Die Gartenlaube (1895)/Heft 44

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[741]

Nr. 44.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Die Lampe der Psyche.

Roman von Ida Boy-Ed.

     (4. Fortsetzung.)

5.

In gewissen Zwischenräumen empfand die Herzogin das Bedürfnis, sich den Interessen des hohen Gemahls teilnehmend und fördernd zuzuwenden.

Sie hielt dies für ihre Pflicht als liebende Gattin, und als solche sich vor der Welt zu zeigen, war sie stets ängstlich bemüht. An die Heirat des herzoglichen Paares hatte sich seinerzeit ein arger Zeitungsklatsch geheftet: man sprach davon, daß die Tochter des kleinen, mediatisierten Fürsten eine Neigung zu dem Arzt ihres Vaters im Herzen getragen habe; man wollte wissen, daß auch der Herzog sich nur widerwillig zu einer Ehe habe bestimmen lassen und daß bei der Wahl schließlich die Freundschaft mit gesprochen, die ihn mit dem fast berüchtigt lebenslustigen Vater der jetzigen Herzogin verband. „Wenn ich denn ins Joch soll,“ sollte er gesagt haben, „wähle ich die Prinzessin Agathe, die hoffentlich ein wenig von dem Temperament und Esprit ihres Vaters geerbt hat.“ Der Herzogin waren diese Klatschereien nicht verborgen geblieben, und da sie in Wahrheit keinerlei andere Neigung im Herzen gehabt als die schüchterne und dankbare für den, der ihr Gatte geworden, so fühlte sie das nicht immer glücklich zum Ausdruck gebrachte Bedürfnis, dem Hof etwas zu „beweisen“. Daneben war sie jahraus jahrein besorgt, zu bethätigen, daß der leichtsinnige Ton am Hof ihres Vaters nicht auch ihr, einer regierenden Fürstin Ton sei, und ergab sich einer christlichen Wohlthätigkeit, bei deren Formen, Grenzen und Geist sie längst nicht mehr Herrin, sondern das Werkzeug ihrer „Helfer“ war.

Jene kurzen, programmmäßig vorher ausgearbeiteten Beweise von Anteilnahme an einer Sache, zu der die Herzogin ihrer Veranlagung nach gar keine seelische Beziehung gewinnen konnte, wirkten immer ungemein frostig. Es war ungefähr so, als hätte die Herzogin bei der Frage an ihre Oberhofmeisterin: „Liebe Gräfin, was habe ich heute alles zu thun?“ anstatt der Antwort: „Um elf Uhr wollten Hoheit die Gnade haben, den Pastor Bücking zum Vortrag über das Diakonissenheim zu empfangen und um zwölf Uhr hatten Hoheit huldvollst den Volksküchen einen Besuch in Aussicht gestellt,“ die andere Antwort empfangen: „Von elf bis zwölf Uhr dachten Hoheit sich gnädigst für Musik und Seine Hoheit den Herzog zu interessieren.“

Die ganze Umgebung der Herzogin und die Damen, welche zu näherem Verkehr herangezogen wurden, wurden allemal von einer gewissen Angst ergriffen, wenn ein solcher „Beweis von geistiger Uebereinstimmung der hohen Gatten“ in Aussicht schien, denn die Sache ward immer ungeschickt angefangen und endete mit einer Verstimmung des Herzogs.

Die Herzogin überraschte den Herzog mit einem Konzert in ihren Gemächern, in welchem Künstler sangen, die gerade beim Herzog mißliebig geworden waren, und

Der Heimat zu!
Nach einem Gemälde von H. Bacon.
Photographie im Verlag von Braun, Clément & Cie. in Dornach.

[742] ließ Kompositionen vortragen, die den Herzog zu Tode langweilten.

Oder die Herzogin gönnte der Oper unverhofft ihren Besuch an Abenden, wo der Herzog gern ungestört in seiner kleinen Loge und dem daran stoßenden lauschigen Salon geblieben wäre und wo ein Werk aufgeführt wurde, das die Seele der Herzogin beleidigte.

So war ihr letzter „Teilnahmebeweis“ ein unerwarteter Besuch gewesen, als Verdis „Traviata“ gegeben ward. Und selbstverständlich mußte die hohe Dame den Gatten darauf aufmerksam machen, welchen Schmerz es ihr bereite, in einem Kunstinstitut, das den geistigen Stempel von Seiner Hoheit empfange, ein solches unmoralisches Werk aufgeführt zu sehen.

Der Herzog wetterte nach solchen Vorfällen und meinte, ob denn niemand seine Gemahlin in solchen Fragen berate, und wozu denn die Oberhofmeisterin da sei.

Allein er hatte gut reden: es stand im Pflichtenprogramm der Herzogin, daß „die intimen seelischen Beziehungen zwischen ihr und dem Gemahl mit Zartheit zu pflegen und der Einmischung der Hofchargen zu entziehen seien.“

Und für die Aeußerungen dieser „seelischen Beziehung“ nahm sie keinen Rat an.

Die bevorstehende Aufführung eines Werkes des hochfürstlichen Vetters war eine neue Gelegenheit für die Herzogin, ihrem Gemahl „eine Freude“ zu machen. Die Spötter am Hof behaupteten, in jedem Quartal genüge sie einmal dieser Pflicht, und somit war für das letzte Quartal dieses Jahres noch ein solches Ereignis in Aussicht gewesen.

Eine Zeit lang hatte die Herzogin den Plan gehabt, zur ersten Aufführung der „Zenobia“ einen berühmten Dirigenten heimlich einzuladen und Seiner Hoheit die Ueberraschung zu bereiten, daß anstatt Flemmings ein hochberühmter Mann den Taktstock führe. Alle Welt zitterte: der in Aussicht genommene Mann gehörte musikalisch einer vollkommen anderen Richtung an; Flemming würde sich tödlich beleidigt fühlen und dem Herzog sofort die Bitte um seine Entlassung senden, der Herzog würde alles vor der Aufführung erfahren – denn an eine Verwirklichung der Idee war aus künstlerischen Gründen ja gar nicht zu denken – und es würde ein schönes Unwetter geben.

Zum Glück erkrankte die Lorenzen und an dem nun etwas hinausgeschobenen Aufführungstag war jener Dirigent verhindert.

Die Herzogin war trostlos. Der erste Einfall hatte schon so viel Mühe zu denken gekostet. Woher einen andern nehmen?

Da kam Hortense und brachte der Herzogin einen Beitrag für den Christlichen Jünglingsverein. Die Kluge hatte durch die Oberhofmeisterin von der Dirigentengeschichte gehört, und da sie fürchtete, Hoheit könne einen andern Einfall von ähnlicher Naivetät und ähnlicher Beleidigung für René Flemming aushecken, so wollte sie vorbeugen.

„Ich möchte von Hoheit einen gütigen Rat erbitten,“ sagte sie, als sie die heiteren Blicke der Herzogin sah, mit denen diese das empfangene Geld überflog.

„Gern, liebe Eschen,“ antwortete die Herzogin gnädig, die von der Autorität und Tiefgründigkeit ihrer Ratschläge felsenfest überzeugt war.

„Da die ‚Zenobia‘ hinausgeschoben werden mußte, möchte ich der Hofgesellschaft gern Gelegenheit geben, Einiges aus dem Werke kennenzulernen. Man brennt vor Ungeduld. Ob Seine Hoheit es wohl unbescheiden fände, wenn ich auf einer Soiree durch Flemming einiges spielen ließe? Auch könnte Bärwald, der den Aurelianus singt, seine große Scene vortragen.“

Die Herzogin seufzte befriedigt.

„Liebe Eschen,“ sagte sie wichtig, „ich nehme jede Verantwortung auf mich und verspreche, mit meinem Gemahl für eine Stunde auf Ihrer Soiree zu erscheinen.“

Hortense versicherte, auf so viel Gnade gar nicht gefaßt gewesen zu sein, und schied vergnügt.

Die Herzogin aber, mit ihrer schleppenden Sprache, sagte bei der Tafel zu ihrem Gemahl, daß es ihr Wunsch gewesen sei, auch ihrerseits das künstlerische Unternehmen zu fördern – der Herzog erschrak – und daß sie deshalb die liebe gute Eschen bestimmt habe, eine Soiree zu geben, in welcher Flemming und Bärwald einiges aus ‚Zenobia‘ vortragen würden – der Herzog atmete auf. Er küßte seiner Gemahlin diesmal aufrichtig dankbar die Hand und betonte die Genugthuung, die es ihm gewähre, sich in diesem seinen Kunststreben völlig eins mit der Gefährtin seines Lebens zu wissen. Die Herzogin sah befriedigt alle Anwesenden an.

Hortense lachte, als man ihr das wieder erzählte, und versicherte, daß es in der That der Einfall der Herzogin gewesen, nahm aber den sichtlichen Unglauben nicht übel.

Nun hieß es sich tummeln – halb Leopoldsburg kam wegen dieser Soiree in Aufregung. Sogar Magda. Denn, daß sie hierbei, wo ihr Verlobter sich glänzend zeigen sollte, nicht fehlen dürfe, verstand sich von selbst für Hortense; obenein hatte die Herzogin Magdas noch neulich lobend erwähnt und erklärt, das symbolische Blumenstück mit den Dornen, Passionsblumen und Christrosen sei ein Meisterwerk.

„Putz’ Dich heraus, Kind,“ schrieb Hortense ihr, „damit die Herzogin, wenn sie Dich anspricht, kein Mitleid fühlt. Du weißt, das Mitleid unserer guten Hoheit kann sich sehr kränkend äußern.“

Magda that etwas Großartiges: sie ließ sich ein neues seidenes Kleid machen, das erste, seit ihr Papa „a. D.“ war. Sie tröstete sich immerfort damit, daß sie ein solches Stück nachher als junge Frau doch hätte haben müssen.

Die Wichtigkeit und Freude dieses Ereignisses konnte sie nicht allein tragen. Nicolai mußte die Stoffproben besehen und seinen Rat geben. Er war dabei so glücklich, als sollte er selber zu Vergnügen und Glanz gehen. Nach unendlichen Zweifeln entschloß Magda sich, unter der Zustimmung Nicolais, für Hellblau. Das Machen und der Besatz durften nicht viel kosten. Die Schneiderin saß zwei Tage im Atelier und Magda half tüchtig. Sogar Frau Sekretär Böhmer, die Flurnachbarin und Wirtin Nicolais, kam und machte Knopflöcher und zog Reihfäden aus.

Am festlichen Abend selbst war die ganze Etage einstimmig der Ansicht, daß Magda wundervoll aussehe. Die lichte Gestalt, von blauem Seidenschimmer umgeben, hatte ein sonderbares Publikum um sich: die treue Kathi mit einer frischen weißen Schürze und auf Socken, um durch keine rauhe Berührung das köstliche Kleid zu verderben, die Frau Böhmer mit den Mienen der Sachverständigkeit und endlich den vor Freude strahlenden Nicolai, der den Lichteffekt auf dem glänzenden Faltenwurf studierte. Aber sie waren alle sehr glücklich; die Hauptperson und ihr Publikum.

Daß Magda den Geliebten mehr als acht Tage nicht gesehen, war wie ausgelöscht aus ihrem Gedächtnis. Sie bebte vor Freude auf die kommenden Stunden. –

Das Trachsche Haus erstrahlte in Licht, und das Vestibül war wegen der zu erwartenden allerhöchsten Herrschaften mit Lorbeeren und Blumen wunderbar geschmückt. Oben in den Sälen war es schon sehr voll. Magda konnte schwer bis zu Hortense vordringen, und als sie sich ihr gerade nähern wollte, eilte die Hausfrau davon. Man hatte ihr das Zeichen gegeben, daß der Wagen der herzoglichen Herrschaften nahe, und sie hatte dieselben im Vestibül zu empfangen, unter dem Beistand des unten im Hause wohnenden Oberst von Waldheim.

Oben entstand eine drängende Bewegung. Magda fand sich neben einigen bekannten Damen bald eingekeilt, als die Gesellschaft zur Ruhe kam und eine Gasse für die Hoheiten gebildet hatte. Nun erst sah Magda ein bißchen umher.

Hier in der Menge der weißen, gelben, hellblauen und rosa Kleider, die zum Teil von Putz reich glänzten, schien sich die strahlende Pracht ihres eigenen Gewandes zur Bescheidenheit zu verflüchtigen. Aber das machte Magdas Laune nicht sinken. Eher schon, daß sie gar nichts von René sah.

Drüben stand Lilly von Wallwitz, vorn in der Reihe. Sie war sehr keck angezogen, in lebhaftem Gelb, und opalisierende Schmetterlinge waren an ihrer Taille, ihren Schultern, auf ihrem Rock befestigt.

„Die Wallwitz hat wohl gedacht, es sei Maskerade,“ sagte eine Dame. Eine andere antwortete: „Das Kleid ist aus Paris und es ist neueste Mode.“

Magda mußte immer hinsehen.

Dann wurde es still, man verneigte sich, die Hoheiten passierten. Alles drängte nach zum Musiksaal.

Dort war ein Podium errichtet, darauf ein Flügel stand.

Die Herrschaften nahmen Platz, hinter ihnen, soweit der Raum gestattete, die übrige Gesellschaft. Die Mehrzahl der Herren mußte zu ihrer Freude in den anderen Zimmern und Sälen sich verteilen. [743] Das Konzert konnte beginnen. Hortense erbat die gnädige Erlaubnis dazu von der Herzogin, und alsbald betrat René das Podium. Er hatte sich an der einen Seitenwand des Saales mühsam entlang drängen müssen.

Magda empfand einen kurzen Augenblick Unbehagen. Ihr schien es, als sei René durch das Podium von der Gesellschaft getrennt, als gehöre er nicht zu ihr, jetzt, da er so „auftrat“. Sie erinnerte sich ganz genau, von welch hohem Standpunkt aus früher ihr Papa auf alle ausübenden Künstler herabgesehen. Sie wunderte sich, wie ihr das so anflog. Und sie lächelte wehmütig in sich hinein: was würde ihr Vater sagen, wenn er wüßte, daß sie für Geld malte! Plötzlich wallte noch ein kleiner nachträglicher Trotz in ihr auf gegen die einstigen Ansichten des Papas. Die hatten sich ihr unbemerkt so eingeprägt, daß sie offenbar Spuren in ihrer Seele hinterließen. Sie pochte innerlich darauf, daß sie auch zur „Kunst“ gehöre, und bat René im Geist die kleine Vorurteilsanwandlung ab.

Nun begann er zu spielen. Er hatte so recht die Kapellmeisterart, den Flügel zu behandeln: mit etwas hartem Anschlag, aber ungemeiner Klarheit des Vortrages. Auch wußte er dem Instrument wahrhaft orchestrale Macht und Färbung des Tones abzuringen. Er spielte aus der Partitur.

Das eigentlich musikalisch Großartige seines Vortrages verstanden keine zehn Menschen im Saal.

Als die „Zenobia“-Ouverture beendet war, richtete die Herzogin einige leutselige und verständnislose Worte an René. Er ließ sie mit ergebener Höflichkeit an seinem Ohr vorbeigehen.

Dann sang Bärwald eine endlose Sache in einer sehr befremdenden Deklamation, worauf René noch den Triumphmarsch spielte, unter dessen Klängen in der Oper Zenobia von Aurelian den Römern vorgeführt wird.

Die Herzogin überschüttete ihren Gemahl mit Komplimenten, als habe er die Oper komponiert und soeben selbst gespielt. Als das letzte Wort der Bewunderung gesagt war, atmete sie auf und die ganze „Zenobia“ fiel bei ihr gleichsam wie in eine Versenkung.

Die Herrschaften hielten Cercle, nahmen noch eine Erfrischung an und zogen sich zurück. Nur der Erbprinz Arthur, des Herzogs Neffe, blieb und setzte jedermann in Verlegenheit durch seine Witze über das Werk des hohen Komponisten.

Magda hatte langsam den einen Sorgengedanken in sich auftauchen gefühlt: was René wohl leidet!

Aber allmählich kam ein freierer Ton in die Gesellschaft. Magda hoffte inbrünstig, daß René sie suchen und daß es sich so machen würde, daß sie zusammen an einem der kleinen Tische zu sitzen kämen, die inzwischen im ersten Saal aufgestellt wurden. Zu vieren und sechsen konnte man sich beliebig zu einander finden. Sibylle Lenzow hatte sich an ihren Arm gehängt und ihr zugeflüstert, daß sie Wallwitz heute abend näher kennenlernen müsse, sie solle mit ihnen zu Tisch gehen.

Da endlich trafen sie auf René. Er grüßte sehr artig und mit einer Unbefangenheit, die Magda beinahe kränkte. Sie hätte gewünscht, ein Aufblitz seiner Augen, ein besonders freudiger Ton seiner Stimme würde ihr sein Vergnügen verraten. Sibylle war kein gefährlicher Zeuge. Er überflog nicht einmal mit einem prüfenden Blick ihre Kleidung und sie hatte sich doch für ihn geschmückt.

„Es ist das erste Mal, daß ich Sie spielen hörte, Herr Hofkapellmeister,“ begann Magda.

„Meine Damen,“ sagte er und faltete die Hände, „wenn noch irgend jemand ein Wort zu mir von der ‚Zenobia‘ spricht, geschieht ein Unglück.“

Er sah wahrhaft verzweifelt aus. Sibylle lachte.

„Was hat die Herzogin zu Ihnen gesagt? Ich konnte sehen, daß Sie so ein versteinertes Gesicht machten und sich nachher besonders tief verbeugten?“ fragte sie.

„Die Herzogin hat mir gesagt, ich sei noch zu jung, um ganz die hohe Ehre zu würdigen, die mir zu teil werde durch das Einstudieren des erhabenen Werkes, bemerkte aber noch zu Höchstihrem Gemahl, dem Herzog, ich verdiene solche künstlerische Aufmunterung und werde gewiß in ihr den Antrieb zu weiterem ernsten Streben finden.“ René sah dabei Magda mit lachenden Augen an.

„Und der Herzog?“ fragte Magda glücklich, daß er es von der komischen Seite nahm.

„Der Herzog hat mir, als er dies hörte, so kraftvoll und sprechend die Hand gedrückt, wie nur eben er es kann.“

„Essen Sie mit uns? Wir sind mit dem Lieutenant Wallwitz verabredet,“ sagte Sibylle.

„Unglücklicherweise bin ich verpflichtet, Bärwald ein bißchen ins Schlepptau zu nehmen. Er ist zum erstenmal in der Gesellschaft. Wir haben uns mit einigen Herren verabredet.“

„So weit hätte er die Vorsicht nicht zu treiben brauchen,“ dachte Magda enttäuscht und malte sich aus, wie schön es wäre, wenn sie jetzt an seinem Arm als seine Braut durch die Räume gehen könnte. Die Heimlichkeit war doch schwer zu tragen.

„Ich bedaure dies um so mehr,“ setzte René hinzu, „als man so selten das Vernügen hat, Fräulein Ruhland in Gesellschaften zu treffen.“

Dabei sah er Magda herzlich an. Ihr schien sehr viel in diesem Blick zu liegen. Er ward ihr zu einer kleinen Entschädigung.

Bald nachher fand sie sich mit Sibylle, Wallwitz und dem Intendanten von Rechenbach an einem Tisch. Rechenbach war nur der Schatten eines Beamten und trat nur in die Erscheinung bei Repräsentationsgelegenheiten oder bei Budgetfragen. Der Herzog spielte selbst den Oberleiter. Unter dem Ministerium Ruhland war Rechenbach vortragender Rat gewesen, freilich kein Beamter nach Ruhlands Sinn. Von jener Zeit her hatte Rechenbach viel Sympathie für Magda, in der er ein Opfer väterlicher Tyrannei sah. So erwies er ihr bei den seltenen Gelegenheiten, die sich ergaben, viel Aufmerksamkeit.

Das Stimmengeschwirr, die Hitze, die große Helligkeit und die innere Aufregung machten Magda ganz schwindlig. Auch spähte sie immer umher, ob sie nicht zwischen den vielen glatzköpfigen grauen, schwarzen, blonden, gestriegelten Köpfen den einen gewissen dunklen Kopf herausfinden könnte.

„Unser Kapellmeister hat sich da ja eine ganz weiberfeindliche Ecke gebildet,“ sagte Rechenbach. Magda drehte den Kopf nach der bezeichneten Ecke, konnte aber doch nichts sehen. Aber es that ihr wohl, daß René, da er nicht mit ihr zusammensitzen konnte, jede andere Dame verschmäht hatte. –

Die Gesellschaft, welche sich auf dem Wallwitzschen Ball und nach dem Offiziersthee sehr über Lillys Betragen aufgeregt hatte, konnte sich beruhigen – oder vielmehr hätte Gründe gehabt, sich noch mehr zu entrüsten. Denn um René Flemming kümmerte sie sich gar nicht, aber sie saß mit Johanna von dem Busche und vier Lieutenants an einem Tisch und entwickelte gegen alle vier eine Lebhaftigkeit, die man herausfordernd nennen konnte. Sie war sprühend von Uebermut; die Herren kamen von einem Entzücken in das andere und versicherten, „so etwas“ von „Verve und Chic“ sei in Leopoldsburg noch nicht dagewesen. Lilly war schon deshalb so lustig, weil René keine Dame führte. Sie hatte ihm nur die allerältesten Jahrgänge erlaubt. Es that ihr wohl, daß er, da er nicht mit ihr zusammensitzen konnte, jede andere Dame verschmäht hatte. –

Später geschah es, daß Lilly auf Sibylle zuflog und sie küßte und nebstbei dem Bruder die Hand gab. Walfried war sehr befriedigt, daß seine lebhafte kleine Schwester heute ihre Keckheiten an eine andere Adresse richtete als an die Flemmings. Solche starken Kokettierverhältnisse ohne Ernst und Ziel waren ihm verhaßt. Sie raubten in seinen Augen einer Dame den Zauber der Vornehmheit und brachten den Mann in Gefahr, sich wirklich und hoffnungslos zu verlieben. Wenn sie aber jedesmal mit einem andern so wichtig that, mochte man es für ein noch ungezügeltes Restchen Mädchenwildheit nehmen.

Magda stand am Arm des Herrn von Rechenbach noch daneben, man hatte eben erst den Speisesaal verlassen.

„Pardon,“ sagte Sibylle, „Ihr kennt Euch nicht: Lilly von Wallwitz – Magda Ruhland, meine Freundin,“ schloß sie mit etwas starker Betonung.

Die braungoldenen Augen schlossen sich ein wenig und ein hochmütiger Blick flog über Magda hin.

„Mir ist doch so – – ah, wir sahen uns einmal in der Oper,“ bemerkte Lilly halb fragend.

Für einen Augenblick fühlte Magda wie ein gereiztes Schulmädel. In eiskaltem Ton sprach sie: „Ich erinnere mich nicht.“

Und erinnerte sich nur zu genau an dieses aufdringliche, schöne Mädchengesicht.

Lilly dachte nicht daran, sich zu ärgern. Ueber die ablehnende [744] Haltung von Damen sah sie mit vollkommener Gleichgültigkeit hinweg. Sie ging weiter und traf auf René Flemming. Magda sah es und ihr fiel das Gerede der Malschülerinnen ein. Sie fühlte einen großen, ängstlichen Schmerz in sich aufwallen – die Eifersucht.

„Guten Abend, Herr Hofkapellmeister,“ sagte Lilly laut. Und zwischen den Zähnen, leise, aber das Gesicht strahlend zu ihm erhoben, flüsterte sie: „Ist diese Komödie nicht unmenschlich amüsant?“

Er küßte ihr die Hand.

Magda sah mit klopfendem Herzen zu. Behielt er diese Hand nicht unnötig lange zwischen seinen Fingern? Suchte sein Auge nicht mit einem besonderen Blick dies lachende Gesicht?

„Nein,“ dachte sie gequält, „ich kann die Heimlichkeit nicht mehr ertragen. Diese Lilly würde nicht wagen, so zu ihm aufzublicken, wenn sie wüßte, daß ich seine Braut bin.“

Wie konnte sie ahnen, daß Lilly, die den ganzen Abend vorsichtig sich von Flemming fern hielt, gerade ihretwegen, für sie zum Schauspiel, jetzt einen Augenblick lang die Intimität mit ihm sichtbar werden ließ! Denn irgend jemand hatte ihr erzählt, daß René Flemming manchmal mit diesem Fräulein Ruhland spazieren gehe oder gegangen sei.

„Nun, Du gefeierter Mann,“ rief Wallwitz hinüber, „man sieht Dich ja gar nicht! Komm und begrüße die Damen!“

Lilly nickte Flemming noch zu und drängte sich weiter.

„Ich habe schon das Vergnügen gehabt, die Damen zu begrüßen,“ sagte René, indem er herzutrat. In seinem Ton lag beinahe Feindseligkeit und sein Gesicht war verfinstert.

„Auf großen Gesellschaften ist er immer schlechter Laune,“ bemerkte der Intendant und klopfte ihn auf die Schulter.

„O, vorhin war er ganz umgänglich,“ rief Sibylle.

„Freilich bin ich schlechter Laune,“ sprach er, nervös die Handschuhe fester zwischen den Klapphut zwängend, „es ist das dritte Mal binnen vierzehn Tagen, daß man mich zum Opfertier der Geselligkeit macht.“

„Du,“ sagte Wallwitz lachend, „laß nicht an uns aus, was die Klavierspielerei und eine gewisse hohe Dame wahrscheinlich verschuldet haben! Auf unserem Ball warst Du sehr vergnügt.“

„Was hat ihn plötzlich so verstimmt?“ fragte sich Magda gequält.

„Ich gehe. Und Du, Wallwitz? Sehen wir uns noch?“ fragte er.

„Nein,“ dachte Magda verzweifelt, „so kann und will ich nicht den Abend enden lassen.“

Mit großer Kühnheit, obwohl ihre Stimme ein wenig bebte, sagte sie: „Es ist sehr lange her, daß Sie Nicolai nicht besuchten. Er klagte darüber. Da Sie der einzige sind, der etwas Sonnenschein in sein Leben bringt, werden Sie seine Hoffnung, Sie bald zu sehen, nicht zu unbescheiden finden.“

René verstand, was sie meinte. Seine Stirn war feucht, er vermied Magdas Blick.

„Wenn meine Zeit es gestattet, komme ich. Aber wahrscheinlich nicht vor der ‚Zenobia‘,“ sprach er.

„Dies erinnert mich, wie lange ich nicht persönlich nach Ihrem armen lieben Papa, meinem früheren hochgeehrten Chef, sah,“ bemerkte Rechenbach.

„Meine Damen! Herr Intendant,“ sagte René und verbeugte sich wie vor ganz Fremden oder vor Ihrer Hoheit.

Er trat zurück und verschwand.

Magda mußte sprechen, dem Intendanten von ihrem Vater erzählen, dann mit noch gleichgültigeren Menschen plaudern und lachen, dann Hortense sagen, als diese ihr begegnete, daß sie sich vortrefflich unterhalten habe.

Hortense zwar sah sie zweifelnd an. Das abgespannte Gesicht mit dem gezwungenen Lächeln sah ihr nicht danach aus, als sei es von fröhlichen Eindrücken belebt.

„Ich bin es nur nicht mehr gewohnt – die vielen Menschen und das lange Herumstehen,“ sagte Magda auf den forschenden Blick hin.

Und dann suchte sie die Garderobe. Aber auf dem Wege dahin hing sich ihr Sibylle Lenzow wieder in den Arm.

„Sag’ mir offen, aber ganz offen,“ fragte sie, „wie hat Dir Walfried gefallen?“

Magda wußte im Augenblick gar nicht mehr, daß der Lieutenant von Wallwitz diesen Vornamen trage.

„Wer?“

„Na – er!“

„Er hat mir einen sehr angenehmen Eindruck gemacht, er scheint ernst und energisch,“ sagte Magda mit Ueberzeugung. Jede andere Ansicht hätte Sibylle ihr auch tödlich übelgenommen.

Nur angenehm!“ rief Sibylle. „Er ist fabelhaft bedeutend. Er wird eine enorme Carriere machen. – Ach Gott, wenn Tante nur ein Einsehen hat.“

Auf diese geheimnisvolle Andeutung erwartete Sibylle Fragen und war bereit, nach einem Schwur des Schweigens, Magda alles anzuvertrauen. Aber Magda war’s nicht nach Fragen zu Mute.

Sie fuhr mit ihren Enttäuschungen nach Hause und mochte zusehen, wie sie morgen sagen wollte: es war sehr schön.

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Wenn in Leopoldsburg ein Gerücht umging, brauchte es keine acht Tage, um alle Kreise zu durchsickern. So hörte auch Hortense von Eschen bald, daß Magda Ruhland und René Flemming zusammen genannt wurden, weil man sie einigemal mitsammen hatte spazieren gehen sehen. Es war an einem Theeabend der Herzogin, daß Hortense davon erfuhr.

Bei der hohen Dame wurde in aller Liebe und Güte recht viel geklatscht. Das Interesse am Seelenheil der Unterthanen war so lebendig, die Furcht stets wach, daß der eine oder die andere auf einen Abweg geraten oder nur das Decorum verletzen möge. Die Personalkenntnis ging bis auf die Hoflieferanten und letzten Beamten hinab.

„Ich höre, meine liebe Eschen,“ sagte die Herzogin, „daß unser Hofkapellmeister – er ist ja wohl Ihr besonderer Schützling – sich mit unserer armen lieben Magda Ruhland verloben wird, oder daß die Leute glauben, er habe diese Absicht. Wissen Sie etwas davon?“

Hortense erschrak und beschloß augenblicklich, daß die beiden dem heimlichen Zustand ein Ende machen müßten. Ein langes Hin- und Herreden sollte der lieben Magda nicht den Schmelz und die Weihe der ernsten Sache rauben. Sie antwortete:

„Allerdings, Hoheit, will es auch mir scheinen, als ob Flemming eine keimende Neigung für Magda im Herzen habe. Ob eine Verbindung daraus entsteht, wer kann das wissen! Solche Fragen sind zu zart, als daß man bei den Beteiligten selbst einmal horchen könnte. Auch wissen die ,Leute‘ immer viel genauer, was vorgeht, als die Besprochenen selbst. Es wäre aber reizend, wenn uns der Winter diese Verlobung brächte.“

Damit hatte sie nach ihrer Meinung diplomatisch gesprochen.

„Eigentlich,“ sprach die Herzogin in ihrer schleppenden Art, „ist ein Hofkapellmeister keine standesgemäße Partie für eine Tochter Seiner Excellenz Ruhland. Aber der Herzog sagt, in unseren Zeiten sei das Genie hoffähig und adle, und Flemming könne nicht nur ein unsterblicher, sondern auch ein sehr reicher Mann werden. Unser Vetter wird ihm sicherlich eine Auszeichnung verleihen, nach der ,Zenobia’, der Herzog wird darauf dringen. Und das Kreuz unseres Hauses hat Flemming ja Neujahr schon bekommen …“

Sie seufzte. Die Damen waren ganz einer Meinung mit Ihrer Hoheit. Mit zwei solchen Auszeichnungen im Knopfloch und begnadet von der Gönnerschaft Seiner Hoheit, konnte Flemming immerhin als passende Partie für die Tochter eines Ministers a. D. gelten.

„Und dann,“ sprach die Herzogin langsam weiter, „glaube ich, daß es dem guten Flemming recht zu wünschen ist, daß er in die soliden Bahnen der Ehe einlenkt. Freilich, der Herzog sagt, solche Genies darf man nicht nach gewöhnlicher Moral messen.“

Sie sah ihre Damen ernst an. Wenn Seine Hoheit auch zuweilen etwas sagten, das sich mit den strengen Grenzen, welche der Moral an den Theeabenden gezogen wurden, nicht vertrug, so waren diese Ausnahmeansichten doch zu respektieren, eben weil sie von Seiner Hoheit kamen.

Die Damen bewunderten den weiten humanen Blick Seiner Hoheit und wußten so viel Geniales und Entschuldigendes von René Flemming zu erzählen.

Hortense lachte in sich hinein und sprach mit einer Miene, von der niemand entnehmen konnte, ob sie von Spott oder von

[745]

Copyright 1894 by Franz Hanfstaengl in München.
Senta erblickt den Holländer.
Nach dem Gemälde von Ferd. Leeke.

[746] Nächstenliebe geprägt war: „Ja, es ist ein wahres Vergnügen, einen Menschen, wie René Flemming, loben zu dürfen.“

Sie sandte aber sofort am andern Morgen zu Magda und René und ließ sie zum Frühstück um ein Uhr laden, die einzige Stunde, wo man Wochentags ganz sicher war, von René keine Absage zu empfangen.

Magda kam zuerst, blaß und gedrückt.

„Nun, Liebe, was ist das, Du läßt Dich seit langen Tagen nicht sehen? Du hast wohl Renés wegen keine Zeit mehr für Deine alte Freundin,“ sagte Hortense liebevoll.

Es lag natürlich nicht in ihrer Absicht, die zarte Seele Magdas durch Mitteilung des Klatsches zu kränken. Diesen dachte sie aber René nicht vorzuenthalten und hatte vor, ihm, beim Abschied etwa, einiges darüber zu sagen. Beiden zusammen aber wollte sie klar machen, daß eine heimliche Verlobung in Leopoldsburg doch ein größeres Unding sei, als man sich damals in den Bergen vorgestellt hatte.

Auf Hortensens Anrede hin erwiderte Magda leise: „Ich habe René seit vierzehn Tagen, seit Deiner Soiree, nicht gesehen. Er schrieb mir einmal und sagte es mir dann noch bei Dir, daß er mit der ,Zenobia‘ sehr beschäftigt sei. Gottlob, morgen abend endlich wird sie aufgeführt. Aber siehst Du, Hortense, ich war so albern, ich dachte, am Ende spricht er doch einmal vor – ich wäre ja mit fünf Minuten zufrieden gewesen – deshalb ging ich gar nicht aus.“

Ueber Hortensens Gesicht ging eine Bewegung – es huschte darüber hin wie Bitterkeit. Sie kniff die Augen zusammen.

Vierzehn Tage bescheidenen, aufreibenden Wartens lagen hinter Magda. Vierzehn Tage lang hatte sie bei jedem Tritt, der auf der Treppe knarrte, gedacht: er ist es! Bei jedem Glockenton freudig gebebt. Und war jeden Abend müde, enttäuscht, mit ungeweinten Thränen in den brennenden Augenlidern auf ihr Bett gesunken, mit dem klammernden Gedanken: vielleicht morgen!

„Ach ja,“ sagte sie mit leichtem Ton, „der Beruf der Männer ist der Todfeind von uns Frauen. Da heißt es eben, sich gedulden. Aber je weniger man ihnen darüber vorklagt, je weiter kommt man. Das ist bei allen egal: Offiziere, Beamte, Künstler – erst kommt immer die Berufspflicht – dann wir. Aber siehst Du, Herzchen, da sie die Resultate ihrer Arbeit doch der geliebten Frau zu Füßen legen, da sie es ist, die den Ruhm, das Avancement, das erhöhte Einkommen mitgenießt, und alles ihrerseits ohne weitere Sorge als das bißchen Alleinsein genießt, so darf es im Grunde gar nicht schwer für sie sein, auf die liebe Gegenwart des Mannes zu verzichten.“

Die gescheiten Worte, der heitere Ton wirkten sehr wohlthätig auf Magda. Es klang so wahr und schien jetzt, da René gleich bei ihr sein würde, so leicht zu glauben.

Und da war er auch schon. Eine leise Röte flog über sein Gesicht, als er Magda sah. Aber er kam heiter auf sie zu, im Innersten erfreut, sie zu sehen.

Er nahm ihre Hand, streichelte sie und sagte: „Ich bin ganz unartig gewesen. Du mußt mir vergeben. Aber siehst Du: wenn ich nur denke, es wartet jemand auf mich, das erscheint mir wie ein Zwang und macht mich nervös. Es war lieb und gescheit von unserer verehrten Freundin, uns heut’ zusammen einzuladen.“

Er war sehr froh. Er hatte gedacht, in Magdas Nähe würde ihm unbehaglich sein, er würde sich bedrückt fühlen. Denn auf der Soiree bei Hortense war ihm ein fürchterliches Gefühl gekommen, als er die beiden, die ihn liebten, so nahe bei einander gesehen, und da er sich nicht eingestehen wollte, daß dies Gefühl Beschämung sei, hatte er es vor sich selbst verdecken wollen und war ungeduldig, feindselig geworden gegen – die Unschuldige. Hier aber, heute, that ihre Gegenwart ihm geradezu wohl. Er hatte keine Anwandlung von Schuldbewußtsein, sondern ihm war beinahe wie jemand, der von einer Reise nach Hause gekommen ist.

Vor allen seinen drolligen Erzählungen über die Schrecknisse der „Zenobia“-Zeit kam Hortense gar nicht dazu, von Verlobung zu sprechen oder auf die Unterbringung des alten Ruhland in eine Anstalt hinzuwirken.

„Nun siehst Du wohl, Magda,“ sagte er einmal, „ich bin der Sklave dieser barbarischen Königin gewesen und hatte mit dem allerbesten Willen keine Zeit, Dich zu besuchen.“

„Aber Zeit, zum Ball und zum Offiziersthee zu gehen, hattest Du,“ sprach Magda herb.

Es entfuhr ihr so. Sie hatte es in den langen Tagen des Wartens hundertmal gedacht. Es war ihr wie eine Formel geworden, die in ihren Gedanken mechanisch immer wieder kehrte.

„Soll das ein Vorwurf sein?“ fragte René und sah sie an.

Vor der Feindseligkeit, die jäh erwacht aus seinem Blick sprach, erschrak sie so, daß es ihr war, als fühlte sie körperlichen Schmerz.

„Bitte,“ sagte Hortense herzlich, „keine Erörterungen.“

Sie nahmen sich zusammen, René unterdrückte seinen Zorn, dessen blinde Ungerechtigkeit er erkannte und den er dennoch gähren fühlte; Magda bereute sogleich, das Wort gesagt zu haben, obgleich sie fühlte, es war nur gerecht gewesen.

„Gottlob,“ sprach Hortense weiter, „ist mit morgen abend die Last abgeschüttelt. Nach der Vorstellung ist noch große Soiree im Schloß. Der hohe Vetter will die Begeisterung von uns gleich brühwarm genießen.“

„Das ist mir nun furchtbar, daß ich mich da morgen abend im Zwang der Etikette bewegen soll: ich lechze nach Einsamkeit oder Ungebundenheit nach großen Anstrengungen. Kann ich mich nicht drücken?“ fragte René.

„Um keinen Preis.“

„Und das ist nun schön,“ sprach Magda, „daß ich, solange Du in Leopoldsburg bleibst, als Papas Tochter bei solchen Gelegenheilen mit Dir zu Hof geladen werden werde. Ich weiß aber ganz gut, daß dies nur bei unserem kleinen, so von persönlicher Anteilnahme bestimmten Hofleben der Fall ist. Wenn Du später in einer ganz großen Residenz bist, werde ich einfach die nicht hoffähige Künstlersgattin. Aber das soll mich nicht anfechten. Es wird so beglückend sein, unbeachtet nur Dir zu leben.“

Sie hatte es so liebevoll gesagt und glaubte sicher, in ihren Worten könne nichts, aber auch gar nichts liegen, das ihn zu verletzen imstande wäre.

Und doch sah sie ihn erblassen und sah eine gewisse nervöse Bewegung seiner Lippen, die sie schon oft beobachtet hatte. Dieser kurzen Unruhe folgte dann ein Ausdruck wahrhaft eiserner Verschlossenheit.

Von diesem Augenblicke an war es nicht möglich, mit René noch ein Gespräch zu führen. Er antwortete zerstreut und hatte merklich nie zugehört.

Die Frauen begriffen nicht, was in ihm vorging.

„Ich muß es ihr sagen, ich muß es ihr sagen,“ das war der einzige, bohrende Gedanke, der sich plötzlich bei René festgesetzt hatte, als Magda so harmlos von ihrem künftigen Zusammenleben sprach.

„Uebermorgen oder Sonnabend komme ich zu Dir,“ sprach er beim Abschied und vermied ihren Blick.

Hortense ging mit ihm durch den Salon, während Magda, wie erstarrt von unbestimmter Angst, am Eßtisch sitzen blieb.

„Ich muß Ihnen sagen, René,“ begann Hortense, „daß man sich schon mit Magda und Ihnen beschäftigt. Sie sind ein paarmal am hellen Tag spazieren gegangen. Natürlich verlobt man Sie.“

„Die verwünschten Leopoldsburger,“ sprach er und ballte die Faust.

Hortense zuckte die Achseln.

„Sie sind so, wie alle Welt ist, unsere guten Leopoldsburger,“ sagte sie. „Ein Spaziergang im Sonnenlicht vor aller Augen wird mißliebig besprochen. Das Unrecht, das verschleiert im Dunklen geht, bleibt eben verborgen.“

Er sah ihr fest in die Augen. Wußte sie? Nein. Denn herzlich fuhr sie fort: „Und deshalb, René, laßt die doch einmal beschlossene Sache publik werden. Heiratet! Ich werde alles thun, Magda zur Trennung von ihrem Vater zu bestimmen. Denn, daß Ihre Jugendfröhlichkeit, die Ihnen ungetrübt für Ihr Schaffen nötig ist, nicht durch das Zusammensein mit einem solchen Kranken gestört werden darf, versteht sich von selbst.“

„Lassen Sie uns selbständig unsere Angelegenheiten entscheiden,“ sprach er mit harter Stimme. „Ich liebe hierin keine Einmischung, auch von Ihnen duld’ ich keine.“

Sie sah ihm traurig nach. Ihre klugen Augen schauten bis auf den Grund seiner Seele.(Fortsetzung folgt.)


[747] Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Die Opfer der Elektrotechnik.

Zur ersten Hilfeleistung in Hochspannungs-Unfällen.
Von W. Berdrow.

( gemeinfrei ab 2025) [748] Erster Textabschnitt: ( gemeinfrei ab 2025)


Das neue Heim des Reichsgerichts.

Von Hermann Pilz.

Vierhundert Jahre sind vergangen, seit unter Kaiser Maximilian I. im ehemaligen Deutschen Reiche neben dem Reichshofrat ein Reichskammergericht eingerichtet wurde, das „nach des Reichs und gemeinen Rechten und nach ehrbaren und verliehenen Ordnungen und Statuten“ entscheiden sollte, was in deutschen Landen Rechtens sei. Es sollte über alle Rechtssachen der Reichsunmittelbaren urteilen und zugleich die höchste Instanz für die Reichsmittelbaren in Civilsachen sein. Das Reichskammergericht, von dessen Jämmerlichkeit Goethe im dritten Teil von „Dichtung und Wahrheit“ ein anschauliches Bild giebt, bestand aus einem vom Kaiser ernannten Kammerrichter fürstlicher oder gräflicher Abkunft, zwei Präsidenten und einer Anzahl Assessoren. Da aber die Sporteln, von denen die Assessoren bezahlt werden sollten, nur spärlich eingingen, mußte man die Zahl der Richter mehr und mehr beschränken, die Prozesse schleppten sich mühselig dahin und die Reste wuchsen von Jahr zu Jahr. So wurde der oberste Gerichtshof Deutschlands allmählich zum Gespött. Unter Kaiser Joseph hatten sich bereits 20 000 Prozesse aufgehäuft. Jährlich konnten nach Goethes Aufzeichnungen 60 abgethan werden und das Doppelte kam hinzu. Das Reichskammergericht hatte seinen Aufenthalt in verschiedenen Reichsstädten genommen, bis es endlich 1693 in Wetzlar seßhaft wurde. Mit dem alten Deutschen Reich ging es zu Grunde – mit dem neuen Deutschen Reich lebte ein neues, oberstes Gericht auf, das nach dem Gesetz vom 11. April 1877 seinen ständigen Sitz in Leipzig hat, – das Reichsgericht! In ihm ging auch das Reichsoberhandelsgericht auf, das auf dem Gebiete des Handels schon ein einheitliches Recht sprach und ebenfalls in Leipzig seinen Sitz hatte.

Die verurteilende Justiz.
Kalksteingruppe von Otto Lessing im Treppenhaus.

Ohnmächtig wie das alte Reich war sein oberstes Gericht. Stark und kraftvoll wie das neue Reich wurde auch das neue Reichsgericht organisiert. Wie das alte Reich, so war auch sein Gericht ohne Würde und Ansehen, und es konnte vorkommen, daß Städte wie Frankfurt a. M. es ablehnten, diesen Gerichtshof in ihren Mauern aufzunehmen. Anders das neue Reichsgericht. Es war ein langer Streit um dasselbe, und namentlich die Reichshauptstadt des Deutschen Reiches hätte es gern in ihren Bereich gezogen. Aber Leipzig blieb Siegerin im Streite, und heute ist dem Reichsgericht in der Lindenstadt an der Pleiße ein Heim aufgerichtet, so imposant, so würdevoll, so künstlerisch schön, wie es dieser oberste Gerichtshof eines starken, machtvollen Reiches verdient.

Die deutsche Kunst hat im neuen Reichsgerichtsgebäude einen ihrer schönsten Triumphe gefeiert. Am 31. Oktober 1888 wurde in Gegenwart Kaiser Wilhelms II. und König Alberts von Sachsen der Grundstein zu dem Bau gelegt, der nun vollendet vor unseren Augen steht,

[749]

Das neue Reichsgerichtsgebäude in Leipzig.
Nach einer Photographie von H. Walter in Leipzig gezeichnet von Ernst Kiesling.

[750] ein Bild architektonischer Majestät. Ruhe und Kraft, Würde und Erhabenheit, diese Charaktereigenschaften der wahrhaften Rechtsprechung beherrschen auch den Bau. Der Schöpfer desselben, Regierungsbaumeister Ludwig Hoffmann, an dessen Seite hervorragende deutsche Künstler wie der Glasmaler Linnemann, die Bildhauer Otto Lessing, Giesecke, Nicolaus Geiger, Felderhoff, Magr, Lehnert, Seffner und Pfannschmidt, die Maler Woldemar Friedrich, Max Koch und andere erfolgreich wirkten, hat ein Werk geschaffen, das bei aller klassischen, vornehmen Einfachheit doch einen Gedankenreichtum aufweist, wie er nur wenig anderen Bauwerken der Neuzeit eigen ist. Ueberall tritt uns bei der Betrachtung des Gebäudes wohlthuend die klare, künstlerische Harmonie entgegen. Es ist eine geniale Schöpfung, die hier zu Ehren des deutschen Reiches und Rechtes entstanden ist.

Abschlußwand in der westlichen Korridorhalle.

Der Plan des Gebäudes stützt sich auf drei Hauptteile. Der mittlere Teil enthält die Sitzungssäle und alle Räume, welche dem Verkehr des Publikums offen stehen. Im nördlichen Teil stoßen wir auf die eigentlichen Arbeitsräume der Beamten und im südlichen auf die Wohnung des Präsidenten. Der Flächenraum des Gebäudes ist etwas kleiner als der des Reichstagsgebäudes in Berlin, etwa um 10 Meter geringer nach beiden Richtungen hin. Auch die Höhenentwicklung ist geringer. Das Gebäude, mit seinen vier Fronten an der Simsonstraße, Wächterstraße, Wilhelm-Seyfferthstraße und Beethovenstraße gelegen, weist eine Breite von 127 Metern und eine Tiefe von 76 Metern auf. In seiner Mitte erhebt sich die weithin sichtbare, riesige Kuppel bis zu einer Höhe von 68,5 Metern. Der Bau enthält insgesamt 391 Räume, drei Hauptvestibüle und neun Treppenhäuser. Der Haupteingang befindet sich auf der Ostseite, an der Simsonstraße. Das große Giebelfeld über den mächtig aufstrebenden Säulen ist reich mit Figuren geschmückt. In der Mitte thront die Justitia. Die Gruppen zu ihrer Rechten und Linken stellen die strafende, verdammende und die befreiende, erlösende Justiz dar. Zur Seite des Haupteinganges sind in Nischen die Standbilder Kaiser Wilhelms I. und Kaiser Wilhelms II., über denen sich mächtige Kaiserkronen befinden, angebracht.

Der große Sitzungssaal, von der nördlichen Loge aus gesehen.
Nach einer Originalzeichnung von A. Liebing.

Auch die Eingänge an der Nord- und Südseite sind durch wirkungsvolle Skulpturen sinnreich geschmückt. Bei den seitlichen Bauteilen ist der Schmuck sparsamer verwendet. Reichskronen, Löwenköpfe, Rollen mit Lorbeerzweigen, Gesetzbuch und Eule, Flammenträger und weibliche Gestalten, die Tugenden des Richters darstellend, geben hier den gewaltigen Steinmassen Schönheit und symbolische Bedeutung. Durch mächtige, schmiedeeiserne Thore kommt man an der Hauptfront in das gewaltige Hauptvestibül. Ernst, feierlich ist der Eindruck, der hier den Besucher ergreift. Breite Granittreppen führen nach den seitlichen Hallen und dem Innern des Hauptgebäudes. Tritt man in das letztere hinein, so befindet man sich in der großen, mittleren Wartehalle, dem Repräsentationsraum des Reichsgerichts, von dem aus man in die verschiedenen

[751]

Das Haupttreppenhaus mit der Gruppe der freispechenden Justiz.

Räumlichkeiten gelangt. Der Schmuck dieser Halle, die wir unseren Lesern im Bilde vor Augen führen, mit dem Schlußstein auf dem Boden in der Mitte, ist reich und von tiefer, symbolischer Bedeutung. Die vier Fenster liegen

so, daß sie auf die verschiedenen Gegenden des Deutschen Reiches hinweisen. Das nach Süden gelegene deutet auf die Kunst, mit den Wappen der Städte Nürnberg und Augsburg, das nach Norden gerichtete auf Handel und Schiffahrt mit den Wappen der Städte Hamburg und Lübeck, das nach Osten zu angebrachte auf die Landwirtschaft mit den Wappen der Städte Königsberg und Marienburg und das nach Westen liegende auf die Industrie mit den Wappen der Städte Köln und Straßburg hin. Inmitten der Hallendecke wird symbolisch die Klarheit des Rechtes dargestellt. Vier seitliche Füllungen mit Schild, Schwertern und Schwurhänden deuten auf die Rechtspflege im Gebäude, vier weibliche Figuren auf die Tugenden der Richter, Weisheit, Gerechtigkeit, Entschlossenheit und Milde, hin. Ein im südöstlichen Hallenteil befindliches Relief versinnbildlicht die Untersuchung, während demselben gegenüber das Urteil symbolisiert wird. An den übrigen Wänden der Halle erblicken wir weiter Darstellungen der Vollstreckung und der Gnade.

An den südlichen Mittelteil der Halle stößt dann das Haupttreppenhaus an, bei welchem der Schmuck auf die Mitte der seitlichen Wände beschränkt worden ist. Hier treten uns zwei Kompositionen O. Lessings, „Erlösung und Verdammnis“, die freisprechende und die verurteilende Justiz vor Augen, Schöpfungen von bedeutendem künstlerischen Werte. In besonderem Bilde (S. 748) bieten wir unseren Lesern die Gruppe der verurteilenden Justiz, welche sich an der östlichen Seite befindet. Auf dem mit Lichtstrahlen geschmückten Giebel zerbricht die Justitia den Stab. Darunter sehen wir eine zerknirschte Männergestalt, zu deren Füßen ein klagendes Weib. Die freisprechende Justiz, welche oben unser Bild der Haupttreppe zeigt, giebt den Unschuldigen seiner Familie zurück. Auch die Korridore erhielten reichen künstlerischen Schmuck. Wir geben zum Beweis eine Abschlußwand der westlichen Korridorhalle, welche vor den Civilsenatssitzungssälen liegt und über einem schönen schmiedeeisernen Thor ein sinnreiches Reliefbild enthält. Die Meereswogen und die vom Sturm gepeitschten Eichen veranschaulichen die Unruhe der Natur im Gewitter, die hinter dem Regenbogen sich ausbreitenden Sonnenstrahlen die Beruhigung nach demselben. Der Zwist ist durch zwei kämpfende Drachen dargestellt, welche von der weiblichen Gestalt der Wahrheit mit dem Schwerte zu Ruhe gebracht werden.

Die große Wartehalle mit dem Schlußstein.

In den Senatssitzungssälen sind an den Eingängen, durch welche das Richtercollegium in den Saal tritt, interessante symbolische Schmuckwerke in Holzschnitzerei angebracht. Den gewaltigsten Eindruck aber ruft der große Sitzungssaal hervor, in welchem die vereinigten Senate tagen und künftighin die Hoch- und Landesverratsverhandlungen abgehalten werden. Unser Bild auf S. 750 zeigt den in den Farben Braun und Gold gehaltenen Saal, von der nördlichen Loge aus gesehen, während der Verhandlung. Die Decke und die Wände sind mit den Wappen der deutschen Bundesstaaten geschmückt. Fünf große Glasfenster, mit den bunten Wappen von 25 Städten, an welchen sich der Sitz eines Oberlandesgerichtes befindet, führen dem Saale Licht und Farbe zu. Der Raum ist, einschließlich der Galerien, 33,20 Meter lang, 12 Meter breit und 9,80 Meter hoch. Die Pfeiler werden nach oben durch Giebel abgeschlossen denen Waffenstücke und Helme als Zeichen der Staatsgewalt zur Zierde dienen. Konsolen, die mit Masken versehen wurden, leiten von den Giebeln über den Pfeilern zur Decke über. Die oberen Wandfelder zwischen diesen Pfeilern wurden mit Reichsadlern und einem Flammenbecken, von welchem sich Drachengestalten abwenden, geschmückt. An der den Fenstern gegenüberliegenden Wand sind die drei Hauptthüren angebracht, deren geschnitzte Aufsätze Reichsadler, Krone und Reichsapfel tragen. Die dazwischen liegenden [752] freien Felder enthalten Porträts der beiden ersten Kaiser des heutigen Deutschen Reiches. An den Decken der seitlichen Logen sehen wir je einen weiblichen Kopf, die Wahrheit darstellend, welcher sich Schwurhände zukehren, während Waffen die Meineidigen bedrohen. Man sieht, überall ist in geistvoller Weise auf die hohe Bedeutung der Rechtspflege, auf die Macht und den Segen des Rechtes hingewiesen.

In der Präsidentenwohnung, welche in ihrer Ausstattung sich harmonisch in das Ganze einfügt, fehlt es ebenfalls nicht an wertvollem Schmuck. Besonders hervorgehoben sei in dem reich ornamentierten Voraaal das große Gemälde von Woldemar Friedrich, welches den Frieden als den Schutz des Rechtes und der Gerechtigkeit darstellt. Aber es ist ein bewaffneter Friede, der den schützenden Krieger zur Seite hat. Inmitten des südlich gelegenen Teiles des majestätischen Bauwerkes liegt dann der Festsaal der Präsidentenwohnung, dessen Decke ein von Prof. Max Koch entworfenes Gemälde ziert, das in schöner Allegorie den Einzug Apollos mit den Musen in das Heim der Justiz darstellt. Der nach Norden gelegene Speisesaal gefällt durch seine reichverzierte kassetierte Eichenholzdecke und ein hohes prächtiges Eichenholzpaneel. Vom Speisesaal aus durchs Fenster genießt man einen herrlichen Blick auf die hohe Kuppel, die in der Stadt aus weiter Ferne schon sichtbar ist und majestätisch in die Lüfte ragt. In den Skulpturen der Kuppel, welche das ganze Bauwerk krönt, ist der Gedanke der Einigkeit im Reiche und auch die Bedeutung des Reichsgerichts für die Entwicklung des Reiches zum Ausdruck gekommen. Die der Kuppel aufsitzende Laterne trägt ein in Kupfer getriebenes 51/2 Meter hohes Kolossalbild der Wahrheit, die mit der Rechten die Fackel hoch emporhebt und, wie schon erwähnt, in einer Höhe von 68,5 Metern den gewaltigen Monumentalbau abschließt.

Es ist hier nicht möglich, alle architektonischen und sonstigen künstlerischen Schönheiten des neuen Reichsgerichtsgebäudes so eingehend zu würdigen, wie es die treue, hingebende Arbeit der Künstler verdient, die ihre beste Kraft darein setzten, dem deutschen Reichsgericht ein stolzes, seiner würdiges Heim zu geben. Man könnte ein Buch allein über die tiefe Symbolik der Ornamente schreiben, welche zeigen, daß auch die moderne deutsche Kunst reich an Gedanken ist und diese Gedanken in schöner Form zum Ausdruck zu bringen die Kraft hat. Die deutsche Kunst hat im neuen Reichsgerichtsgebäude von neuem bewiesen, daß sie auch in einer Zeit, da auf ihrem Gebiete gefährliche Stürme einherbrausen, noch unerschütterlich festhält am Edlen, Schönen und Erhabenen.

Mit dem 16. September dieses Jahres ist der oberste Gerichtshof des Reiches bereits in sein neues Heim, dessen Baukosten nahe an 6000000 Mark betragen, übergesiedelt, nachdem er bislang in einem Gebäude an der Promenade für 32000 Mark zur Miete wohnte.

Und am 26. Oktober soll nun das Gebäude durch den Kaiser und den König Albert von Sachsen und unter Mitwirkung vieler anderer hoher Würdenträger seine festliche Weihe erhalten.

Möge die Thätigkeit des Gerichtes in seinem Palaste eine reich gesegnete sein. Möge es, wie die Hammerschläge Kaiser Wilhelms II. bei der Grundsteinlegung, gewidmet sein: „Der Ehre des allmächtigen Gottes, dem Rechte uud seinen allezeit getreuen Dienern.“


0 Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Sturm im Wasserglase.

Roman aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts.
Von Stefanie Keyser.

     (Schluß.)

Die dunkelste Nachtstunde war gekommen. In tiefem Schlafe lag die Stadt.

Da hob ein Huschen auf dem Pfarrhofe an. Die alte Kirchenpforte, über der die fröhliche Guirlande noch schwebte, knarrte.

Die Kerzen auf dem Altar, die am Mittag vorher unter Trauer verlöscht worden waren, flammten auf. Ihr mildes Licht fiel auf die schon welkenden Blumen, das herb duftende Laub, mit dem die grauen Grmbsteinplatten des Fußbodens festlich bestreut worden waren, und flimmerte an dem Tabernakel empor, von dem die weißen Gestalten der Evangelisten hernieder schauten.

In gerauschlosem Zuge nahte die Hochzeitsgesellschaft.

„Welchen Choral befiehlt Hochehrwürden?“ fragte der Kantor Bach, der mit der heiteren Anteilnahme eines verlobten Bräutigams die Hochzeiter an sich vorübergehen ließ.

„Mein lieber Kantor: ‚Es ist gewißlich an der Zeit‘.“

Olearius trat vor den Altar, aber er schlug die Agende zu.

„Es ist gewißlich an der Zeit!“ schallte die machtvolle Stimme.

Brausend fiel die Orgel ein.

Vor dem Altar, an dem sie als Kind des ersten Geistlichen getauft, als oberste Schülerin konfirmiert worden war in aller würdigen Form, stand Magdalene nun als Braut, auch wieder wie es sich gehörte: im Besitz eines makellosen Kranzes, eines standesgemäßen Brautkleides und eines den Eltern willkommenen Bräutigams, und empfiug den Segen mit der unumstößlichen Gewißheit, daß sie ihn bis an ihr Lebensende als getreue deutsche Gattin und Hausfrau unfehlbar verdienen werde.

Fest war die kleine Hand mit dem schweren goldnen Trauring in die kräftige Hand Struves gefügt. Und er hielt sie in der vertrauensvollen Ueberzeugung, daß sein Herz, seine Ehre, seine Seligkeit da wohl geborgen seien.

Neben ihnen, demütig gebeugt, stand Kiliane mit ihrem Bräutigam. Sie dachte nicht daran, wie dürftig ihr geborgter Brautstaat war, wie ungehörig die Eheringe erschienen: der Reif mit dem Wappen der Eichfeld, den die Superintendentin erst durch ein umgewickeltes Fädchen hatte passend machen müssen, und ihr dünnes Ringlein, das der Junker nur am kleinen Finger tragen konnte.

Aus ferner Zeit kam eine Erinnerung, wie ihre Mutter den Spruch nannte, den sie in der Taufrede erhalten hatte: ‚Ich bin nicht wert aller Barmherzigkeit und Treue, die Du an mir gethan hast!‘ Wie hatte sie oft darüber gespottet! ‚wo ist Barmherzigkeit und Treue an mir gethan worden?‘ Ach, wie hatte sie sich versündigt! Der Spruch behielt recht. Ohne ihr Verdienst und Würdigkeit hatte der barmherzige Gott sie aus selbst gedrehten Fallstricken befreit. Und ihr zukünftiger Eheliebster hielt so warm ihre Hand in seiner treufesten Rechten. Sie wollte es ihm vergelten mit unwandelbarer Liebe.

Die Superintendentin stand in Sorgen. Sie wußte, daß ihr Eheherr in diesem Augenblick abermals sein Amt aufs Spiel setzte, um ohne Menschenfurcht als Pfarrherr zu walten.

Seine Stimme füllte die leere dunkle Kirche, wie an den höchsten Festen des Jahres, wo er die Herzen in den verborgensten Winkeln erschütterte. Und dazu dröhnte die Orgel. Der Kantor hatte alle Register gezogen.

„Es ist gewißlich an der Zeit,“ flehten die hohen, forderten die kräftigen Mittelstimmen, bis alle Töne jubelnd anstürmten: ‚Es ist gewißlich an der Zeit.‘

Aber aus der tiefsten Tiefe der Bässe erhob sich noch ein „Es ist gewißlich an der Zeit.“ Ernst, unbeugsam, als schreite ein eherner Schritt vorwärts, langsam, aber unabwendbar stieg es empor.

Die besorgte Frau überlief es eiskalt.

Was war das nur? Das Schicksal, das ihnen allen drohte für die Gewaltschritte, die sie der Gewalt entgegennsetzten?

Nein, es klang anders, feierlich. Was war es, das der gottbegnadete Mann dort oben verkündete?

Der Segen war gesprochen. Amen! klang es.

In mächtigen Harmonien gingen die Orgelklänge zur Ruhe.

Es war, als sammelten sie sich auf dem wunderbaren tiefen Ton. Der hielt noch eine Weile aus – dann brach er ab, als habe eine unüberwindbare Macht gelassen das letzte Wort gesprochen.

Und die Kerzeu verloschen wieder. Dunkle Gestalten huschten über den Pfarrhof. Die Kirchenpforte schlug zu.

In der Superintendentur schüttelten sich die Genossen dieses stürmischen Tages noch einmal die Hände.

„Wo ist Märteu?“ riefen die jungen Ehemänner.

„Gleich fort,“ berichtete Fieke. „Er hat sich längst mit dem Nachtwächter am andern Ende der Stadt geprügelt.“

„Geprügelt! warum?“ rief Struve erschrocken.

„Der muß doch bezeugen, daß er diese Nacht hier gewesen ist.“

„Wenn ihn der Wächter aber gefangen nimmt?“ fragte Magdalene ängstlich.

[753]

Bilder vom fünfzigjährigen Stiftungsfest des Leipziger Allgemeinen Turnvereins.
Nach einer Originalzeichnung von A. Liebing.

[754] Fieke lachte. „Märten liegt längst im Bett, das der Herr Sekretarius ihm angewiesen hat.“

Struve zog den schweren Goldring mit dem Chrysopras vom Finger und legte ihn in ihre Hand. „Das sei ein Unterpfand meines Dankes. Ich löse ihn mit hundert Meißenschen Gülden ein.“

Fiele schrie auf. „Ich danke schön, Herr Sekretarius.“

„Und nun so schnell als möglich fort,“ sagte die Superintendentin. „Die Nacht ist weit vorgeschritten. – Er muß mit Seiner Eheliebsten in Sicherheit sein, Herr Junker, ehe die Boten von der Augustenburg hier anklopfen.“

Fieke schnürte „mit Verlaub“ Braten und Kuchen in ein Bündel. „Nehmen Sie nur, Fröl – nee Frau von Eichfeld. Wenn der arme Mensch eben denkt, er habe nur ein Herz, so zeigt ihm plötzlich der Magen durch eine Ohnmacht an, daß er auch da ist. Nun adjes!“

Das Gartenpförtchen that sich auf, und über die Kartaunenleiter stieg der Herr von dem Eichfeldhof mit seiner jungen Ehehälfte hinab. –

Das ehrenfeste Struvesche Pärchen ging in sein wohleingerichtetes Haus, in dem auf Veranstaltung der Superintendentin die alte Köchin wachte.

In einer Hand trug der Sekretarius ein Laternchen, an dem andern Arm hing seine junge Frau, die ihrerseits den Schlüsselbund würdig mit sich führte. –

Der Morgen graute schon, als das flüchtende Paar die letzte Anhöhe hinaufstieg, wo auf einer von niedrigem Höhenzug umgebenen Hochebene das Eichfeld lag. Sie hatten ein tüchtiges Stück Weg in der schwülen Nacht zurückgelegt; aber sie waren nicht ermüdet.

Da stand schon der Grenzstein der Eichfelder Flur.

Es war steiniger Boden, der tüchtig gepflügt werden mußte: einförmige Aecker. Aber die Heimat redete in der vertrauten Sprache zu dem zurückkehrenden Kinde. So hatte der Wind hier immer über die Aehren geflüstert, der blühende Thymian am Wegrain geduftet.

Jetzt erhob sich aus dem Dämmerlicht ein schattenhaftes Dach; spitz, steil, mit riesigen Schornsteinen ragte es über die hohe Ringmauer des Gehöftes empor. Und da tauchten die zerzausten Eichenwipfel auf.

Der Junker nahm den Hut ab – das Dach seiner Väter und die treuen Bäume, die ein Vorfahr nach dem Rat des alten Paracelsus als Blitzableiter gepflanzt hatte.

Die erste Lerche begann zu singen. Und plötzlich klang leise feierlich das Morgenlied der kleinen Sänger, als töne die Luft selbst in der süßen zarten Weise.

Kiliane zog eine Aehre durch die Finger. „Die liebe Feldfrucht! So sagte Hannjörg. Auf einem ererbten Stück Erde ist jedes Krümchen ein Goldkorn. Und rauscht da nicht ein Quell?“

„Es ist unser großer Röhrbrunnen,“ antwortete er, während sein Blick über die starken Mauern mit den Schießscharten ging, die die Herden und die Ernte bargen, den Abhang hinab, den die Büchsen bestreichen konnten.

Er schlang seinen Arm um ihre Schultern, die in leisem Schluchzen bebten, und so gingen sie langsam dem alten Hause zu.

„Sieh dort, Kiliane, das Giebelfenster, in dem sich das erste Morgenrot spiegelt,“ sagte Konrad. „Es ist meiner Mutter Stube gewesen und ganz so traut erhalten worden wie in meiner Jugend. Das wird Dein Zimmer, Saal und Schmollwinkelchen sein, alles in einem einzigen holzvertäfelten Gemach. Aber nicht wahr, Du sehnst Dich nicht zurück in die vergoldeten Säle, mein geliebtes Herz?“

Mit von Thränen erstickter Stimme flüsterte sie: „Ich habe ein Heim und ein Herz, das mir gehört. Ich bin nicht wert aller Barmherzigkeit.“

Er schloß ihre Lippen mit einem Kuß.

Andachtsvoll, mit zitternden Fingern zog der Innker den großen rostigen Hausschlüssel aus der goldbordierten Tasche.

Ein Hund schlug an. „Phylax!“ rief er. Das Gebell ging in fröhliches Geheul über.

Drinnen wurde es lebendig.

„Herr Gott, unser Junker!“ tönte Hannjörgs ehrliche Stimme. Schritte kamen.

„Da bin ich wieder!“ sagte Eichfeld und schüttelte dem alten Getreuen die Hand. „Und hier ist Eure neue Gutsherrin. Hannjörg, Du hast recht behalten: mit der Hoffart hat’s geknaxt.“

Das alte Thor schloß sich hinter den Eingetretenen.

Sie waren unter schützendem Dach und Fach geborgen.


Schwül stieg der andere Morgen herauf. Der Himmel lagerte bleigrau über der Landschaft.

Eine gährende Unruhe herrschte in der Stadt. Die Umwohner des Pfarrhofes hatten gehört, daß mitten in der Nacht die Fenster der Oberkirche erleuchtet gewesen waren, die Orgel gedröhnt, eine Stimme gepredigt hatte. Der Stelzfuß meldete, daß der Lattermann aus seiner Bahn gewichen sei. Welch neues Unheil drohte?

Christian Struve saß an seinem Schreibtisch, um eine Verteidigungsschrift seiner Handlungsweise auszuarbeiten. Er war ein Ausbrecher und ein Einbrecher geworden. Er – ein Struve! Menschlich war die Sache ganz begreiflich. Aber juristisch? Er kam abermals bei der Notwehr an; denn das römische Recht und die gesunde Vernunft sind darin eins.

In der Snperintendentur ging die Hausfrau leise betend umher, während Olearius die Trauungen in das Kirchenbuch eintrug.

Nur die untergeordneten Missethäter waren diesmal ruhig. Märten wartete seine Vorladung wegen des geprügelten Nachtwächters ab, und Bach hatte sein ordnungswidriges Orgelspiel über seiner Chaconne vergessen.

In höchsten Nöten war der Kanzler. Die ganze Nacht hatte er darüber gegrübelt, was leichter zu ertragen sei: die Ungnade der Fürstin, wenn er der Nichte beistand, oder der Spektakel auf allen Bierbänken der Stadt, wenn er sie preisgab.

Noch war er zu keinem Entschluß gekommen, als Struve, den er in weimarischer Gefangenschaft glaubte, eintrat und sprach: „Ich melde gehorsamst, daß ich in den Stand der heiligen Ehe getreten bin.“

Der Kanzler starrte ihn sprachlos an wie einen Geist.

Da kam in kurzem Galopp ein Zug von der Augustenburg her. Der erste Kammerherr, geleitet von Leibgardisten, dem Skribenten, der große Schreiben mit daran hängenden Siegeln trug, und dem Mohren, der das Weiße seiner Augen herausrollte.

„Platz da! Man wird Euch Mores lehren,“ rief der Kammerherr hochmütig, durch das Volk sprengend.

Niemand achtete neben dem prächtigen Aufzug des unscheinbaren Reiters auf falbem Roß, der in die Neidecke gleichzeitig hineinstob.

Die Leibgardisten der Fürstin umstellten das Haus des Kanzlers, daß keine Maus hinein und heraus konnte, ohne in ihre Spieße zu laufen.

Der Kammerherr stieg ab und stelzte die Treppe empor.

Den Hut auf dem Kopf trat er beim Kanzler ein, der ihn schreckensbleich empfing.

„Die Zeit der Langmut ist vorüber; wir kommen, um zur Rechenschaft zu ziehen. Wir heischen Gehorsam von den Beamten des Landes gegen ihre Fürstin, Strafe für die Beleidigungen, die von der Kanzel gegen Hochdieselbe geschleudert wurden, verlangen die Auslieferung des zuchtlosen Hoffräuleins an die Gerichtsbarkeit Ihrer Durchlaucht.“

„Das Fräulein von Heymbrot ist seit gestern Frau von Eichfeld,“ sagte Struve.

„Getraut, ohne Einwilligung ihrer Herrin, ohne Aufgebot?“ rief der Kammerherr. „Das macht das Maß des störrischen Superintendenten voll. Er wird seines Amtes enthoben. Und Frau von Eichfeld verfällt mit ihrem Mann der wohlverdienten Strafe. Die Hauptmacht unserer Leibgardisten rückt bereits ab, um die Eichfeldburg zu besetzen. Und Er? Warum ist Er nicht da, wo Er hingehört, in Weimar? Man wird Ihn nachschicken. Darauf verlaß Er sich! Seine aufrührerischen Reden und Seine Konspirationen sind uns bekannt. Geheimsekretarius ist Er die längste Zeit gewesen. Dafür wollen wir Sorge tragen bei Seiner Durchlaucht“ –

Er hielt inne.

Ein wunderlich summender Ton war hereingedrungen – ein zweiter folgte – Glockengeläut!

Mit schlotternden Knieen wankte der Kanzler ans Fenster.

Auch der Kammerherr sah hinaus.

Und dann versteinerten plötzlich die Züge beider; die Augen hefteten sich auf ein Fenster des Turmes.

Zu der dunklen Höhlung heraus streckte sich eine lange gegliederte Eisenstange gleich einem dürren Arm; wie aus kraftloser Hand fiel ein Banner in die dunstige Luft, schlaff, ohne fröhliches Flattern.

Und dazu dröhnte das Willkommengeläute aber langsam folgten die Schläge einander, als zögen halb gelähmte Arme am Glockenseil.

Das Schloß hatte sich belebt.

In den Zimmern des Fürsten wurden die Fenster geöffnet, und auch an der Hauptfassade, wo die Reihe der Prunkgastzimmer lag, sah man hinter den Glasscheiben Dienerschaft hin und her laufen.

[755] Der Schloßhauptmann eilte barhaupt drüben über den Hof, ließ die Thorflügel aufthun. Wischte er sich nicht über die Augen?

„Was ist geschehen?“ rief der Kanzler.

Der Thorwächter kam bestürzt herüber. „Der Fürst kehrt zurück, aber totkrank. Seine Hochehrwürden sind ins Schloß befohlen.“

Da kam schon ein Lakai. „Der Herr Kanzler soll mit einem Protokollführer und dem großen Siegel drüben auf Seine Durchlaucht warten.“

Ein Kurier jagte davon.

„Er reitet nach Sondershausen. Der Fürst läßt seinen Neffen, den Erbprinzen Günther berufen. Der Herr will sein Haus bestellen.“

Als der Kanzler sich umwandte, war der Kammerherr verschwunden. Drunten stob er wie ein fliehender Nachtgeist mit seinem Gefolge davon vor dem Namen dessen, der die neue Zeit bedeutete. –

„Das war es also, was Sebastian Bach diese Nacht auf seiner Orgelbank gesehen hat,“ sprach leise die Superintendentin. –

Der ernste Gast, der langsam die Marmortreppe des alten Schlosses emporstieg, Stufe für Stufe, Schritt für Schritt, warf mit seiner Knochenhand geplante Haftbefehle, Rachegelüste, den Zorn des auswärtigen Feindes in den Staub.

Nach trüben Tagen, die wie von Trauerflören verhüllt, von Totenglocken durchklagt, vorüberzogen, kam eine bessere Zeit für die Landschaft herauf.


Es war ein paar Jahre später, als Frau Fieke Märten im Eichfeldhof anlangte, das Körbchen mit der großen Schere und den Schnittmustern am Arm.

„Was soll ich der gnädigen Frau schneidern?“ fragte sie. „Ein Hofkleid mit langer Schleppe – oder –“

„Mehlsäcke flicken sollst Du, Fiekchen,“ unterbrach sie Kiliane, die üher ihrem schlichten Hauskleid eine große Schürze trug. „Sie sind zerrissen, und die Ernte wird heuer gut.“

Sie mußte fort; denn das Jungherrlein in seiner hochbeinigen Wiege schrie. Phylax wurde gerufen, um als Spielgefährte zu dienen. Das Buttermädchen kehrte aus der Stadt heim. Sorgfältig verwahrte die junge Frau die Batzen und Pfennige in dem kleinen seidnen Beutel, der einst die Papillote barg.

Erst gegen Abend kam sie zum Plaudern zurück. Und nun strömte Fiekes Rede wie aus einer aufgezogenen Schleuse, während ihre Nadel in der Luft schwebte.

„Die gnädige Frau würde die Stadt nicht wieder erkennen, wenn sie einmal herunter käme. Alles ein Herz und eine Seele. Unser junger Fürst will partout nicht leiden, daß wir wieder von Einquartierung geplagt werden, und weil der Herr Sekretarius Struve eine Schrift verfaßt hat, worin steht, wie es gemacht werden muß, daß der Herzog von Weimar uns nichts mehr hineinredet, so ist er vom Fürsten zum Hofrat ernannt worden. Aber der Herr Hofrat hat auch Tag und Nacht darüber gesessen. Und die Frau ist ganz einverstanden damit. Sie spricht noch immer wie ein Buch und sagte: ,Was verlangt ein bürgerlicher Mann Besseres als Arbeit?‘ Uebrigens das muß man ihr lassen: sie hat die weißeste Wäsche, die knusperigsten Braten, die größte Rute und die artigsten Kinder. Der Herr Superintendent wird jetzt für die Oberkirche gemalt, und die junge Fürstin – eine schöne Dame, ich habe ihr den Schnitt zum neuen Schleppkleid abgeguckt – also sie hat unter seinem Beistand eine Stiftung für arme Pfarrerswitwen gemacht. – Vom Herrn Kantor Bach kam letzthin wieder ein Patenbrief an; alle Jahre kommt ja einer, immer wieder aus einem andern Ort, und hochgeborne und niedriggeborne Gevattersleute werden zusammen gebeten. – Von der Augustenburg hört man nicht viel; der lange Mönch ist fort, wahrscheinlich ins Kloster zurück, der dicke ist noch da. – Gnädige Frau! wenn ich so denke; wie schrecklich alles hätte werden können ohne meinen Märten! Aber er ist auch nach Verdienst belohnt worden. Auf des Herrn Hofrats Struve Fürsprache ist er Nachtwachtmeister geworden, und alle sagen, seitdem würden die Nachtwächter nicht mehr geprügelt. Ich heiße auch Frau Nachtwachtmeisterin.“

„Nun, Frau Nachtwachtmeisterin,“ sagte die Hausfrau mit dem alten schelmischen Lächeln, „lege Sie für jetzt die Säcke beiseite. Die Mehlsuppe muß bald gar sein. Was Sie dem Herrn Nachtwachtmeister mitbringen will, soll Sie sich selbst vor der Heimkehr unter meinen Vorräten aussuchen. Ich will nach meinem Mann auslugen.“

Sie sah von ihrem Giebelfenster hinaus in die Landschaft. Der Wind streifte leise über die roten Bergnelken am Rain hin, die Schafe zogen glockenläutend den Hürden auf den abgeernteten Fluren zu.

Und dort schwankten die letzten Wagen herein. Selbst der alte Schecke mühte sich trotz seiner weißen Augen redlich, sein Gnadenbrot zu verdienen.

Konrad, der zu Pferde folgte, rief noch mit Donnerstimme den Hirten Befehle zu. Dann winkte er ihr schon von weitem mit dem Dreispitz. Nun befehligte er auf dem Hofe, daß es von den altersgrauen Mauern wiederhallte. Und endlich kam er heraufgestapft, zärtlich, hungrig und müde, ganz wie sie sich ihn in ihren Mädchenträumen gedacht hatte.

Sie hatten kein Löffelbiskuit und keinen Malaga, sondern das, was Milchkeller und Räucherkammer hergaben, auf ihrem Herrschaftstisch. Und sie verlangten auch nichts anderes.

Sie wußten, daß sie in arbeits- und entsagungsvollem Leben die Schuld abzutragen hatten, die in thörichter Jugendverblendung auf das Gut gehäuft worden war; unbelastet wollten sie es denen hinterlassen, die nach ihnen kamen. Und auch das war ein Zweck, eines Lebens Wert!



Blätter und Blüten.


Cottascher Musen-Almanach für 1896. Es ist erfreulich, daß der Lyrik, die heutzutage auf dem Büchermarkt etwas beiseite geschoben wird, von einer berühmten Firma eine Stätte bereitet ist, welche, zierlich geschmückt, die großen Namen und auch andere, denen Gesang gegeben, zu einem Stelldichein einladet: wir meinen den alljährlich erscheinenden Cottaschen Musen-Almanach, der sich auch diesmal wieder pünktlich eingefunden hat, ausgestattet mit sechs Kunstbeilagen, einem lieblichen Frauenkopf von G. Max, „Im Schmuck der Rose“, als Titelblatt, zwei Genrebildern „Posttag“ von F. Simm und „Zu Thal“ von F. von Pausinger, einenn Waldidyll von G. Franz, „Waldesfrieden“, dem stilvollen „Im Morgenland“ von C. Kiesel und der „Allegorie“ von A. Pellegrini. Und so mannigfaltig wie die Töne, welche die zeichnende Kunst anschlägt, sind auch diejenigen der Dichtkunst. Der Herausgeber Otto Braun hat es verstanden, Dichter der verschiedensten Richtung, die alle in ihrer Eigenart scharf hervortreten, unter seiner Fahne zu versammeln. Die altberühmten Meister fehlen nicht, aber auch nicht jüngere Kräfte, die ihre Schwingen schon geregt haben oder hier in den Jahrgängen des Musen-Almanachs zum erstenmal regen; freilich, die kraftgeniale jüngstdeutsche Lyrik fehlt; doch diese schafft sich ja ihre eigenen Musen-Almanache. Ueberwiegend ist in diesem Jahrgang das erzählende Element: zunächst Erzählungen in Prosa, „Circe“ von Julius R. Haarhaus, eine italienische Novelle im Stil Paul Heyses von packender Wirkung, und eine in naivem Legendenton gehaltene Künstlergeschichte, „Diaboleia“ von Ricarda Huch. Die Elegie in Distichen von Albert Matthäi ist ein Phantasiestück, welches uns die klassischen Musen auf dem Oelberg zeigt und die Verschmelzung des Heidnischen und Christlichen in ein originelles Sagengewand hüllt. Größere Novellen in Versen sind „Gunnar“ von Paul Heyse, eine formgewandte Nachdichtung der Nielssage, Ernst Ziels „Heimkehr“, ein Bild aus dem See- und Strandleben, eine Art Variante auf Tennysons „Enoch Arden“, „Möwenflug“ von Konrad Telmann, farbenprächtig und phantasievoll, „Gutenbergs Tod“ von Robert Waldmüller in volkstümlich kräftiger Darstellung. Unter den Dichtern kleinerer Balladen begegnen wir Felix Dahn („Die keusche Kara“), Albert Möser („Claudianus“), Ernst Lenbach („Unter uns Künstlern“, ein Gedicht von humoristischer Färbung,) und mehreren jüngeren Poeten; wir erwähnen von diesen „Die Walküre“ von Carl Busse, ein Gedicht von feurigem Schwung, und das stimmungsvolle „Allerseelen am Meer“ von Heinrich Vierordt. Unter den Liedern und vermischten Gedichten findet sich manches Wertvolle; es wird gewiß keiner der Leser einen oder den andern Liebling vermissen. Da rühren die alten Veteranen Hermann Lingg und J. G. Fischer ihre Harfe; da begegnen wir Wilhelm Hertz, Ernst Eckstein, Emil Rittershaus, Julius Rodenberg, Max Kalbeck, Martin Greif, Heinrich Kruse, Adolf Wilbrandt, Adolf Stern, Johannes Proelß, Robert Haaß, Max Härtung u. a. Zur Empfehlung der in dem Band vertretenen Spruchdichtung teilen wir hier zwei Sentenzen von Paul Heyse mit:

„Sei zum Geben stets bereit,
Miß nicht kärglich deine Gaben.
Denk’, in deinem letzten Kleid
Wirst du keine Taschen haben.“


„Nur eins beglückt zu jeder Frist:
Schaffen, wofür man geschaffen ist.“

Auch dieser neueste äußerst geschmackvoll ausgestattete „Musen-Almanach“ sei zu Geschenken an Freunde und Freundinnen der Poesie bestens empfohlen! †      

[756] Das fünfzigjährige Stiftungsfest des Allgemeinen Turnvereins zu Leipzig. (Mit dem Bilde S. 753.) Am 5. und 6. Oktober beging einer der ältesten Turnvereine Deutschlands, die größte Turngemeinde Sachsens, der Allgemeine Turnverein zu Leipzig die 50. Wiederkehr des Tages seiner Begründung. Das Fest bestand aus einer Vorfeier (Festkneipe), einem Schauturnen in der Alberthalle des Leipziger Krystallpalastes und einem Festessen im blauen Saale des letzteren. Erhielt die Vorfeier, an der Hunderte fremder Turner teilnahmen, ihren Charakter vornehmlich durch die Uebergabe zahlreicher Stiftungen und sinnvoller Geschenke, ganz besonders aber durch die vortrefflichen Reden des Oberbürgermeisters Dr. Georgi, des Vorsitzenden der deutschen Turnerschaft Dr. Goetz aus Leipzig-Lindenau und des Vereinsleiters, Professor Dr. Lion, so gab am anderen Tag nach alter Leipziger Sitte das Schauturnen, das man den Zuschauern zuliebe aus den beschränkten Räumen der städtischen Turnhalle in die Arena der Alberthalle verlegt hatte, den Turnern selbst Gelegenheit, den Gedanken der Feier zum Ausdruck zu bringen. Natürlich konnten hier nicht alle 54 Riegen des mehr als 1000 Mitglieder zählenden Vereines auftreten, sondern nur die tüchtigsten und besten Turner mit ausgewählten Uebungen, daneben aber auch die Turnerinnen der beiden Damenabteilungen. Die Kinderklassen des Vereins, die gleich den Damenklassen von Vereinsturnlehrern geleitet werden, hatten ihr Turnfest schon acht Tage früher abgehalten. Die Veranstaltung, deren Hauptmomente unser Bild auf S. 753 wiedergiebt, brachte einen Stabreigen von 40 Turnern unter A. Erbes, Hantelübungen und reigenartige Gruppen von Stabübungen, die L. Schützer mit 84 Damen vorführte, dann das bunte Durcheinander des Riegenturnens, wie es tagtäglich in der städtischen Turnhalle an der Turnerstraße zu sehen ist, und schließlich Kürübungen der Vorturner am hohen, dreiholmigen Barren, zusammengestellt von Dr. Lion, eingeübt und vorgeführt durch P. Erbes. Dies Jubel-Schauturnen war in jeder Beziehung geeignet, die Entwicklung zu veranschaulichen, welche der Verein seit den Tagen genommen, da ihn im Jahre 1845 Männer wie Karl Bock, Lampe, Schreber und Biedermann gründeten, freilich mehr zu dem Zweck, eine heilgymnastische Pflegestätte des Körpers zu sein, denn ein Tummelplatz leiblicher Kunstübung und kühnen, turnerischen Wagemutes.

Daß später neben dem gereiften Alter auch die Jugend ihr Recht erhielt, daß überhaupt aus der Turnanstalt allmählich ein Turnverein wurde, ist wesentlich das Verdienst eines damals noch gar jugendlichen Mannes, des Vorturners Alwin Martens. Selbst ein vortrefflicher Turner, stellte Martens beim Turnen neben die Forderungen der Nützlichkeit und die Gesetze der Methode das Verlangen nach Schönheit und Harmonie der Bewegungen. Nach außen hin vertrat er seine Ansichten in der von ihm unter Ernst Keils Hilfe mitgegründeten und zeitweise geleiteten „Deutschen Turnzeitung“, in seinem Vereine aber durch die Neuschöpfung der Körperschaft der Vorturner, denen er jene Ansichten in begeisternden Vorträgen einzuimpfen wußte. Er gab ihr auch jenes Grundgesetz, das diese freiwillige Turnlehrerschaft des Vereins für ihre mühsame und stetige Arbeit auf dem Turnplatze durch eine hervorragende, ehrenvolle Stellung entschädigt und ihr einen leitenden Einfluß auf alle Vereinsangelegenheiten zu sichern weiß. Als die Verbindung des Schulturnens mit dem Männerturnen im Allgemeinen Turnverein die Berufung eines Mannes notwendig machte, der auch in erzieherischer Hinsicht die Leitung des gesamten Leipziger Turnwesens übernehmen konnte, da war es wiederum Martens, der zuerst auf eine geeignete Persönlichkeit, seinen Freund und Strebensgenossen J. C. Lion aus Göttingen, hinwies. Ein unerbittliches Schicksal riß den 29jahrigen Mann aus dem Kreise seiner Turner wenige Monate vor der Berufung Lions nach Leipzig hinweg, im Februar 1862.

J. C. Lion.

Alwin Martens.

Justus Carl Lion, der Sohn eines Göttinger Docenten, hatte schon mit 19 Jahren das Turnen am Gymnasium seiner Vaterstadt geleitet, einen studentischen Turnverein daselbst gegründet und, gleich gewandt in Schrift und Wort, im Kampfe gegen die von Preußen begünstigte schwedische Gymnastik an erster Stelle gefochten. Als er nach Leipzig berufen wurde, war er Mathematiklehrer in Bremerhaven und zählte 33 Jahre. Die gleiche Zeit hat er nunmehr in Leipzig gewirkt und den Ruhm der Leipziger Turnerei, den Martens für das Vereinsturnen schuf, zu Ehren des Allgemeinen Turnvereins überall gemehrt und auf das Leipziger Schulturnen übertragen. Turnten doch noch 1867 mehr als 4000 Kinder fast sämtlicher Leipziger Schulen unter der Obhut des Allgemeinen Turnvereins und unter Lions Leitung.

Die Anleitung, die er der Schar seiner Leipziger Vereinsturnlehrer unter dem Namen „Bemerkungen über den Turnunterricht in Knabenschulen und in Mädchenschulen“ gab, sind allen deutschen Turnlehrern eine Richtschnur geworden, wie überhaupt sämtliche Schriften Lions – und er schreibt über alle Gebiete des Turnens – durch knappe Form, edle Sprache und mathematische Genauigkeit bei der Behandlung des Stoffes, durch Schärfe des Urteiles und erschöpfende Darstellung den klassischen Turnschriften von Guts Muths, Jahn und Spieß ebenbürtig zur Seite stehen. Mit der Erbauung von eigenen Schulturnhallen verließen die Schulen den Verein und Lion legte sein Amt als dessen technischer Direktor nieder, blieb ihm aber als Mitglied des Turnrats, der verwaltenden Behörde des Vereines, dessen Vorsitzender er jetzt ist, treu. Der Vorturnerschaft des Allgemeinen Turnvereines aber hat Professor Lion als ein Dichter in der Turnkunst, die er selbst einst als die Poesie des Leibes bezeichnete, immer neue Anregung und Belehrung gegeben. Wenn der Allgemeine Turnverein zu Leipzig heute weit über Sachsens Grenzen hinaus in ganz Deutschland rühmend genannt wird, so gebührt der Dank seiner Mitglieder erstmals der stillen und treuen Vorarbeit von Alwin Martens, dann aber Lions Thätigkeit in den letzten drei Jahrzehnten. P. A.     

Der Heimat zu! (Zu dem Bilde S. 741.) Der Heimat zu ist der Kiel des Schiffes gerichtet, das sich im Hafen von New York soeben zur Abfahrt in Bewegung gesetzt hat; der Heimat zu wenden sich nun auch die Gedanken der einsamen Reisenden, deren Blicke noch abschiednehmend an dem Bild der gewaltigen Stadt hängen, aus der sie so großartige Eindrücke mit in das Vaterland heimnimmt. Ja, Großes und Schönes hat sie in Amerika gesehen, wo sie in der Familie lieber Verwandten, die, einst von Deutschland eingewandert, in New York zu Wohlstand und Ansehen kamen, einige Jahre zugebracht hat. Im Verkehr mit ihren Cousinen hat sie selbst etwas vom Schliff einer jungen Amerikanerin angenommen, und unter Thränen hat sie sich von ihnen, von den Verwandten und Freunden losgerissen, die ihr bis an den Einschiffungsplatz das Geleit gaben und zum Abschied kostbare Blumensträuße ihr in die Hand drückten. Mit Wehmut denkt sie all der schönen Stunden, die sie hier im Kreise guter Menschen verlebt, zugleich mit innigem Dank gegen die, welche ihr so viel Teilnahme und Freundschaft erwiesen. Aber schon beginnt der Gedanke an die Heimat ihre Seele aufzurichten. Eines konnte ihr die Fremde doch nicht gewähren, was sie in der Heimat in Fülle besaß und ihr warm entgegenschlagen wird, wenn sie wieder zum erstenmal ihr Haupt an das treue Herz der Mutter schmiegen darf. Und an der Stelle des Abschiedsschmerzes überkommt sie die wohlige Sehnsucht, mit der einst Goethe auf der Rückkehr aus Italien das Wort niederschrieb: „Heimatwärts – liebewärts!“

Senta erblickt den Holländer. (Zu dem Bilde S. 745.) Den Vater zu begrüßen, der aus Sturmesnot glücklich im Hafen gelandet ist, wendet sich Senta der aufgehenden Thüre zu, und herein tritt über die Schwelle, vom Vater geleitet, die hohe Gestalt des bleichen fremden Mannes, dessen ernste Züge ihr so innig vertraut sind. An der Wand der Stube hängt ja seit langem sein Bildnis, das Bild des Unseligen, dessen ergreifendes Schicksal sie aus der düsteren Ballade kennt, die ihr als Kind schon die Amme vorgesungen. Eben erst hat sie wieder in Träumen vor dem Bilde gestanden und das Lied vom „Fliegenden Holländer“ ward auf ihren Lippen lebendig: das Lied von dem einsamen kühnen Seefahrer, den ein voreiliger Fluch in die Gewalt Satans geraten ließ und der nun rast- und ruhelos durch die Meere im schwarzen Gespensterschiff dahin fahren muß, ohne ein winkendes Obdach, und nur erlöst werden kann durch ein liebendes Weib, dessen Treue kein Makel trübt. Nur alle sieben Jahre darf er einmal vor Anker gehen, um den Versuch zu wagen: aber so oft es bisher geschehen, nie fand er das Weib, das die Treue ihm hielt. Und nun tritt er Senta leibhaftig entgegen; sie liest den unnennbaren Gram aus seinen Leidensmienen und aus seinen Augen die heiße Bitte, die um Erlösung fleht. Da leuchtet dem Gast aus den ihren das Bekenntnis entgegen, daß sie bereit ist, ihm ihr Herz zu weihen, und das Hochgefühl schwellt ihre Brust, daß sie den Schwur der Treue ihm halten werde durch Zeit und Ewigkeit. Sie vergißt in diesem Augenblick, daß ein andrer schon früher von ihr den gleichen Schwur empfing, und ahnt nicht das tragische Verhängnis, das sich vorbereitet, indem sie dem Jäger Erik dem Holländer zulieb die Treue bricht. – Die aus der romantischen Oper Wagners wohl allen Lesern bekannte Scene hat auch der Maler unsres Bildes verstanden, ergreifend zur Anschauung zu bringen.


Inhalt: Die Lampe der Psyche. Roman von Ida Boy-Ed (4. Fortsetzung). S. 741. – Der Heimat zu! Bild. S. 741. – Senta erblickt den Holländer. Bild. S. 745. – Die Opfer der Elektrotechnik. Zur ersten Hilfeleistung in Hochspannungs-Unfällen. Von W. Berdrow. S. 747. – Das neue Heim des Reichsgerichts. Von Hermann Pilz. S. 748. Mit Abbildungen S. 748, 749, 750 und 751. – Sturm im Wasserglase. Roman aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts. Von Stefanie Keyser (Schluß). S. 752. – Blätter und Blüten: Cottascher Musen-Almanach für 1896. S. 755. – Das fünfzigjährige Stiftungsfest des Allgemeinen Turnvereins zu Leipzig. S. 756. (Zu dem Bilde S. 753 und zwei Bildnissen S. 756.) – Der Heimat zu! S. 756. (Zu dem Bilde S. 741.) – Senta erblickt den Holländer. S. 756. (Zu dem Bilde S. 745.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)