsterte: „Fang’ den Strick auf! Es sind Knoten drin.“

„Aber –“ zögerte Struve, dem allerhand juristische Bedenken kamen.

[737]

Wildfütterung im königlichen Tiergarten zu Moritzburg.
Nach dem Leben gezeichnet von J. R. Wehle.

[738] „Deine Braut sitzt im Kranz und wartet auf Dich,“ drängte Märten.

Da siegte im Sekretarius das natürliche Recht über das papierne. Er band den Strick an das Fensterkreuz.

„Schnell! So ist’s recht! Nur herunter! Ich fange Dich auf – nun fort!“

Der Wachtposten, der in der schwülen, stillen Nacht unter dem Lindenbaum neben dem Hofthor eingeschlafen war, ermunterte sich und stolperte den davon Rennenden in den Weg. Er flog in den Gänseteich.

Jetzt wurde es lebendig.

„Mort de ma vie!“ fluchte es aus der Pfarre.

Es wurde geblasen.

Die in der Scheune Eingeschlossenen trommelten an das Thor. Die Einwohner stürzten aus ihren Häusern.

Ein Haufe Soldaten versperrte den Weg.

Jetzt sauste Märtens Keulenstock gegen die Klingen; klirrend flogen sie beiseite. Faustschläge regnete es. Die Püffe, die Märten heute morgen hatte unterdrücken müssen, kamen jetzt vervielfacht zur Verteilung.

Struve besann sich auf die Paraden vom Fechtboden; er hatte einen der niedergefallenen Säbel aufgehoben. Es kam über den jungen Mann der alte Student.

Die Dunkelheit und Verwirrung waren groß.

Märten zog ihn durch ein Seitengäßchen fort ins Freie. Hinter ihnen blieb der Lärm.

Im Dorfe kroch der Nachtwächter hervor, an allen Gliedern bebend. Sein Mund klapperte: „Es war der Lattermann!“

„Huh!“ schrie das Bauernvölkchen und stob in seine Häuser.

In der stockfinstren Nacht fanden sich die fremden Soldaten nicht zurecht. Einer lief wider den andern.

Von dem Hügel vor dem Dorf sahen die beiden Flüchtlinge die umherirrenden Laternen, die erhellten Fensterchen. Dann schritten sie eiligst von dannen.

Märten wählte Richtwege quer durch die hügelige Flur, die er von seinen Tagediebereien her kannte: vom Leimrutenlegen, vom Krebsen in trüben Wässerlein, vom Haselnüsseschlagen in fremdem Gehölz. Dabei erzählte er seinem geretteten Freund die Ereignisse des Tages, und daß er noch ein zweites Befreiungswerk vorhabe.

„Die Heymbrotin hat Dich gewarnt, das vergesse ich ihr nicht,“, sagte Märten. „Du aber darfst Dich nicht in Gefahr begeben, Struve! Den Weimaranern durchbrennen, die ihn vergewaltigt hatten, kann ein Bräutigam, der den Kranz schon auf dem Kopf trägt. Aber bei der Herrschaft einbrechen, das schickt sich nicht für einen Sekretarius.“

Aber der Sekretarius war zu ritterlich und dem Fräulein zu dankbar, um sich jetzt allein in Sicherheit bringen zu mögen.

Er wollte helfen, sie befreien.

„Dann ziehst Du Deinen Hochz’genrock link an, steckst die Perücke in die Tasche und machst Dir hier an dem Ast das Gesicht schwarz,“ entschied Märten.

„Das sind Diebsgebräuche,“ wandte Struve ein.

„Wir sind in der Notwehr, Struve!“ widersprach ihm Märten.

Da ließ Struve sich schwärzen.

Dann schritten sie wieder scharf aus.

Endlich deutete Märten in die nächtliche schattenhafte Landschaft hinein. „Der dunkle Streifen dort ist die Obstallee bei der Augustenburg.“ Er pfiff das verabredete Signal, der Ruf des Käuzchens, „Komm mit!“, klang durch die Stille.

Aus der Ferne antwortete es: „Komm mit!“

„Aha! der Junker ist auf seinem Posten!“

Unter den von unreifen Früchten tief herabgebogenen Bäumen hervor schlich eine dunkle Männergestalt.

Struve streckte ihm die Hand entgegen. Eiskalte Finger legten sich hinein.

„Will Er sich nicht auch schwarz machen?“ fragte Märten.

„Nein!“ stieß Eichfeld zwischen den Zähnen hervor. „Am liebsten wäre es mir, ich könnte dem ganzen Schlangengezücht auf der Augustenburg offen entgegentreten.“

„Hoho!“ lachte Märten in sich hinein, „Er wird seine Courage schon noch brauchen können.“

„Hätten wir nur Pferde!“ murmelte verzweifelt Konrad.

Märten schüttelte den Kopf. „Die Hufschläge verrieten uns, und der Stallmeister ist ein so guter Reiter wie Er.“

Dann übernahm er das Kommando, wie sonst bei seiner Rotte barfüßiger Burschen, wenn sie den knickerigen Kaufmann spät abends herauspochten und dem dicken Bierbrauer die vor der Thür lagernden Fässer ins Rollen brachten.

„An die Rückseite! In den Graben, der unter Weiden und Erlen hinter dem Garten hinläuft. Du, Struve, spielst den Kauz und pfeifst: ,Komm mit!‘, wenn’s dort nicht geheuer wird, damit wir den Rücken frei behalten! Voraus, Junker! Er kennt hier den Weg!“

Beide schlichen vorsichtig die Mauer entlang.

Da war das schmiedeeiserne Thor, das aus dem Garten nach dem von Erlen und Weiden umbuschten Wassergraben führte.

Eichfeld prüfte das festverschlossene Gitter. Aber Märten stellte sich fest auf und hob einen Flügel heraus wie Simson die Thore der Stadt.

Sie schlichen hinein in die dunklen Laubgänge.

„Dort ist der Mann mit der Ofengabel,“ flüsterte Märten. „Da geht das Pförtchen in das Schloß, aus dem Fieke immer kam.“

„Und dort drüben –“ flüsterte atemlos Konrad; er konnte nicht weitersprechen.

Im ersten Stock war ein Fenster matt erhellt. Es zeigte eine bunte Glasmalerei, ein Heiligenbild: St. Walpurgis.

„Komm mit!“ pfiff Märten.

Ein Schatten glitt an das Fenster. Leise pochte ein Finger daran.

Märten zog ein Stemmeisen aus der Tasche und schob es unter die Thür. Ein Knirschen – sie hob sich. Er stellte sie beiseite wie eine Papptafel. „Voran, Junker!“ Sie verschwanden in dem schmalen Gang.

Droben in der Mansarde zog sich ein blasses Männergesicht vom Fenster zurück.

Die beiden jungen Einbrecher schlichen sacht von dem engen Treppchen auf den breiten Hauptkorridor hinaus.

Eichfeld flog auf eine reich mit vergoldetem Zierat bedeckte Thür zu.

„Kiliane!“ flüsterte er durch das Schlüsselloch.

„O Gott, Konrad!“ klang es leise heraus.

Märten schob den Junker beiseite und drehte die kleine Blendlaterne auf.

„Hobelspäne!“ murmelte er, die Thürflügel beleuchtend. Dann stemmte er die Achsel an das Mittelfeld – ein Krachen! Mit einem starken Ruck flog die zierliche Thür in Stücke.

Kiliane erschien. Mit entsetzter Gebärde deutete sie auf den daneben liegenden gelben Saal. „Der Gang! Man kommt!“

„Heiliger Gott! Der Spiegel!“ knirschte Eichfeld. „Fort!“ winkte er Märten und Kiliane zu. „Ich komme nach.“ Er griff in die Brusttasche und stürmte in den gelben Saal.

Märten faßte ohne weiteres Kiliane am Arm und zog sie das Treppchen hinab. „Ein Mann findet sich schon zurecht, wenn ihm das Weibsvolk aus dem Wege geschafft ist,“ raunte er ihr gröblich zu.

Droben drehte sich vor dem eintretenden Eichfeld der trotz der Dunkelheit matt glänzende Spiegel, und ein leichenblasses Männergesicht erschien in der schwarzen Höhlung.

Zugleich knackte das Schloß einer Pistole.

„Ein Schritt noch, ein Laut,“ keuchte der Junker, „und Er ist ein Kind des Todes.“

Wenn er Severin zurückdrängte in den geheimen Gang, den Spiegel schloß!

War kein Möbelstück da, um es davor zu schieben? Nein, nur dünnbeinige Tischchen und Stühle.

„Komm mit!“ pfiff es unten.

Er mußte fort. Aber wandte er sich, so war der andere ihm auf den Fersen und schlug Lärm. Unruhig suchend flogen seine Augen umher.

Da fiel von seiner Rückseite her Lichtschein.

Timotheus trat auf weichen Pantoffeln vom Korridor herein, eine brennende Kerze in der Hand.

Eichfeld gab sich verloren. Die beiden sollten es mit sein. Er hob abermals die Pistole.

Aber als habe Märten sich unsichtbar gemacht gehabt, als seien die Thürtrümmer nicht draußen im Korridor verstreut gewesen, als wäre Timotheus mit Blindheit geschlagen und sähe das Mordwerkzeug nicht, so wandelte der behäbige Mann auf die Spiegelwand zu. Nur im Vorbeigehen sagte er zu Eichfeld: „Was [739] will der Junker hier? Er sollte sich auf der Neidecke melden. Gehe Er auf der Stelle dahin, wohin Er gehört.“

Konrad begriff nicht. Aber da schallte es dringend hastig herauf: „Komm mit!“ Er flog davon.

Ehe Severin einen Schritt aus seiner Höhle heraus thun konnte, hatte Timotheus den Spiegel zurückgewirbelt und setzte sich gelassen davor auf den Boden.

Vergeblich rüttelte Severin von innen an dem Spiegel. Timotheus war schwerer als der schwerste Schrank.

„Gieb Frieden, lieber Bruder,“ gebot er mit fester Stimme. „Ich befehle es Dir, kraft der Vollmacht, die der Prior mir gegeben hat.“ Bei den Worten legte sich das Rütteln. „Er wußte, daß Deine große Begabung auch große Versuchungen verhängt, und hat deshalb für besondere Fälle mir die Oberherrschaft übertragen. Inbrünstig preise ich unsren Schutzpatron, daß er mich schwererer Mühewaltung überhoben, gnädig alle Wirrnisse geschlichtet, alle Steine des Anstoßes aus unsrem Weg geräumt hat. Was die Frau Fürstin thun wird, um den aufsässigen Diener, die entlaufene Dienerin zu strafen, darum uns zu kümmern, ist nicht unsres Amtes. Du aber kehrst morgen in unser Kloster zurück. Du wirst in der einsamen Zelle bei wahrhaft gottgefälligen Werken Deiner Kunst den Seelenfrieden wieder zurückgewinnen.“

Die Stimme in dem geheimen Gang ließ sich nicht wieder vernehmen.

Dumpf verhallten schleppende Schritte, die sich langsam entfernten.

Draußen gingen Thüren, schallten Stimmen.

Timotheus begann zu rufen: „Zu Hilfe! Ist niemand da, der einem zu Boden Gestürzten wieder auf die Füße hilft?“

Die Dienerschaft rannte durcheinander, wie sie aus den Betten kam, in welche sie sich vor dem gräßlichen Eulengeschrei so tief verkrochen gehabt hatte, daß das Knacken der einbrechenden Thür zuerst auch für Spuk von ihr gehalten worden war.

Der Kammerdiener wollte von einem spinnwebfarbenen Kavalier auf dem Korridor umgerannt worden sein, den Mohren hatte auf der Hintertreppe ein andrer Mohr hinabgestürzt, der dann mit einem schneeweißen Gespenst verschwunden war, der Leibgardist, der von seinem Wachthaus herbeigelaufen kam, hatte von einer Hand, so groß wie ein Schild, eine solche Maulschelle bekommen, daß ihm die Ohrringe vom Kopfe geflogen waren, und er nun mit blutender Nase über dem Neptunsbassin hing.

Die Trommel wurde gerührt. Die aufgeschreckten Gardisten bekamen Befehl, den Einbrechern nachzusetzen. –

Draußen in der dunklen schwülen Nacht liefen die Missethäter wie gejagtes Wild.

Struve und Eichfeld hatten Kiliane an den Händen gefaßt und zogen sie mit vorwärts.

Märten leitete die Flucht auf den verdeckten Wegen, die er gefunden hatte, wenn er Fieke besuchte.

„Immer im Graben geblieben! Der Sumpf ist nicht tief, und die Weiden verdecken uns. Da schlägt Nachbars Adam einen Wirbel auf dem Kalbfell. – Als der Feind ins Land rückte, muckste keiner. – Durch den Hagedorn in das Gehege der Dorfflur!“

Mit blutenden Händen ging’s weiter.

„Puff! das war der Korporal Großkunst! Ist die alte Muskete auch noch einmal abgefeuert worden? Vor den Leuten, die brave Sekretariusse abführten, da habt Ihr das Gewehr präsentiert. – Schnell, über den Zaun in die Gärten! Ist das weiße Kittelchen hängen geblieben, Frölen? Schadet nichts! Nun am Flußufer hinauf! Ueber die große Brücke können wir nicht laufen. Wer weiß, vielleicht ist schon der Stallmeister auf dem Sattelhirsch unterwegs und verrennt uns den Weg.“

Keuchend ging’s am rauschenden Fluß hinauf. „Sie hat den Schuh stecken lassen? Na, kann auch einmal barfuß laufen. Sieht, wie’s thut. Da, auf den Baumstämmen geht’s über den Fluß. Ja, es ist dunkel unter den Bäumen. Wo willst Du hin, Struve? Du läufst ja ins Wasser hinein. Haha! Er wäscht sich, will nicht an der Braut abfärben. Vorwärts! vorwärts! Da ist die hohe Mauer! Man sieht’s an den Zinnen. Nun hinab in den Graben. Stolpert nicht über die Krautköpfe vom Nachbar Stelzfuß! Wie gut war’s, daß ich die Kartaune in den Graben hinabschoß! Man kann wie auf einer Leiter an ihren Henkeln hinaufsteigen. Da sind wir an der Gartenthür der Superintendentur! Fieke!“

„Gott sei Lob und Dank!“

Das Pförtchen knarrte. Die vier Flüchtlinge huschten hinein.

Und dann standen drei Paare fest umschlungen in der vom Wein überrankten Eingangslaube.

Magdalene hing an Struves Hals.

Kiliane lag an Konrads Brust und weinte. „Meine Kiliane!“ flüsterte er.

„Für immer und ewig!“ sagte sie.

Fieke trocknete mit ihrem Schürzchen Märtens heiße Stirn. „Ja, wenn Märten nicht wäre!“ sagte sie stolz. Was war das andre Mannsvolk gegen ihren Schatz!

Alle drängten sich um Märten.

„Wie soll ich Ihm danken?“ flüsterte Magdalene mit unterdrücktem Schluchzen.

Märten schüttelte ruhig den Kopf. „Na, Ihretwegen habe ich es nicht gethan; nur wegen unserm Struve.“

„Was kann ich thun, um Seine Hilfe zu vergelten?“ sprach mit überquellendem Herzenston der Junker.

„Na, Seinetwegen hab’ ich nicht geholfen,“ erklärte er lachend; „nur weil das Frölen meinen Struve gewarnt hat.“

Der trat hervor, wollte sprechen; die Stimme versagte. Die Augen wurden ihm feucht, er drückte Märten die Hand.

Da wandte der Riese sich ab und rannte fort.

Fieke aber hielt die andern zurück und sagte leise: „Wenn ihm etwas ans Herz greift, das darf niemand sehen.“

Im Hause war noch alles wach. Die Fenster hatte man verhangen.

In der Wohnstube kam ihnen der Superintendent im Talar entgegen. „Meine Kinder!“ sprach er. „Zu dieser Stunde werde ich Euch den kirchlichen Segen geben. Wer weiß, was der morgende Tag bringt! Da mögt Ihr zusammen tragen, was Euch beschieden ist.“

Magdalene flüsterte ihrem Bräutigam ins Ohr: „Ich gehe dann mit ins Verließ.“

Er drückte sie an sein Herz.

„Der Altar steht noch geschmückt,“ fuhr Olearius fort. „Auch der Kantor ist bereit. Eine wunderbare Offenbarung muß ihm geworden sein. Er hat sich gemeldet, wir sind versöhnt.“

Olearius wendete sich zu Kiliane. „Soll ich das Fräulein zum Herrn Kanzler geleiten, oder hat Sie eine andere Zufluchtsstätte? Eine Nachtruhe kann ich in meinem Hause verbürgen; weiter vermag ich jetzt nichts der Gewalt der Herrschaft gegenüber.“

Kiliane schlug die Hände vor das Gesicht. „Mein Oheim wird mich nicht schützen. Ich weiß keine Zuflucht.“

„Bei mir, Kiliane!“ rief Eichfeld. „Auf meinem Gutshof bist Du fürs erste so gut geborgen wie ich selbst. Haben die Mauern den Dreißigjährigen Krieg überdauert, so werden sie auch den Leibgardisten standhalten.“ Es klang eine wilde Entschlossenheit aus seinem Ton. Er hatte die Hand am Degengriff, der Hoflack war von ihm abgefallen, die alte deutsche Kampflust hervorgebrochen, die nun einmal in den starken Knochen steckt. Immer begehren sie dreinzuschlagen.

Kiliane rang die Hände. „Wenn Deine Mutter lebte, Konrad. Dann könnte ich zu Dir flüchten, bis auch für uns das Segenswort gesprochen wird.“

Da trat der Superintendent heran. „Ich werde es sprechen auch über Sie wie über meine Kinder. Eine Nottrauung wie so manche Nottaufe – ich will’s verantworten vor Gott und den Menschen.“

Eichfeld beugte in wortloser Dankbarkeit sich vor dem würdigen Mann, Kiliane drückte die Lippen auf seine Hand.

„So bereitet Euch alle zum Kirchgang,“ sagte Olearius. „Dann muß jedes in sein Heim ziehen.“

„Ja wohl, Herr Superintendent,“ antwortete für die andern Fieke. „Mamsell Lenchen, borge Sie dem Frölen ein Paar trockene Strümpfe und ganze Schuhe; sie läuft ja barfuß. Und in einem Morgenkleid kann doch niemand vor den Altar treten. Sie hat schon alle Kleider ins Struvesche Haus geschafft? Na, das rote Kamisölchen und der chokoladefarbige Rock, der mein Brautputz war, hängt da. Ach, du lieber Gott, woher sollen genug Kränze kommen? Nein, Ihren Kranz darf Sie nicht zerteilen, Mamsell Lenchen! Sonst nimmt eine der andern das Glück weg.“

Schon band die würdige Hausfrau mit fliegenden Fingern aus den Zweigen von Lenchens Myrtenstöckchen den fehlenden Schmuck. (Schluß folgt.)


[740] 0


BLÄTTER UND BLÜTEN.


Kinderlieder von Karl Reinecke. Wie viele Kinder werden mit ungenügendem Talent ans Klavier gesetzt, wie wenige aber stehen singend um die am Klavier sitzende Mutter! Und doch ist letztere Uebung nicht nur eine Freude fürs Haus, sondern auch zugleich ein sicherer Prüfstein des musikalischen Gehörs beim ganz jungen Kinde, so daß viel unnützer Klavierunterricht könnte gespart werden, wenn man die Fähigkeit oder Unfähigkeit eines Sechsjährigen zum Nachsingen einer Melodie in Betracht zöge! Gegenüber dem Mangel, der verhältnismäßig noch immer an leicht singbaren, echt musikalischen Kinderliedern besteht, sind nicht genug die beiden Hefte „Kinderlieder“ von Karl Reinecke, die der Verlag von Breitkopf und Härtel in Leipzig uns in einer neuen Auflage vorlegt, zu empfehlen, da sie den Müttern einen wahren Reichtum an sangbaren, echt melodischen Liedchen darbieten. Sehr einfache machen den Anfang, aber auch in ihnen wirkt die Harmonie eigenartig, weit von einer trivialen Begleitung entfernt. Bei den etwas schwereren des zweiten Heftes, z. B. bei dem reizenden „Zwiegesang“, gelangt ein musikalisch begabtes Kind bereits zu einer Vorahnung künstlerischen Bewußtseins, während die heiteren, z. B. der reizend drollige „Geburtstagsgratulant“, viel Freude im Familienkreis erregen werden. Die Wahl der Texte ist meistens glücklich, doch fragt man sich hier und da: warum schöpfte der Komponist nicht lieber aus der herrlichen „Kinderheimat“ von Friedr. Güll als aus Kate Greenaways gezierten und in der Uebersetzung noch duftloser gewordenen Liederchen? Für ein drittes Heft möchten wir ihm jenes wahrhaft goldene Kinderbuch ebenso empfehlen wie die beiden jetzt erschienenen den Eltern und Erziehern! Bn.     

Die Stechpalme im Volksmunde. Eine charakteristische Erscheinung in den Wäldern des nordwestlichen Deutschlands und jenseit der Elbe in der Priegnitz, in Mecklenburg, auf Rügen ist der glänzend grüne Hülse- oder Stachelblattstrauch, hier und da auch Stacheleiche, meist jedoch Stechpalme (ilex aquifolium) genannt. Wenn alle anderen Sträucher ihr Laub abgeworfen haben, erfreut die Stechpalme allein das Auge durch ihre immergrünen glänzenden Blätter, und diese Eigenschaft und die eigentümlichen Stacheln der Blätter mögen die Veranlassung zu mancherlei Sagen gegeben haben. Eine Züricher Sage, die A. von Perger mitteilt, bringt die Stechpalme mit dem Einzuge Christi in Jerusalem in Verbindung. Als die Juden ihr: „Kreuziget ihn!“ riefen, da bekam die Palme, deren Blätter ihm zu Ehren auf den Weg gestreut worden waren, sogleich Dornen und es entstand die „Stechpalme“; zum Andenken an den Tod des Heilandes bleibt sie immer grün. Wahrscheinlich hängt diese Sage mit dem in den Alpen üblichen Gebrauche zusammen, die Stechpalme bei der kirchlichen Feier am Palmsonntage anstatt der fehlenden echten Palmzweige zu verwenden, wie dies anderwärts, so am Rhein, mit dem Buchsbaum geschieht, der hier im Volke gleichfalls „Palm“ heißt.

Der Name Hülse, englisch holly, ist meist im Norden in Brauch und hat sich auch auf Familiennamen (Hülsmann, Hülskamp, Hülswitt) sowie auf Ortsbenennungen übertragen, wie z. B. Hülsebeck, ein Ort, in dessen Nähe der Strauch vielfach vorkommt. Bekannt ist ferner der Ausdruck: „böse Hülse“ für ein widerborstiges Frauenzimmer:

„Ilse Bilse, Niemand will se,
die böse Hülse!“

Als Zierstrauch ist die Stechpalme sehr beliebt; sie mag schon ein Schmuck der Wundergärten des Albertus Magnus gewesen sein; auch zur Verwendung als Laubgewinde bei Volksfesten eignet sie sich vorzüglich; schon in alten Zeiten ist sie hierzu benutzt worden, wie wir dem Buche des Engländers Gordon „Birthday flowers“ („Geburtstagsblumen“) entnehmen. Vor allem sind ihre Zweige aber in England beliebt als Zimmerausschmuck zur Weihnachtsfeier.

Spiritus aus vorweltlichen Stoffen. Daß man aus Holz Zucker und aus diesem wieder Spiritus herstellen kann, ist den Chemikern schon lange bekannt. Man hat nur das fein zerkleinerte Holz mit Schwefelsäure zu behandeln, dann bildet sich der Zucker, und diesen durch Gärung in Alkohol zu verwandeln, ist leicht. In der That hat man auch eine solche Fabrikation im großen einzuführen gesucht; sie ist jedoch an den hohen Kosten gescheitert. Insbesondere ist die Zerkleinerung des Holzes mit einem zu großen Kraft- und Geldaufwand verbunden. Auch ist das Kochen des Holzstoffes mit Schwefelsäure, was unter künstlichem Druck geschehen muß, ziemlich teuer. Kurz, die Sache ging technisch wohl, war aber wirtschaftlich nicht lohnend.

Neuerdings hat nun ein Chemiker sich ein Verfahren patentieren lassen, nach welchem das Holz durch Torf ersetzt wird. Der Torf besteht bekanntlich aus untergegangenen Pflanzen, die zum größeren Teile gewachsen sind, bevor der Mensch in die Schöpfung eintrat. Durch Naturereignisse wurden diese Pflanzen bedeckt und vermoderten allmählich zu Torf. Das Verfahren der Gewinnung des Spiritus aus Torf vermeidet also in erster Linie die Zerkleinerungskosten und scheint der Gewinnung des Spiritus aus der Kartoffel ernstlich an die Seite treten zu wollen. Der Torf hat nämlich eine niedrige Zersetzungstemperatur und kann bei einem Druck von etwa zwei Atmosphären gekocht werden (Holzstoff erfordert nahezu fünf Atmosphären); außerdem ist er als Rohstoff sehr billig. Auf Einzelheiten können wir hier nicht näher eingehen, aber bemerkenswert ist das Endergebnis, nach welchem aus 1000 Kilo trockenen Torfes annähernd soviel Alkohol gewonnen wird wie aus 500 Kilo bester Kartoffeln.

Hoffentlich ist dieser vorweltliche Spiritus so gut abgelagert, daß er weder dem Trinkenden noch den Kartoffelspiritusfabrikanten Kopfschmerzen machen wird.

Der Eifersüchtige. (Zu dem Bilde S. 725.) Ein kleiner Mann erträgt es so wenig als ein großer, daß „sie“ mit einem andern schönthut, aber er besitzt einen großen Vorzug vor diesem: er darf aus Leibeskräften brüllen und den glücklichen Nebenbuhler so lange am Rockzipfel reißen, bis das ärgerliche Verhältnis sich notgedrungen löst und der Friede auf dem grünen Spielplatz wieder einkehrt, der durch die plötzliche Zärtlichkeitsanwandlung der hübschen jungen Tante so bedauerlich gestört wurde. Wie viele Duelle weniger gäbe es in der „großen Welt“, wenn sie hierin die einfachen Sitten der „kleinen“ bewahrt hätte! Bn.     

In der Barbierstube. (Zu dem Bilde S. 728 und 729.) Der Maler unseres Bildes, David Col, ist ein Belgier, der durch seine fein ausgeführten Darstellungen altniederländischen Volkslebens zu Ruf und Ansehen gelangt ist. Die große Barbierstube, in deren malerisch bewegtes lärmendes Treiben er uns hier versetzt, veranschaulicht uns aufs lebensvollste die bedeutsame Rolle, welche für die geselligen und Unterhaltungsbedürfnisse des Volkes noch im vorigen Jahrhundert weit mehr als heute den Werkstätten der Bartscherer und Haarkünstler zufiel. Die weiträumige alte Halle mit dem räucherigen Kamin und der oben hinziehenden Galerie ist echt altniederländischen Charakters. Und nicht weniger das ganze Treiben darin. Zeit ist hier entschieden noch nicht Geld: es hat’s niemand eilig, weder der mit den primitivsten Werkzeugen, ohne Dusche und „shampoing“ arbeitende Haarkünstler rechts, noch sein geduldiges Opfer, noch die so verschiedenen anderen Kunden, welche umhersitzen und plaudernd warten, bis an sie die Reihe kommt. Und nun vollends die Hauptpersonen der Handlung, die beiden weiblichen Barbiere, die Frau und Tochter des Hausherrn – mit welcher großartigen Selbstverständlichkeit lassen sie ihre Eingeseiften an der Luft trocknen (der eine muß auch noch dazu die Schüssel halten), bis der Herr Kurier, der galante Schwerenöter der Gesellschaft, seine sämtlichen Späße und Neuigkeiten vor ihren entzückten Ohren zum besten gegeben hat! Keiner der also Behandelten wagt auch nur zu mucksen, sie sind gänzlich in ihr Schicksal ergeben. Anderseits tupft auch ein kürzlich Absolvierter nur mit stummer Wehmut vor dem Spiegel auf ein Schnittchen, welches er, bei allem Respekt vor diesen resoluten Weiblichkeiten, doch nicht als Verschönerung seines Antlitzes aufzufassen vermag!

Wildfütterung im Königlichen Tiergarten zu Moritzburg. (Zu dem Bilde S. 737.) In einer wasserreichen, durch etwa 30 Teiche ausgezeichneten Gegend, drei Stunden nördlich von Dresden, am Rande der Dresdener Heide, ließ Kurfürst Moritz von Sachsen im Jahre 1543 ein Jagdschloß erbauen. Romantisch erhob sich die neue „Moritzburg“ auf einer Jnsel des an 900 Meter langen „Schloßteiches“ und ihre Lage gefiel den Nachfolgern des Gründers, die das Schloß erweiterten und verschönerten. Der prachtliebende August der Starke gab hier so manches seiner üppigen Jagd- und Hoffeste in Gegenwart glänzender Kavaliere und in Schönheit erstrahlender Damen und damals schaukelte auch auf den Wogen des Großen Teiches eine Fregatte, die der verschwenderische Fürst, der gleichzeitig mit dem sächsischen Kurhut die Krone Polens trug, mit holländischen Matrosen bemannen ließ. In unseren Tagen kommt der sächsische Hof seltener nach der Moritzburg, aber gerade in dieser Verlassenheit macht das Schloß mit seinen herrlichen Teichen, Parkanlagen, Pavillons etc. einen geradezu märchenhaften Eindruck. Die Dresdener können es mit der Bahn in einer Stunde erreichen und suchen oft in dem romantischen Parke Erholung. Beliebt als Ausflugsort ist namentlich der große Wildpark, der sich durch einen prachtvollen Wildstand auszeichnet. Die Tiere sammeln sich täglich am Spätnachmittage an gewissen Plätzen, um ihre Fülterung zu erwarten. Aus allen Richtungen kommen Hirsche, Rehe und Wildschweine aus dem Walde auf die Wiesen und ein eigenartiger Anblick ist es dann, die zierlichen Rehe inmitten der borstigen Unholde, der Wildschweine, zu sehen, während der majestätische Hirsch mit seiner Sippe im Hintergrunde hält, dem Menschen nicht recht trauend. Diese anmutige und fesselnde Scene in dem stillen Wildparke hat Prof. J. R. Wehle auf unserem Bilde lebensvoll wiedergegeben.


Kleiner Briefkasten.

A. H., Ingenieur der österr.-ungar. Staatseisenbahn in Wien. Wir bitten um Angabe Ihrer vollständigen Adresse.

J. K. in Marienwerder. Wir sind ganz mit Ihnen einverstanden, daß die Verbreitung staatsrechtlicher und volkswirtschaftlicher Kenntnisse in den breiten Schichten des Volkes in unseren Zeiten von hohem Werte ist. Schon das Allgemeine Wahlrecht legt jedem männlichen Staatsbürger die Verpflichtung auf, sich über staatliche Angelegenheiten, soweit es in seinen Kräften steht, zu unterrichten. Als eine Schrift, die diesem Zwecke dient, nennen wir Ihnen die bei R. Voigtländer in Leipzig herausgekommene „Deutsche Bürgerkunde“ von Dr. A. Giese.


manicula 0Hierzu Kunstbeilage XII: Aïda. Von E. Eisman-Semenowsky.

Inhalt: Die Lampe der Psyche. Roman von Jda Boy-Ed (3. Fortsetzung). S. 725. – Der kleine Eifersüchtige. Bild. S. 725. – In der Barbierstube. Bild. S. 725. – In der Barbierstube. Bild. S. 728 und 729. – Gefährliches Kochgeschirr. Von M. Hagenau. S. 731. – Lehren und Lernen im Blindeninstitute. Von J. Mohr, Direktor der Provinzial-Blindenanstalt in Hannover. S. 732. Mit Abbildungen S. 732, 733, 734 und 735. – Sturm im Wasserglase. Roman aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts. Von Stefanie Keyser (9. Fortsetzung). S. 736. – Wildfütterung im Königlichen Tiergarten zu Moritzburg. Bild. S. 737. – Blätter und Blüten: Kinderlieder von Karl Reinecke. S. 740. – Die Stechpalme im Volksmunde. S. 740. – Spiritus aus vorweltlichen Stoffen. S. 740. – Der Eifersüchtige. S. 740. (Zu dem Bilde S. 725.) – In der Barbierstube. S. 740 (Zu dem Bilde S. 728 und 729.) – Wildfütterung im Königlichen Tiergarten zu Moritzburg. S. 740. (Zu dem Bilde S. 737.) – Kleiner Briefkasten. S. 740.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.