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Die Gartenlaube (1895)/Heft 45

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[757]

Nr. 45.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Die Lampe der Psyche.

Roman von Ida Boy-Ed.

     (5. Fortsetzung.)

6.

Magda wartete wieder. In die „Zenobia“ Aufführung zu gehen, fühlte sie sich außer stande. Sie wußte, die ganze Situation würde ihr wieder so unbarmherzig zeigen, daß sie außerhalb des Kreises stand, der das Leben und Wirken Flemmings umfaßte.

In den martervollen Stunden der letzten Zeit war ihr klar geworden, daß sie nur den Frieden finden könne, wenn sie vor aller Welt ihr Recht auf den geliebten Mann anerkannt sah.

Als sein Weib würde sie die Dinge besser ertragen. Für die Entbehrungen und Selbstüberwindungen, welche ihr die Zeiten auferlegten, wo sein Berufsleben ihn ganz hinnahm, würde sie doch immer durch das Bewußtsein entschädigt werden, ihm in seinen Freistunden die unentbehrliche Gefährtin zu sein.

Auch war endlich, wohl durch die Gespräche der Malschülerinnen, in ihr der weibliche Wunsch erwacht, laut sagen zu können er ist mein! Und die fragenden Blicke des treuen Freundes, den ihre Unbedachtsamkeit zum Mitwisser gemacht, wurden ihr unerträglich. Vor den Schülerinnen, vor ihren Dienstboten, vor den Bekannten, die gelegentlich vorkamen, nach dem Befinden der armen Excellenz zu fragen, vor ihnen allen konnte sie lächeln und ruhig sprechen. Nur vor Nicolais großen hellen Augen, die mit unbeirrter Stetigkeit auf sie gerichtet waren konnte sie nicht sorglos glücklich scheinen. Und Nicolai hatte bemerkt, mußte bemerkt haben, daß René seit so vielen, vielen Tagen nicht gekommen war.

Gewiß, der Zustand mußte ein Ende nehmen. Es war eine Thorheit gewesen, ihn überhaupt für durchführbar zu halten.

So begann sie denn, von selbst darüber nachzusinnen, in welcher Form sich die Pflichten gegen den Vater mit ihrem Recht auf Glück vereinen ließen. Und sie nahm sich vor, mit René herzlich offen darüber zu sprechen.

Sie las in der Zeitung, daß die „Zenobia“-Aufführung glänzend gewesen, daß der geniale Dirigent einen Triumph ohnegleichen gefeiert habe und daß der fürstliche Komponist und Gast des herzoglichen Hauses am Abend selbst noch den Orden vom grauen Bären dem Herrn Hofkapellmeister überreicht habe. Magda hatte eine kleine kindische Freude. Der Orden – sie kannte ihn – war besonders schön, wie stattlich René damit aussehen würde. Sie war ja eine Beamtentochter und von ihrer Kindheit her gewöhnt, Orden für etwas Erstrebenswertes anzusehen. Dann fiel ihr ein, daß René doch seine Auszeichnungen nie trug.

„Wenn ich einst erst wirklich etwas geleistet haben werde,“ sagte er einmal, „wenn ich das Ziel erreiche, das mir vorschwebt, dann ist mein Name mir ein größerer Schmuck als alle Sterne und Kreuze es sein können. So lange ich aber noch der junge Anfänger bin, können mich auch die Orden nicht zum Meister stempeln.“

Am Tage nach der Aufführung kam er nicht. Auch den ganzen Sonnabend vormittag nicht. Später, als es schon dunkelte, kam Hortense. Sie wollte hören was die beiden miteinander ausgemacht hatten, und war peinlich berührt,

Daheim!
Nach dem Gemälde von Herm. Kaulbach.
Photographie im Verlag der Photographischen Union in München.

[758] zu hören, daß René noch nicht gekommen sei. Mit ihrer nie versiegenden Güte und Gewandtheit schwatzte sie Magda allerlei von der Soiree vor und sättigte das durstige Herzchen mit rühmenden Berichten von der Würdigung, die der geliebte Mann erfahren.

Dazu schien die Lampe so still und von der Straße her drang kein Geräusch herauf, daß es war, als gäbe es nur friedliche Stimmungen in der Welt.

Mit einem Male kam Kathi herein, die bei der sonnabendlichen Reinigung des Ateliers beschäftigt war.

„Der Herr ist da, der vor ’n paar Wochen ’mal mit Ihnen kam. Er will aber nicht hier vorn ’rein. Sie sollen in das Atelier kommen,“ bestellte sie, eine höfliche Bitte Renés auf ihre Art zurecht legend.

Magda schnellte empor.

„Ich erwarte Dich zurück,“ sagte Hortense.

Sie hatten beide das Gefühl, daß René in außerordentlicher Angelegenheit komme. Aber sie sprachen sich nicht mit einem einzigen Wort darüber aus. –

René war durch den regnerischen Oktoberabend langsam daher gekommen. Der Regen troff auf seinen Schirm, die Räder der Wagen spiegelten sich auf dem nassen Fahrdamm wieder.

Das leise Geräusch der auf das Schirmdach fallenden Tropfen that ihm merkwürdig wohl. Es war so gleichmäßig, so unendlich, so beruhigend.

Er hatte am Morgen nach der „Zenobia“ zu Magda gehen wollen. Allein der hohe Komponist ließ ihn zum Dejeuner laden. Der hatte einen plagenden Enthusiasmus für René gefaßt, und als Hintergrund all der Leutseligkeit kam der Wunsch heraus, Flemming möge eine Partitur, das jüngste Musenkind der Hoheit, die sich natürlich im Reisegepäck befand, auf die mutmaßliche Wirkung ihrer Instrumentation ansehen und frei Verbesserungen anbringen, wo es ihm passend scheine. Wie war das lästig gewesen!

Und am Freitag nachmittag, da hatte seine Zeit noch etwas anderes in Anspruch genommen – – –

Heute morgen hatte er Probe gehabt, für die Oper am Sonntag abend.

Er rechnete sich das vor, um es Magda alles zu sagen, alles!

Seine Füße waren ihm schwer, als er die Treppen emporstieg. Oben besann er sich ein Weilchen. Vorne anklingeln konnte die lästige Folge haben, daß er Besuch bei Magda fand, oder doch den kranken alten Mann.

Er dachte gar nicht darüber nach, daß das Atelier um diese Stunde verschlossen sein und daß sein Klopfen dort niemand hören würde. So war er auch gar nicht erstaunt, daß man ihm aufthat.

Das Atelier war grell erleuchtet. Von der Mitte des Plafonds hing ein kahles Gasrohr herab, an dessen beiden Armen je eine offene, breite Gasflamme brannte, wie in einen Fabrikraum. Der Estrich war noch feucht von den Wasserströmen, die sich darüber ergossen hatten und aufgewischt worden waren. Die Ecken der Decke waren auf die Ottomane geschlagen, oben auf dieselbe hatte Kathi das maurische Tischchen getürmt, das seine durch Schnörkel miteinander verbundenen Beine emporstreckte. Die beiden Fenster guckten blank und schwarz auf den unwohnlichen Raum.

Kathi, hochgeschürzt, einen Besen in der Linken, fragte erstaunt, was der Herr wolle. Der Mann in dem großen Kragenmantel und mit den dunklen Augen unter dem Hutrand kam ihr bekannt vor.

„Ich bitte das gnädige Fräulein, mich hier einige Minuten empfangen zu wollen,“ sagte er.

„Hier wird geputzt,“ erklärte Kathi, „mein Fräulein ist vorn.“

„Bitten Sie dennoch das gnädige Fräulein, sich gütigst herbemühen zu wollen,“ bat er.

Kathi hatte ihn inzwischen erkannt und ging nach vorn.

Er blieb einige Minuten allein. Er besann sich gar nicht, wie er beginnen solle, was er sagen wolle, dazu fühlte er sich außer stande. Die unabwendbare Gewißheit, daß er sprechen müsse, lähmte seine Erfindungskraft, ließ ihm alle Umwege als außer aller Möglichkeit liegend erscheinen. Was gradeaus vor ihm lag, langsam von der Seite zu erreichen, war so wenig seine Art, daß ihm nicht einmal der Gedanke kam, dies harte Geradeaus könne brutal erscheinen.

Da er solange innerlich mit dem beschäftigt gewesen, was nun über seine Lippen mußte, kam ihm, in der völligen Versenkung in die eigene Lage, nicht einmal Mitleid mit der ihren.

Sie trat ein. René fühlte, wie ihm das Herz zu schlagen begann – er fühlte es eigentlich mit Ueberraschung, denn er hatte geglaubt, ganz Herr der Situation zu sein.

In einiger Entfernung von ihm stand sie still. Ihr Gebahren war unbewußt – es war von demselben Instinkt beeinflußt, der das Wild die Gefahr wittern läßt.

Er ging auf sie zu und nahm ihre Hände. Das grelle Licht fiel von seitwärts auf Magda und ihn und gab so scharfe Schlagschatten, daß sie beide dachten „wie bleich ist sie!“ – „wie bleich ist er!“

„Du fühlst, daß ich in besonderer Angelegenheit komme, Magda?“ begann er.

„Ja,“ sagte sie mit unklarer Stimme. Er schwieg einen Augenblick. Ihm war so sonderbar: er fand so gar keine Worte für das, was er sagen wollte. Es war, als wenn irgend eine Fähigkeit in seinem Kopf aussetzte. Mühsam besann er sich.

„Hast Du mein Fernbleiben ganz allein auf Rechnung meiner Arbeit gesetzt?“ fragte er weiter.

Und wieder sprach sie: „Ja!“

Es kam ganz freudig versichernd von ihren Lippen und in ihren Augen leuchtete es lebhaft auf. Er sollte nicht denken, daß sie empfindlich und mißtrauisch sei. Dies freudige „Ja“ erschütterte ihn.

„Magda, liebe gute Magda, mich hat noch anderes ferngehalten. In mein Leben ist ein Neues, Unerwartetes getreten – ein Rausch – ich kann Dir nicht beschreiben, wie es ward und wie es wuchs – wie es über mich kam, ungewollt und ungerufen,“ sprach er.

In ihre Augen trat der Ausdruck der Angst.

„Siehst Du,“ fuhr er fort, Wort um Wort sich abringend, „ich habe es nicht geglaubt, daß es möglich sei – daß mir mitten in die heiligen, ergebenen Empfindungen für Dich ein neues Gefühl hineinfahren könne – daß ein anderes Weib zwischen uns zu treten vermöchte.“

Magda sah ihn an, ihre Lippen öffneten sich ein wenig, sie taumelte.

Er umfaßte sie und half ihr sich in den nächsten Stuhl setzen.

Er wartete, daß sie sprechen sollte, denn ihre Lippen bewegten sich. Aber es kam kein Laut hervor. Und die großen Augen starrten ihn mit immer dem gleichen Schreckensausdruck an.

Die Sekunden rannen.

„So – so liebst Du eine andere?“ fragte Magda heiser.

„Ich weiß nicht – ist das Liebe? Ist es ein Taumel?“ Er ging auf und ab, daß von seinen hastigen Bewegungen die offenen Gasflammen ins Flackern kamen. „Mitten in dem Wonnerausch, den die Liebe dieses leidenschaftlichen jungen Geschöpfes mir giebt, habe ich die Empfindung, die Ahnung, daß es eines Tages ein Erwachen voll grauen Elends geben kann. Aber Magda – sie, die mit ihrer alle Schranken niederreißenden Liebe mein Herz gesucht hat – Gott weiß es, sie das meine, nicht ich das ihre – sie hat soviel gewagt für mich! Die Ehre gebietet mir, in diesem Falle nicht an die Zukunft, nicht an das Erwachen zu denken, sondern nur daran, daß ich ihr mein Leben anbieten muß.“

Er stand vor Magda still.

„Und deshalb, Magda, – deshalb kann ich mein Dir gegebenes Wort nicht halten und deshalb stehe ich hier und bitte Dicht verzeih’ mir, wenn Du kannst. Ich sollte sagen: verzeih’ dem Schuldigen. Aber ich will nicht lügen – mir ist nicht, als läge Schuld auf mir. Kommt das später? Oder bin ich nicht schuldig? Ich weiß nur, ich konnte nicht anders.“

Magda sah vor sich hin, ihre Wangen waren fahl.

„So ist nun alles aus – aus – aus,“ sagte sie tonlos und strich mit der Hand flach durch die Luft, als stehe da etwas, das weggewischt werden sollte.

Diese Gebärde zerriß ihm das Herz. Er kniete neben Magda nieder und umfaßte sie.

Da legte sie ihre Wange auf sein dunkles Haar und ruhte lange still dort aus.

Er fühlte, wie es an seiner Schläfe naß niederrann. Die Thränen tropften aus ihren Augen.

„Magda,“ murmelte er mit erstickter Stimme, „theure liebe Magda!“

„Ich habe Dich sehr lieb gehabt,“ sprach sie langsam.

Dann richtete sie sich auf. Er sah angstvoll in ihr verstörtes Gesicht.

„Und – Du wirst nun – eine andere heiraten,“ sagte sie. – „Bald?“

[759] „Ich weiß es nicht. Ich glaube – ich mußte aber doch erst Dich gesprochen haben. O Gott!“

Er verbarg erschauernd sein Gesicht an ihrer Schulter. Er fühlte in diesem Augenblick erst ganz klar, wie grenzenlos dies Herz ihn liebte. Und ein wonnevoller Schmerz zitterte durch seine Seele.

„Wer ist es?“ fragte sie weiter, so eintönig wie ein Sterbender, der keine Kräfte mehr hat.

„Du wirst es später erfahren. Quäle Dich nicht so sehr,“ bat er. Seine Augen waren naß. Er hielt die kleinen kalten Hände, als wollte er sie zwischen den seinen wärmen.

„Ich weiß, wer es ist,“ sagte sie und durch ihre Glieder flog ein fieberisches Zittern. Sie nickte vor sich hin – sie sah den lachenden Mund mit der Zahnlücke vor sich – unerträglich, unerträglich – – –

Er erschrak vor diesem Wort, aber er that keine Frage. Eine lange Pause entstand.

Magda dachte so viel. Und er kniete noch immer neben ihr und sah mit unaussprechlicher Sorge in ihr Gesicht. Sie fühlte seinen Blick gar nicht. Sie dachte, wie wunderlich es doch sei, daß seine Ehre ihm gebiete, jene zu heiraten, die sich in sein Leben gedrängt hatte, mit eigenwilliger Begehrlichkeit. Und wie wunderlich es sei, daß seine Ehre ihm nicht gebot, ihr selbst sein Wort zu halten. Wenn da ein Konflikt war, warum löste der sich zu ihrem Unglück und nicht zum Unglück der andern? Wenn eine weinen sollte, warum sie, die in starker, reiner, selbstloser Liebe gestrebt haben würde, der gute Engel seines Lebens zu sein – warum nicht die andere, mit der er schon jetzt, schon in dieser Stunde ein Erwachen voll Elend fürchtete? – –

War denn das möglich, daß in einem Menschenherzen auf einmal alle Liebe und alle Erinnerungen an die Eigenschaften, welche diese Liebe erweckt haben, auslöschen können – –

„Magda,“ sagte er mit sanfter Stimme. Er wollte sie aus den qualvollen Gedanken erwecken, die er über ihre Stirn ziehen sah, denn da gruben sich tiefe Schmerzensfalten ein.

Sie schreckte auf und sah ihn an. Ihr Blick versenkte sich tief, tief in seine Augen.

„Nun werde ich Dich nie mehr sehen,“ sagte sie endlich leise.

Er erschrak sehr. Er war gar nicht darauf gefaßt, ein solches Wort zu hören. Vor seiner Phantasie hatte, als er sich diese Unterredung ausgemalt, eine Scene voll heftiger Klagen, Vorwürfe, Thränen gestanden. Ihr Herz, das Herz einer Frau konnte nicht fassen, was geschehen war, so sagte er sich, und sie würde ihn mit Fragen martern und mit Bitten um weitausholende Erklärungen. Und, so dachte er, ihre weibliche Neugier würde feindlich wach werden, sie würde ganz genau wissen wollen, wann, wo, wie er von der neuen Liebesgewalt erfaßt worden sei. Die Vorstellung, daß er eingehend über das Geschehene sprechen müsse, hatte ihn immer aufwallend feindselig gestimmt. Er fürchtete, ungerecht und heftig zu werden, wenn sie ihn so quälen werde.

Denn er war einer von denen, die wohl eine sinnlose That begehen, aber ihr nachher nicht ins Gesicht sehen können.

So hatte er es für zweifellos gehalten, daß sie heute in heftigem Zorn voneinander scheiden würden. Aber wie etwas ganz Selbstverständliches hatte auch die Gewißheit späterer Versöhnung vor seinem Geist gestanden.

Ebensowenig wie er einst bei Zwistigkeiten mit seiner Mutter, oder bei einem Gram, den er ihr bereitete, daran dachte, daß ihn dies von dem Herzen scheiden könne, das ihm das nächste auf der Welt war, ebensowenig hatte er gedacht, daß irgend etwas je sein Dasein ganz von dem Magdas loslösen könne. Nur die Form ihrer künftigen Zusammengehörigkeit würde sich verändern, nicht das Wesen derselben.

„Du willst mich aus Deinem Leben stoßen?“ fragte er eindringlich.

Ihre willenlose Ergebenheit in das Geschick hatte ihn maßlos erschüttert. Daß sie nicht einmal den Versuch machte, ihn jener anderen abzuringen, konnte er gar nicht fassen. Die höchste Liebe schien hier beinahe der höchsten Gleichgültigkeit verwandt, denn anders als in kampfloser Preisgabe des Glücks konnte Gleichgültigkeit sich auch nicht äußern.

„Ich?“ fragte sie mit einem herzzerreißenden Lächeln entgegen.

„Mein Gefühl für Dich ist dasselbe geblieben,“ versicherte er zärtlich, „ich sehe in Dir die treueste Schwester. Und diese liebe, engelsgute Schwester bitte ich: bleibe mir, was Du mir warst.“

„Schwester!“ wiederholte sie bitter.

Ihr müdes Auge ging in dem Raum um. Dort, wo der umgestürzte Tisch auf der Ottomane lag, blieb der Blick nachdenklich haften und wanderte dann langsam über den feuchten Estrich, über die umherstehenden Stühle und die an der Mauer lehnende zusammengeklappte spanische Wand.

Die breiten platten Gasflammen fuhren sacht zischend aus ihren Brennern. In den blanken schwarzen Fenstern spiegelte sich der Raum wieder. René sah dort deutlich noch einmal die Frauengestalt, die da vor ihm zusammengekauert im Stuhle saß.

Er wußte, welche Erinnerungen das Auge hier suchte – ihn selber überfluteten sie wie brennende Scham. Damals, als ihn seine Liebe für Magda beinahe hatte die Besinnung verlieren lassen, damals sah die zarte, stille Abenddämmerung in das Gemach. Jede Minute jener Stunde stand wieder deutlich vor ihm.

Und ihr bitteres „Schwester“ ließ ihm das Rot in die Wangen steigen.

Er erhob sich. Unwillkürlich stand sie auch auf.

Sie legte die Finger der Rechten gegen die Schläfe.

„Darf ich um etwas bitten?“ fragte sie.

Er nickte wortlos.

„Laß es schnell sein – schnell!“

Er verstand, was sie meinte, aber antworten, auf diese herzzerreißende Mahnung antworten – nein, das konnte er nicht.

Allerlei unklare Empfindungen überschwenglicher Art zogen durch seine Seele: daß Magda sich bald zum Frieden durchringen und ihm treue Freundschaft schenken möge, daß er Lilly lehren wolle, sie wie eine Heilige zu verehren, daß er, soweit es ihm noch möglich sei, ihr Sonnenschein in das Leben tragen wolle und ihr vor allem dadurch wohlthun müsse, daß er ihr immer zeige, er achte sie höher als alle Frauen dieser Welt. –

Er hätte in diesem Augenblick die Sterne vom Himmel herunter holen mögen, um ihr wohlzuthun, und wußte doch, daß sein Bleiben oder Gehen, sein Reden oder Schweigen ihr gleicherweise wehthun müsse.

„Lebe wohl!“ sagte sie.

„Darf ich morgen herkommen und sehen, wie es Dir geht, und Dir sagen, wie die Angelegenheit sich gestaltet?“ bat er. Es kam ihm so natürlich vor, mit ihr nun alles beratend zu besprechen, sie genau wissen zu lassen, wie sein Schicksal ward, ihr immer mehr von sich zu sagen, als alle fremden Leute erfahren würden.

Sie schüttelte den Kopf.

René nahm ihre Hand und hielt sie lange in der seinen.

Er fühlte, er dürfe Magda nun nicht mehr quälen, ihr kein Versprechen abzuringen suchen und nicht von ihr verlangen, daß sie ihm erlaube, sie wiederzusehen. Aber er fühlte auch, daß er, von innerstem Seelenzwang getrieben, ohne ihre Erlaubnis wiederkommen werde, müsse.

Sie wußten sich nichts mehr zu sagen. Und doch stand er immer noch wie angewurzelt vor ihr und konnte die Hand nicht lassen.

„Geh’!“ bat sie leise.

Er küßte ihr die Stirne – wie damals, als das Abendrot durch das Fenster glomm und er von ihr schied, heiligste Liebe für sie im Herzen.

Magda sah ihn auf die Thür zugehen und sah, wie er sie öffnete. Er stand noch eine Sekunde zögernd.

Einen Herzschlag lang war es Magda, als fasse sie ein Schwindel, als sei alles nur ein Traum gewesen, als müsse er sich wenden und sie ihm dann mit einem Jubelschrei in die Arme fallen.

Die Thür schlug zu. Er war fort.

Magda stand eine Weile unbeweglich. Ueber ihrem Haupt zischten die Gasflammen. Plötzlich kam es ihr vor, als schmerzte sie das. Sie legte die Hand flach oben auf ihr Haar.

Langsam ging sie vorwärts, der Thür zu, ihm nach.

Dann hob ein zitternder Seufzer ihre Brust. Sie kehrte um und ging durch den Raum in ihr Schlafzimmer, schritt weiter, entgeistert, mechanisch, durch die Küche, an Kathi vorbei, durch die Stuben und sah Hortense nicht. Sie hatte ganz vergessen, daß die da war. Und ging zu dem alten Manne, der in einer dämmerigen Zimmerecke teilnamlos dasaß.

Sie kniete neben ihm nieder und nahm seine Hand. Sie beugte ihr Haupt herab und legte ihr Angesicht auf diese Hand.

Und wenn der Mann mit den unklar verschwimmenden Gedanken auch nicht mehr wußte, was Herzensnot ist, und wenn von seinen Lippen auch kein Wort des Trostes mehr kommen konnte, [760] und wenn in seiner Seele nicht einmal mehr recht das Bewußtsein lebte, die da neben ihm kniete, sei sein Kind, sein unglückliches, tödlich leidendes Kind – es war doch eine lebenswarme Vaterhand, die Magda umklammerte – es war doch die einzige Stätte auf der großen, weiten Welt, von welcher niemand Magda vertreiben konnte, die ihr kein anderes Weib, kein neues Gefühl streitig machen durfte.

Sie preßte diese Hand fest und fester gegen die Augen. Und die Wärme, die sie fühlte, schmolz die Starrheit hinweg – es war, als wenn das Blut, das sie in den Adern dieser Hand klopfen fühlte, ihr sagte: wir sind eins! Du stammst von mir! Ein Wesen, zu leiden wie ich!

Ihre Thränen begannen zu fließen, immer stärker und unaufhaltsamer. Ein Schluchzen ging zitternd durch ihre Gestalt. Sie fiel auf den Boden nieder, und ihre Hände unter der Stirn verschränkend, brach sie in wildes Weinen aus.

Hortense, die ihr schweigend zugesehen, neigte sich über sie und hob sie auf. Sie brachte die wie von Krämpfen durchbebte Gestalt auf das Sofa. Sie holte Wasser herbei und kühlte die heiße Stirn und die roten Augen. Sie ließ mit sanftem Zwang die Schluchzende Wasser trinken – die Zähne schlugen klappend gegen das Glas.

Dann nahm sie Magda in ihre Arme und hielt die allmählich in ohnmachtähnliche Erschöpfung Fallende still an sich.

Sie rührte mit keinem Fragewort an den Schmerz der verstörten Seele.

Aber wer jetzt in dieses Antlitz geschaut hätte, das sich über die Weinende beugte, der würde die schöne, vornehme, weltgewandte Frau nicht wiedergefunden haben. Neubelebt durch den Eindruck dieses tiefen edlen Herzenswehs auf ihr Gemüt, standen in ihren Zügen wieder deutlich zu lesen die Wahrheiten ihres Lebens. Und die hießen: unlöslicher Gram um einst verlorenes Glück, herbe Bitterkeit über menschliche Grausamkeit!

Wohl eine Stunde verging so.

Der Wärter des alten Ruhland kam mit einer Frage. Hortense winkte ihm Schweigen.

Sonst keine Störung und rings die Stille des Grabes.

Endlich regte Magda sich und schlug die Augen auf. Sie sah Hortense an.

„Es ist aus,“ flüsterte sie. Hortense nickte. Ihr brauchte Magda kein Wort zu erzählen, keine Silbe. Ihrer hellseherischen, schmerzerfahrenen Seele war es, als sei sie Zeugin gewesen.

So oder so – die Form, die vorgebrachten Gründe, ob er mit Brutalität oder mit Schonung den Schlag geführt, es war gleich – Hortense wußte, daß René seiner Braut gesagt habe, daß er sie verlassen müsse.

Magda setzte sich aufrecht hin.

„Er muß eine andere heiraten. Die Ehre, sagt er, gebietet es ihm,“ sprach sie.

Und wieder nickte Hortense. Sie dachte, welche andere das sei, und erschrak doch. Denn für so weitgehend, für so folgenschwer hatte sie die von ihr beobachtete Beziehung zwischen Lilly und René nicht gehalten.

„Wie schwer ist das zu verstehen!“ rief Magda plötzlich, wieder in Thränen ausbrechend.

„Mein liebes Kind,“ sagte Hortense und sah mit bohrendem Blick in das Licht der Lampe, „dies gehört zu den Dingen, die man nie versteht, weil sie außer aller Berechnung sind und weil sie mit keinen Gründen erklärt werden können. Sie gehören für ihn selbst, der ihr Opfer so gut ist wie Du, zu den dämonischen Ueberraschungen der Natur. Nur daß für ihn im Augenblick dabei die höchste Wonne und für Dich das schwerste Leid das Los ist. Wenn Du erst solange wie ich das Leben beobachtet hast, wirst Du mit Schmerz, doch ohne Erstaunen die Zerstörungen erkennen, die von der Leidenschaft hervorgerufen werden. Da verläßt ein großer, ernster, alternder Mann plötzlich die Gefährtin seines ruhmvollen Gelehrtenlebens, deren Sorgfalt und Liebe er allein den stets ungestörten Arbeitsfrieden und damit indirekt seine Erfolge verdankt; warum? Er wirft sich an eine junge, hübsche, gewöhnliche Person weg, über seinen Namen, sein Familienglück besinnungslos hinwegschreitend. Dort siehst Du eine Frau, die jahrelang pflichtgetreu und still ihren Kindern und ihrem Gatten lebte, ihrem Hause entlaufen, hinein in die Welt mit einem Mann, der sie vielleicht nach wenig Wochen schnöde verläßt. Männer und Mädchen siehst Du in das Elend, ja in den Tod gehen, wenn ihrer Vereinigung Hindernisse in den Weg gelegt werden von klugen Eltern, die voraussehen, daß die beiden zusammen unglücklich werden müssen. Sie alle empfinden es, bewußt oder unbewußt, daß das Wesen und Ende solcher Leidenschaften Unglück, Elend ist. Sie haben es hundertmal an nahen Beispielen gesehen und davon gelesen. Und sie trotzen allem! Der heiße, augenblickliche Wunsch, einander zu gehören, reißt sie über alles hinweg. Die Liebe, die Achtung, die solange und heilig jemand für eine andere gehegt hat, sind wie weggeblasen. Ja, selbst die Begriffe von Ehre und das Urteil über die Moral verschieben sich. Ein Mann verzeiht einem Weib, das er so begehrt, Schritte, Thaten, die er der höher Geachteten und früher Geliebten nie verziehen hätte.“

Sie seufzte schwer auf. Ihre Wangen waren blaß und ihre Augen glühten.

Alles erwachte in ihr, was sie einst selbst gelitten, als sie, die Vielbegehrte, Vielgeliebte, sich von dem Manne verlassen sah, der lange und heiß um ihren Besitz gestritten und sie dann um einer schalen, hübschen koketten Frau willen aufgegeben hatte.

„Aber es ist vergebens, sich zwischen zwei werfen zu wollen, die von solcher Gewalt zu einander gerissen werden. Die Natur läßt ihrer nicht spotten. Und dennoch, Magda – wer nur das feste, kalte Herz dazu hätte, der müßte bei solchem Ereignis gar nicht weinen. Denn ein Bau, der auf solcher Grundlage aufgebaut ist, zerfällt schnell genug. Die Besinnung kehrt wieder und damit die Kritik über sich selbst und die Gefährtin dieses Bundes. Ich habe noch nie einen Mann dauernd glücklich gesehen, der ein Weib so verlassen konnte. Er hat die Elemente zu immer neuen Leidenschaften und immer neuen Enttäuschungen in sich.“

Ein triumphierendes Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie gedachte des zerfahrenen Lebens des Mannes, um den sie gelitten, den sie vielleicht immer noch liebte und um dessen willen sie nicht wieder geheiratet hatte. In ihrer kurzen Ehe war sie nicht sonderlich glücklich gewesen und dann, als junge Witwe, hatte sie gedacht, in jenem Mann das Glück zu finden.

Sie sprach kaum mehr für Magda, sie sprach für sich. Das jahrelang verschlossen Gehaltene kam heraus.

„Und doch – woher sollte man wiederum das Recht nehmen, zu verdammen? Die Natur hat dem Weibe andere Fähigkeiten gegeben als dem Manne und die schönste derselben ist das Verzeihen! Eine liebende Frau, die das weiß, die müßte sich immer sagen: es ist klüger, die Schleier über den letzten Abgründen der Mannesseele nicht zu lüften. Wenn sie weiß, daß er tüchtig ist, und wenn sie weiß, daß er ehrlich ist, sollte sie tapfer ihn ertragen, wie er sie erträgt. Jeder achte die Art des andern.“

Das hatte sie sich hundertmal gesagt, als es für sie – zu spät gewesen.

Magdas Seele blieb an dem Wort „Verzeihen“ hängen.

„Ich weiß nicht, ob ich verzeihen kann. Ich weiß nicht, ob ich zürne. Ich weiß nichts,“ sagte sie, „es ist über mich gekommen wie ein Schreck, dem ich nicht entrinnen kann. Und ich kann nicht aufhören, ihn zu lieben.“

Sie weinte linder.

„Du wirst gerächt werden,“ sprach Hortense, „er wird bald genug mit dieser Lilly unglücklich sein. Schon die Kämpfe, die er um sie wird führen müssen, werden seinen Stolz beleidigen. Die alte Wallwitz wird die Ehe, die ihr sicher nicht standesgemäß erscheint, nicht ohne weiteres zugeben. Und Lilly selbst – ich kann mir gar nicht denken, daß sie es unter einer sieben- oder neunzackigen Krone thut – es paßt so gar nicht zu ihr. Jedenfalls wird sie, nachdem das erste Glück verflogen ist, ihn mit Unzufriedenheit und Sensationslust quälen, dafür kenne ich sie. Und meine Menschenkenntnis trügt mich selten.“

„Nein,“ rief Magda, von neuem in Thränen ausbrechend, „das laß mich nicht denken, daß all mein Jammer nicht einmal für sein Glück notwendig war. Wenn ich leiden soll, so will ich es für ihn zum Heil – nicht aber zu seinem Unglück.“

„Gott weiß, ob er nicht eines Tages wieder kommt,“ sagte Hortense.

Magda starrte vor sich hin.

„Ich soll ihm eine Schwester sein,“ murmelte sie. „Er bat mich darum. Ich weiß nicht, ob ich es kann."

Sie erhob das Haupt und sagte fester: „Das eine aber weiß ich, ich könnte sein Weib doch nicht mehr werden. Ich

[761]

Der Erstgeborene.
Nach dem Gemälde von Hans Bachmann.

[762] kann nur einem Mann gehören, in dessen Seele mir alles, alles offenbar ist.“

Hortense umarmte sie und stand auf. „Martere Dich nicht mehr mit dem, was Du könntest und nicht könntest. Liebe, das Leben allein lehrt Dich das, heute weißt Du es noch nicht. Denke still über alles nach, was ich Dir sagte, vielleicht kommen Stunden, wo Du es begreifst.“

„Du willst gehen?“ fragte Magda bang, als sie sah, daß Hortense sich nach ihrem Mantel suchend umthat.

„Muß ich nicht endlich?“

Magda fürchtete sich vor der Einsamkeit. Sie hätte gemocht, daß die kluge, liebevolle Freundin noch stundenlang fortgesprochen hätte.

Aber Hortense hatte noch ein gutes, letztes Wort auf den Lippen. Sie wußte genau, womit man ein unglückliches, vergehendes Frauenherz aufrichtet und nährt.

Als sie Magda an der Thür noch einmal umarmte, flüsterte sie in ihr Ohr: „Er kann Dich vielleicht im Leben noch einmal sehr brauchen. Er wird es bald erfahren, daß solches Herz ein Schatz ist, den man nicht alltäglich findet. Und da Du jetzt von ihm scheidest, gieb ihm noch ein Großes mit: die Pflicht, Dich um Deiner Haltung willen zu achten!“

Magda schritt in ihr Zimmer zurück. Ihre Haltung war gebeugt, ihr Antlitz fahl und die Augen brannten.

Aber es war doch in ihnen ein wehmütiges Licht.

Und die blassen Lippen murmelten vor sich hin: „Er wird mich vielleicht noch einmal brauchen.“ (Fortsetzung folgt.)


Unsere Einbildungskraft.

Von Ernst Eckstein.


Spät abends bei mattschimmerndem Sternenlicht komm’ ich in Glismarhausen oder Salzdahlheim an und beschreite die Schwelle des „Goldenen Ankers“. Eh’ ich mein reisegeschütteltes Haupt zum Schlaf in die Kissen drücke, öffne ich das niedrige Fenster und lasse die köstlich erquickende Nachtluft hereinströmen. – Welch ein Anblick! – Das schottische Hochland mit all seinem wundersamen Balladenduft! – Wie malerisch! Wie romantisch! Drüben links dunkle, geheimnisumschauerte Hügelwände. Nach der Mitte zu eine verschattete Wasserfläche, in der sich die purpurrote Laterne eines poetischen Kahns spiegelt. Weiter nach rechts schroffe Zacken und Felsmassen, und ein architektonisches Etwas, das an die Zinnen einer mittelalterlich trotzigen Burg am Rheinesufer gemahnt. Wo bin ich denn hingeraten? Wer hätte dem „elenden Reste“ das zugetraut?

Am folgenden Morgen erweckt mich das Läuten der Sonntagsglocken. In rosigster Laune verlasse ich mein etwas härtliches Lager. Die zauberische Landschaft da draußen soll mich für die mangelnden Daunen und Sprungfedern schadlos halten.

Aber was seh’ ich? Ist das die nämliche Scenerie, die mich gestern beim Schimmer der Sterne so in Verzückung gesetzt? Welche Verwandlung!

Die Hügel zur Linken sind öde und reizlos; die Wasserfläche, breit von der Sonne bestrahlt, erweist sich als ein erbärmlicher Teich; die Felszacken sind das Profil eines unschönen Steinbruchs; und was ich so in der Nacht für die romantische Architektur eines Ritterschlosses gehalten, das entpuppt sich als der Schornstein des nahegelegenen Waschhauses. Aller Duft, alles Rätselhafte, alles Poetische ist dahin; hilflos stehe ich einer ernüchternden Wirklichkeit gegenüber.

Wie ist es möglich gewesen, diese prosaische, vegetationsarme Scenerie für ein so köstliches Märchengelände zu halten?

„Sehr einfach,“ antwortet nun der gedankenlose Instinkt. „Es war ja dunkel. Nur der spärliche Sternenschein zitterte über den Böschungen, die du sofort mit herrlichen Laubgehölzen bekleidet, über dem Steinbruch und dem ragenden Schornstein, die du ums Achtfache ihrer wahren Entfernung hinausgerückt und mit allen Erinnerungen an die prächtigsten Punkte des Rheinstroms verziert hast.“

Ganz recht: es war dunkel.

Aber dieser Mangel an Licht, diese Unfähigkeit, deutlich zu sehen, erklärt doch noch immer nicht die eigentümliche Thätigkeit unserer Einbildungskraft.

Weshalb malt uns die Phantasie das undeutlich Wahrgenommene schöner und nicht etwa häßlicher als die Wirklichkeit?

Logisch wäre es doch ganz ebenso denkbar, daß wir den Teich da unten als eine widerwärtige Lache und die Hügel da drüben, die doch wenigstens von Gras und Gestrüpp überdeckt sind, als leichenfarbige Sandhaufen ausgelegt hätten.

Dergleichen aber geschieht nie. –

Weshalb nicht?

Wer überhaupt fähig ist, über Erscheinungen, gegen die uns die Alltagsgewohnheit eigentlich abgestumpft hat, bei Gelegenheit sich zu verwundern, der wird uns zugeben, daß hier ein Problem, eine Aufgabe für den erklärenden Scharfsinn vorliegt. Die verschönernde Kraft unserer Phantasie bei undeutlich erkannten Objekten ist in der That durchaus nicht so schlechthin selbstverständlich, wie der gedankenlose Instinkt meint. Es giebt ja auch Seelenzustände, bei denen die Einbildungskraft nach der entgegengesetzten Richtung hin thätig ist, z. B. die Furcht. Ein Mensch, der sich fürchtet, malt sich das undeutlich Erkannte immer feindlicher, schreckhafter und gräßlicher aus, als es in Wahrheit ist. Er sieht lauernde Unholde, Räuber, Mörder, Gespenster. Die Wiese, auf der sich der Nebel regt, wird ihm bei seiner nächtlichen Wanderung zum bedrohlichen Sumpf, der kleinste Hügelabhang zum gähnenden Bergschlund. Bei der Furcht also verfährt die Einbildungskraft verhäßlichend – pessimistisch – während sie in dem oben geschilderten Falle optimistisch verfährt.

Wie kommt das?

Ehe wir antworten, sei das Problem noch durch ein weiteres und, wie ich glaube, interessanteres Beispiel erläutert. Wir gehen hierbei von dem undeutlich erkannten Ding auf die undeutlich erkannte Person über – und finden so vielleicht schneller den Schlüssel des eigentümlichen Rätsels.

Du siehst auf der Straße oder im Ballsaal eine harmonisch gegliederte Frauengestalt.

„Die ist hübsch!“ – ruft alsbald deine vorgreifende Einbildungskraft. Du machst vielleicht einen Freund, der neben dir steht, auf die angenehme Entdeckung aufmerksam, und mit großer Lebhaftigkeit stimmt er dir bei.

Nun kommt ihr näher, und je näher ihr kommt, um so entschiedener löst sich jene vermeintliche Schönheit der Züge in Mangelhaftigkeit, ja vielleicht in Unschönheit auf.

Aus der Entfernung habt ihr nur das hübsche Oval des Gesichts, die Frische der Farben, die strahlenden Augen mit einiger Undeutlichkeit wahrgenommen: das Nichtwahrgenommene, die Linien, die das Gesicht unschön machen – also etwa den unsympathischen Zug um den Mund, die häßliche Nase etc. – hattet ihr kraft eurer optimistischen Phantasie just so entworfen, wie diese Dinge eigentlich hätten sein sollen, und erst später erkennt ihr mit Unlust, daß sich die Wirklichkeit mit eurem Entwurfe nicht deckt.

Weshalb – so lautet die Frage, auf die es ankommt – zeichnet die Einbildungskraft nicht zur Abwechslung auch einmal eine geradezu scheußliche Nase in das undeutlich wahrgenommene Gesicht, um später beim Näherkommen zu finden, daß die Wirklichkeit schöner ist als das Vermutete?

Dieser umgekehrte Fall ereignet sich in der That nie – selbst dann nicht, wenn man uns schon vorher gesagt hat, die Dame, der wir heute zum erstenmal begegnen sollen, sei häßlich. Die Einbildungskraft behauptet sogar der glaubhaften Warnung eines bewährten Freundes gegenüber eigensinnig ihr Recht. Werden wir eines solchen Mädchens zum erstenmal aus genügender Ferne ansichtig, dergestalt, daß die häßlichen Einzelheiten noch nicht zur Geltung kommen, so erhebt sich sofort in uns eine Stimme, die gegen die Warnung Protest einlegt. Wir denken: „Aber die ist ja gar nicht so häßlich!“ Man giebt dem Freund also unrecht, trotz so mancher Erfahrung, die uns belehren könnte; immer wieder vertraut man der Aussage der verklärenden Phantasie – bis zum Beweise des Gegenteils.

Noch überraschender zeigt sich der Optimismus der Einbildungskraft in dem folgenden Fall, wo wir von dem Gesichte, das wir [763] uns vorstellen, gar nichts wahrnehmen. Hinter einer elastischen, wohlgebildeten Mädchengestalt herwandelnd, sind wir von vornherein überzeugt, diese Gestalt müsse ein hübsches Gesicht haben. Wir empfinden es beinah’ wie eine Kränkung, wenn sich nachher beim Vorüberschreiten herausstellt, daß die Einbildungskraft sich getäuscht hat.

Ist das nicht merkwürdig?

Im schroffsten Widerspruch mit der verstandesgemäßen Erfahrung hält die Einbildungskraft immer und immer wieder an ihrer Schlußfolgerung fest. Jedermann weiß doch, daß die Hübschheit Ausnahme, daß vollends die Schönheit ein weißer Rabe ist: und dennoch stellt sich die Phantasie auf den Standpunkt jener Naivetät, die eine einzige Lotterienummer spielt und voll Zuversicht auf den Hauptgewinn rechnet!

Noch einmal: wie erklärt sich dies Phänomen?

Ich glaube, man wird der Sache am ehesten auf den Grund kommen, wenn man sich an den zweiten der oben erwähnten Fälle – die optimistische Ausgestaltung eines nur undeutlich wahrgenommenen Gesichts – hält.

Wir alle tragen ein scharf geprägtes Bild von der Normalerscheinung, dem Typus des Menschen in unserem Bewußtsein.

Was diesem Typus sich nähert, das nennen wir, je nach dem Grade der Annäherung, hübsch oder schön; was sich von diesem Typus entfernt, unschön oder häßlich.

Besagter Schönheitstypus ist zugleich der Zweckmäßigkeitstypus; denn Schönheit ist Zweckmäßigkeit – nicht im niedrig alltäglichen, sondern im großen Sinne. Alles, was für das Wohl des Einzelwesens wie für das Wohl der Gattung zweckmäßig ist, erscheint uns schön; alles Zweckwidrige häßlich. Schopenhauer hat dies in seiner „Metaphysik der Liebe“ unwiderleglich erhärtet – unwiderleglich auch für denjenigen, der sonst die Weltanschauung des Frankfurter Philosophen nicht teilt. Die Hauptpunkte seiner geistvollen Studie entziehen sich hier der Erörterung. Beispielsweise sei nur erwähnt, daß ein frisches Aussehen, das auf gesunde Beschaffenheit des Blutes schließen läßt, schöne Zähne, die von Bedeutung für die Ernährung sind, außerordentlich zweckmäßig sowohl für das Einzelwesen als für alle zukünftigen Generationen sind, denen sie ja vererbt werden. Diese Zweckmäßigkeit aber drückt sich durch die Thatsache aus, daß solche Eigenschaften des Weibes dem Manne gefallen und umgekehrt.

Der verborgene Drang nach dem möglichst Vollendeten, die Neigung zum Typus oder zum Ideal, wie man auch sagen könnte, wenn das Wort nicht so häufig mißbraucht würde, schlummert also in jedem Menschen. Wir befinden uns gleichsam immerfort auf der Suche nach der Verwirklichung dieses Traums. Und wie im Gebiete des Rechtslebens die Annahme der Ehrlichkeit eines Mannes so lange besteht, bis man das Gegenteil dargethan hat, so gilt für unsern Instinkt die Annahme, jeder Mensch sei normal, dem Typus entsprechend, also schön – bis wir uns von der Irrigkeit dieser Annahme überzeugt haben. Wir sehen dann gewissermaßen mit den Augen des „Urbildes“. Wir erwarten und wünschen in jedem einzelnen Fall, daß die Wirklichkeit sich dem Normaltypus so eng als möglich anschmiegen werde.

Wie unausgesetzt der Mensch und besonders das menschliche Antlitz – dieser Träger aller seelischen Regungen – unsre Einbildungskraft beschäftigt, das erhellt aus der Thatsache, daß wir überall in der Natur, wo sich auch nur die dürftigsten Anhaltspunkte ergeben, menschliche Züge herauslesen.

Auf einer bröckelnden Kalkwand genügen drei oder vier Linien und Flecken, um uns sofort eine deutlich ausgeprägte, oft sehr charakteristische Physiognomie vor die Seele zu zaubern. In den Figuren der Teppiche, der Tapeten, in den quellenden Linien der Baumbelaubung, vor allem aber in den Gebilden der Wolken sehen wir, auch bei geringer Entwicklung der Einbildungskraft, menschliche Köpfe. – Häuser mit zwei Fenstern und einer dazwischen liegenden Thüre scheinen uns menschlich anzublicken. Alle erdenklichen Hausgeräte, auf denen sich ein paar Klexe gruppieren, wecken in uns die Erinnerung an ein Gesicht. – Ja, man kann dreist behaupten, daß wir unbewußt alle Objekte auf ihre Menschenähnlichkeit hin anschauen, und daß dieser unbewußte Akt uns nur dann ins Bewußtsein tritt, wenn die oben erwähnten Anhaltspunkte für die gestaltende Einbildungskraft gegeben sind. Je reicher und beweglicher die Phantasie eines Menschen, um so geringer braucht die Zahl jener Anhaltspunkte zu sein, um so leichter spannt er sein luftiges Gespinst über alles und jedes, was ihn umgiebt.

Von der hier erörterten Eigentümlichkeit unserer Einbildungskraft: stets den Typus des Menschentums mit sich herumzuschleppen – läßt jene weitere, nämlich die optimistische Auffassung undeutlich erkannter Landschaften u. s. w. psychologisch sich ableiten.

Wir tragen übrigens auch ein Ur- und Normalbild des Naturschönen in der Seele – und auch hier deckt sich die Schönheit mit der Zweckmäßigkeit. Da die Zweckmäßigkeit, d. h. die für uns vorteilhafte Gestaltung einer Landschaft mit den verschiedenen Kulturstufen der Menschheit wechselt, so hat auch unser Naturgefühl in geschichtlich nachweisbaren Punkten gewechselt. Was früher gefahrdrohend, also unzweckmäßig erschien, das hat diesen Charakter mit den Fortschritten der Technik, der Verkehrsentwicklung verloren.

So ist z. B. die Vorliebe unserer Naturfreunde für das Hochgebirge, für die Gletscher und Felsenklüfte, erst neuesten Datums. Die Patriarchen der Bibel schwärmten für Gelände, „wo Milch und Honig fließt“; bei den Griechen und Römern erblühte die Sympathie für die Meeresküsten. Das Wort für diesen Begriff (actae) ist bei den Römern geradezu identisch geworden mit dem Genuß schöner Landschaft. Die lateinischen Dichter und Schriftsteller werden nicht müde, uns das „Gestade“ und seine lieblichen Gärten, Haine und Grotten zu preisen.

Landschaften des Hochgebirgs, mächtige Urwälder, Felsenschlünde und ähnliche Dinge fielen dagegen nicht mehr diesseit der Grenze des antiken Naturgefühls. Der geniale Cäsar, der doch so manche unbedeutende Einzelheit seiner Erlebnisse mitteilt, erwähnt mit keiner Silbe der Majestät der Alpenwelt und des ewigen Schnees. Ja, noch im vorigen Jahrhundert sah man die Hochgebirge der Schweiz vorwiegend als schaurige Einöden, als fluchwürdige Hemmungen des Verkehrs an. Wir, die wir den Gotthardtunnel gebaut und Bergkuppen in den Abgrund geschleudert haben, um Dämme für unsere Eisenbahnen zu türmen, sind frei von jener Beklommenheit; wir finden die Alpenlandschaft nicht mehr gefahrdrohend, sind also fähig, sie rückhaltslos zu genießen.

Auch die offene See in ihrer stolzen Erhabenheit ist dem Altertum, dessen Schiffahrt den Kampf mit den Gewalten des Oceans noch nicht aufnehmen konnte, nur die öde, entsetzliche Wasserwüste. „Der hatte wohl dreifaches Erz um die Brust,“ sagt Horaz, „der zum erstenmal den schwankenden Kiel der trotzigen Flut vertraute.“

Homer, der sonst ein so ausgeprägtes Naturgefühl besitzt, der uns mit so ergreifender Einfachheit und Anschaulichkeit den Auf- oder Niedergang der göttlichen Sonne schildert, er hat kein Wort der Bewunderung für die Unendlichkeit der ewig rollenden Wasser, für die Erhabenheit des Sturmes, der die Wogen gen Himmel schleudert. Wir Modernen stehen dem Ocean ähnlich frei gegenüber wie der Gebirgswelt.

Nach dem Maßstabe also des uns innewohnenden Urbildes der Naturschönheit ergänzen wir undeutlich wahrgenommene Landschaften, analog der Ergänzung undeutlich wahrgenommener Menschengesichter. Dunkle Bergwände überkleiden wir mit Wäldern, weil wir gewohnt sind, solche bewaldete Höhen als Norm anzusehen, als die schönste und zweckmäßigste Umrahmung einer lieblich grünenden Thalsohle. Aehnliches gilt von den übrigen Einzelheiten.

Schließlich sei noch erwähnt, daß der hier nachgewiesene Optimismus der Einbildungskraft nicht nur auf dem Gebiete des Sehens, sondern ebenso auf dem Gebiete des Hörens obwaltet.

Wenn uns von fern die halbverwehten Töne eines Musikstücks herüberklingen, derart, daß eine zusammenhängende Melodie thatsächlich nicht zu vernehmen ist, so geht unsere nachschaffende Einbildungskraft sofort ans Werk, die Lücken kunstgemäß auszufüllen und so ein Tonstück zu schaffen, das oft vielleicht schöner ist als das Original.

Wie einem bekannten Ausspruch zufolge im Traum jeder ein Shakespeare ist, d. h. ein schöpferischer Dramatiker, der die einzelnen Charaktere konsequent durchführt, alle im Geist ihrer Rolle sprechen läßt und regelrecht die Konflikte herangestaltet, so ist bei der ergänzenden Thätigkeit unserer musikalischen Einbildungskraft jeder ein Mozart. Dies geht so weit, daß oft ein bloßes rhythmisches Geräusch dazu ausreicht, um uns eingebildete Tonfolgen vernehmen zu lassen; so z. B. während des Fahrens im Eisenbahnwagen. Die regelmäßig wiederkehrenden, nach bestimmten Heftigkeitsgraden modulierten Stöße der Räder erwecken in uns, wenn wir ihrem Geräusch eine Zeit lang in stiller Versunkenheit nachgelauscht haben, den Wahn einer Melodie, und wir sind häufig sogar befähigt, diese Melodie nach eigenem Geschmack zu lenken.


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Der größte Verein erwerbsthätiger Frauen in Deutschland.

Die Verschiebung der wirtschaftlichen Verhältnisse in diesem Jahrhundert hat auch die Frauen auf den Markt des Lebens, aus dem Haus in die Oeffentlichkeit gedrängt, und auch bei ihnen hat sich, dem Zuge der Zeit entsprechend, das Bedürfnis nach Zusammenschluß und Vereinigung geltend gemacht. Es sind nicht nur die Lehrerinnen und Erzieherinnen, welche durch ihren Verein zu bemerkenswerten Erfolgen gelangt sind, sondern auch neuerdings die weiblichen Angestellten in kaufmännischen und gewerblichen Betrieben.

Die Thätigkeit der Frau im Handelsgewerbe hat ja bedeutend zugenommen, in allen seinen Zweigen, auf dem Schreibsessel und hinter dem Ladentisch. Aber die mangelhafte Vorbildung vieler übte einen wirtschaftlichen Druck auf den Erwerb aller aus, abgesehen von zahlreichen anderen Uebelständen. Die Erkenntnis davon führte zur Gründung des ersten Vereins von Handlungsgehilfinnen in Berlin, und zwar unter der Bezeichnung „Kaufmännischer und gewerblicher Hilfsverein für weibliche Angestellte“. Das geschah am 2. Juli 1889, und kurze Zeit darauf zählte der Verein bereits 500 Mitglieder. Es gelang ihm, Prinzipale und Behörden für sich zu gewinnen und sich doch in seiner Thätigkeit zu gunsten der Angestellten nicht im mindesten behindern zu lassen, ein Erfolg, der wohl dem Umstande mit zuzuschreiben ist, daß an der Spitze ganz unparteiische Personen standen, die weder Inhaber von Geschäften noch Angestellte waren. Die Hauptthätigkeit des Vereins geht nach drei Richtungen: Stellenvermittelung, Fortbildung und Krankenhilfe.

Auf dem wichtigen Gebiet der Stellenvermittlung hat der Verein heute schon einen bedeutsamen Einfluß, weil ihm stets die intelligentesten der Berufsgenossen angehören und seine Thätigkeit auch den Arbeitgebern manche Erleichterung in der Auswahl der gesuchten Personen sowie eine gewisse Bürgschaft für sie bietet. Der Hilfsverein für weibliche Angestellte, der seine Thätigkeit hauptsächlich in Berlin, aber auch außerhalb ausübt, hat im Jahre 1894 im ganzen 911 Stellen besetzt, davon 570 durch Mitglieder, welche die Stellenvermittelung kostenfrei haben, die übrigen durch Nichtmitglieder, die eine Gebühr zahlen müssen. Dazu kommen 172 Lehrstellen., Der Verein hat sich nämlich auch eine Regelung des weiblichen Lehrlingswesens zur Aufgabe gemacht und vermittelt Lehrlingsstellungen in solchen Geschäften, in denen die Geschäftsinhaber die Gewähr gründlicher Ausbildung bieten.

Neben der Stellenvermittelung hatte der Verein sofort die Krankenhilfe auf seine Fahne geschrieben. Er gewährt heute, wo die gesetzliche Krankenversicherung auf die Handlungsgehilfen ausgedehnt ist, durch seine eingeschriebene Hilfskasse den 7400 Mitgliedern sehr namhafte Vorteile. Zur Behandlung der Erkrankten sind etwa 40 Aerzte, darunter sämtliche Aerztinnen Berlins, angestellt. Im Falle der Erwerbsunfähigkeit, d. h. der Unfähigkeit, im Geschäfte zu arbeiten, erhalten die Mitglieder – gleichviel, ob sie ihr Gehalt fortbeziehen oder nicht – je nach den monatlichen Beiträgen 1 Mark oder 1 Mark 50 Pfennig täglich bis zur Höchstdauer von 26 Wochen. Einen Begriff von der Ausdehnung dieses Zweiges der Vereinsthätigkeit erhält man, wenn man die Zahlen für die Krankenhilfe in Betracht zieht. Danach wurden 1894 im ganzen etwa 67000 Mark ausgegeben, wovon allein 25000 Mark auf Krankengeld und Krankenhausverpflegung entfallen. Mehr als die Hälfte aller in Berlin beschäftigten Gehilfinnen sind Mitglieder des Vereins.

Ungefähr ein Jahr nach seiner Gründung errichtete der Verein seine Fortbildungsschule, eine systematische Verbindung von allgemeiner und Fachbildung. Die Unterrichtsstunden sind von 8 bis 10 Uhr abends und ermöglichen daher die Teilnahme den meisten kaufmännischen Angestellten. Heute ist die Fortbildungsschule für Mädchen, welche vom Berliner Hilfsverein unterhalten, vom Magistrat und den Aeltesten der Kaufmannschaft unterstützt wird, wohl die größte und besteingerichtete Anstalt ihrer Art. Sie begann mit 11 Klassen und zählt heute deren 55, in denen 350 Schülerinnen in Deutsch, Korrespondenz, Rechnen, Handelslehre, Buchführung, Kontorarbeiten, Handelsgeographie, Englisch, Französisch, Stenographie und Schönschreiben unterrichtet werden.

Vor zwei Jahren wurde der Fortbildungsschule eine Vorbereitungsschule, eine Handelsschule, angegliedert, für diejenigen, welche sich auf die kaufmännische Laufbahn in geeigneter Weise vorbereiten wollen, also vornehmlich junge Mädchen im Alter von 15 bis 17 Jahren, deren Zahl im letzten Semester 249 war. Allmählich scheint sich doch als Folge der unermüdlichen Warnungen und Belehrungen der Vereinsleitung die Anschauung breiteren Boden zu verschaffen, daß die Eil- und Schnellkurse, wie sie vielfach noch üblich, mehr Schaden als Nutzen schaffen. Die Handelsschule des Hilfsvereins hat sich in Berlin bereits diejenige Anerkennung erworben, welche die bewährte Riemerschmiedsche Anstalt in München genießt.

Endlich gründete der Verein im vorigen Jahre gewerbliche Fortbildungskurse, in denen insbesondere das Zeichnen von Kostümen und Wäschegegenständen nach dem Maße sowie das Zuschneiden gelehrt wird. An weiteren Veranstaltungen kommen hinzu: Unterstützung stellenloser Mitglieder, freier Rechtsrat, Theatervorstellungen an Sonntagen in guten Theatern zu sehr billigen Preisen, gesellige Unterhaltungsabende, Lesezimmer mit 50 Zeitungen und Zeitschriften, unentgeltliche Benutzung der Vereinsbibliothek, die über 15000 Bände umfaßt, sowie der 27 städtischen Volksbibliotheken, Ermäßigungen in Badeorten und Sommerfrischen, Preisermäßigungen bei Zahnärzten, Optikern, in Badeanstalten, bei Photographen und in verschiedenen Sehenswürdigkeiten. Der Verein schützt auch seine Mitglieder kräftig gegen Ausbeutung und Ueberbürdung, er wirkt namentlich für allgemeinen Ladenschluß um 8 Uhr und für Klappstühle an den Ladentischen, um in Abwesenheit von Kunden das ungesunde vielstündige Stehen durch gelegentliches Sitzen zu unterbrechen.

Unter solchen Umständen scheint das rasche Aufblühen dieses so sehr zeitgemäßen Unternehmens wohl begreiflich. Am 1. Oktober siedelte der Verein, der bisher Oberwasserstraße 10 seine Räume hatte, in das neue Heim, Seydelstraße 25, über. Möge auch dort seine Wirksamkeit so segensreich sein wie bisher, und mögen andere Städte, die es ebenfalls gebrauchen könnten, dem Berliner Vorangang nachfolgen! J. S.     


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Beatus Rhenanus.

Humoreske von Ernst Lenbach.

Wolkenloser, zartdunstig verschleierter Himmel, windstille Luft, Staub überall und um die sechste Stunde des Nachmittags noch 23 Grad im Schatten – es war ein Augusttag mit allen jenen Witterungszeichen, welche Barometermacher und Seewarten unter dem Gesamtnamen „Schön Wetter“ zusammenzufassen pflegen. Das unglücklichste Wesen im Zoologischen Garten zu Köln war an diesem Sonntagnachmittage wahrscheinlich der Eisbär, lang hingestreckt lag er in der verhältnismäßig kühlsten Ecke seines Zwingers, in stummer Ergebung an seinen Vorderpranken saugend, und wagte kaum noch ab und zu mit Blicken eines Sterbenden nach seinem kleinen Bassin hinzuschielen, welches für ihn bereits die Temperatur eines Schwitzbades angenommen hatte. Das glücklichste Wesen im ganzen Garten aber war höchstwahrscheinlich der Referendar Leonhard Mülhens. Ihm waren die Glutpfeile, mit denen Phöbus Apollo Menschen und Tiere überschüttete, nur wohlwollende Grüße seines Meisters, denn Leonhard Mülhens war Dichter, und daß er als solcher auch anerkannt, ja sogar gelesen wurde, dafür besaß er seit einer Stunde den lieblichsten Beweis. Auf einer schattigen Bank drüben am Flamingoteich hatte sie gesessen, ein allerliebstes Braunchen in tadellos elegantem Reisekleid mit breitem Strohhut. Ihr Anblick hätte hingereicht, den einsam wandelnden Poeten und Gerichtsreferendar zu fesseln. Aber obendrein las sie in einem kleinen, rot mit Goldschnitt gebundenen Buche. Unkundige Menschen hätten es vielleicht für eine Miniaturausgabe des „Führers durch den Zoologischen Garten“ gehalten, für Leonhard Mülhens aber genügte ein Blick auf den Einband, um zu erkennen, daß es die „Minnelieder am Rhein“ von Beatus Rhenanus waren; und Beatus Rhenanus war er selber, unter diesem lateinischen Namen, der ins Deutsche übersetzt „der glückselige Rheinländer“ lauten würde, hatte er erst vergangene Ostern diese zarten lyrischen Klänge bei einem Kölner Buchhändler – natürlich auf eigene Kosten – erscheinen lassen. Aber daß jemand, und noch dazu ein reizendes junges Mädchen, öffentlich, sogar inmitten der wilden Tiere, wirklich in den „Minneliedern“ las, das war ihm noch nie vorgekommen.

Im ersten Entzücken wagte Leonhard Mülhens einen Schritt, zu dem er sich sonst wohl nicht so rasch entschlossen hätte; denn für gewöhnlich war er jungen Damen gegenüber sehr schüchtern, eine Eigenschaft, die man selten bei Referendaren, aber fast immer bei jungen lyrischen Dichtern findet. „Gestatten gnädiges Fräulein –“ stotterte er unter einer tiefen Verbeugung und wollte auf der Bank neben ihr Platz nehmen. Sie aber fuhr bestürzt auf, stammelte „o, bitte –“ und entfernte sich eilends und sichtlich verwirrt. Das Büchlein hatte sie auf der Bank liegen gelassen. Leonhard Mülhens hob es mit väterlicher Zärtlichkeit auf, eilte dem schönen Mädchen nach und reichte es ihr mit einer neuen Verbeugung hin. „Gestatten gnädiges Fräulein – Ihr Buch!“ Dabei wurde er über und über rot. Sie errötete ihrerseits ebenso sehr und stand einen Augenblick ganz fassungslos, ohne nach dem Buch zu greifen. Dann stotterte sie: „O, aber – ich – ich danke Ihnen, mein Herr!“, langte hastig zu, und ohne noch weiter etwas zu sagen, mit höflichem stummen Grüßen trennten sich diese beiden schüchternen Leutchen voneinander.

Sobald sie aber entschwunden war, fiel Leonhard Mülhens über sich selbst mit den heftigsten Vorwürfen her, wie er jedesmal zu thun pflegte, wenn er infolge seiner Schüchternheit den Anschluß

[765]

Bei der Kartenlegerin.
Nach dem Gemälde von J. B. Huysmans.

[766] verfehlt hatte. Eine solche Gelegenheit zu versäumen! Einem so reizenden und zweifellos – die Wahl ihrer Lektüre bewies es – mitfühlenden Wesen gegenüber! Wozu diese steife Höflichkeit? Warum war er nicht einfach vor sie getreten mit den Worten: „Ich bin Beatus Rhenanus!“ Aber so machte er es immer. Wie vielen hübschen Mädchen hätte er sich schon angenehm machen können! Freilich in seinen „Minneliedern“ hatte er sie alle verewigt, aber die zärtlichen und kecken Unterhaltungen, die er in diesen Liedern mit ihnen pflog, waren Erzeugnisse einer Kühnheit, welche ihn angesichts der Schönen sogleich verließ und erst wiederkam, wenn er daheim im stillen Stübchen, verstohlen und ohne Mitwissen seiner besten Freunde sogar, Abenteuer dichtete.

Nachdem er jedoch diese Selbstvorwürfe wie gewöhnlich mit einem energischen „das soll jetzt anders werden!“ abgeschlossen, gab sich Leonhard Mülhens ganz dem Gefühle seiner befriedigten Dichtereitelkeit hin und schritt mit einem nie zuvor empfundenen Stolze so aufrecht und elastisch daher, daß sogar einige ältere Flamingos neidvoll nach ihm hinblickten und dachten: Von dem kann man ’was lernen!

Schließlich wandte er sich der überfüllten Restaurationsterrasse zu, um nach langem Suchen ein Eckplätzchen und sogar einen Kellner zu finden, der sich anheischig machte, ihm ein Krüglein Mineralwasser und einen Cognac zu besorgen. Da sah er plötzlich seine schöne Leserin wieder. Sie stand kaum drei Tische weit von ihm entfernt, neben einer ältlichen Dame, einem Herrn mit fröhlichem weinroten Gesicht und mächtigem grauen Schnurrbart und einem halbwüchsigen Knaben, der eine bunte Schülermütze trug und im Gesichte dem schönen Mädchen angenehm glich. Die Herrschaften hatten eben bezahlt und wandten sich zum Aufbruch, auf dem Tische aber lag zwischen geleerten Kaffeetassen und Kuchentellern das rote Büchlein, und die Schöne vergaß wieder, es mitzunehmen.

Eilends sprang Leonhard Mülhens auf, um sie auf ihre wiederholte Vergeßlichkeit höflich aufmerksam zu machen und diesmal den Anschluß nicht zu versäumen. Da stürzte gerade der Kellner mit dem Bestellten herbei. Leonhard Mülhens bezahlte so rasch er konnte, aber inzwischen waren die Fremden bereits im Gewühl verschwunden. Aergerlich goß er den Cognac hinunter, holte das rote Büchlein und machte sich auf die Suche.

Vor dem Affenhaus waren sie nicht, ebensowenig am Bärenzwinger, am Elefantenhaus oder bei den Seelöwen, und auch nicht vor irgend einer weniger volkstümlichen Tierart. Endlich nach stundenlanger Jagd sah Leonhard Mülhens in der Nähe des Ausgangs die bunte Schülermütze auftauchen, und gleich darauf auch den breiten Strohhut. Nun aber führte ihm das Verhängnis seinen Verleger in den Weg, der ihn sogleich jovial am Arm faßte und zu einer Bowle abzuschleppen drohte: „Wir sind zu sechs Mann, drei Juristen, ein Schauspieler, ein Kritiker und ein Verleger, da fehlt uns noch ein Lyriker.“ „Sie müssen mich wirklich entschuldigen,“ bat Leonhard Mülhens hastig, indes seine Blicke vergebens den Strohhut festzuhalten strebten – „Damendienst . . .“ „Ach so“, meinte der andere, „na, dann natürlich! Ich sag’s ja, diese jungen Poeten! Viel Glück, mein Bester!“

Aber mittlerweile war der Strohhut verschwunden. –

Spät abends stand Leonhard Mülhens auf dem Perron eines stadtwärts rasselnden Pferdebahnwagens. Ganz müde und erschöpft war er. Im Zoologischen Garten, am Dampfschiff, in der Flora beim Feuerwerk – überall hatte er die Holde gesucht, und überall vergebens. Nun wollte auch seine letzte Cigarre nicht ordentlich brennen. Aergerlich warf er das Ding weg und wandte sich durch die Thür ins Innere des Wagens.

Da saß seine schöne Leserin, ohne Begleitung und ersichtlich in höchster Verwirrung, vor ihr der Schaffner, der vergebens die Hand zum Empfang des Fahrgeldes ausgestreckt hielt und die Verlegene zweifelsüchtig betrachtete.

Natürlich sprang Leonhard Mülhens sogleich hilfreich ein. „Gestatten, gnädiges Fräulein –“ Sie konnte nur dankend nicken, so verwirrt war sie. Dann, nachdem er den Schaffner unter Zugabe eines Trinkgeldes befriedigt hatte, begann sie zu erzählen. In dem furchtbaren Gedränge bei dem Feuerwerk habe Vater die Losung ausgegeben, falls eines den Familienanschluß verlöre, solle es sogleich mit der Pferdebahn bis zum Dom zu fahren; in ihrem Absteigequartier, im Domhotel, werde man sich schon wieder zusammenfinden. Und nun hätte sie leider vergessen, daß sie ihr Geldtäschchen schon im Zoologischen Garten dem Bruder Konrad gegeben habe, damit er ihr Nüsse für die Bären kaufe. Und der habe es natürlich behalten.

Leonhard Mülhens segnete den gewinnsüchtigen Bruder Konrad aus tiefster Seele, während sie ihm das alles erzählte, ein wenig verschämt und stockend, mit der reizendsten Stimme, übrigens die letzten Silben jedes Satzes eine Terz höher.

„Gnädiges Fräulein sind Oberländerin, wie ich höre?“ bemerkte Leonhard Mülhens.

Sie errötete ein wenig. „Ihnen merkt man natürlich nicht an der Aussprach’ an, daß Sie Kölner sind!“ erwiderte sie mit allerliebster Bosheit.

Nun war das Erröten wieder an ihm. Obendrein fiel ihm ein, daß er sich ihr noch gar nicht vorgestellt hatte. Eilig holte er das Versäumte nach. Auch überreichte er ihr das rote Buch wieder, aber er brachte es nicht übers Herz, sich als Verfasser zu bekennen. Sehr verlegen nahm sie es in Empfang und legte es neben sich.

„So, also Referendar sind Sie?“ meinte sie, „haben Sie in Bonn studiert? Bei wem denn?“

Ganz schulmäßig begann er ihr seine Lehrer aufzuzählen. Aber schon bei dem zweiten Namen unterbrmch sie ihn lebhaft: „Das ist ja mein Onkel!“

„Der Herr Geheimrat ist Ihr Onkel? Er ist mein liebster Lehrer und, ich darf sagen, väterlicher Gönner. Nein, wie mich das freut!“ sagte Leonhard Mülhens.

„Ja, nicht wahr? Wie reizend sich das trifft,“ meinte sie. Dann wurden sie plötzlich sogleich wieder sehr rot über ihre gemeinsame Freude und schwiegen eine Weile.

Am Dom half er ihr vom Wagen und durfte sie bis zu ihrem Hotel geleiten. Als sie aber dort erfuhren, daß die anderen Herrschaften schon zu Hause seien, wurden sie immer verlegener, er, weil er in seiner Schüchternheit die Bitte nicht herausbrachte, ihn ihren Eltern vorzustellen, und sie, weil sie ihn nicht dazu aufzufordern wagte. Schließlich stotterte er: „Also Ihr Herr Onkel! . . .“

„Ja,“ stammelte sie, „der – der wird Ihnen das Geld wiedergeben... Vielen Dank! Auf Wiedersehen, Herr Referendar!“ reichte ihm ihr Händchen und huschte ins Vestibül, Leonhard Mülhens sandte ihr noch einen langen, verzückten Blick nach, dann suchte er müde und hungrig, aber doch ganz seelenvergnügt seine Stammkneipe auf.

Als er spät in der Nacht heimkehrte und am Dom vorbeikam, hielt dort gerade der letzte Sonntags-Extrawagen der Pferdebahn; es war derselbe, auf welchem er mit der reizenden Brünette hereingefahren war. Der Schaffner, dem noch das reichliche Trinkgeld in der Hand juckte, grüßte sehr höflich. „Hier, Herr Assessor, das hat das Fräulein heut’ abend liegen gelassen,“ rief er und reichte Leonhard Mülhens das rote Buch vom Wagen herunter.

Also richtig zum drittenmal! Der poetische Referendar konnte sich bei dieser sonderbaren Wirkung seiner Verse einer gewissen Befremdung nicht erwehren. Dann aber siegten zartere Gefühle, er steckte das Büchlein zärtlich ein, und zu Hause in seinem einsamen Zimmer blätterte er noch lange sinnend darin und überlegte, welches von den Gedichten ihr wohl am besten gefallen habe. ... Was ihn besonders freute, war, daß sie sich das Buch offenbar selber aus eigenstem Anteil gekauft hatte; es war ihr nicht etwa als Vielliebchen oder zum Geburtstage verehrt worden, denn jede Widmung fehlte darin, auch war der Preisvermerk des Buchhändlers auf der inneren Deckelseite noch nicht ausradiert.

Ein paar Tage darauf meldete sich Leonhard Mülhens bei seinem ehemaligen Lehrer in Bonn. Es war ihm plötzlich eingefallen, daß er den hochverdienten Mann wegen verschiedener juristischen Doktorfragen um Rat und Aufklärung bitten müsse.

Der Geheimrat empfing ihn persönlich, in der heitersten Stimmung. „Das trifft sich ja prächtig., mein lieber Freund,“ rief er, „kommen Sie nur gleich mit in meine Gartenlaube, da finden Sie eine Bowle und auch noch eine andere Bekanntschaft.“ Und richtig, da saßen sie alle bei einander. „Meiner Frau sind Sie ja bereits bekannt, – mein Schwager Lüders, Hauptmann a. D. und Weingutsbesitzer, nebst Frau – na und meine Nichte Emma Lüders kennen Sie ja auch bereits, Sie Helfer in der Not!“ Emma bestätigte die Bekanntschaft mit freundlichem Händedruck und tiefem Erröten, welches auf Leonhards hübschem Gesicht sympathisch wiederstrahlte, und auch der Hauptmann a. D., anscheinend eine weingutsbesitzerhaft gemütliche Natur, hieß ihn freundlich willkommen.

Als er nun aber wieder mit dem roten Buch herausrückte – natürlich hatte er es in der Tasche – brach die ganze fröhliche [767] Gesellschaft in ein lautes Lachen aus. „Um Gottes willen, lassen Sie nur endlich das dumme Buch weg,“ rief Emma unter Lachthränen errötend, „das gehört mir ja gar nicht!“

„Wie, es gehört Ihnen gar nicht?“ wiederholte Leonhard Mülhens hilflos fragend.

„Nee, lieber Herr Referendar,“ meinte der Hauptmann a. D. und Weingutsbesitzer, „das dürfen Sie dreist glauben, so was gehört meiner Tochter nicht, am wenigsten nimmt sie es mit auf die Reise, um im Zoologischen Garten drin zu lesen. Die hat was von meiner Art, die steckt ihre Nase lieber in den Weinberg als in Gedichtbücher, gelt, Emma?“

„Aber – wem gehört das Buch denn?“ stotterte der verkannte oder vielmehr glücklicherweise unerkannte Dichter.

„Ja, sehen Sie,“ erklärte Emma, „das weiß ich doch nicht! Ich fand es eben auf der Bank, als ich da ein bißchen ’rumgegangen war, weil es mir oben auf der Terrasse zu dumpf war. Und nachher, als Sie da kamen, da meint’ ich erst, es wär’ Ihres und Sie wollten es wieder haben. Aber wie Sie es mir da nachbrachten, da hab’ ich es eben angenommen, weil ich mich doch nicht mit Ihnen darüber des langen verständigen konnte.“

„Hören Sie mal, mein lieber junger Freund, Sie haben sich und meiner Nichte da einen netten juristischen Knoten geknüpft,“ bemerkte der Geheimrat lachend. „Fund, oder aber Aneignung fremden Eigentums – he?! Nehmen Sie sich in acht, die Sache scheint mir nicht geheuer!“

„Nun,“ sagte Leonhard Mülhens, indem er mit einer plötzlichen Ueberwindung seiner Schüchternheit das Glas gegen Emma erhob und ihr fest in die Augen sah, „auf jeden Fall sind wir zusammen schuldig!“ Und sie nickte errötend, stieß mit ihm an und erwiderte lachend: „Prosit, Herr Mitschuldiger!“

„Nun seh’ einer diese jugendlichen Verbrecher!“ meinte der Geheimrat und füllte die Gläser.

Sechs Wochen darauf kehrte Leonhard Mülhens von einer für ihn sehr wichtigen Reise in den Rheingau zurück nach Köln, und sein erster Gang galt dem Verleger der „Minnelieder am Rhein“. Er fand den trefflichen Mann gerade beim Nachtisch, mit einer Flasche Mosel und einer Cigarre beschäftigt. „Nehmen Sie Platz, eine Cigarre und ein Glas,“ sagte er, „und dann teilen Sie mir, bitte, zuvörderst mit: kommen Sie als Mensch oder als Autor?“

„Beides,“ erwiderte Leonhard Mülhens. „Und als beides glücklich.“

„Ein seltener Fall,“ versetzte der Verleger, „erklären Sie mir das doch deutlicher!“

Nun erzählte ihm Leonhard Mülhens die ganze Geschichte seines Glücks von seiner ersten Begegnung mit Emma bis zur gestern gefeierten Verlobung. Der Verleger hörte mit dem innigsten Vergnügen zu.

„Wissen Sie auch,“ bemerkte er dann, als Leonhard seinen Bericht geendet hatte, „daß Sie das alles allein mir zu verdanken haben? Denn ich will es Ihnen nur gestehen: das Buch hatte ich selber auf die Bank gelegt und mich dann gegenüber im Gebüsch versteckt, um zu sehen, ob nicht wenigstens gratis mal ein Exemplar an den Mann zu bringen wäre. Ein nettes Ergebnis, das kann ich wohl sagen! Ihr Fräulein Braut war die sechste, und daß die es auch nicht behalten wollte, wissen Sie ja selber am besten. – Und nun wollen Sie mir’s wohl wiederbringen, was? Es ist doch merkwürdig, solche lyrischen Gedichtbücher sind wie ein australischer Bumerang, die kehren immer wieder in die Hand des Schützen, beziehungsweise des Verlegers zurück.“

„Diesmal aber nicht,“ erwiderte Leonhard Mülhens friedlich lächelnd. „Das Exemplar behalten wir!“

Der Verleger nickte. „Wir, sagen Sie – also weiß sie doch jetzt, wer dieser Beatus Rhenanus ist? Das ist recht – ein richtiges Brautpaar darf keine sündhaften Geheimnisse voreinander haben. Aber sagen Sie ’mal, haben Sie denn nun das Dichten ganz aufgesteckt?“

Auf Leonhards Gesicht zeigte sich einen Augenblick das alte schüchterne Erröten. „Im Gegenteil,“ sagte er, „ich dichte jetzt jeden Tag. Aber die Sachen sind natürlich nur für meine Braut, sie liest sie mit Feuereifer und lobt sie, und das genügt mir. Gedruckt wird nichts davon, wir behalten unsere Poesie für uns.“

„Bravo, lieber Freund,“ rief der Buchhändler und klopfte ihm herzhaft auf die Schulter, „so gefallen Sie mir! Sehen Sie, wenn Sie sich auf dieser Höhe halten – ein glücklicher Bräutigam und zugleich ein Lyriker, der aufs Gedrucktwerden verzichtet – da sind Sie wirklich Beatus Rhenanus – ein glückseliger Rheinländer!“



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Zu Fuß um die Erde.

Von K. von Rengarten.[1]
Auf den Trümmern von Kutschan.

Durch Persien führte mein Weg; es war im „wunderschönen“ Monat Mai, da ich, von Dorf zu Dorf wandernd, über den Gebirgsrücken des Aladagh dahinzog. Die trostlose Kewirsche Salzwüste lag längst hinter mir und schon seit mehreren Tagen hatte ich Gelegenheit, mich des frischen Grüns zu erfreuen, in dem die Landschaft um mich her prangte. Wälder gab es freilich hier wie auch sonst in Persien nicht, aber die Fülle herrlicher Blumen, die Menge üppiger Felder und Wiesen um mich her gewährten ein so heiteres Bild, daß es mir kaum glaubhaft erschien, in kürzester Zeit den schrecklichsten Anblick meines Lebens vor Augen haben zu sollen. Das vorläufige Ziel meiner Wanderung war ja Kutschan, die feste Stadt in der persischen Provinz Chorassan, die einst an 20000 Einwohner gezählt hatte und über die kurz vor meiner Ankunft schlimme Schicksalsschläge, Erdbeben und Aufruhr, ergangen waren.

Gleich hinter Sawsewar hatte der Weg begonnen, steil in das Gebirge emporzustreben, und schon nach einem halben Tagemarsch befand ich mich in einer Höhe von etwa 1600 Metern über dem Meeresspiegel. Gottlob: da oben wehten frischere Lüfte; noch vor kurzem hatte ich die Glut von +40° R. erdulden müssen, heißen Tagen waren schwüle Nächte gefolgt; hier waren zwar die Tage gleichfalls heiß, aber die Nächte erquickend kühl.

Von dem höher gelegenen Dorfe Gala-Plow erblickte ich endlich Kutschan – ich schaute in ein weites Thal hinab, in dem sich ein langer grüner Streifen ausdehnte. Näher kommend, erkenne ich in ihm rechts herrliche von Obstbäumen und Pappeln bestandene Gärten, links aber ganze mit Weinreben bepflanzte Felder. Dazwischen leuchten in der Mitte weiße Punkte hervor. Noch ein kleiner Marsch und klarer werden die Einzelheiten des Landschaftsbildes; die weißen Punkte werden zu Zelten; die Bäume treten auseinander und der Blick fällt auf die Trümmer von 8000 menschlichen Behausungen, die nicht etwa emporragende Ruinen, sondern einen wirr durcheinander geworfenen Haufen von Ziegeln und Lehmblöcken bilden. Kein Haus ist hier stehen geblieben! Die Sonne leuchtet vom wolkenlosen Himmel nieder; durch die Sohlen der Stiefel merkt man, wie heiß der Boden ist, es darf daher nicht wunder nehmen, wenn in den Tagesstunden stets ein Leichengeruch über Kutschan schwebt, denn unter jenen Trümmern schlafen ja noch heute Tausende von erschlagenen oder verhungerten Männern, Weibern und Kindern dem jüngsten Tage entgegen.

Vor der ersten am 17. November 1893 erfolgten Katastrophe besaß Kutschan 8000 Wohnhäuser, eine über 500 Jahre alte Moschee, in welcher der als heilig geltende Sultan Ibrahim oder Imam Sädä, der Sohn des Meschheder Heiligen Imam Mirsa, beigesetzt ist, 4 große Karawanseraien, eine Mädrässé (Schule zur Ausbildung von Priestern), eine Menge großer Badehäuser und einen Bazar, der vier- bis fünfhundert Magazine in sich barg. Die Einwohnerzahl betrug etwa 22000 Personen und an jenem Tage sollen 8000 Fremde dort geweilt haben.

Ich war im Zelte eines ansässigen Armeniers abgestiegen, zu dem ich freundlichst durch seine Landsleute in Sawsewar und Teheran empfohlen wurde. Er hatte beide Katastrophen überlebt, nach der zweiten war er jedoch in wenigen Tagen vollständig ergraut. Er erzählte Folgendes:

Nachdem es längere Zeit hinter einander leichte Erdstöße gegeben hatte, begab er sich, an ähnliche Erscheinungen gewöhnt,

[768]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Der Aufstand in der Vendée: Vor dem letzten Kampf.
Nach dem Gemälde von E. Carpentier.


am Abend des 17. November in eine der Karawanseraien, wo Baumwolle untergebracht war, und als er dort Anordnungen getroffen hatte, trat er zur Thür hinaus. Es war ein rauher Herbsttag. Kaum einige Sekunden im Freien, hört er plötzlich ein aus dem Erdboden kommendes furchtbares Dröhnen; dann beginnt der Boden unter seinen Füßen wie ein sturmbewegtes Meer zu schwanken; unter einem furchtbaren Krachen und Prasseln hüllen ihn dunkle Staubwolken ein, und von einer unbeschreiblichen Furcht gepeinigt, stürzt er blindlings vorwärts, hinter sich das markerschütternde Schreien und Heulen Tausender von Menschen vernehmend. Als er zu sich kam, sah er nur noch die 180 Fuß hohe Moschee, die Schule, eine besonders fest gebaute Badestube und wenige Wohnhäuser über den Trümmern emporragen; die Karawanserai, wo er noch eben geweilt, und alles übrige war dem Erdboden gleichgemacht, verschwunden – versunken! Was mein Gewährsmann empfand, als das Schreien halb von Trümmern Begrabener, das Weinen der ihre Lieben suchenden Eltern und Waisen die ganze Nacht fortwährte und dazu noch bei kaltem Winde ein von Schnee untermischter Regen fiel, es spottet jeder Beschreibung. Wochenlang danach fürchtete er die Augen zum Schlafe zu schließen, denn seine überreizten Sinne zauberten ihm die miterlebten Eindrücke mit einer Lebhaftigkeit vor, die ihn befürchten ließ, den Verstand zu verlieren. – –

Doch wie alle Wunden heilen, so gab es auch hier ein teilweises Vergessen. Die Thränen versiegten unter den Verpflichtungen, die der rauhe Winter den 7000 Ueberlebenden auferlegte – es galt, sich zunächst neue Heimstätten zu gründen.

[769] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.



Aus dem nahen Rußland, d. h. aus Ashabad trafen sofort unter Führung von Aerzten und Ingenieuren Sanitätskolonnen ein, die für Linderung körperlicher Leiden Sorge trugen. Etwas aber, doch nicht durch die Schuld des nördlichen Nachbars, unterblieb, und zwar die Rettung der lebendig Begrabenen!

Die am zweiten Tage nach der Katastrophe angelangten russischen Herren stellten dem Gouverneur das Anerbieten, sofort aus Ashabad Kavallerie zu beordern, um Nachgrabungen vorzunehmen, doch wurden sie abschlägig beschieden, denn, wie es hieß, sei aus Meschhed Hilfe unterwegs. Und wirklich trafen nach drei (!) Tagen hundert Reiter von dort unter Führung eines Bevollmächtigten des Schah ein.

Was nun folgt, klingt so unglaublich, daß ich es gewiß in diesen Bericht nicht aufnähme, wenn ich darüber nicht von sehr zuverlässiger Seite Mitteilung erhalten hätte, namentlich aber, wenn ich nicht dem meine eigenen Beobachtungen zur Seite stellen könnte. Die Regierung bestrafte nämlich den Gouverneur, des geschehenen Unglücks wegen, mit 20000 Tuman (etwa 70000 Mark), die nachher vom Volke der ganzen Provinz beigetrieben wurden.

Die hundert aus Meschhed angelangten Reiter hatten somit nichts weiter zu bedeuten, als daß sie die Forderung der Regierung wirksam unterstützen sollten, und nachdem sie auf Rechnung des Haakim (Gouverneurs) gut verpflegt worden waren, zogen sie davon. Die unter der Erde Gebetteten blieben ihrem Schicksal überlassen.

Das war die erste im Jahre 1893 hereingebrochene Heimsuchung, von welcher das Volk sich jedoch scheinbar rasch erholte, denn trotzdem in der Zwischenzeit, bis zum 17. Januar 1895, täglich [770] Erdstöße (mitunter sogar fünfmal am Tage) empfunden wurden, wuchsen doch die kleinen Lehmhäuschen der Uebriggebliebenen rasch aus den Trümmern empor und die zweite Katastrophe fand neue Opfer, im ganzen abermals 3000 Personen ein Massengrab bereitend.

Mein Kutschaner Gewährsmann hatte eine Tekinen-Kibitke (Zelt aus schwarzem Filz), in der auch ich dann bei ihm lebte, erworben, als wiederum an einem rauhen Wintertage jenes nunmehr zwei volle Minuten währende Rollen im Erdinnern ertönte, dann ein heftiges Schwanken ihn zu Boden warf und unter den Trümmern aller im Zelte befindlichen Gegenstände begrub. Er behauptete, daß es ihm ganz unbegreiflich scheine, wie die Erdoberfläche nicht auseinandergeborsten sei und alles verschlungen habe, so furchtbar heftig seien die Stöße gewesen. An mehreren Stellen hatte die Erde zollbreite Risse davongetragen, die unter einer Erdschicht zum Winter gebetteten Weinreben wurden vielfach, als hätte man an ihnen herumgezerrt, von ihrer schützenden Hülle befreit. Hierbei geriet die Stadt in einen Zustand, wie ich ihn bei meinem am 20. Mai erfolgten Einmarsch antraf, d. h. nicht das kleinste Wohnhaus war stehen geblieben. In der vorerwähnten Badestube wurden mehrere hundert Frauen begraben, da der Donnerstag ja derjenige Tag ist, wo alle Mohammedaner sich zum kommenden Freitag einer sorgfältigen Säuberung hinzugeben pflegen. Hinter den Staubwolken war während einer halben Stunde die Sonne nicht sichtbar und selbst die uralte Moschee, die schon mehr als einen jener Schreckenstage überdauert hatte, war eingestürzt, alles unter ihren Trümmern begrabend. Vom Eindruck, den dieser Tag auf die Einwohnerschaft hervorgebracht haben mag, konnte ich mich selbst überzeugen, da mir aller Orten Personen begegneten, die aus ihren Zügen deutliche Spuren einer hart an Wahnsinn grenzenden Geisteszerrüttung erkennen ließen.

Rührend ist es, wie sehr der Mensch doch an der heimatlichen Scholle klebt. Als ich am 21. Mai früh, noch bevor ich der Einladung des Gouverneurs Folge leistete, durch die Stadt, oder besser gesagt über die Trümmer derselben hinweg, einen Spaziergang unternahm, konnte ich meines Erstaunens nicht Herr werden, als ich die aller Orten vereinzelt dastehenden Zelte und kleinen Lehmhöhlen genau auf derselben Stelle (wie mein Begleiter mich unterrichtete) stehen sah, wo in 14 Monaten zweimal das ganze Glück der Leute vernichtet worden war. Nicht das Bestreben, möglichst dicht bei einander zu wohnen, gab hierzu Anlaß, sondern die Macht der Gewohnheit hatte über die Furcht vor einer neuen Heimsuchung gesiegt.

Wir begannen unsere Wanderung von der Nordseite der Stadt und befanden uns alsbald auf einem freien Platz, der einst zur linken Hand von einer großen Karawanserei, dem Telegraphen-, Zoll- und Posthause eingerahmt war. Genau auf derselben Stelle, wo früher die Dscharwadaren (Kameel- und Eseltreiber) ihre Nachtherberge gefunden hatten, kampierten sie jetzt auf den Trümmern jenes Gebäudes und auch die Zelte der drei vorerwähnten Verkehrsämter waren an ihrem früheren Orte errichtet. Ihnen gegenüber lag die angeblich 25–30 Fuß dicke Stadtmauer zertrümmert danieder.

Als wir über sie hinweggeklettert waren, fielen mir zunächst die Nachbleibsel der altehrwürdigen Moschee in die Augen, über denen eine blaue mit einem Dreizack versehene Fahne wehte. Das Grab des Heiligen war vom Schutt befreit und mit einem Holzgerüst und Vorhängen, statt der früher die ganze Moschee umgebenden eisernen Kette, versehen, wodurch der Zutritt Ungläubiger von ihm abgewehrt werden sollte.

Auch der Bazar, aus kleinen Bretterhütten bestehend, war genau auf derselben Stelle errichtet wie früher, und auf den Gräbern ihrer Angehörigen saßen jetzt die Leute, bestrebt, die wahrhaft traurigen Reste früherer Warenvorräte in Brot umzusetzen.

Wenn ich bei diesem Gange das Gefühl hatte, daß ich nie im Leben die dabei empfangenen Eindrücke vergessen werde, so werde ich mich kaum geirrt haben, denn schon das Heer jener Bettler, die uns den Durchgang verwehrten, bot Typen, wie ich sie nicht mehr anzutreffen hoffe. Gott gebe es!

Die Erdstöße, wenngleich sehr schwach, dauerten noch fort, und als ich in Kutschan anlangte, waren auch die Spuren des blutig verlaufenen Volksaufstandes allenthalben noch wahrzunehmen.

Auf jenen Bubenstreich, demzufolge das Volk mit obenbenannter Steuer belegt wurde, folgte ein ganzes Heer von Intriguen, wie sie wohl nur Persien zu zeitigen vermag. Es ist wahr, daß die Provinz verhältnismäßig eine bemerkenswerte Fülle an Getreide, Baumwolle, Früchten, namentlich Rosinen, hervorbringt, der Zeitpunkt jedoch für eine Erhöhung der Abgaben wurde so falsch gewählt wie nur möglich, da doch die Gouvernementsstadt oder mit ihr der Kern der Bevölkerung für Jahrzehnte hinaus vernichtet oder ruiniert war. Ungeachtet dessen begannen allerhand Persönlichkeiten den im Volke sehr beliebten Haakim des Chanats Kutschan, der den Namen Mammed-Nassir-Chan-Sudsha-ud-Dolé führte, zu überbieten. Letzterer zahlte dem Schah einen jährlichen Tribut von 350000 Kran (1 Kran = 30 bis 35 Pfennig), wogegen dessen Gehilfe Ramasan-Chan-Sartip-Chan sich anheischig machte, bei Abtretung des Gouverneurpostens an ihn 700000 Kran zu zahlen. Die Provinz wurde ihm unverzüglich zugesprochen und sein Vorgänger entlassen!

Um nur einige der Machtvollkommenheiten eines persischen Haakim zu nennen, so sei erwähnt, daß er über Leben und Tod seiner Unterthanen verfügt, wobei in den meisten Fällen Geld an Stelle der gerichtlichen Strafe tritt; dann steht ihm das Recht zu, eine zu schließende Ehe zu sistieren, wenn von beiden Seiten für ihn nichts abfällt, bei Civilprozessen erhält er stets 10% der strittigen Summe etc. Ich glaube, daß aus Gesagtem hervorgeht, welch’ einem Schicksale eine Provinz verfällt, wenn sie in unrechte Hände gerät; es giebt aber leider in Persien nur solche.

Der im höchsten Grade unpopuläre Ramasan-Chan wurde also Gouverneur von Kutschan und nahm sich zum Gehilfen den ehemaligen Sekretär seines Vorgängers, Namens Mustopi-Mirsa-Najara-Kuli, dem dieser einer Unredlichkeit wegen die Fingerspitzen der rechten Hand hatte abhauen lassen. Das würdige Paar begann auch sofort seine Thätigkeit, die jedoch nicht lange währte.

Am 28. April d. J. versammelten sich nämlich vor der Kibitke des Machthabers etwa 500 Einwohner und verlangten eine sofortige Herstellung des früheren Pacht-, bezw. Steuerverhältnisses. Der Gouverneur, der sich seiner vermeintlichen Macht bewußt zu sein schien, ordnete den Worten eines zu seiner Suite gehörenden Kaukasiers Dschafar-Beck zufolge an, seine ganze Suite möge sich entfernen, und begann mit den Aufrührern zu unterhandeln, was jedoch nur dazu führte, daß schon in kürzester Zeit ein lauter Hilferuf an das Ohr seiner Leute drang. Als diese herbeieilten, war das Zelt demoliert und unter demselben lagen, durch Dolchstiche, Steine und Stockhiebe umgebracht, der Gouverneur und sein Sekretär, der genannte Mustopi-Mirsa-Najara-Kuli. Die Aufständischen flüchteten in die nächstgelegenen Dörfer und Gebirge.

In den folgenden Tagen war die Stadt wie ausgestorben. Die Rache des unmittelbar darauf bei gleicher Tributpflichtigkeit (d. h. 700000 Kran) eingesetzten Chan-Baba-Chan, der sich nach seiner Bestätigung zum Gouverneur Mirsa-Farath-Soltana nennt, fürchtend, hatten alle Kaufleute ihre Buden geschlossen, was um so geratener erschien, als der neue Machthaber ein gerichtliches Verfahren sofort als zu umständlich verwarf und seinen Untergebenen befahl, jeden der Auflehnung Verdächtigen niederzumachen.

Ich selbst wurde unfreiwilliger Zeuge einer dieser Gewaltthaten, als ich dem Gouverneur einen Abschiedsbesuch machte. Ich näherte mich gerade dem Zelte desselben, neben ihm stand Mamad-Chan, der 18jährige Sohn des erschlagenen Ramasan-Chan, als von der andern Seite ein in Ketten geschmiedeter Arrestant herangeführt wurde, der angeblich mit einem Dolch bewaffnet an der Ermordung Ramasan-Chans beteiligt gewesen sein sollte.

Wenn doch der Mensch bei unerwartet eintretenden schrecklichen Momenten nicht durch eine über ihn kommende Starre, sei es auch nur für Sekunden, am Handeln behindert würde! Noch heute kann ich mich des Vorwurfs nicht erwehren, einem Morde, ohne rechtzeitig einzugreifen, beigewohnt zu haben. Kaum erblickte nämlich der junge Mamad-Chan den Arrestanten, so zog er seinen Dolch und stürzte auf ihn los, ihm die Schneide zweimal tief in den Leib stoßend. Ehe ich noch hinzueilen konnte, hatte er den Unglücklichen förmlich in Fetzen zerschnitten. Der Gouverneur wohnte diesem Henkerwerk mit den Worten „heili hub“ (sehr gut) bei, und mir lachend zunickend fügte er hinzu, daß noch hundert Einwohnern der Stadt etwas Aehnliches bevorstehe. Ich hatte genug, und ohne mich zu verabschieden eilte ich, den Revolver in der Hand, nach der Wohnung meines armenischen Gastgebers, wo ich erst bemerkte, daß meine ganze linke Seite mit Blut bespritzt war.

Am andern Morgen ganz früh brach ich, das Herz voller Ingrimm gegen den Schah und seine schändlichen Helfershelfer, auf, und schon nach zwei weiteren Tagen überschritt ich die russische Grenze bei Haudan.


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Blätter und Blüten.


Oberammergau in der Schweiz. Am Fuße jener weit ausblickenden Höhe des Juragebirges, des Weißenstein, nahe bei der alten Stadt Solothurn, liegt inmitten grüner, obstreicher Matten Selzach, ein Dörfchen so still und friedlich wie nur eins. Hier wurde in diesem Sommer zum erstenmal in größerem Maßstabe ein Passionsspiel aufgeführt, das denen von Oberammergau und Höritz nacheiferte. Eine Nachahmung also? – Ja und nein. Jedenfalls ist das Unternehmen – seine Art und Entwicklung – nicht uninteressant, wie es denn auch die wachsende Aufmerksamkeit der Reisenden erregt hat.

Vor fünf Jahren zogen einige Selzacher unter Führung eines dortigen Uhrenfabrikanten – die Selzacher sind nur zur Hälfte Bauern, die andere Hälfte besteht aus Uhrenarbeitern – nach Oberammergau zum Besuche des Passionsspieles. Sie kehrten mit dem Entschlusse heim, ein gleiches oder ähnliches ins Leben zu rufen. Kühn, nicht wahr? – Und doch nicht so ganz. Denn man darf nicht vergessen, daß dem Schweizer die Liebhaberei, Theater zu spielen, in einem Grade eigen ist, der notwendig ein gewisses Talent dazu voraussetzt. Praktisch und nüchtern, wie man ihn nennt, traut mancher ihm das nicht zu. Allein so wenig die berufsmäßige Schauspielkunst seine Schwärmerei ist, wo es Scenen der vaterländischen Geschichte und Sage zur patriotischen Erbauung darzustellen gilt, sind alle mit Eifer dabei, Männlein wie Weiblein. Selbst der trockene Geschäftsmann tritt begeistert in den Dienst des schönen Scheins, mag er sich auch im übrigen für ganz andere „Scheine“ – schön oder nicht – begeistern. Die Tellaufführung, die Gottfried Keller im „Grünen Heinrich“ geschildert hat, ist keineswegs eine leere Erfindung. Auch heute will der Schweizer den „Tell“ nicht nur lesen, er will ihn auch spielen. Und nicht bloß den „Tell“. Es giebt Festspielschreiber genug, die für Abwechslung sorgen und denen es wenigstens nicht an patriotischem Feuer fehlt. Ja, ganz kleine Ortschaften wie Buochs am Vierwaldstättersee haben der Muse der dramatischen Liebhaberkunst ein eigenes, wenn auch bescheidenes Haus gebaut. Wo sich aber, wie es in Bern und Basel und auch anderwärts der Fall war, eine in jeder Art größere Leistungsfähigkeit findet, gestalten sich solche Schau- und Festspiele zu farbenprächtigen Bildern von hoher malerischer Wirkung, die damit verbundene musikalische nicht zu vergessen.

Nun, aus dieser nationalen Liebhaberei erklärt sich schon der kühne Entschluß der Selzacher. Daß sie aber, abweichend von der Regel, ein geistliches Schauspiel – ein Mysterium – zu spielen unternahmen, ist wohl auf ihre Konfession, auf den frommen Sinn ihrer Gemeinde zurückzuführen. Vom Entschluß bis zur That war freilich noch ein langer Weg. Aber Begeisterung hat dem schlichten Völkchen über Mühe und Schwierigkeiten hinweggeholfen, freudig widmete es seine freie Zeit dem Studium und der Probe. In der Person des schon erwähnten Fabrikanten fand sich ein geschickter Leiter, während ein Lehrer aus dem Ort – Herr Gottlieb vVögeli-Rünlist – den Text besorgte und die Einstudierung der Passionsmusik von H. F. Müller in Fulda, die dem neuen Spiele zu Grunde gelegt wurde, mit Verständnis betrieb. Vor zwei Jahren machte man den ersten Versuch vor der Oeffentlichkeit. Der Erfolg ermunterte, den Plan zu erweitern, dem Passionsspiel ein Vorspiel zu geben, das bis zu den Anfängen der biblischen Geschichte zurückreichte. Natürlich mußte für eine geräumige und technisch wohl ausgerüstete Bühne gesorgt werden. So baute man ein schlichtes, hölzernes Spielhaus mit elektrischer Beleuchtungsvorrichtung, vertieftem Orchester und einem Zuschauerraum für 1200 Personen.

Wie gestaltete sich nun die Aufführung? – Nachdem, wie in Bayreuth, ein Fanfarensignal draußen im Dorf, dann drinnen im Saal den Beginn angekündigt hatte, zog vor den Blicken der Besucher eine Reihe lebender Bilder vorüber, begleitet von Musik und Gesang, unterbrochen von dem erklärenden Vortrag eines Deklamators. Die Bilder, die die Hauptmomente des Alten und Neuen Testamentes bis zum Einzuge Christi in Jerusalem veranschaulichten, bekundeten eine Phantasie, die ihren kindlich naiven Eingebungen treuherzig folgt, unbekümmert um das, was inzwischen in Bezug auf Kostüm und Landschaft seitens der Gelehrten ausgeklügelt worden ist. Man mochte sich der Illusion hingeben, in einer großen, altertümlichen Bibel voll charakteristischer und lebhaft kolorierter Zeichnungen zu blättern, wobei sich wohl allerhand Kritisches in uns regt, die Bewunderung des Schlicht-Naiven aber schließlich die Oberhand gewinnt. Der zweite Teil, das eigentliche Passionsspiel, war eine ungleich höhere Kunstleistnng, gehoben schon durch die Vorbilder aus dem Bereiche der Malerei, die man mehr oder weniger treu nachahmte, z. B. das Abendmahl von Leonardo da Vinci. Denn auch in dieser Abteilung herrschten die lebenden Bilder vor, sie umrankten und beschlossen die wenigen dramatischen Scenen, die von den Ränken des hohen Rates bis zur Verurteilung des Heilandes handelten. Da es nicht an geeigneten Gestalten, zumal nicht an einer edlen Christusfigur fehlte, wirkten die ergreifenden Bilder unverkümmert. Man kann den Selzachern Glück zu diesem Erfolge wünschen; sie sind denn auch durch einen immer zahlreicher gewordenen Besuch ihrer Aufführungen belohnt worden. J. G. Oswald.     

Daheim. (Zu dem Bilde S. 757.) Glücklich sieht sie nicht aus, die schöne junge Frau, die hier im holzgetäfelten Erkerzimmer allein den Sonntagnachmittag zubringt. Ihre Blicke haften auf den Seiten des alten Gebetbüchleins, aber es dauert lange, bis eine davon umgeschlagen wird, denn die Gedanken sind nicht dabei. Sie wandern weit, weit zurück in die sonnige Jugendzeit, wo man so glücklich im Elternhaus mit Geschwistern und Gespielen war, sie folgen einem dieser Gespielen, der früh ins Welschland zog und am Abend des Abschieds ihr ins Ohr sagte: Warte auf mich, Regina, ich komme in Jahr und Tag wieder! Er ist nicht wiedergekommen – die Eltern haben sie an den reichen jungen Bürgermeister verheiratet und sagten, es sei ein großes Glück für sie, auch alle anderen sagten es und Regina glaubt es selbst in Demut und Gehorsam. Nur wenn sie ganz allein ist, an so einem stillen Sonntag, da überkommt es sie seltsam mit Gedanken und Erinnerungen, die sie keinem andern Menschen sagen möchte. Deshalb bleibt sie gern daheim, wenn draußen vor dem Thore Tanz oder Vogelschießen ist; die Basen und Freundinnen wundern sich darüber, aber was würden sie erst sagen, wenn sie wüßten, daß diese einsamen Erinnerungsträume das Beste von dem Glück der vielbeneideten reichen jungen Bürgermeisterin sind! Ob sie selber weiß, daß sie eine von den vielen ist, welche sterben werden, ohne recht gelebt zu haben? … Ihr schönes Bild sieht uns wie eine wehmütige Frage danach an. Bn.     

Der Erstgeborene. (Zu dem Bilde S. 761.) Wie viele Leser wissen wohl, von wem die Rede ist, wenn wir ihnen verraten, daß hier Anne Bäbi Jowäger sitzt und mit versammelter Familie ihr erstes vorhin getauftes Enkelein bewundert? Wer liest heute außerhalb der Schweiz den prächtigen Jeremias Gotthelf, in dessen Bauerngeschichten kaum weniger Humor, Gestaltungskraft und gesunde Realistik zu finden ist als in den allbekannten Reuterschen Werken? Seine „Anne Bäbi“ ist eine meisterhafte Figur, ebenbürtig dem „Onkel Bräsig“, aber leider viel unbekannter im Deutschen Reich. Vielleicht verhilft ihr die nächstens erscheinende illustrierte Ausgabe zur Popularität und nebenbei dem ganzen Kreis der Hausgenossen, welche der Künstler hier so wohlgetroffen vorführt: dem guten Pantoffelhelden Hansli, der voll großväterlicher Freude das kleine Menschenkind auf dem Arm der Patin betrachtet, seinem schüchternen Sohn Jakobli, dessen neue Vaterschaft ihn noch lange nicht in Anne Bäbis Augen mündig macht, der lieblichen jungen Mutter Meyeli und ihrer Freundin, der hübschen resoluten Patin mit der schlagfertigen Zunge, welche es allein von allen fertig bringt, der alten Haustyrannin kräftig Widerpart zu halten. Alle diese und wie viel andere in Gotthelfs Büchern sind Figuren von sprechendster Lebenswahrheit, mit großartiger Realistik gezeichnet, lange ehe der Realismus zum allgemeinen Schlagwort wurde, herzerfreuend und unvergeßlich, trotzdem zwischen ihren Thaten und Schicksalen mancher heftige Meinungserguß des ziemlich konservativ gesinnten Verfassers gegen die schlimme Neuzeit eingeschoben ist, der heute entbehrlich scheint. Er war ein ganzer Mensch, dieser grobkörnige Bauernpfarrer Bitzius, der unter dem Namen Jeremias Gotthelf seine Geschichten ins Land sandte, und ein bedeutender Künstler dazu. Unter den sehr Wenigen, die wirklich Bauern gezeichnet haben, steht er weit obenan und niemand, der Gotthelfs Hauptwerke gelesen hat, wird sie wieder vergessen können. Möge ihm das so anheimelnde Bild Bachmanns viel neue Leser erwerben: das „Schwyzer-Dütsch“ seiner Leute ist nicht schwerer zu verstehen als Fritz Reuters Platt und in seiner Art ganz eben so ergötzlich eindrucksvoll wie jenes!

Bei der Kartenlegerin. (Zu dem Bilde S. 765.) Wohl niemand hat triftigeren Grund, über den trägen Gleichlauf der Tage sich zu beschweren, als die vornehme Orientalin nach der alten Mode. Wie so ganz ist ihr Tagesleben im Harem von den großen Interessen der Welt losgelöst, vom Verkehr mit klugen Männern und von den brennenden Tagesfragen! Ihr tiefster Konflikt nennt sich Eifersucht, ihr größter Wetteifer ist der um äußeren Glanz, ihre schönste Tugend, die im Grunde des Rühmens nicht wert ist, weil sie dem Weibe zur Natur gehört, ist die treue Mutterliebe. Aber freilich: wenn drei oder vier Frauen nebeneinander einem Mann angehören, wenn die Kinder eines Vaters sehr verschiedenen Müttern angehören, findet da nicht die Eifersucht einen ganz anderen Keimboden als in einer nach europäisch-christlichen Begriffen regelrechten Ehe? Und wie schutzlos ist sie vor dem Ansturm solcher Leidenschaft. In sich selbst und ihrer Bildung findet die Orientalin keine Lösung für die quälenden Rätsel, welche die Eifersucht in ihrer Seele aufwirft, und so sucht sie dann gern Rat bei den dunklen Mächten des Aberglaubens.

Wenn die Frauen sich den lieben langen Tag hindurch genug gethan haben mit Plaudern, Naschen, Brettspiel, Lautenklimpern und Rauchen, trippeln sie auf ihren hackenlosen Pantöffelchen, wohlverhüllt von Jaschmak und Feredjé, dem Schleier und Mantel, durch die bunten, lärmenden Straßen des Bazarviertels und verschwinden, von der verschwiegenen Dienerin begleitet, in eines der stillen Seitensträßchen hinter der großen Moschee. Dort verbergen verfallene Hausfronten mit engvergitterten Fenstern reiche Höfe aus Jahrhunderten der Pracht. Farbige Rundbogengänge, Wände, mit herrlichen Fayenceplatten belegt, umgeben plätschernde Brunnen und auf alten Teppichen stehen niedrige Tischchen mit dem Kaffeegerät. Wie gut duftet der starke Trank aus Yemen mit dem breiigen Bodensatze in den „Findschans“, den im becherförmigen „Sarf“ ruhenden Emailschälchen, von denen eines auch auf der flachen Silberschale am Boden steht, und wie aufmerksam lauschen die kauernden und lagernden Gestalten der vier lieblichen Frauen den Weisheitssprüchen der schlauen runzligen Kartenschlägerin. Sie weiß besser nach dem Munde zu reden als Lalé, die junge Zigeunerin, die aus Fall und Lage ihrer trocknen Bohnen wahrsagt, deshalb hat das Schicksal ihr auch Reichtum in den Schoß geworfen. Jeden Abend streicht sie die goldne „Lira“ und den silbernen „Ghurusch“ in ihren Säckel. Heute weiß sie viel Aufregendes zu sagen; die dunklen Augen ihrer Zuhörerinnen funkeln unter den gemalten Brauen, die feinen Händchen mit den rotgefärbten Fingerspitzen [772] pressen sich leidenschaftlich gegeneinander. Die dienende Mulattin jedoch, die mit im Kreise hockt, lacht; denn dort drüben in der Eingangsthür erscheint die, um derentwillen die vier eifersüchtigen Herzen brennen: Eminé-Hanum, die Schöne, Böse, die Allahs Zorn verderben möge, zusamt ihrer tückischen Schwarzen im Gefolge! B. S.-S.     

Afrika vor 350 Jahren. Eine naive Selbstüberschätzung brachte die ersten Geographen auf den Einfall, das gesamte Wissen ihrer Zeit unter dem stolzen Namen „Kosmographie“, d. h. auf deutsch „Weltallkunde“, zusammenzufassen. In diesen „Kosmographien“ brachten sie alles unter, die eigentliche Geographie und die Astronomie, dann aber auch Welt- und Kirchengeschichte, Naturwissenschaften, Völkerkunde etc.

Ein derartiges Werk, mit Holzschnitten geziert, gab auch um das Jahr 1546 der aus Ingelheim stammende Gelehrte Sebastian Münster in Basel heraus, und diesem Buche ist die beifolgende Karte entnommen. Sie stammt also aus den ersten Jahrzehnten nach den Entdeckungsfahrten eines Bartholomen Diaz und eines Vasco da Gama; eine Inschrift in der linken unteren Ecke belehrt uns:

„Umb diß gros landt, das ein dritten theil der weldt begreift, ist zu unsern zeiten ein schiffung gefunden, die aus Hispania zu den Kanarien inseln, und darnach für baß biß zum Caput bone spei, das ist ein tröstlich schifflendung im ausserste spitz Africe, und von danen biß gen Callicutg hat, do her man allerley specerie und gewürtz brengt.“

Africa / Libya / Morland / mit allen künigreichen so zü vnsern zieten darinn gefunden werden.

Karte von Afrika nach Sebastian Münster a. d. Jahre 1546.

Bezeichnend ist, daß weder Diaz noch da Gama mit Namen genannt sind. Dagegen finden wir nicht bloß die von den Portugiesen befahrenen Küstenstriche des Westens ziemlich ausführlich berücksichtigt, sondern auch im Centrum und am oberen Nil eingetragen, was Herodot von den ägyptischen Priestern erfragen konnte. So entdecken wir auf dem Blatt Dinge, die uns geradezu in Erstaunen setzen müssen. Da ist einmal oberhalb des Zusammenflusses der beiden Nilquellen das uralt christliche Habesch oder Abessynien, das in den älteren Schriften als Sitz des Priesters Johannes (Sedes pretis Iohan) eine große Rolle spielt und reich mit der orientalischen Sagenwelt verknüpft ist. Das große Madagaskar ist durch das kleine „Zaphala aurifodina“ ersetzt, „goldhaltige Eilande“, deren Namen uns um so erklärlicher sind, als wir wissen, daß damals im Geiste der Portugiesen und Spanier die Jagd nach Gold und Edelsteinen das Hauptmotiv der Entdeckungsreisen war. Haben doch auf den ältesten Karten die beiden größten Sundainseln die Namen „Chryse“ und „Argyre“ (Gold und Silber) bekommen!

In einer Reihe finden wir Elefanten (in Africae extremitas), Papageien oder Sittige (Tellus Psittacorum) und einäugige Menschen (Monoculi); also Wahrheit und Dichtung, Geschichte und Sage in schönstem Frieden beieinander. Die westafrikanischen Flüsse mit den Namen Gambra und Senega führen uns ins Centrum, das hier viel stärker mit Menschenstämmen bevölkert scheint als auf den Karten späterer Jahrhunderte, so daß die eigentliche Centralwüste (Desertum Libyae) auf einen kleinen Raum zusammenschrumpft. Um so größer sind die Quellgebiete des Nils und um so mehr muß es uns überraschen, in den Gegenden, wo jetzt der Tschad- und Viktoriasee nachgewiesen sind, bereits große Binnengewässer eingezeichnet zu finden. Dem noch nicht namentlich aufgeführten Kilimandscharo entspricht ein eingetragenes mächtiges Gebirge.

Daß die afrikanische Nordküste von Alexandrien bis Marokko städtereich und vielbelebt ist, darf uns nicht verwundern; denn wir befinden uns ja in der Zeit, wo die seeräuberischen Fürsten der Berberei eine so große Rolle spielten, daß sie selbst den Kaiser Karl V. zum Einschreiten zwangen.

Es erübrigt noch, dem Leser von den textlichen Bemerkungen einen Begriff zu geben, die unser Kosmograph selbst zur Erläuterung seiner Karten beizufügen wußte.

Die schwarze Farbe der „Moren“ wird auf die große Hitze des Klimas zurückgeführt; sie zeigt an, „wie die Menschen verbrennt werden bis in das geblüt hinyn“. Weiter heißt es: „Die gröst Widerwärtigkeit der leut haben sie von den Leuen, und die hetten sie langest gefressen, wo inen Gott nit ein natürliche hülf und fürsehung het gethan. Dann so der hund am Himmel aufgaht, kompt ein große menge der stechenden schnacken in das Land und schedigt die menschen nit, aber die Leuen treiben sie mit irem beißen und gebrümmel aus dem land.“ „Wann sich der Helfant voll geweidet hat und schlafen will lehnt er sich an einen baum und schlaft also, dann er kann die kneuw nit biegen. Wann nun die ynwoner diß merken, sägen sie den baum ab.“ „Aus den beinen des Leuen kann man fewer schlagen gleich als aus einem stein, also hitzig ist seine natur. Es geschieht oft, daß er also grimmig und hitzig wird, daß er auch vor Zorn stirbt. Wann er schlaft, so wachen seine Augen. Wann der löw in seinem alter krank wird, frißt er ein affen, und das ist sein artzney.“ R. Kelterborn.     

Der Aufstand in der Vendée. (Mit dem Bilde S. 768 und 769.) Zu den blutigsten Kämpfen und Schreckensscenen gab der nunmehr hundert Jahre zurückliegende Aufstand der Vendéer gegen die Republik und ihr Schreckensregiment Anlaß: die Bauern waren mit den neuen Gesetzen unzufrieden und setzten sich gegen deren zwangsweise Einführung zur Wehr. Durch ihre genaue Kenntnis des Landes vermochten sie den kriegskundigen Truppen der Republik zu widerstehen und erfochten unter ihren Führern, dem Fuhrmann Cathelineau, den Edelleuten Larochejacquelein und Charette, einzelne glänzende Siege, bei Fontenay-le Comte und Saumur, später bei Chantonnay und Torfou. Zwei größere Armeen waren gegen sie ins Feld gerückt; auf Konventsbeschluß wurden die Weiler und Wälder zerstört, Frauen und Kinder fortgeschleppt. Nach dem Kampfe wurden oft Tausende von Gefangenen von den „Blauen“, den Soldaten der Republik, niedergemetzelt. Im Februar 1795 wurde ein Frieden geschlossen, der aber nur ein Waffenstillstand war. Im Juni desselben Jahres, als eine englische Flotte mit den Emigranten bei Quiberon gelandet war, erklärte Charette der Republik von neuem den Krieg; doch der tüchtige General Hoche blieb siegreich; Charette und ein anderer Führer, Stofflet, wurden gefangen genommen und erschossen. – Das Bild von E. Carpentier versetzt uns in diese letzte Epoche des verlöschenden Aufstandes, in das Jahr 1795. Es schwebt eine wehmütige Beleuchtung darüber: da ist kein freudiger Aufschwung, nur Klage und Trauer und trostloses Abschiednehmen: der Ausdruck im Gesicht des soldatischen Führers, an den sich die weinende Gattin schmiegt, beweist, daß er in einen hoffnungslosen Kampf zieht. Vorn sitzt, in gleiche Trauer versenkt, eine Mutter mit ihrem Kinde und der getreue Hund beweist, daß der ganze Hausstand sich vor den „Blauen“ in den Schutz der kämpfenden Bauern geflüchtet hat. Diese unterhalten am Rande des Gehölzes Wachtfeuer; andere stehen gerüstet zum Kampf; der junge Tambour harrt, ob er die Schlägel rühren soll. Gewiß steht ihnen gegenüber der geniale General Hoche, der mit seinen siegreichen Truppen das Gehölz stürmen und die Königlichen, Adel und Bauern, die das treulose England im Stich gelassen, vernichten wird. †     


Inhalt: Die Lampe der Psyche. Roman von Ida Boy-Ed (5. Fortsetzung). S. 757. – Daheim! Bild. S. 757. – Der Erstgeborene. Bild. S. 761. – Unsere Einbildungskraft. Von Ernst Eckstein. S. 762. – Der größte Verein erwerbsthätiger Frauen in Deutschland. S. 764. – Beatus Rhenanus. Humoreske von Ernst Lenbach. S. 764. – Bei der Kartenlegerin. Bild. S. 765. – Zu Fuß um die Erde. Von K. von Rengarten. Auf den Trümmern von Kutschan. S. 767. – Der Aufstand in der Vendée: Vor dem letzten Kampf. Bild. S. 768 und 769. – Blätter und Blüten: Oberammergau in der Schweiz. S. 771. – Daheim. S. 771. (Zu dem Bilde S. 757.) – Der Erstgeborene. S. 771. (Zu dem Bilde S. 761.) – Bei der Kartenlegerin. S. 771. (Zu dem Bilde S. 765.) – Afrika vor 350 Jahren. Mit Karte. S. 772. – Der Aufstand in der Vendée. S. 772. (Zu dem Bilde S. 768 und 769.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Vergl. „Gartenlaube“ S. 298 des laufenden Jahrgangs.