Die Gartenlaube (1895)/Heft 9
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Nr. 9. | 1895. | |
Echt.
(1. Fortsetzung.
„Du, Resi –“ sagte Toni nach einer kleinen Pause zu der ihr helfenden Schwester, indem sie eifrig an dem verknüpften Bindfaden der Pappschachtel herumarbeitete.
„Was denn?“
„Ich soll ja heiraten!“ stieß sie halb lachend, halb verlegen heraus.
„Du?! – Ja, wen denn?“
„Den Lorenz! gestern hat er mir drum geschrieben. aber ich hab’ ihm noch nicht geantwortet.“
Den Käsmeyer-Lenzel, den Heringskramer! Warum nicht gar – so eine elende Partie.“
„Nun,“ erwiderte Toni mit einer gewissen Lebhaftigkeit,
[134] „gar so zum Verachten ist er nicht. Freilich, der Name ist schreckbar – aber seine Eltern haben ein gehöriges Geld, wenn sie sich’s auch nicht merken lassen, und er selbst ist ja doch ein ganz hübscher und lieber Mensch –“
„Nun, wenn Du ihn magst, so nimm ihn!“ erwiderte Frau Resi gleichmütig. „Mein Geschmack wär’ er nicht!“
„Fällt mir ja gar nicht ein!“ ereiferte sich Toni. „Zum Heiraten mag ich ihn nicht. Aber wir sind doch schon so lange gut Freund miteinander, und er ist so ein Mensch, der sich über alles kränken kann, da muß man sich überlegen, was man schreibt. Ich hab’ den Papa gebeten, daß er ihm sagt, die Reise hätt’ ich nicht mehr aufgeben können – ich glaub’, er hat nur deswegen noch schnell angehalten, weil ihm angst geworden ist, es schnappt mich ihm hier einer weg!“ schloß sie mit einem kinderhaft vergnügten Lachen.
„Nun, da schickst Du ihm halt seinen Abschlag von hier aus,“ entschied Resi, indem sie den letzten der vielen Knoten löste und den Schachteldeckel hob. „Hast denn ein Bauernkostüm mitgebracht?“
Toni fand im stillen, daß die Schwester ihren ersten Heiratsantrag nicht mit gebührender Wichtigkeit behandelte. „Ja,“ sagte sie etwas enttäuscht über die kurze Abfertigung, „und ein sehr schönes sogar.“ Sie enthob der Schachtel ein rotes Wollröckchen mit Gold- und Silberlitzen und hielt es der Schwester hin.
„Du grundgütiger Heiland!“ sagte diese, „ich hab’ mir’s ja gedacht!“ Sie nahm das zierlich gefaltete weiße Mullschürzchen mit den roten Atlasbändern und hielt es Toni vor. „Unglückskind, das kannst Du ja alles nicht anziehen!“
„Warum denn nicht?“ fragte diese erschreckt. „Ist ja doch alles schön und neu!“
„Aber nicht echt! Das ist ja Theaterstaat, so was kann man ja absolut nicht tragen. Was meinst Du denn von einem Künstlerfest? Da muß alles echt sein bis aufs Tüpferl, sonst ist’s unanständig. Na, komm’ nur herunter, es hat mir halb und halb geschwant von so etwas und ich habe auch vorgesorgt mit einem Bauernkostüm. Die Base von unserer Kathi in Dachau draußen hat ihr Sonntagsgewand hergeliehen, das ist echt, das probierst Du hernach einmal gleich an.“
Toni fühlte nahendes Unheil aus diesen diktatorischen Worten drohen. „Aber Resi,“ wandte sie angstvoll ein, „so ein gemeines Dachauer Weiberl paßt doch nicht auf einen feinen Maskenball. Ist’s denn nicht etwas aus der Ritterzeit, was Ihr vorstellt?“
„Warum nicht gar,“ erwiderte Resi. „‚Im Reich der Phantasie‘ heißt der Titel, da hat alles drin Platz, Götter und Helden und Bauern und Hanswürste. Bist Du fertig? Nicht? Da gehe ich voraus und mache den Kaffee. Komm’ bald nach, nicht wahr?“
Sie ging hinaus, und seufzend legte Toni das verurteilte Kleidungsstück wieder in den Kasten zurück. Sie würde es also nicht tragen, das allerliebste Sammetmieder mit dem ausgeschnittenen weißen Hemdchen und den koketten Kurzärmeln – wie gut müßte ihr alles das gestanden haben! Aus dem ersten Salzburger Masken-Leihgeschäft hatte sie’s geholt, voll Freude, etwas so Schönes zu bekommen … O, und welche Greuel fand sie sicher da unten vor! Sie wußte zu gut, wie manchmal in ihr eine geheime Stimme: Schauderhaft! geflüstert hatte, wenn Volkhard: Famos echt! rief. Das wär ihr gleichgültig gewesen, so lange es sich um gemalte Leute handelte, aber jetzt, wo ihr eigenes Gesichtchen in Gefahr der Echtheit geriet, jetzt war ihr die Sache doch ganz außer dem Spaß, und mit düsteren Ahnungen stieg sie ein Weilchen später durch das getäfelte, teppichbelegte Treppenhaus zum Speisezimmer hinab. Dort fand sie an dem breiten, vom Licht einer großen Hängelampe überstrahlten Eßtisch außer ihrer Schwester und den Kindern, die sich sofort lebhaft um die junge Tante drängten, ein paar Hausfreunde, wie sie öfter hier um die Kaffeestunde vorzusprechen pflegten, besonders eben jetzt, wo zu dem großen Feste doch täglich Vorberatungen und Vereinbarungen nötig waren.
Eine Anzahl von Kostümskizzen lag am unteren Ende des großen Tisches ausgebreitet, am oberen goß Frau Resi den Kaffee aus der blanken Messingmaschine in die Tassen. Sein feiner Duft füllte das behagliche Gemach, dessen kunstvolle Vertäfelung mit den altersdunklen, geschnitzten Möbeln und schweren Vorhängen zusammen einen ganz ausnehmend „echten“ Charakter trug. Auch der Anzug der Hausfrau hob sich durch reizende kleine Besonderheiten in Anordnung und Schmuck weit über das Modejournal heraus. Ihr Anblick sowie der der schönen Mädchen in dunkeln Sammetkleidern mit den lang herabfallenden, über der Stirne gerade geschnittenen dichten Haaren und den prachtvoll großen Augen mußten jedes Kennerauge mit Entzücken erfüllen. Man erhielt in diesem Raum den Eindruck einer erhöhten Existenz – traulich und vornehm zugleich, schien er ein Aufenthalt für Bevorzugte, in reiner Schönheit Lebende zu sein. Mit dieser Ueberzeugung dachte jeder daran zurück, der einmal einen Abend lang hier an dem gastlichen Tisch gesessen hatte. Die alle Tage daran saßen, waren freilich von einer so hochfliegenden Auffassung weit entfernt.
„Lassen Sie sich Zeit, Hachinger,“ sagte die Hausfrau, indem sie die silberne Rahmkanne und den Kuchenkorb in Zirkulation setzte, „die Bilder laufen Ihnen nicht davon. Toni, gieb ihm einmal den Zucker hinunter!“
Diese that, wie ihr geheißen, mit ziemlich gleichgültiger Miene. Ihr war der kleine blonde Krauskopf mit dem roten Gesicht nicht im mindesten anziehend, ebensowenig freilich der andere, der dürre langweilige Kunstsammler Scholz, ein großer Bewunderer Volkhards, den sie im stillen den Ritter von der traurigen Gestalt nannte.
Die waren also auch wieder da – natürlich! Hätte jetzt, wo sie kein Backfisch mehr war, der Hans nicht ebensogut nettere Leute zu Freunden haben können?
Wenigstens mit der Unterhaltung gedachte sie nicht, sich anzustrengen, nahm also den gerade von der Kinderfrau hereingebrachten dicken Prachtjungen auf den Schoß und begann, ihm mit allerhand Schmeichelworten seine Milch einzulöffeln.
Währenddessen sagte Scholz zur Hausfrau:
„Der Zwiesler hat ja sein großes Bild verkauft, wissen Sie’s schon? Für dreißigtausend Mark.“
„Den Schmarren!“ fügte Hachinger im Brustton der Ueberzeugung hinzu.
„Was stellt es denn vor?“ fragte Toni.
„Drei geweißte Wände und eine Hobelbank,“ erwiderte er.
„Aber das ist ja doch nicht möglich,“ rief sie im größten Erstaunen, „daß man für eine gemalte Wand und eine Hobelbank dreißigtausend Mark bezahlt!“
„Da haben Sie ganz recht, liebes Fräulein,“ versetzte Scholz. „Für diese wenigen Gegenstände – eine Leimpfanne war übrigens auch noch dabei, Hachinger! – würde man wohl eine solche Summe nicht zahlen. Aber die Idee! Die neue Mode! Das ist gerade wie mit den Pariser Modellhüten. Jedes Frühjahr haben wir so ein Paar neue Modelle im Glaspalast; grüne Menschen, lila Wiesen, transparente Heilige. Heuer war das neueste eine Leinwand mit gar nichts darauf, das hat unser Zwiesler glücklich vorausgeahnt und streicht sein Erfinderhonorar ein. Nächstes Jahr hängen dann ein paar Dutzend der gleichen „Stimmungsbilder“ herum, aber die bringen es zu keinem so schönen Preis mehr.“
„Ja ja,“ lachte der mittlerweile eingetretene Volkhard, „spotten Sie nur, Scholz! Aber wenn ein Schlaumeier, wie der Zwiesler, es mit zwei solchen Bildern zu einem neuen Haus bringt, das ist doch ein nicht ‚wegzuleugnender Erfolg‘, wie sein Freund, der Kritiker im Tageblatt, sagt.“
„Ob ihm das mit einem dritten noch einmal so glückt, wollen wir erst abwarten,“ sagte Scholz bedächtig und fügte nach einer Pause hinzu: „Der schöne Philipp hat noch einen kürzeren Weg zu dem neuen Haus gefunden, der hat sich gestern mit der reichen Loderbräutochter verlobt.“
„Herrschaft!“ fuhr Hachinger mit schaudernder Bewunderung heraus.
„Sie können’s ihm ja nachmachen,“ sagte Frau Resi aufmunternd.
Aber er schüttelte den Kopf. „So dick fällt’s für unsereinen nicht ab. Und wenn man halt keine Aussicht für eine ordentliche Partie hat, dann bleibt man am gescheitesten ledig. Nur keine Elendsheirat!“
„Schau schau den Hachinger,“ lachte die schöne Frau belustigt. „Das hab’ ich ja noch gar nicht gewußt, was Sie für ein Finanzgenie sind! Na, gestehen Sie einmal ehrlich: Wie viel muß sie haben, damit Sie es der Mühe wert finden?“
Er kraute sich nachdenklich den tief in die Stirne reichenden krausen Schopf. „Das hat nach oben keine Grenzen,“ sagte er endlich. „Je mehr, je lieber. Aber was die Grenze nach unten betrifft, da muß ich sagen: Wenn eine nur 40000 Mark hat, das ist für mich noch a Mannsbild!“
Alle lachten, nur Toni saß unbehaglich da. Sie war nicht gerade hervorragend ideal veranlagt, aber solche Reden stießen sie [135] doch gewaltig ab. Blitzgeschwind mußte sie zwischendurch an ihr gutes Vaterl in Salzburg denken, der so „delikat“ in seinen Gefühlen war. Was der wohl dazu sagen würde?
„Ich habe gemeint,“ sagte sie mit geröteten Wangen und etwas spitz, „für die Künstler ist erst die Kunst die Hauptsache und lang’ nachher kommt das Geld. Es scheint, das ändert sich auch mit der Mode!“
„Na,“ sagte Volkhard, indem er die Cigarrenasche in eine schön getriebene Metallschale streifte, „die Mode ist schon ziemlich alt, wir haben sie nur in Deutschland ein bissel spät von den anderen überkommen. Uebrigens, Kunst und Geld gehören zusammen, Tonerl. Da braucht’s kein Nacheinander zu geben, das Miteinander ist immer das Beste.“
„Wie Figura zeigt,“ lachte Scholz mit einer bezeichnenden Rundbewegung seiner Hand gegen das Zimmer.
„Passiert!“ erwiderte Volkhard gleichmütig. „Was man eben zum Leben braucht. Aber da geht einmal zu dem Pereda und betrachtet Euch seine neuen Prunkgemächer, so ’was habt Ihr hier noch nicht gesehen von indischem und persischem Zeug. Ganz famos!“
„Ja,“ erwiderte Hachinger in einem aus Bewunderung und Neid gemischten Ton, „der mit seinen orientalischen Aquarellen, der kann freilich Preise machen.“
„Er kann Bilder machen,“ ergänzte Volkhard, „und überhaupt ist er ein Prachtkerl. So lange wir noch ein paar solche haben, so lange kann man lachen zu dem Gewinsel um den ‚Niedergang der Kunst‘.“
Toni hörte ohne besonderen Anteil diesen Reden zu. Sie wußte noch nichts von dem in München neuerdings aufgegangenen Stern, dem jungen Niederländer spanischer Herkunft, dessen große Aquarelle, Meisterstücke der Technik und zugleich Manifestationen einer machtvollen künstlerischen Persönlichkeit, ihrem Urheber rasch den Platz unter den anerkanntesten Größen der Kunststadt verschafft hatten. Unter die gesellschaftlichen reihte er sich selbst kurzer Hand ein und war bereits vor Ablauf des Winters Gegenstand des allgemeinsten Interesses geworden. Wer ihn nicht persönlich kannte, hatte ihn wenigstens einmal auf prächtigem Pferd neben schönen Damen reiten sehen oder hatte von dem sündhaften Luxus seines Junggesellenheims reden hören, vielleicht auch sonst noch allerhand – kurz, der Name: Adrian Pereda hallte von vielen Lippen wieder, ohne daß sein Träger sich scheinbar im geringsten darum kümmerte.
Dies alles wurde, als bekannt, im Verlauf des begonnenen Gesprächs nicht erwähnt, die Herren kamen vielmehr ausschließlich auf Peredas Bilder zu sprechen und die Damen fingen an, an andere Sachen zu denken.
Toni hatte schon während der letzten Minuten aufmerksam der seltsamen Hantierung zugesehen, welche Frau Resi nach eigenommenem Kaffee vorgenommen hatte und eifrig betrieb. Sie hatte eine Anzahl großer Knopfformen mit Goldfaden überhäkelt, nun zog sie die Schale mit Zigarrenasche über den Tisch zu sich her und fing an, die glänzenden Knöpfe darin zu reiben, bis sie ganz stumpf wurden.
„Damit sie alt aussehen!“ beantwortete sie die stumme Frage in Tonis erstaunten Augen. „Das neue Gold würde zu gemein glänzen. Den Sammet zu meinem Mieder hab’ ich auch famos hergerichtet, erst gewaschen, dann mit einer scharfen Bürste bearbeitet, daß er die schönsten Spiegel bekam. Das war ein guter Rat, Hachinger! Jetzt sieht er ungeheuer echt aus, so ein schöner verschossener alter Purpur!“
„Uebrigens“ – fuhr sie lebhaft fort, „weil wir doch gerade beisammen sind: zieh’ doch einmal das Bauernkleid an, Toni, daß man sieht, wie Dir’s steht, ich hab’s einen Tag lang gelüftet,“ wandte sie sich lachend an ihren Mann. „Der Dachauer Truhengeruch war mir doch ein bissel gar zu natürlich. Komm, Toni, ich will Dir helfen, es muß Dir prächtig stehen!“
Dies alles fiel wie Blitz und Donner auf die arme Toni nieder. Sie machte freilich noch einen letzten Versuch, auf das beiseite gesetzte Bauernkostüm zurückzukommen, hörte dasselbe aber alsbald von der Schwester mit Ausdrücken charakterisieren, die ihre letzte Hoffnung niederschlugen, und ergab sich also resigniert in ihr Schicksal.
Eine Anwandlung von Verzweiflung erfaßte sie indessen gleich darauf, als sie im Volkhardschen Schlafzimmer das rasch herbeigeschaffte „G’wand“ der Frau Base vor sich ausgebreitet sah: den faßartigen Tuchrock, die fürchterlichen Keulenärmel, die Haube, unter welcher ihr schönes braunes Haar bis aufs letzte Fädchen verschwinden sollte; und die schlimme Empfindung wich nicht, trotzdem Resi beim Anlegen jedes neuen Stückes: Ausgezeichnet! Wunderschön! rief. Diese drückte ihr zum Schluß noch einen Eierkorb und einen großen roten Regenschirm in die Hände, führte die ganz Vernichtete ins Eßzimmer binunter und rief unter der Thüre triumphierend aus: „Da schaut einmal her! Ist das nicht echt?“
Die Männer sprangen auf. „Famos!“ rief Hachinger. „Schauts nur die braunen Augen unter den Haubenspitzen hervor, wie das zu einander steht!“
Und Volkhard setzte hinzu. „Tonerl, so mußt Du mir sitzen, wenn das Fest vorbei ist, das giebt ein nettes Bild.“
„Fein!“ sagte Scholz. „Ganz fein!“
Toni ließ zwischen den Bewundernden durch, die sie umstanden, die Blicke in den gegenüberhängenden großen Spiegel fallen, ob etwa ein geheimes Wunder in ihrem Aussehen geschehen sei? – Ach nein, da stand sie so gerade wie droben, kurz, dick, krummbucklig in dem gräßlichen Mieder, ein kläglicher Anblick! Aber was war das? … Ueber ihrem eigenen Kopf spiegelte sich ein zweiter, fremder, mit sonderbaren dunklen Augen – sie fuhr herum und mit ihr die anderen, als im gleichen Augenblick eine tiefe Stimme sagte:
„Guten Abend, meine Verehrten. Und Verzeihung, wenn ich ohne ‚herein‘ eintrete: ich habe redlich angeklopft. Darf man die Kostümprobe mit ansehen?“
„Pereda!“ rief Volkhard erfreut und streckte diesem die Hand hin. Auch Frau Resi begrüßte den schlanken, vornehm aussehenden Mann mit beflissenerer Höflichkeit, als es sonst ihre Art war, und die anderen folgten ihrem Beispiel. Nur die arme Dachauerin wider Willen stand stumm, vernichtet unter der Last der ihr auferlegten Häßlichkeit und sah kaum vom Boden auf, als Resi, ihre Hand ergreifend, sagte:
„Wir ziehen gerade mein Schwesterchen Toni zum Künstlerfest an.“
„Oh!“ – es konnte ebensogut Mitleid als Bewunderung sein, was in diesem langgezogenen Tone klang. Toni fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß, und jetzt hob sie ihre Augen und funkelte den Fremden mit einem so großen zornvoll leuchtenden Blick an, daß dieser sofort einen der Beachtung werten Gegenstand unter diesem Berg von muffigem Tuch und altem Leinenzeug zu ahnen begann.
„Aber gnädige Frau,“ wandte er sich an Resi, „warum stecken Sie denn das Fräulein in solch ein plumpes Bauernkleid? Das ist doch wahrhaft schade – gestatten Sie mir die freimütige Bemerkung.“
Die Stimme eines Retters vom Himmel!
Toni horchte mit Entzücken auf ihren vibrierenden Klang, auf die etwas fremdartige Betonung der Worte. Und als sie jetzt noch einen raschen Blick auf dies beherrschende Gesicht warf, dessen dunkle eindringliche Augen und kräftig gewölbte Lippen zu dem Ausdruck großer Energie der übrigen Züge das ihrige beitrugen, da ging ihr eine starke Hoffnung der Erlösung auf.
„Es ist so echt,“ wandte mittlerweile ihre Schwester ein, „und wir finden, es paßt so gut zu der Kleinen.“
„Darüber eine Ansicht zu haben, ist mir vor der Hand unmöglich,“ versetzte Pereda, indem er einen zweiten forschenden Blick unter die überhängenden Haubenspitzen bohrte, „– man sieht ja von dem Fräulein selbst so gut wie gar nichts.“
Jetzt aber faßte Toni rasch ihren Entschluß. Mit einer kurzen Bewegung nahm sie Korb und Schirm zusammen, sagte sehr entschieden: „Da Ihr mich nun hinreichend gesehen habt, kann ich wohl gehen, mich umzuziehen!“ und war im nächsten Augenblick zur Thüre hinaus.
Die Zurückbleibenden setzten sich nieder, Pereda nahm Kaffee und Cigarre an, dann wandte er sich an Volkhard und sagte:
„Ihr Münchener seid schrecklich mit Eurer Echtheit. Stecken Sie doch das hübsche Kind in irgend etwas Nettes – es giebt ja doch noch allerhand Graziöses in dem Zug: Blumen, Libellen, Zigeunerin, wenn Sie wollen, aber doch nicht in solch einen barbarischen Bauernrock, den man ohne Schauder nicht ansehen kann!“
Die Hausfrau machte ein säuerliches Gesicht. Das fehlte gerade [136] noch, jetzt für Toni eine neue Arbeit zu bekommen, wo man ohnedies alle Hände voll zu thun hatte, ein paar Tage nur vor dem Fest!
Sie ließ also ihres Mannes halb fragendes, halb zustimmendes: Na, ja, das kann man ja noch machen! unbeachtet fallen und bemühte sich, mit raschen Fragen über seine eigene Rolle den unbequemen Mahner auf ein anderes Gebiet zu bringen. Ob er wirklich den Wagen der „Phantasie“ führen werde? Ob deren Darstellerin, Baronin Hetvary sehr schön sein werde? Er gab allerhand Auskunft, aber auf letzteres hin zog er lächelnd und geheimnisvoll die Achseln in die Höhe. Da fuhr Hachinger derb heraus:
„Na, das müssen Sie doch genau wissen!“
Pereda wandte sich und warf ihm einen Blick wolkenhohen Heruntersehens zu, welcher dem kecken kleinen Krauskopf die nähere Begründung seiner Rede im Munde versiegelte, dann fuhr er, als habe niemand gesprochen, zu Resi gewendet fort:
„Ich darf nichts verraten, Frau von Hetvary hat mich auch nur soweit ins Vertrauen gezogen, als zum gemeinsamen Effekt notwendig ist. Daß unser Wagen sich aber sehen lassen darf, das glaube ich heute schon sagen zu können.“
Es klang bei aller Freundlichkeit so ablehnend, daß niemand den Gegenstand weiter verfolgen mochte. Mitten in die entstehende kleine Pause hinein öffnete sich die Thüre und Toni erschien darin. War es der Kontrast mit der Dachauer Unform, war es die Erregung des Augenblicks – sie sah reizend aus trotz ihres einfachen Kleidchens und Herr Pereda würdigte rasch emporspringend durch ein lebhaftes: Ah! den Eindruck von so viel frischer Jugendlichkeit.
Und nun kam es genau, wie Toni im stillen gehofft, nun erhob er, auf seine frühere Rede zurückkommend, einen so entrüsteten und energischen Protest gegen Faßrock und Pappdeckel-Mieder, daß Frau Resi dagegen nicht mehr aufkam. Freilich von ihrem mitgebrachten Kostüm wagte die Kleine nicht mehr zu reden – wie durch ein inneres Schauen war ihr plötzlich dessen ganze Armseligkeit in den Augen eines so Hochgebietenden klar geworden, sie zitterte jetzt vor einer Anspielung von seiten der Schwester. Aber Frau Resi war klug genug, die Kleinbürgerlichkeit der Familie bei sich zu behalten. Sie sagte nur: „Woher soll man denn etwas anderes nehmen in der kurzen Zeit?“
Und wieder wie eine himmlische Botschaft klang die leichthin gesprochene Erwiderung:
„Wenn die Damen mir die Ehre erweisen wollen, morgen auf mein Atelier zu kommen – ich habe ganze Kästen voll Sachen, Spanisches und Orientalisches, oder auch – was meinen Sie, Volkhard? – solch einen schweren byzantiner Goldstoff, ganz einfach um das Figürchen gesteckt, da und dort ein paar Quasten, und ein kleines goldenes Käppchen in die braunen Locken gedrückt, wäre das nicht reizend?“
Seine mandelförmigen Augen, die gewöhnlich etwas von den dunkelgesäumten Lidern bedeckt blieben, richteten sich mit einem Ausdruck wie Liebkosen nach der jungen Gestalt hin und Toni fühlte ein leises Zittern durch ihre Nerven gehen. Sie neigte stumm und glücklich das Köpfchen mit, als ihre Schwester das Anerbieten annahm und den Besuch für morgen in Aussicht stellte.
Dann verabschiedete sich Pereda bald und auch die anderen gingen.
Als Toni später in ihr Stübchen hinauf stieg und, am Fenster lehnend, über die dunklen Massen der Bäume und fernen Häuserdächer weg den sternfunkelnden Nachthimmel betrachtete, da war es ihr, als müsse jetzt etwas kommen, was noch niemals dagewesen sein konnte, etwas Wundervolles, Unaussprechliches!
Der Ton des großen Gong, laut durchs ganze Haus schallend, riß sie endlich aus ihren Träumen und sie eilte, zum Abendessen hinunter zu kommen. Die versprochene Postkarte über glückliche Ankunft an den Papa hatte sie ganz vergessen!
Des andern Morgens freilich holte sie ihre Versäumnis nach. Und als die „gehorsame Tochter Toni“ in großen, kindlich steifen Buchstaben auf der gelben Karte stand, da griff die Schreiberin, weil es noch früh am Tag und sie in ihrem Stübchen allein war, nach einem Briefbogen, um den schwierigen Brief an ihren Bewerber erst einmal aufzusetzen. Sie wußte, daß von da bis zur Vollendung noch ein weiter Weg war, und seufzte in dieser Gewißheit, aber es half nichts, geschrieben mußte sein, also lieber gleich beginnen!
„Geehrter Herr Käsmeyer!“
das stand verhältnismäßig geschwind da. Ja, so mußte es bleiben,
denn „Lieber Lorenz“ ging nicht, sie nannten sich ja schon seit zwei
Jahren „Sie“. Und es sollte ja auch eine Absage werden. Wie
er sie wohl aufnehmen würde? Toni stützte den Ellbogen auf und
fuhr, während ihre Augen unverwandt ins Weite blickten, mit dem
Federhalter ein übers andere Mal durch die krausen Schläfenhärchen.
Sie sah ihn deutlich vor sich, den Lorenz mit den gutmütigen
Augen und dem glänzend gebürsteten Scheitel, wie er in seinem
karrierten Anzug daherkam, einen roten Sacktuchzipfel so recht
staatsmäßig aus der Brusttasche gezogen, ganz Hausbesitzerssohn
und künftiger Geschäftsinhaber. Aber ach! dieser rote Zipfel leitete
ihre Gedanken mit elektrischer Schnelle auf einen anderen von
weißem Batist mit blaugestreiften Rändern, der gestern aus einer
anderen Brusttasche ein wenig hervorgeschaut hatte. Ein fremdartiges
Parfüm war ihm entströmt, als die schlanke Hand des
Malers das Tuch einmal hervorzog. Und diese Hand selbst mit
den kostbaren Ringen, der etwas dandymäßige Anzug mit den
kleinen Feinheiten von scheinbarer Nachlässigkeit, alles das
überschauerte Toni wieder in der Erinnerung mit dem überwältigenden
Entzücken, welches männliche Eleganz, mit Kraft und Nonchalance
vereinigt, in unerfahrenen weiblichen Gemütern hervorzubringen
pflegt. Nicht gerade ein Gott – aber wenn man sich Phöbos
Apollo in modernem Anzug denken wollte: viel anders als Adrian
Pereda könnte er auch nicht aussehen!
Es war bei solchen Gedankengängen erklärlich, daß der angefangene Brief an Lorenz Käsmeyer nicht viel über den höflichen Anfang hinauswuchs. Toni raffte sich zwar nach einer guten Viertelstunde aus den Gedanken an zwei beherrschende Augen und aus den Zweifeln, wie diese wohl aussehen müßten, wenn sie Liebe blickten, soweit auf, um zur zweiten Zeile zu schreiten. Aber dort geriet sie sofort in Zwiespalt, ob sie den Satz besser mit. „Ihr geehrter Antrag –“ oder: „Ihren geehrten Antrag“ beginnen würde. Kaum stand das erstere da, so erkannte sie auch, wie sehr der „Geehrte Herr“ der Anrede auf diese neue Wendung drückte. Aber, wie sie sich auch hin und her besann, eine andere wollte ihr nicht einfallen, geschweige ein Schluß des begonnenen Satzes. Sie kannte diesen Zustand von den Weihnachtsbriefen an die Pate her, so schlimm wie heute war es ihr aber noch nie ergangen. Rein zum Verzweifeln! Warum kann man denn reden, so viel man will, und sowie man die Feder anfaßt, fällt einem in Gottesnamen auch gar nichts ein?
Während die Kleine mit neuerdings aufgestütztem Kopf diesem unlösbaren Rätsel nachsann, tönte es von drunten. Toni! Toni! Eilfertig warf sie das Schreibgerät beiseite, um zur Schwester hinabzueilen, und empfing dort die Weisung, sich rasch zurecht zu machen. Der Besuch in Peredas Atelier sollte zeitig ausgeführt werden, auch hatte Frau Resi noch eine Menge anderer Besorgungen, sie nahm Toni in Beschlag wie früher auch, und diese war in Anbetracht des ersten Ganges zu allem weiteren froh bereit.
Eine halbe Stunde später bogen die Schwestern, von der Pferdebahn absteigend, in die Briennerstraße ein, an deren unterem Ende das bewußte Atelier als Gartenhaus einer eleganten kleinen Villa stand. In ihren Räumen pflegte es oft abends laut und lustig genug herzugehen, desto stiller waren die Morgenstunden im Atelier, wo der übermütige Gesellschafter von gestern abend als ein mit ungeteilter und angespannter Geisteskraft Arbeitender hinter seinen Rahmen und Staffeleien saß! Es durfte ihn dabei niemand stören oder doch „beinahe niemand“, wie sein Diener Philipp mit einem gewissen Augenzwinkern zu sagen pflegte. Heute schien der Fall dieses „Beinahe“ sich ereignet zu haben, denn in dem sonst so stillen Raume, der übrigens durch eine gute Doppelthüre vor den Lauscherohren Philipps geschützt war, klangen Stimmen, bald heftig und erregt, bald augenblicklich wieder gedämpft.
„Sie streiten sich wieder einmal und zwar gehörig,“ murmelte der vortreffliche Jüngling, aus der gebeugten Haltung am Schlüsselloch sich aufrichtend, „das war eine kurze Herrlichkeit! Wird nicht lange mehr dauern,“ fügte er kopfschüttelnd hinzu, „darauf kenne ich ihn – Weiberspektakel verträgt er nicht. Wenn sie gescheit wäre, ließe sie’s bleiben.“ Und Philipp wandte sich von neuem der geöffneten Schrankthüre zu, wo die vielfachen Anzüge des Herrn seiner prüfenden Hand warteten. Denn fehlende Knöpfe vertrug dieser ebenfalls nicht, darüber hatte Philipp schreckliche Erfahrungen und sorgte deshalb für ihre Erneuerung mit einer seinem sonstigen Charakter ganz fremden Pünktlichkeit.
(Fortsetzung folgt.)
Die Mädchenhorte in Leipzig.[1]
Zwar hat sich in den letzten Jahren ein überaus warmes Interesse der Gründung von Mädchenhorten zugewendet, allein es giebt noch immer viele, die der ganzen Bewegung ablehnend und mit Vorurteilen gegenüber stehen. Besonders häufig begegnet man Einwendungen, welche auf den Vorwurf hinauslaufen, die Mädchenhorte nähmen den Armen ihre Pflichten gegen ihre Kinder ab, sie entfremdeten diese der Familie.
Solche Anklagen können nur von Persönlichkeiten erhoben werden, welche noch keinen Mädchenhort aus eigner Anschauung kennen. Die folgenden Ausführungen möchten dazu beitragen, die noch bestehenden Vorurteile zu zerstreuen.
Als ich vor ungefähr acht Jahren im Winter eines Abends in einer Vorortstraße Leipzigs ging, kämpfend mit Wind und Regen, kam mir schluchzend und weinend ein kleines Mädchen entgegen, so tief bekümmert, wie nur Kinder, meine ich, empfinden können. Als ich sie mitleidsvoll nach der Ursache ihres Kummers frug, klagte sie mir: sie habe bei Rückkunft aus der Schule die elterliche Wohnung verschlossen gefunden, weil die Mutter ausgegangen sei, Zeitungen herumzutragen, von welchem Geschäft sie erst gegen 8 Uhr zurück käme. Nun könne sie ihre Schularbeiten nicht machen, und wenn dann morgen der Lehrer sie auszanke, dann – und hierbei flossen die Thränen aufs neue – würde die Mutter sie schlagen! Ich konnte dem armen Kinde nicht helfen, ich versuchte nur zu trösten, aber das Leid und die Not des Mädchens gruben sich mir tief ins Herz, den ganzen Nachhauseweg über begleitete nach das armselige Bild und allerlei Pläne zur Abhilfe solcher Zustände wurden in mir rege.
Bei der Rückkunft in meine Häuslichkeit traf es sich – wie es in dem bekannten Gedichte heißt, „als wär’s ein Wink vom lieben Gott –“, daß die Näherin, eine Witwe, die hier für mich arbeitete, ganz verängstigt die Bitte an mich richtete, ob ich sie nicht früher entlassen könne! Sie sei in Sorge um ihr zwölfjähriges Kind, ein begabtes, aber wildes Mädchen, das die Zeit ihrer Abwesenheit benutze, sich ihren Arbeiten zu entziehen und auf der Straße die schlechteste, aber um so amüsantere Gesellschaft aufzusuchen, in der sie zu allen Thorheiten verführt würde. Was hülfen, sagte sie, alle Ermahnungen am frühen Morgen, ehe sie wegginge, wenn sie verhindert wäre, tagsüber denselben Nachdruck zu geben. Man wird sich denken können, wie schnell die Frau freigelassen wurde, und fast ebenso rasch war der Gedanke in mir entsprungen und mit ihm Wille und Entschluß, eine Stätte zu bereiten für solche bedauernswerte Kinder, die eine Mutter haben, ohne daß diese sich ihnen widmen kann, und zur Beruhigung für solche Mütter, die verdienen müssen, statt zu erziehen. Für beide leidende Teile müßte gesorgt werden, für Mutter und Kind. Und so giebt diese kleine Vorgeschichte zugleich Antwort auf die Frage: Wozu ist der Mädchenhort da? Sein Zweck und Ziel ist: unbeaufsichtigten Kindern während ihrer Freistunden geeignete Ueberwachung bei Arbeit und Spiel zu bieten.
Das wurde mir klar – so lange das Ideal des Menschenfreundes nicht erreicht ist, daß im Arbeiter- und Klein-Handwerkerstand die Frau vor Lohnarbeit außerhalb des Hauses bewahrt bleibt und ihren Hausmutterpflichten zurückgegeben werden kann, so lange haben wir Frauen, die wir imstande sind, reichlich für die Erziehung unserer geliebten Kinder zu sorgen, die wir nicht gezwungen sind, zu verdienen, die heilige Verpflichtung, hier helfend einzugreifen. Kein edles, warm empfindendes Frauenherz wird sich dieser Forderung verschließen. Und ich wende mich gerade an die Mütter aus unseren Ständen, die am sorgsamsten die Erziehung ihrer Töchter überwachen, mit der dringenden Bitte, zu bedenken, wie schwer es die Arbeiterfrau hat, das gleiche zu thun. Während sie noch ein Fräulein haben, damit ihre Kinder während ihrer kurzen Abwesenheit nicht ohne Aufsicht sind, hat die arme Frau, die den ganzen Tag außer dem Hause arbeitet, keinen Ersatz! Sie muß die Kinder sich selbst überlassen, muß sehen, wie trotz guter Anlagen, bei Fleiß und bestem Willen das Kind doch schließlich unter schlechter Kameradschaft auf der Straße verkommt. Welch ein Schmerz für die Mutter! Oder glaubt man, daß die Frauen, die arm sind, ihre Kinder weniger lieben als wir die unseren? weniger ihr Bestes wollen? – Dies wäre ein großer Irrtum! Ich kann versichern – und ich habe eine reiche Erfahrung gewonnen während der sieben Jahre, in denen wohl an 400 Mütter ihre Kinder bei mir zum Hort meldeten und ich ihre Lebensschicksale erfuhr – ich kann versichern, ich habe Mutterliebe von so hinreißender Kraft, von so unbegrenzter Opferfreudigkeit bei schwierigsten Verhältnissen kennengelernt, daß ich einzelne solche Frauen als Heldinnen verehre. Sie sind weit, weit höher zu schätzen als jene Damen, die, auf der Chaiselongue liegend, das Elend nur aus den Romanen kennen und nachher, höchst moralisch, versichern: man solle das Kind nicht der Häuslichkeit entziehen! Ja, wenn das Kind zu der Zeit nur eine Häuslichkeit hätte! Der Vater hat womöglich die Familie verlassen, die Mutter harrt treu bei den Kindern aus, aber natürlich muß sie jede Arbeit annehmen, um Brot zu verdienen, auch wenn sie dazu von früh bis spät außer dem Hause thätig sein muß. Die meisten Hausfrauen brauchen für ihre Wirtschaft zeitweilig fremde Hilfe, sei es eine Scheuerfrau, Näherin, Plätterin! Sie alle sind gern bereit, diesen Arbeiterinnen materiell zu helfen, sie zu beschenken mit Kleidern und Nahrung, aber wie wenige denken daran, was aus Seele und Körper der allein zurückgebliebenen Kinder wird, die der treusorgenden Mutterliebe entbehren!
Eine weiter greifende Bedeutung erhält aber die Idee der Mädchenhorte, wenn wir uns klar machen, daß die geordnete Ueberwachung der aufsichtslosen weiblichen Jugend ein Heilmittel für die Gefahr bildet, daß die Kinder aus der Verwahrlosung in die Verbrecherlaufbahn geraten. Es ist leider eine traurige Thatsache, daß die Zahl der jugendlichen Verbrecher seit Jahren stetig zunimmt. Die amtliche Statistik schätzt die Zahl der jährlich im Deutschen Reich verurteilten jugendlichen Personen bis zum 18. Lebensjahr auf 47000.
So ist denn die soziale Aufgabe des Mädchenhortes als eine doppelte festgestellt: er soll die ihm anvertrauten Kinder nicht nur vor dem verrohenden Einfluß des Straßenlebens bewahren, er soll sie auch zu besseren Menschen erziehen, ihnen Herz und Gemüt, die oft so stumpf dahinsiechen, beleben. Durch straffe Disziplin lehrt er die Unterordnung unter das Gesetz, wenngleich in liebevollerer Art, als es in der Schule möglich ist. Die Liebe zur Arbeit wächst, wenn diese in erfreulicher Umgebung unter gleich strebenden Mitschülerinnen gefertigt wird. Nichts ist wohl geeigneter, einen jungen Menschen zu erziehen, als das Aufwachsen in der Gemeinschaft: die edelsten Triebe des Herzens bilden sich da heraus, die gegenseitige Hilfsleistung, die Verträglichkeit, die Anerkennung Anderer, die Freundlichkeit des Gemüts, die Teilnahme an Anderer Freud’ und Leid; und durch die Geduld mit den Fehlern Anderer die Erkenntnis der eigenen – die Selbsterkenntnis.
Einen wesentlichen Anteil an solchen erzieherischen Erfolgen haben unsere Helferinnen. Es ist dies eine Gruppe junger Mädchen, Töchter aus den besten Familien der Stadt, die abwechselnd des Nachmittags die Lehrerin im Hort unterstützen. Durch den zwanglosen Verkehr mit ihnen wird in den Kindern ein feineres Gefühl, bessere Sitte geweckt. Die jungen Mädchen wirken durch ihr Sein, ihre Geistes- und Herzensbildung, oft ohne es zu wissen. Die armen Kinder sehen in ihnen nicht mehr den Feind: die Wohlhabenheit, sondern die freundliche ältere Schwester, die sie versteht. Aber auch den jungen Damen trägt dies Verhältnis zu den Kindern reichen Gewinn ein, der ihnen unverlierbar sein wird. Sie gewinnen Verständnis für Armut und Not, für die traurigen, gedrückten Lebensverhältnisse, von welchen die kleinen Lippen ausplaudern. Sie erkennen, daß Liebenswürdigkeit und Verstand, Herzensgüte und Talent sich auch bei den Kindern der Armut finden, und daß die Fehler, Flüchtigkeit, Trotz u. s. w., die gleichen sind wie bei Kindern höherer Stände, nur unverdeckt durch schöne Kleider, feine Manieren. Wir können nach siebenjähriger Erfahrung feststellen, wie in den einzelnen Pfleglingen die Begriffsentwicklung gewachsen, wie die Anschauungen über Recht und Unrecht, über Mein und Dein geläutert und verfeinert worden sind. Das sind Einflüsse, die den Gefahren des Großstadtelends besser entgegenarbeiten als alle Gesetze: denn sie treffen das Herz des Kindes! [139] Und dies Herz ist das der zukünftigen Frau, die wieder eine Generation zu erziehen hat. Können wir etwas Besseres thun, als die Mütter zu bilden? Bei den Müttern liegen die Entwicklungskeime der Nation.
Neben der geistigen Förderung ist auch die des Körpers nicht gering anzuschlagen. Jedes Kind trinkt im Hort täglich 1/4 Liter Milch. Außerdem werden die Kinder im Sommer zum Baden im Fluß, im Winter zu Schlittschuhlaufen und warmen Bädern geführt. Jeder Hort hat Hof und Garten, in dem die Freistunden nach den Schularbeiten zugebracht werden, und die Freude an der Natur wird durch Pflegen eigner Beete und ihrer Pflanzen genährt. Ballspiel, Croquet und Seilspringen wird getrieben, und das alles, wenn auch unter Aufsicht, doch unter voller Freiheit der Bewegung, unter Berücksichtigung der besonderen Natur jedes einzelnen Kindes.
Die sittliche Notwendigkeit der Errichtung von Horten ist neuerdings vielerorts anerkannt worden. Als wir im Jahre 1887 in Leipzig den ersten gründeten, gab es deren erst wenige in andern Städten. Im Jahre 1890 aber gab es schon 36, die sich seitdem bedeutend vermehrt haben. Erst im nächsten Jahr wird eine neue Zählung stattfinden. Von uns ist zu meiner besondern Freude eine Anzahl von Töchteranstalten ausgegangen, die nach unserm Muster eingerichtet sind: u. a. in Königsberg, Straßburg und Hamburg. Sie werden meist von der städtischen Behörde wohlwollend unterstützt, die Ausgaben für sie durch freiwillige Beiträge gedeckt. Auch in Leipzig ist der Rat der Stadt der guten Sache gewogen, leider aber durch das überbürdete Budget nicht mehr so geneigt, uns Erleichterungen zu bewilligen, die sich mit jedem neuen Hort verringert haben. Zu den ersten Anstalten wurden uns aus der Stiftung eines Menschenfreundes reichliche Beiträge gespendet. Im ersten Hort wohnen wir nicht nur frei, wir erfreuen uns auch kostenloser Heizung und Beleuchtung. Der zweite Hort, in der Alexanderstraße, genießt wohl auch freies Logis, das uns auch sauber hergerichtet wurde, aber leider weder freies Licht, noch freie Heizung. Der dritte endlich, in der Glockenstraße, zu dessen Gründung am 15. Oktober v. J. wir uns im vergangenen Frühjahr durch einen Bazar die Mittel verschafft haben, die der hilfsbereite Sinn unsrer Mitbürger reichlich spendete, ist sehr stiefmütterlich behandelt, er bezieht weder Zuschuß von der Stadt, noch sind uns die Räume in der Schule bewohnbar überlassen worden, natürlich sind auch Licht und Heizung nicht kostenfrei. Wir sind mit der Erhaltung dieses Hortes ganz auf das Wohlwollen unsrer Freunde und Gönner angewiesen, und gerade diese dritte Anstalt hat sich als die am dringendsten begehrte, als die notwendigste erwiesen. Denn bei der Anmeldung war die festgesetzte Zahl von 42 Schülerinnen rasch überholt, und bei der Eröffnung hatten wir nicht weniger als 35 Vormerkungen.
Das Prinzip wird streng festgehalten, nur Kinder solcher Eltern aufzunehmen, die nachmittags außer dem Hause beschäftigt sind. Die Aufnahme geschieht nach persönlicher Anmeldung der Mutter unter Vorlage einer Bescheinigung, daß sie in Arbeit steht. Für jedes Kind sind wöchentlich 10 Pfennig zu zahlen, um den Schein des Almosens abzuwenden. Unsere Ausgaben belaufen sich durchschnittlich auf 1400 Mark für den einzelnen Hort, wovon allein 400 Mark die Milch beansprucht. Die Leitung jeder Anstalt liegt drei Damen ob, die sich monatlich in der Beaufsichtigung ablösen; für die Aufnahme, die Helferinnenverteilung und die Finanzverwaltung bestehen besondere Aemter. Klein haben wir angefangen: vor sieben Jahren hatten wir 1 Lehrerin, 12 Helferinnen, 4 Vorstandsdamen. Jetzt haben wir 4 Lehrerinnen (im ersten Hort wechseln zwei Schwestern mit einander ab), 42 Helferinnen und 9 Vorstandsdamen.
Ich lade nunmehr den Leser ein, mich im Geist bei einem Besuch in einem unsrer Horte zu begleiten. Ich wähle dazu den ersten, als unser ältestes Kind! Die Räume liegen im Parterre der achten Bürgerschule an der Scharnhorststraße; beide sind groß und hell; einer wird als Schulzimmer benutzt und dient, mit Subsellien versehen, zum Aufenthalt während des Fertigens der Schularbeiten; der andere Raum ist von uns als Kinderzimmer hergerichtet.
Wenn wir hineintreten, sitzen auf acht Bänken vor vier hübschen gelb lackierten Tischen unsre 42 Kinder. Sie stehen auf, uns zu begrüßen, denn sie lernen hier, was sich schickt. Jedes Kind hat vor sich einen Becher mit guter abgekochter Milch, zu dem es das selbst mitgebrachte Brot verzehrt. Nicht alle Kinder wissen dies vorzügliche Getränk zu schätzen; ja manche kannten es nicht – sie waren nur an „Blümchenkaffee“ gewöhnt. Aber sie lernen es alle mit der Zeit liebgewinnen. Das letzte übrig gebliebene Tröpfchen findet noch seinen Liebhaber. Von allen Größen sehen Sie die Schülerinnen! Große vierzehnjährige, die bald konfirmiert werden, und allerliebste kleine sechsjährige Pusselchen, die kaum an den Tisch reichen. Sie erstaunen, wie reinlich die Kinder aussehen, nicht wahr? Sofort, als sie kamen, mußte sich jedes die Haare glätten, die Hände waschen, sogar die Nägel berücksichtigen, was ihnen beim Eintritt meist ein neuer Gesichtspunkt der Reinlichkeit war. Dann wurden ihnen die hübschen einfachen Kinderschürzen der Anstalt vorgebunden.
Die Kinder sind gesättigt, nun ruft die Pflicht: einige Mädchen, größere und kleinere gemischt, besorgen das Abwaschen der Milchkannen und Becher; es ist höchst lustig, zu sehen, wie gern sie mit Wasser und Bürste hantieren und wie sie beim Scheuern der Holzgefäße und Aufwischen des Bodens treu ihre Mütter nachzuahmen bemüht sind. Der größte Teil der Mädchen geht nun in das Schulzimmer, um Schularbeiten unter Aufsicht der lieben Helferin zu machen, die zuerst für Ruhe und Stille sorgt, nachher die schriftlichen Arbeiten durchliest, die mündlichen abhört. Da giebt es manche Thräne, manchen Seufzer der armen Kleinen, wenn die Arbeit als ungenügend zurückgegeben oder der Mangel an Sauberkeit streng gerügt wird. Denn es ist Grundsatz bei uns, die Mädchen anzuhalten, daß, was sie thun, sie auch gut thun, verlottert doch nichts den Menschen so als schlecht ausgeführte Arbeit.
Aber stören wir die Kinder nicht länger bei ihren Pflichten; gehen wir zurück ins Spielzimmer, wo schon diejenigen Schülerinnen sich mit Handarbeit beschäftigen, die mit ihren häuslichen Aufgaben fertig sind. Frisches Leben herrscht hier unter den Augen unsrer vortrefflichen Lehrerin, die jede gesittete Fröhlichkeit liebt, die aber mit der ruhigsten, freundlichsten Miene ihren Befehlen einen Nachdruck zu geben weiß, der jede Widerrede ausschließt. Jede Mutter könnte sie um ihre pädagogischen Talente beneiden, aber auch um ihre Geduld; unzählig sind die Ansprüche und Anforderungen an sie. Da kommen drei kleine lustige Dinger, etwas schüchtern, aber mit lachendem Gesicht. „Fräulein, wir möchten gern mit den Puppen spielen“ – ein freundlicher Wink – sie laufen an den Spielschrank, aus dem die herrlichen Geschöpfe entnommen werden, der Puppenwagen dazu. Indes kommt schon wieder die Frage: „Wie soll ich den Knopf annähen?“ und die flehenden Worte: „Ach, Fräulein, ich habe zwei Maschen fallen lassen.“
Dort an jenem Tisch wird gebaut, am andern gemalt, wobei alte Modenbilder, Bücherkataloge oder ähnliche Schätze mit Freuden zu Vorlagen verwendet werden. Am letzten Tisch sitzen die großen Mädchen, flicken sich Jacken und Schürzen und Singen ein mehrstimmiges Lied dazu, das herzerfreuend klingt in seiner Frische.
Aber dort in jener Ecke, welch ein Fleiß von Klein und Groß, mit hochroten Bäckchen sitzen sie da, das ist das sicherste Zeichen der Weihnachtsarbeiten! Denn Sie müssen wissen, unsre Kinder haben seit Michaelis füreinander auf Weihnachten gearbeitet wie Schwestern in der Familie! Nur die Zuthaten sind geschenkt, gefertigt wurde alles von den kleinen Händen. Welch kindliche Wichtigkeit beim Erwägen der Frage, ob der rechte Strumpf, den Lina gestrickt hat, zusammen mit dem linken, den Klara gefertigt, wohl für die Freundin bestimmt wird, oder die Kapuze mit rotem Futter, der Stolz der Bescherung! Die weise Fürsorge der Lehrerin, die alle häuslichen Verhältnisse ihrer Pflegebefohlenen kennt, ordnet und bestimmt das alles für die Bescherung.
Nach und nach ist die Schulstube leer geworden, die Schultaschen sind zum Schluß an die Wand gehängt; es ist 6 Uhr, und die letzte Stunde darf zu Bewegungsspielen oder zum Vorlesen verwendet werden.
Wäre es Sommer, so würden wir jetzt mit den Kindern hinausziehen in den Garten; fest in Kolonnen geordnet, würde die kleine Schar warten auf ihre Lehrerin, die dann an die Spitze des Zuges tritt. Aber wir müssen heut’ zu Hause bleiben, denn es ist schlechtes Wetter; trübe und dunkel ist es draußen auf der Straße – ein rechter Gegensatz gegen die Helle und Wärme, gegen die Fröhlichkeit da drinnen. Nun werden Tisch und Stühle beiseite geschoben, unter Gesang werden die lustigen Ringeltänze, die Kindergartenspiele aufgeführt, „Katze und Maus“ und „Dritten abschlagen“ wecken besondern Jubel, vollends wenn die Helferin [140] eine Rolle dabei übernimmt. Ja, es werden sogar Lieder dramatisiert, wobei die Kinder sich vorzüglich anstellen. Der etwas auffällige Mangel an Grazie wird aufgewogen durch die allerliebste Naivetät, die den sächsischen Volksstamm so vorzüglich kleidet und seine Uebergangsstellung zwischen Nord und Süd bezeichnet.
Um 7 Uhr hat das Lachen und die Lustigkeit ein Ende, es wird ein Gebet gesprochen, die Lampen verlöschen und die Kinder gehen nach Hause, nachdem sie von der Lehrerin mit einem hübschen Knix Abschied genommen haben. Vater und Mutter sind nun auch heimgekehrt und werden erfreut mit Erzählungen aus dem Hort.
Da steigt zum Schluß vor meinem inneren Auge noch eine Vision auf, ein Bild, wie es sich vor wenig Wochen verwirklicht hat: es ist der 22. Dezember und im Hort ist Weihnachten! Ich sehe den hellstrahlenden Baum, von den Kindern unter Anleitung der Lehrerin selbst geputzt, auf dem Podium stehen, ich erblicke lange Tische, belegt mit einfachen, praktischen und doch hübschen Geschenken, vor jedem Platz einen Stollen. Den Hintergrund bilden die Vorstandsdamen und die Helferinnen.
Da, horch! aus dem Schulzimmer tönt Gesang und herein, paarweise geordnet, die Kleinsten voran, schreitet die Kinderschar unter dem Gesang der lieblichen Weise: „Stille Nacht, heilige Nacht,“ – fürwahr ein rührender, ergreifender Anblick. Dann wird die Geburt des Heilandes in Versen geschildert, fromme Weihnachtsklänge tönen dazwischen, und eine der Vorstandsdamen spricht zu den Kindern einige freundliche, herzliche Worte der Liebe und der Ermahnung und führt die Kinder zu ihren Plätzen. Nun, welch’ ein Jubel! Das Herz geht mir auf, sehe ich in diese strahlenden Augen, in diese Welt unbefangener Fröhlichkeit. Möchte den Kindern der lichte Tannenbaum nachleuchten in ihrem Herzen durchs ganze Jahr und ihnen die Dunkelheit, das Elend zu Haus überstrahlen!
Noch einen Augenblick verweilen wir, denn ich sehe, der Vorstand hat heute die Milch in Chokolade mit Zwieback verwandelt, und da werden sie schon hereingetragen die großen Kannen, aus denen die Lehrerinnen, Helferinnen und die ältesten Schülerinnen das köstliche Getränk schenken. Nun kann ich mich von dem holden Bilde der Kinder wenden, ich glaube unbemerkt, denn sie sind ganz in ihre Thätigkeit versunken. Ich schließe mit dem Wunsch, daß Allen zum letzten Weihnachtsfest so viel beglückte Kindergesichter entgegengelacht haben möchten wie uns, dem Vorstand der Leipziger Mädchenhorte.
Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
Der Auswanderer-Bahnhof in Ruhleben.
Wenn einer unserer Landsleute heute das deutsche Vaterland als Auswanderer verläßt, befindet er sich fast regelmäßig in leidlich geordneten Verhältnissen und steht gemeinhin in der Blüte seines Lebens. Denn abgesehen davon, daß die Vereinigten Staaten, wohin die meisten Europamüden sich wenden, von jedem den Nachweis eines kleinen Vermögens verlangen, Mittellose aber durchaus nicht aufnehmen, daß sie ferner Krüppel und Invaliden unbarmherzig von der Landung ausschließen, abgesehen davon bedarf es doch eines gewissen Wohlstandes, voller Körperkraft und vielen frohen Mutes, um die Kosten und Strapazen der Seefahrt, die erste arbeitslose Zeit in der Neuen Welt, die darauf folgenden Jahre harter Arbeit ungefährdet zu überstehen.
Den ganz Armen und Elenden steht unter den heutigen Verhältnissen das Auswandern als Weg zur Rettung nicht mehr offen. – Das sind die Gedanken, die den bewegen, der die Baracken des Auswanderer-Bahnhofes Ruhleben bei Berlin besucht. Trostlos und einförmig liegen diese Bauten in trostloser, einförmiger Gegend da. Schwarze Zäune und dürres Heideland sperren das Gebiet von der Außenwelt ab und streng wird darüber gewacht, daß kein Unbefugter es betritt. Zur Rechten erheben sich die Bahnhofsanlagen und dahinter die Wälle der festen Stadt Spandau, den Auswanderern vielleicht ein Sinnbild des Lebens, dem sie jetzt entrinnen wollen; vom Süden herauf grüßen die blauschwarzen Kiefernwipfel des Grunewalds wie ein Land der Verheißung, der Hoffnung und der Freiheit.
Bahnhof Ruhleben ist zur Entlastung des Berliner Bahnverkehrs vom Auswanderer-Transport erbaut und [141] überaus einfach zwar, aber sehr zweckmäßig eingerichtet. Seine niederen Wellblechhäuschen umschließen neben weitläufigen Warteräumen, die auch zu Nachtquartieren dienen, Desinfektionshallen, dann die Geschäftsräume der Gesundheits- und Verwaltungsbehörden. Der Auswanderer findet hier, was er braucht, Rat und Hilfe, und da er keine übertrieben hohen Anforderungen stellt, klappt alles recht gut. Sind einige Stunden vor Abgang des Zuges die Baracken wie der Bahnsteig mit Menschen und Gepäckstücken überfüllt – wer es nicht gesehen hat, glaubt es ja nicht, was so ein einziger Auswanderer oder gar eine Auswandrerin an Hausrat mitschleppt! – dann entwickeln sich hier ungemein fesselnde, manchmal dramatische Scenen, und das Ganze gewährt unzweifelhaft einen weit imposanteren Anblick als andere von Auswanderern viel benutzte Bahnhöfe im Binnenland. So lange der Zug noch nicht angekündigt ist und die damit verbundene Unruhe sich nicht geltend macht, herrscht eine gewisse Feiertagsstimmung, die sich nicht allein in den Gewändern, mehr noch auf den Gesichtern, in den laut und lebhaft geführten Gesprächen ausprägt. Amerika muß es ja bringen, das heiß ersehnte Glück, nach dem man in der Heimat so lange vergebens rang; in Amerika liegt das Gold noch immer auf der Straße, und nur wer zu faul ist, den Rücken darum krumm zu machen, kommt leer nach Hause. Es berührt eigenartig poesievoll, daß fast all diese Braven sich felsenfest vorgenommen haben, nach ein paar Jährlein wieder den deutschen Sand zu begrüßen. Wie wenige werden sich selber Wort halten können! Aber heute sehen sie sich ausnahmslos in goldnem Schmuck und die Taschen voll klimpernder Dollars oder ungezählter Banknoten durch die heimatliche Dorfstraße schlendern, neidvoll bewundert und angestaunt von den Zurückgebliebenen. Diese Stimmung erfüllt die Herzen, verscheucht etwa aufsteigende Trauer und kommt häufig zu ebenso naivem wie ergreifendem Ausdruck. Die Mutter, die stolz auf ihren Buben blickt, der sich mit einer arg verlumpten, englischen Grammatik abplagt und es vielleicht zum „König von Amerika“ bringen wird, welche hohe Charge dort zu Lande schon sehr häufig Bauernjungen bekleidet haben; der einsame Gesell vom Rande der Tucheler Heide, der seinem Nachbar erzählt, wieviel Mark er den beiden „Alten“ daheim monatlich aus „New York“ schicken will, alle diese Frauen und Mädchen in bunten Kopftüchern, manchmal kokett herausgeputzt, als ginge es zum Tanze, laut schwatzend und lachend; die jungen Leute, übermütig und zu tausend Possen aufgelegt; die Aelteren, ehrwürdige und prachtvolle Bauerntypen darunter, von ihren Erfolgen in Amerika sprechend, als hätten sie sie garantiert in der Tasche – welch ein Bild! Und fast nirgends klingt ein Wort der Besorgnis oder gar sentimentalen Grams über das, was hinterm Meerschiff zurückbleiben wird.
Zur ostdeutschen Bauernfamilie gesellt sich, eine Holzbank mit ihr teilend, der russische Muschik und die Seinen. Not und Reise schaffen seltsame Bettgenossen, man weiß sehr wohl, daß die Ueberfahrt im Zwischendeck alle Auswanderer eng aufeinander anweist, und man stellt schon jetzt ein gutes kameradschaftliches Einvernehmen her, das durch eine tüchtige Portion Mißtrauen nur dauerhafter gemacht wird. Der russische Kleinbauer zeigt sich auf Bahnhof Ruhleben von seiner besten Seite: freundlich und bedürfnislos, weil Bedürfnislosigkeit hier Klugheit ist; gastfrei, was Branntweinspenden anbelangt, und wenn sein deutscher Kumpan, schon ermattet und des langen Wartens müde, dumpf vor sich hinzubrüten beginnt, wird er fidel, gehalten fidel. Das slavisch-tatarische Blut entfaltet seine Spannkraft. Da singt man und musiziert ohn’ Unterlaß, als sei es ein Fest sondergleichen, dem Scepter „Väterchens“ zu entgehen, handgreifliche Späße fachen die Fröhlichkeit immer wieder an, und selbst der Jude, den der Muschik sonst mit zähem Haß bedenkt, ist heute in die allgemeine Freundschaft eingeschlossen. Das Russisch der Muschiks mit anzuhören, bietet selbst dem wenig Genuß, der diese rätselvolle und fallenreiche Sprache kennt, aber wenn eins der derben, gar nicht unhübschen Mädel Lieder der Heimat anstimmt, jene süß klagenden, melancholischen Weisen, die dem Slaventum allerorten eigentümlich sind, mit den seltsam harmlosen Texten, und wenn ein Bursch sie auf der Ziehharmonika temperamentvoll begleitet, dann verzeiht man ihnen gern die konsonantenreichsten Worte.
„Heirate, Mägdelein,
Weil du noch jung und fein,
Weil dein alt Väterchen
Silber noch hat.
Leicht wird verschaffen er
Dreihundert Rubel dir
Und bunt gewickeltes
Bettzeug dazu.“
Neben dem weithergereisten Muschik und dem ostpreußischen Bauer, für den Ruhleben die erste Etappe einer langen Wanderung ist, fällt in seiner charakteristischen Kleidung der russische Jude auf. Nicht fo leicht zufrieden zu stellen wie der russische Landmann, nicht von denselben Reinlichkeitsbegriffen wie der Deutsche, verursacht er den Bahnbehörden oft erhebliche Mühen, und wenn man’s nicht besser wüßte, würde man glauben, der manchmal beängstigend schroffe Unteroffizierston, der in Ruhleben beliebt ist, sei unumgänglich notwendig, um diese Leute in Schach zu halten. Da die Rauheit der bahnbeamtlichen Stimmen und Gebärden aber in schöner Gleichheit ohne Ansehen der Person angewandt wird, scheint die Vermutung gerechtfertigt, daß man damit allen Auswanderern, gleichviel welcher Konfession und Nationalität sie angehören, den Abschied von unserm Kontinent möglichst leicht machen wolle.
Die Scharen dieser Art Emigranten, die zum größten Teil aus dem dunkelsten Rußland herausdringen, sind eine große Last nicht nur für die Verkehrsgesellschaften, sondern oft auch für die Städte, die sie passieren. Berlin weiß davon ein Lied zu singen. Vor zwei Jahren mußte der Magistrat einen Schwarm, den das choleradurchseuchte Hamburg zurückgewiesen hatte, in Baracken beherbergen und ernähren, aber der Wirt erntete für seine Wohlthat schlechten Dank, die Gäste mochten sich nicht in die notwendige Ordnung schicken, so daß man den Himmel pries, als sie endlich abgeschoben werden konnten. Natürlich erheischen die armen Leute, zumal wenn es sich um Vertriebene handelt, deshalb nicht weniger menschliche Teilnahme. Uebrigens trägt der russische Jude in das Auswandererbild von Ruhleben einen Zug hinein, den ich vom künstlerischen Standpunkt aus nicht missen möchte. Einmal finden sich unter ihren jungen Frauen und Mädchen Schönheiten von geradezu dämonischem Reiz, Judith- und Herodias-Modelle für jeden Maler, dann aber liest man doch auch aus manchem ernsten Männergesicht die ergreifende Kunde tieftragischen Schicksals. In gebrochenem, mit russischen und hebräischen Wendungen seltsam vermischtem Deutsch erzählte mir einer recht anschaulich seine Leidensgeschichte. Sehr nahe [142] Verwandte von diesen Leuten sitzen reich und angesehen in Berlin und Hamburg, Millionäre, deren Väter und Großväter die Taktik verstanden, langsam, im Laufe vieler Jahrzehnte, immer weiter gegen Westen zu ziehen, von Moskau her durch das Gouvernement Polen, die Provinz Posen, ins Herz von Deutschland. Derselbe Weg, der ungeheure Reichtümer und hohes Ansehen bringt, wenn man ihn bedächtig, überall ein paar Jährchen rastend und erwerbend, entlang schreitet, bedeutet denen, die ihn im Fluge durchmessen, bittere Entbehrungen, Enttäuschungen ohne Ende, vielleicht das Verderben …
Die Abfahrtsstunde naht heran. In der Desinfektionshalle des Norddeutschen Lloyd, der im Verein mit der Hamburg-Amerikanischen Paketfahrt-Aktiengesellschaft den weitaus größten Teil der deutschen Auswanderer nach Amerika „chartert“, nimmt der ungemein rege Verkehr allmählich ab; vorschriftsmäßig muß hier jeder, der Schiffe dieser Gesellschaften benutzen will, sämtliches Gewand von den heißen Dämpfen des Apparates durchströmen lassen und darf dann erst die Weiterreise in dem frohen Bewußtsein antreten, wenigstens äußerlich krankheits- und keimfrei zu sein. Das rege Leben auf dem Bahnsteige wächst mit jeder Minute. Die Familien und Reisegenossenschaften finden sich um ihren Agenten zusammen; das massenhafte Gepäck wird aus den Warteräumen herbeigeschleppt und türmt sich zu immer gewaltigeren Haufen auf. Ein durcheinander kribbelndes Gewirr, scheinbar so sinn- und zwecklos wie das Getümmel im aufgestörten Ameisenhaufen. Geschrei und Gesang, rastloses Hin und Her. Da versucht noch rasch ein unternehmender Händler, gutmütige Reisende um ein Billiges von überflüssigen Lasten zu befreien; da zwängen sich Schutzleute durchs Gedränge, ein paar allzu fröhliche Brüder zur Ruhe zu bringen; auch wohl Taschendiebe, die selbst diesen Armen nicht ihr Weniges gönnen, werden abgefaßt, und ein junger Bengel, ein Agent jener preiswürdigen Geschäftsleute, die unter frechverlogenen Vorspiegelungen Arbeiter für die Fieberplantagen „brasilianischer Freunde“ anwerben und ihre Opfer bis auf den letzten Groschen ausbeuten, fällt endlich der Gerechtigkeit in die Hände. Neben diesen bewegten Scenen fehlt es auch an Idyllen nicht: der fünfjährige Blondkopf, den Vater auf eine kolossale Pyramide von Kästen, Körben und Bettzeug als Wächter gesetzt hat, während er selber mit Mutter die letzte Habe aus dem Warteraum herbeischafft; die wackere Bäuerin, die die letzten paar Minuten bis zum Abgang des Zuges benutzt, ihrem Jungen das Loch im Rocke zuzunähen, denn im finsteren und gedrückt vollen Wagen bietet sich nachher keine Gelegenheit dazu.
Der Zug ist stampfend hereingefahren. Er hält kaum, und schon sind die Beamten beiseite gedrängt, der erbitterte Kampf um einen „Eckplatz“ beginnt. Und dann, wenn man Unterschlupf gefunden und der Schaffner auch den Geduldigen ein „Quartier“ angewiesen hat – die kriegen oft das beste, in verriegelt gewesenen Wagen – bringt man langsam sein Hab und Gut ein. Dabei hört das Gerenne und der Lärm auch keine Sekunde lang auf; immer noch ist ein Stück vergessen oder vom Nachbar, den nun die Fügung in ein weit entferntes Coupé riß, mitgenommen worden, und es erscheint durchaus notwendig, sich davon zu überzeugen, daß er’s auch wirklich in treuem Gewahrsam hält. Die Frauen sind wie außer sich, und von den Grobheiten und Schimpfreden, die nun plötzlich herumfliegen, ließe sich ein ganzes Lexikon zusammenstellen. Endlich besänftigen sich die wilden Wogen. Der Stationsvorsteher atmet tief, sehr tief auf. Aus einem Wagen schallt schon „Lieb Heimatland, ade!“, von einer frischen Knabenstimme gesungen, ein Zeichen, daß die Ruhe wieder einkehrt; Mädchenköpfe erscheinen an den schmalen Fenstern.
„O sprecht! warum zogt Ihr von dannen?“ Die Frage Freiligraths aus seinem schwermütig schönen Gedicht drängt sich uns auf. Sie leitet dort Verse ein, welche den deutschen Auswanderern die Sehnsucht nach der Heimat, die sie in der Fremde befallen wird, voraussagen. Aber der frische Gesang, der aus dem Zuge ertönt, läßt die Wehmut nicht aufkommen. Gewiß! Wohin ein guter Deutscher auch in der Fremde gerät, er wird sein Vaterland nicht vergessen und mit Sehnsucht seiner gedenken. Aber das Gefühl der inneren Zugehörigkeit zur alten Heimat verleiht ihm auch die Kraft, sich im fremden Lande fest einzubürgern und dabei doch zu bewähren als ein Pionier deutscher Arbeit und deutscher Sitte!
Alle Rechte vorbehalten.
Loni.
(4. Fortsetzung.)
Loni hatte Marei zu Bett gebracht, die Erregung der letzten Stunde hatte des Mädchens gebrochene Kraft völlig erschöpft; sie schlummerte rasch ein.
Die Mutter blickte lange auf das in Fieberhitze glühende Antlitz. Sie dachte an den Garten, von dem Marei erzählt, daß sie ihn in ihrer Ohnmacht gesehen. Aber andere Bilder schoben sich davor, die mit diesem Frieden nichts zu thun hatten.
Das Rasseln eines Einspänners weckte sie aus ihren Träumen. Sie kannte dies Geräusch gar wohl. Anderl kehrte heim von einem Viehhandel. Jetzt galt’s – jetzt oder nie!
Sie sog noch einmal Kraft aus dem Antlitz ihres schlummernden Kindes. – Es mußte sein!
Anderl kam ihr entgegen in vollem Sonntagsstaat. Ein kleiner Jägerhut mit stattlichem Gamsbart saß ihm im Nacken und ließ die stark geformte weiße Stirn frei, in welche dickes schwarzes Gelock sich drängte. Die graue Joppe mit grellrotem Futter kleidete eng und knapp die kräftige Gestalt. Männliche Frische lag über der ganzen Erscheinung. Nicht die Spur einer drückenden Schuld war in seinen Zügen zu lesen, in den unternehmend blitzenden Augen. Er pfiff ein lustiges Lied, es war ihm offenbar recht fröhlich zu Mut.
Loni verdroß jetzt dieser Gleichmut. Warum sorgte er sich nicht mehr, war er denn seiner Sache so sicher? „I hab’ mit Dir z’ red’n, Anderl,“ sagte sie in herrischem Tone.
Dem Knecht fiel dies nicht auf, Loni war vorsichtig und Späher immer in der Nähe.
„Endlich!“ durchzuckte es ihn. „Laß mi nur den Braun’ z’ erst unterbring’n, dann bin i schon da, Loni,“ sagte er mit einem zärtlichen Blick, der unerwidert blieb.
[143] Loni folgte ihm in den Stall und schloß die Thüre hinter sich zu.
Der Knecht schirrte den Braunen aus. Loni entging nicht seine unruhige Hast, die Unsicherheit seiner Hand bei dem Losschnallen des Riemenzeuges. Der starke Mann zitterte in der freudigen Erwartung dessen, was sie ihm nach seiner Meinung zu sagen kam.
Dieser Anblick machte sie noch einmal unschlüssig; sie schwankte und erwog ein letztes Mal.
„Was hat denn der Flori schon wieder woll’n?“ fragte jetzt Anderl, „g’rad heiß steigt’s mir auf, wenn i den schleichat’n Tropf seh’.“
Nun hatte sie den Angriffspunkt, das war schon eine Erleichterung.
„Weg’n dem bin i da.“
Anderl verschüttete den ganzen Haber, so überraschten ihn die Worte.
„Er is Dein Freund net,“ fuhr Loni fort.
Der Knecht zuckte verächtlich die Achseln. „Was kümmert mi der Krüppel!“
„Viel! Mi und Di! Mehr wie die ganze Welt! Er weiß all’s!“ stieß sie, sich scheu umblickend, hervor.
„Meint er?“ erwiderte gelassen Anderl. „Nix weiß er, als daß der Mentner mein’ Nam’ g’nannt hat vor sei’m Tod. Das is weiter was! Müaßt g’rad Du –“
Er sah sie scharf an.
Sie antwortete nicht unmittelbar darauf. „Er hat Di g’seh’n, Di und den Mentner, in der Nacht wia ihr z’ruck komma seid’s über’n Farrenbach. Er hat Euch red’n hör’n –“
„Was hat er red’n hör’n?“
„Net viel, aber g’nua, daß’s langt.“
Anderl lehnte sich an den Barren und ballte die Faust. „Sakra-!“. Er suchte mit rollenden Augen einen Ausweg und griff mit gespreizten Fingern in die Luft –
„Und das hat er Dir heut’ all’s g’sagt?“
„Nein, scho lang! Im Herbst scho,“ entgegnete Loni.
„Im Herbst scho, und mir hast nix davo g’sagt? Warum denn nach’er jetzt?“
„Weil er’s bis jetzt nur mir g’sagt hat.“
„Und jetzt? Wem no?“ Anderl wechselte die Farbe, seine ganze Zuversicht verließ ihn.
„Dem Marei!“
„Und warum jetzt erst dem Marei?“
Loni zögerte. „Weil – weil i net than hab’, was er woll’n hat.“
„Was er woll’n hat! So a –“ Er biß die Zähne übereinander. „Mi ins Zuchthaus bringa?“
„Das net, nur fort aus’n Mentnerhof, dann hätt’ er g’schwieg’n wia’s Grab, mir z’liab.“
„Dir z’liab! und dann käm’ er selb’r in’ Mentnerhof, aa Dir z’liab!“ Glühender Haß loderte in Anderl auf – Mordgedanken! – Loni fühlte es entsetzt.
„Um Gotteswill’n glaub’ das net, er denkt net dran! Der Marei weg’n will er’s.“
„Will er’s!“ Anderl sprach es voll wütenden Hohnes. „Das macht mi verruckt, das Wort!“
„Und do nutzt all’s nix, er hat Di in der Hand.“
„Nimmer lang, mein’ i alleweil!“
„Anderl!“ Loni erhob ihre Stimme beschwörend. „Kein’ solch’n Gedank’n! Aa wenn der Flori nix wüßt’, müaßt’ fort! Weil i mein Kind net sterb’n lass’n kann, und ’s stirbt, wenn’s den Willy net kriegt.“
„Und ’s kriagt den Willy net, wenn’st mi net verratst – ah, so is! - Net verratst, was i Dir selb’r g’stand’n hab in oaner Stund’, von der ma meina sollt – – aber freili, Dei Kind –! Schau, Loni, hast g’meint, daß Du aus an andern Holz bist wia die andern? Daß Dei’ Liab a ganz besondre is, die nix scheut?“ Er lachte auf. „Aber was redst deuu vom Fortschicka aus ’em Mentnerhof? Des nutzet ja nix – da habt’s no immer net den Mörd’r vom Kirchberger! – ’nei mit ihm ins Loch! – Guat, da bin i – i wehr’ mi net! –“
Er trat heftig aus dem Stand. „No auf was wartst denn no? Nimm mi mit zum Bürgermeister!“
„I Di ausliefern? Als ob i das wollt – i oder der Flori!“
„Was willst denn nachher, Du und der Flori?“
Der Anderl hielt sichtlich mühsam zurück, seine Brust hob sich zitternd, jeder Zug des Antlitzes zeigte höchste Erregung.
„Daß Du fort gehst – weit fort –! I geb’ Dir Geld, was D’ willst! Uebers Meer, ins Amerika ’nein! Wennst dann in Sicherheit bist, sollst schreib’n, all’s schreiben, wia’s war – nachher –“ Loni versagte die Stimme.
„Nachher hast a Ruah vor mir, Du und der Flori! So is g’meint, net wahr? Der Flori! Wer’s glaub’n kann? I geh’ aber net – naa! I will Dir z’m mindest Dei falsch Spiel verleid’n. Ewi dauert Zuchthaus net, und nachher sollst erst recht kan Ruah hab’n vor mir, Du net und er. Das geht ja nachher in ein’m.“
Loni ließ ihn austoben, seine wilde Eifersucht that ihr jetzt wohl. „So redst Du mit mir? Der Flori macht Dir Angst? Was i als Muatter leid’, das kümmert Di nix! Daß i mir den Kopf zermart’r all’ die Zeit her, um an Ausweg z’find’n, das kannst net glaub’n?“
„Naa, das kann i net glaub’n, einfach desweg’n, weil der Ausweg so leicht war, wenn’s nur ’s Marei angang.“
„Leicht? An Ausweg? – Anderl, wia meinst das?“
„Warum willst Du net mit nach Amerika?“
„Jessas!“ Loni schrie laut auf. „Ja freili – ja warum bin i denn net darauf – aber – der Verdacht – wenn i auf amal verschwind’, und wir hab’n ja nix – und do – nach Amerika – mit Dir!“
„Kannst ja nachkomma! – Geld! Zum ’nüberkomma langt’s ja und nachher wär’ mir net bang mit meine zwoa Arm’! Hab’ schon lang so ’was im Sinn! Aber was bedeut’s, Du magst ja net! Du kannst Di ja net trenna von Dein’ Kind – von Dein’ Flori!“ Er lachte höhnisch. „Vom – Austrag!“
Lonis überreizter Sinn gaukelte ihr verführerische Bilder vor, gegen welche die Heimat, die Zukunft im Mentnerhof furchtbar erschienen.
„I komm’ bis ans End’ der Welt, wenn’s Dei Will’ is. Du schreibst von drüben an Brief ans G’richt – i hab’ den Förster d’erschoss’n, so und so, der Mentner is unschuldi. – Wia i das hör’, komm’ i zu Dir ins neue Land, zu an neu’n Leb’n! Versteh’ mi do’ aa auf d’ Arbeit, und die is ja ’was wert drüb’n, wia’s sag’n. Anderl, jetzt seh’ i erst, wia liab i Di hab’! Jetzt könnt’ i’s gar net denk’n, was i g’rad g’sagt hab’! Und heut’ no gehst, daß ma kein Tag verliern!“ Sie hatte in leidenschaftlicher Aufregung gesprochen und schlug jetzt wie beschämt die Augen nieder.
Anderl ergriff ihre Hand. „Also abg’macht! Heut’ no geh’ i aus’n Dienst, und von Amerika schick’ i d’ Anzeig’! s’ Weiter wirst schon inna wer’n, und wennst mi sitz’n laßt, nachher hol’ i Di! Mir g’hörst, Loni, und i laß Di nimmer!“
Anderl verließ noch an demselben Tage den Hof ohne Abschied von Marei. Er haßte die Dirn’, welche der Hemmschuh seines Glückes war, die künftige Bäuerin auf dem Mentnerhof, die Braut des Förstersohnes, seines natürlichen Todfeindes.
Loni brachte ihrer Tochter die Nachricht von der Entlassung des Knechtes und seinem Versprechen, von drüben seine Selbstanzeige zu senden. Ahnte Marei in diesem Augenblick das Opfer, das die Mutter ihr gebracht, oder war es nur der selige Einblick in ihr wiedergewonnenes Paradies, aus dem sie sich schon für immer verstoßen gewähnt, was ihrer überquellenden Dankbarkeit Worte lieh? Die Freude war so groß, so stürmisch, eine so mächtige Flamme dankbarer Kindesliebe umlohte Loni, daß diese plötzlich mit jähem Schauder an den Tag dachte, der sie von dem Kind reißen werde und forttreiben – – übers Meer – geächtet – flüchtig – unbestimmter Zukunft entgegen! Doch – der Anderl!
Eine Woche war vergangen, seit der Knecht den Hof verlassen. Marei zählte die Tage, bis seine Selbstanzeige aus Amerika eintreffen könne – in drei Wochen glaubte sie dieselbe erwarten zu dürfen. Sie lebte sichtlich von neuem auf und ihre Briefe an Willy spiegelten das Glück wieder, welches das Vorgefühl der Erlösung ihr gab. Nur der eine Gedanke beunruhigte sie noch, Anderl könne sich, einmal in Sicherheit, anders besinnen und nichts mehr von sich hören lassen, doch die Mutter tröstete sie darüber mit einer
[144][145] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [146] Zuversicht, aus der Marei im stillen entnahm, welches Opfer ihr diese mit der Trennung von Anderl gebracht haben müsse. Der Mutter zuliebe, sagte sie sich, wird er sein Versprechen erfüllen. Sie that alles, was in ihren Kräften stand, ihr diese Großmut zu lohnen; selber von Liebe bewegt, verstand sie die Größe des Opfers, so unsympathisch ihr die Neigung der Mutter auch immer gewesen war.
Auch Loni zählte die Tage! Der Marienkalender enthielt die ausführliche Schilderung einer Seereise von Hamburg nach New York. Mutter und Tochter überraschten sich wiederholt beim Lesen derselben.
Aber was Loni bewegte, waren keine Sehnsuchtsgedanken. Sie fühlte sich von einem unheimlichen Zwang befreit, seitdem der Knecht den Hof verlassen. Anfangs fand sie diese Stimmung ganz natürlich; sie entsprach dem Bewußtsein erfüllter Mutterpflicht; sie wollte zunächst ja nur für das Glück ihres Kindes sorgen. Allmählich fiel es ihr aber doch auf, daß die Sehnsucht nach dem erträumten Glück im neuen Lande sich nicht stärker einstellte, daß im Gegenteil Angst vor der Trennung von Marei, vor dem Losreißen von der Heimat ihr Herz bewegte. – Das war der Mentnerhof doch, trotz allem Leid, das sie darin erfahren! Und wie verstand es Marei, ihr auszumalen, wie sie an dem rosigen Glück ihrer Zukunft beteiligt sein werde; für das übliche Los einer Austräglerin war in dem Bilde kein Platz. Es überkam sie der Zweifel, ob ihre Liebe zu dem flüchtigen Manne die rechte sei. Wahre Liebe muß doch auch in der Ferne wirken – erst recht! Und dann regte sich in ihr der Gedanke: vielleicht bereut auch er schon die Abrede; sie würde ihm ja doch nur dort drüben zur Last sein, wo es galt, vor allem für die eigne Unterkunft zu sorgen. Aber den Brief mit der Selbstanzeige, den wird er schreiben; an dieser Ueberzeugung hielt sie bei all diesen Zweifeln fest.
Der Flori mied jetzt ihr Haus; er fürchtete wohl ihren Haß seit jener Scene mit Marei. Doch da ging er fehl; Loni war ihm längst nicht mehr gram darüber, daß er so zäh sie an ihr Versprechen gemahnt.
Es fehlten immer noch zwei Wochen an der Frist, bis zu welcher der Brief von Anderl aus Amerika eintreffen konnte.
Es war ein wonniger Frühjahrstag: alles eitel Lust und Fröhlichkeit in den blütenschweren Zweigen, auf den blumigen frischen Wiesen, auf dem Hausdach. Marei machte sich im Stalle zu schaffen. Mit den neuen Kräften war auch die Arbeitslust in der Mentnertochter erwacht. Loni hatte wieder einmal den Marienkalender in der Hand und betrachtete, in Gedanken versunken, ein Bild – „Sturm auf See“ stand darunter. Das Schiff rang den Todeskampf mit Sturm und Wogen. Das Bild hatte die Möglichkeit eines Schiffsunterganges ihr schon öfter nahe gerückt. Mit ihrer lebhaften Einbildungskraft sah sie den Anderl unter den Passagieren des Schiffes. Sie sah sein Gesicht, so bleich, so verzerrt wie in der Nacht, in der er den Förster erschossen, sie hörte seine Notrufe – jetzt stürzte eine große schwere Woge über ihn her. – „Loni!“
Sie schrie jäh auf, ließ das Buch fallen; sie hatte seinen letzten Ruf gehört.
„Gar nix zum Derschreck’n, um’kehrt, zum Freu’n!“ rief eine Stimme zum offenen Fenster herein. Sie blickte hin – da stand der Bürgermeister, der einen Brief in der Hand schwenkte. Er war es, der ihren Namen gerufen. „Vom Anderl ’was,“ fuhr er fort, ins Haus einbiegend, „Da wirst schau’n, Bäuerin!“
„Vom Anderl – schon heut’?“ Low fuhr erschreckt auf. „Ja, wia is denn des mögli? Es san ja g’rad erst zwoa Wochen um, daß er fort is?“
Da trat auch schon der Bürgermeister ein. Sein Gesicht strahlte. „Hab’ mir’s ja alleweil denkt! Da hör’, was der Anderl schreibt – aus Hamburg – aus der großen Hafenstadt, wo’s ’nübergeht nach Amerika.“
Der alte Mann setzte seine Brille auf und las: „Weil’s jetzt do gleich is, will i an offenes Geständnis mach’n, ’s is wegen der Mentnerbäuerin und ihrem Madl. I hab’ den Kirchberger derschossn am Tag nach dem Schuß, den der Mentner than hab’n soll. Zuganga is so. I und der Mentner war’n auf der Wildbahn. Im Erlgrund treffen wir auf’n Förster. Er hat g’rad den Mentner seh’n könna und hat’n ang’schrie’n, mit der Büchs’ an der Wang’. Wia i den Kirchberger kannt hab’, hätt’ er’s glei’ schnall’n lass’n, da hat mi der Mentner do g’reut und i bin ’m Förster zuvor komma, des is all’s! Reine Thatsach’! Bei mir is des ka Mord net. Der Förster oder der Mentner, so is g’stand’n. Zeig’s beim G’richt an, i bin längst dahin, wenn ös den Brief in Händ’n habt, in Afrika oder sonst an Ort, i weiß selb’r no net.
An Gruaß an d’ Bäuerin, sie soll auf den Anderl net vergess’n, der g’rad ihr’n Mann z’liab in die ganze G’schicht’ eini komma is.„Was sagst jetzt dazua?“ fuhr der Bürgermeister fort. „So a Handlung hätt’ i dem Mensch’n wirkli net zutraut. Aber Du bist ja ganz verhofft? – ’s muaß Dir ja g’rad sein, als ob Dir a Stein vom Herz’n wär’! Dein Mann sein Andenk’n wieder g’reinigt und ’s Marei erst, jetzt kann’s ja ungeniert heirat’n ihr’n Willy – und d’ Hagenberger all’ miteinand – ’s war do a schiache Sach’, a Schandfleck auf der ganz’n G’meind.“
Loni aber zeigte nichts von der Freude, die der Alte in ihr voraussetzte. „G’rad den Briaf möcht’ i seh’n an Augenblick!“ unterbrach sie ihn ungeduldig.
„Da, les’ nur selb’r!“
Der Alte reichte ihn ihr.
Es waren seine Schriftzüge – „Hamburg“ stand auf dem Umschlage.
„Werden’s ihn jetzt verfolg’n? Glaubst? Uebers Meer aa – ’s G’richt? Wenn sich die Sach’ so ’rausstellt hat, mit ’m Förster?“ fragte sie gespannt.
„Die Sach’ mit ’m Förster wär’ gleich – a Mord is’ do! Der Förster war ja in sei’m Recht und der Anderl net, – aber übers Wasser? Glaub’s net recht! – Hat aa kan Wert! Lauf’n lass’n so Leut’, drüben is er guat und z’neiden is er aa net. Aber des kümmert mi net, mei’ Pflicht is, daß i mit dem Briaf sofort aufs G’richt geh’, ’s andere is dann ihr’ Sach’. I hab’ mir g’rad denkt, Du müaßtst glei’ davon wiss’n. – Jetzt siech’ i freili, daß ’s Zeit g’habt hätt’! Was weiß ma’, bist alleweil a B’sondere g’wes’n. ’s Marei wird mir schon an bessren Dank wiss’n für die Nachricht.“
Er wandte sich zum Gehen.
„Nix für unguat, Bürgermeister, wenn i mei’ Freud’ net so zeig’n kann,“ brachte nun Loni beruhigter vor. „I dank’ Euch scho’! Dem Marei werd’ i ’s selb’r ausricht’n, da braucht's Euch kei Müah z’geben.“
„Naa, naa, des laß i mir net nehma! Die Freud’ möcht’ i schön’ selb’r derleb’n – ah – da is ’s ja, ’s Marei!“
Marei hatte die fremde Stimme gehört und war eingetreten. Eine Bangigkeit befiel sie beim Anblick des Bürgermeisters und des Schreibens in seiner Hand. Im Antlitz der Mutter las sie neue Besorgnis.
„Von wem glaubst, daß der Brief is, der in meiner Hand da?“ fragte schmunzelnd der Alte, mit dem Schreiben ihre Wange streichelnd.
„Vom Anderl!“ stieß das Mädchen unwillkürlich heraus.
Loni, die sie warnend angeblickt hatte, unterdrückte mühsam eine Regung des Zornes über die Unüberlegtheit der Tochter.
„Ja, wie kommst denn Du auf den Anderl? Des is aber g’spaßi!“ sagte erstaunt der Bürgermeister.
„Vom Willy, wollt’ i sag’n,“ verbesserte sich das Mädchen, dem die Verlegenheit das Blut in die Wangen trieb. „Natürli, was soll denn der Anderl –“
Die Falschheit kam ihr recht schwer an.
„Da find’ i gar nix g’spaßig’s dabei, wenn’s Marei meint, vom Anderl! Wenn aner so lange Jahr’ in an Haus war und geht fort, is ’s doch nix besonders, daß er aa bald amal von sich hören laßt,“ bemerkte in spitzigem Tone Loni. „Und er is’ aa, der geschrieb’n hat, Marei!“
„Freili hat er g’schrieb’n,“ gab der Bürgermeister zurück, „aber an mi und net ans Haus, wo er so lang dient hat. Und an Sach’ hat er g’schrieb’n, die Dir wohl neuer sein wird, als s’ Deiner Mutter sein muaß.“ Er warf einen mißtrauischen Seitenblick auf Loni.
„Dein selig’r Vater is unschuldi – der Anderl hat den Förster derschoss’n! Das schreibt er offen und ehrli’, auf daß Du ungeniert den Willy heirat’n und glückli’ werd’n kannst. Gelt, das is a Neuigkeit, die’s wert is, daß i Dir’s selb’r bring’.“
[147] Marei mußte sich wieder verstellen. Wäre sie überrascht worden, sie wäre in hellen Jubel ausgebrochen, so fühlte sie sich befangen und stotterte einige unbehilfliche Worte.
Der Bürgermeister verließ kopfschüttelnd das Haus und machte sich seine eigenen Gedanken, die für Loni nicht günstig waren.
Erst als sich Marei mit der Mutter allein sah, schwand die Beklemmung, sie fiel ihr stürmisch um den Hals, ohne in ihrer Erregung über die verfrühte Ankunft des Briefes nachzudenken. Sie war ganz Jubel, ganz Hoffnung. Und zum Willy wollte sie reisen – sofort, daß er die frohe Kunde zuerst von ihr selber erfahre. Aber Loni hielt sie zurück. Jede Stunde, die der Forstwart unbenachrichtigt blieb, erschien ihr ein wichtiger Vorsprung für Anderl.
Marei fand sich darein, sie war ihr völlig zu Willen; liebkosend umarmte sie die Mutter und suchte ihr die neue Sorge von der Stirn zu küssen. „O, i weiß, was Du mir für an Opfer bracht hast, daß D’ den Anderl gern g’habt hast, daß Du ihn mir z’liab aufgeb’n hast! Und mein ganz’s Leb’n will i Dir’s danken und der Willy g’wiß aa! Alles woll’n wir thuan, um Dir die Liab z’ ersetz’n, die Du für uns einbüaßt hast! Du liab’s guat’s Mutterl, Du!“ Es war das erste Mal, daß ihr diese Empfindung so direkt auf die Lippen trat. Und Loni wehrte sich nicht gegen die Annahme ihres Kindes, es that ihr wohl, sich von ihm verstanden zu wissen.
Marei hielt es nicht in der Stube, sie mußte hinaus, ihr Glück den Blumen und Bäumen mitteilen, den Kühen und Pferden im Stall, den Hühnern und Tauben. Und Loni blieb allein mit ihren Gedanken, die wieder zu Anderl zurückkehrten. Warum hat er schon von Hamburg die Selbstanzeige geschrieben? Wenn man ihn nun doch verfolgt! Wenn sie auf dem Gericht erfahren, mit welchem Schiff er hinüber ist! Dann fassen sie ihn drüben ab! Im Marienkalender stand das alles genau. Aber – er ist gar nicht übers Meer, kam’s plötzlich über sie, er geht überhaupt nicht hinüber – er mag nicht fort ohne sie, es treibt ihn zurück zu ihr – er mißtraut ihr – er kommt, sie zu holen! Ein Schauer erfaßte sie. „Heiliger Gott!“ Gerad eben hat sie sich’s fest vorgenommen ihm abzuschreiben, sobald sie seine Adresse erfahren, als das blonde Haupt der Tochter an ihrer Brust gelegen. – – Aber wenn er sie holen kommt? Sie bebte bei diesem Gedanken und suchte ihn abzuschütteln. Wie wird er denn zurückkommen, sich der Gefahr aussetzen, nachdem er sich schuldig bekannt und wo sollten sie Zwei dann Zuflucht finden? Das alles hielt sie sich vor – vergebens!
Sie sah ihn von weitem nahen über die Schneiden der Berge, durch Wälder und Thäler.
Mit der sinkenden Sonne wuchs ihre Angst, ihr Unbehagen.
Marei ging früh zu Bett, sie wollte noch vor Tagesanbruch sich aufmachen zu Willy. Noch einmal dankte sie der Mutter unter Thränen und rief des Himmels Segen auf sie herab. Sie schlief jetzt in der Kammer, welche früher Anderl bewohnte, die frische Luft, die in der Bodenkammer herrschte, that ihr wohl. Loni saß allein in der Stube. Unter dem Ansturm der Gedanken, die sie beunruhigten, fürchtete sie sich vor der Nacht, und doch mochte sie Marei nicht bitten, ihr Gesellschaft zu leisten. Wenn der Anderl schon heute –
Da kam der Flori über die dämmerigen Wiesen eilig herangehumpelt. Noch nie war er ihr seit Jahren so willkommen gewesen.
„Wird Dir net liab sein, mein B’such,“ begann er, „aber i muaß G’wißheit hab’n. Hat er wirkli’ g’schrieb’n, der Anderl? Jetzt schon?“
„Ja, er hat g’schrieb’n,“ erwiderte Loni. „Von Hamburg aus. Er wird wohl von da aus ’nüber g’fahr’n sein,“ setzte sie unsicher hinzu.
„Schwerli! Sonst hätt’ er scho’ g’wart’ mit’n Schreib’n; bis er drüben g’wes’n wär’. Findst’s net aa b’sonders?“
„Er hat halt ’s Marei net länger wart’n lass’n woll’n,“ beschwichtigte Loni die eigene Besorgnis.
„Meinst? Für so gutmütig haltst D’ ihn?“
„Was soll er denn sonst für an Grund g’habt hab’n?“
„Z’ruckkomma, Di z’hol’n!“
Loni fuhr auf. „Flori, des glaubst? Aber naa! I gang ja net, um alles net! Seit heut’ schon gar net!“ In ihrer Stimme zitterte ein weiches Gefühl. „Kannst Di no erinnern, was Du mir damals g’sagt hast in Dein’r Hütt’n? Daß’ aa no an andere Liab giebt, die glückli macht, als di i kennt hab’ bis jetzt! Heut’ hab’ i ’s g’fühlt, die Liab, als mei’ Marei so glücklich war – zum erstenmal – ganz!“
Flori trat näher. „Jetzt schon, Loni, jetzt schon? No dann – dann hat’s ka G’fahr mehr, nachher soll er nur komma! Aber des is ja no gar nix, des wird no’ ganz anders, wenn erst amal das Glück aufblüaht unter Deine Aug’n! Hat ’s a rechte Freud’ g’habt, ’s Marei? Ja, wo is’ denn? ’s is mir g’rad, als war’s mei eigen Kind! Wo is’ denn?“
Loni zögerte. Sie hatte Flori bitten wollen, die Nacht im Hofe zu bleiben. Seine Anwesenheit würde ihr Ruhe geben, sie schützen, wenn der Anderl schon heute kam’. Da war’s besser, sie verleugnete das Mädel, um ihre Furcht begreiflich zu machen. Den wahren Grund ihrer Angst mochte sie ihm nicht nennen. Und so sagte sie: „Sie hat sich net halt’n lass’n, heut’ no hat’s fortmüss’n nach Oberach zum Willy, um ihm die Botschaft z’bringen.“
Die Lüge erschien ihr nicht groß, vor Tagesanbruch ging Marei ja wirklich.
„Ja, das glaub’ i!“ erwiderte Flori lachend. „Wia do so a jungs Bluat wieder z’ Kraft kimmt beim erst’n Sonnastrahl, wia a halbverdurst’s Bleamerl!“
„Und da bitt’ i Di halt, daß D’ im Hof bleibst, heut’ nacht! Bin’s net g’wohnt, ’s Alleisein,“ fuhr verlegen die Bäuerin fort.
„Angst hast’ – Du, die Loni?“ Flori lachte.
„Des g’rad net, aber mir is halt a bisl schwer ums Herz. Schau, wenn man so viel g’litt’n hat wia i, nachher glaubst an ka Glück mehr, s’ is mir g’rad, als wär’ schon an neu’s Unglück unterwegs! Jessas! der Sturm auf aamal!“
Sie zuckte zusammen, so überreizt war sie von der heimlichen Aufregung. Der Föhn war plötzlich herabgestürzt vom Gebirg und rüttelte an den Läden und pfiff um den Dachfirst.
Flori sah hinaus. „Grob Wetter wird’s! Guat, i bleib’ auf ’n Hof. Leg’ Di nieder, Loni, und schlaf guat! I werd’ mir scho’ da herunt’ a Platzl z’recht mach’n.“
Sie wollte ihm danken, da überfiel sie plötzlich ein lähmendes Entsetzen. Wenn der Anderl jetzt zurückkehren würde und sie so allein träfe mit dem Flori! Der Gedanke machte ihr das Blut erstarren. Nun hätte sie um alles gern ihre Bitte zurückgenommen, aber sie wagte es nicht mehr. Flori hätte es anders auslegen können, als ob sie ihm nicht vertraue. Die Brust war ihr beklommen, sie erhob sich langsam.
„Ja, Du hast recht, Flori, i geh’ zur Ruah, bin so wia d’erschlag’n. Gut’ Nacht, Flori!“ Die Hand zitterte, die sie ihm reichte.
„Heut’ wirst guat schlaf’n und trama, gieb’ nur Obacht, vom Marei! Gut’ Nacht, Loni!“
Loni ging in ihre Kammer neben dem Stall. Ein bitteres Lächeln glitt um ihre Lippen. „Guat schlaf’n und trama!“ Währemd sie sich fürchtete vor der Nacht, wie noch vor keiner!
Der Sturm raste um das Haus. Die schadhaften Läden klapperten und schlugen gegen die Mauern, das Vieh im Stalle scharrte und rasselte mit den Ketten. Sie legte sich angekleidet auf das Bett. Den Arm unter dem Kopf, starrte sie in die finstere Nacht zum Fenster hinaus. Auf einen Augenblick erhellte sie sich. Es war ein gespenstisches Huschen und Haschen sich jagender Wolken am Himmel. Sie unterschied die Holzschupfe, die Wiesen, die schwarze Bergwand gegenüber. Das beruhigte sie. Sie dachte daran, wie sie zuvor sich gefreut hatte, als sie den Flori hatte daherkommen sehen. Wie doch alles anders gekommen wäre, wenn sie ihn damals geheiratet hätte, statt den Mentner! Aus Furcht vor der Armut hat sie es nicht gethan. Als wenn das Geld glücklich machte! Sie würden sich schon durchgebracht haben, und treue Liebe macht alles leichter. Bittre Reue erfüllte ihr Herz. Da – was war das? Auch nur der Wind – oder klopfte nicht jemand?
Sie beugte sich weit vor gegen das Fenster, aber ebenso schnell fuhr sie zurück. Aufächzend sprang sie vom Bette. Es klopfte wieder, jetzt gegen die Scheiben. – „Heilige Mutter Gottes!“ – Jetzt betete sie. – Dann trat sie vor.
„Loni!“ flüsterte es.
Es lief ihr kalt über den Rücken während ihr Gesicht glühte. So war also wirklich das Gefürchtete da – Anderl kam, sie zu holen!
(Schluß folgt.)
[148]
Blätter und Blüten.
Die Geretteten von der Mannschaft der „Elbe“, soweit sie bei guter Gesundheit gemeinsam an den Ort ihrer Ausfahrt zurückgekehrt sind, haben sich nach ihrer Ankunft in Geestemünde zur Erinnerung an das in Sturm und Not zusammen Erlebte photographisch aufnehmen lassen. Wir sind in der Lage, das interessante Gruppenbild unseren Lesern nebenstehend mitzuteilen. Nur mit Einsatz aller Kraft, beständig den drohenden Tod im Auge, haben die Ueberlebenden der Mannschaft des untergegangenen Schiffes ihre und ihrer Bootgenossen Rettung dem sturmbewegten Meer abtrotzen können; sechs lange Stunden haben sie bei eisigem Wind den Kampf mit den Wogen führen müssen, ehe die „Wildflower“ zur Hilfe nahte. Der links an der Säule Stehende im grauen Wettermantel ist der Zahlmeister Wilhelm Wefer; vor ihm sitzt der jugendliche dritte Offizier des Schiffes, Th. Stollberg, dem von Kapitän v. Goessel das Kommando über das Rettungsboot übertragen war, das unter seiner Führung als einziges den Weg zur Rettung aus der Katastrophe gefunden hat. Der ältere Herr im offenen Mantel neben ihm ist der Obermaschinist Albert Neussel, von dem wir lasen, daß er nach dem Zusammenstoß mit der „Crathie“ die Oberleitung der Maschine übernahm. Neben ihm sitzen weiter der Zahlmeister-Assistent Paul Schlutius und der Maschinen-Assistent Ernst Linkmeyer. Rechts vom Zahlmeister Wefer stehen nacheinander: Oberheizer Herm. Fürst, Leichtmatrose Anton Batke, Kesselschmied Friedr. Sittig und Matrose Karl Finger. Von der Mannschaft der „Elbe“ wurden weiter noch gerettet der Steward E. Kobe und die Matrosen P. Siebert, W. Dresow und G. Wenning, von welchen der letztere nach der Ankunft in Bremerhaven in das Hospital überführt werden mußte.
Trauben im Treibhaus. Die Leser erinnern sich aus einem früheren Aufsatz in der „Gartenlaube“ (Jahrgang 1891, Nr. 27) der vielversprechenden Erfolge, welche der Gartenbaudirektor Haupt in Brieg mit seinem „Weinberg unter Glas“ erzielt hat. Aehnliche Versuche hat man auch in England, wo der Weinstock im Freien nicht gedeiht, seit einer Reihe von Jahren gemacht. Bereits 1867 erzeugte ein gewisser Meredith zu Garnston bei Liverpool unter Glas getriebene Trauben im Gewichte von 4 Kilogramm. Diese ursprünglich als eine Liebhaberei der reichen Lords betriebene Zucht hat sich nach und nach zu einem Industriezweig herausgebildet, der besonders dadurch an Bedeutung gewonnen hat, daß er an keine Jahreszeit gebunden ist. Man erzeugt jetzt, die erforderlichen Bedingungen vorausgesetzt, frische Trauben, wo und waun man will. Mittels künstlicher Wärme, Beleuchtung und Bewässerung, geeigneter Luftzufuhr und Düngung wird der Markt stets mit den herrlichsten Frankenthaler Trauben, den würzigen Trauben des „Muscat von Alexandrien“ versorgt, wie man sie sich schöner nicht denken kann. Derartige vielfach ins Große gehende Treibereien befinden sich u. a. in der unmittelbaren Nähe von London, ferner auf der Insel Jersey, in der Gemeinde Hoylaert in Belgien, zu Thomery bei Fontainebleau. Auf Jersey soll ein einziger Züchter 20 Warmhäuser von je 300 Metern Länge besitzen. Die Hauptabsatzmärkte der englischen und belgischen Züchter sind die großen und volkreichen Städte Großbritanniens: London, Liverpool, Manchester, Edinburg.
Ein Schneetunnel auf dem Albula-Paß. (Zu dem Bilde S. 133.) Mit außerordentlicher Strenge hat sich heuer auch im Flachland der Winter geltend gemacht, und in Gegenden, wo es seit Jahren zu keiner ordentlichen Schlittenbahn gekommen war, hat Wochen hindurch wieder einmal die weiche Schneedecke Gelegenheit dazu geboten, den behend hingleitenden Schlitten in den Dienst des Verkehrs zu stellen. Aber der Schnee, über den es sich so lustig bei Peitschenknall und Schellengeläute dahinfährt, hat auch arge Verkehrsstörungen verursacht; aus den verschiedensten Gegenden hatte die Tagespresse von verschneiten Straßen, steckengebliebenen Eisenbahnzügen und noch schlimmeren Unglücksfällen zu berichten. Doch noch ganz anders haust der Winter im Hochgebirg! Wie aber auch dort Menschenkraft und Menschenkunst diesen Unbilden der elementaren Natur Widerstand zu leisten und sie zu besiegen weiß, davon giebt unser Bild vom Albula-Paß in der Schweiz ein erfreulich anmutendes Beispiel.
Allen denen, die einmal in schöner Sommerzeit über den Albula-Paß von Chur ins herrliche Engadin hinüber oder von dort ins Rheinthal hinunter gefahren und gewandert sind, wird in der Erinnerung die großartige Gebirgsscenerie haften, die sich dem Blick auf jener Strecke darbietet, wo die Straße in weitem Bogen oberhalb des Albula-Ursprungs die fast senkrechten Felshörner der Giumels umzieht. Dort, zwischen dem Gasthaus Weißenstein und der Paßhöhe mit ihrem Hospiz, hatte der Schnee auch in diesem Winter die Straße völlig verschüttet. Das Wärterpersonal der Straße aber versteht sich darauf, in verhältnismäßig kurzer Zeit solche Störungen des Postverkehrs zu heben. Ein Schneetunnel von 195 Metern Länge, 21/2 Metern Breite und 3 Metern Höhe ward hergestellt, durch welchen seitdem die Post mit ihrem Viergespann sicher dahinfährt. Solche Schneegalerien werden auf den Schweizer Alpenhochstraßen im Winter und Frühjahr nicht selten zur Notwendigkeit. Ist der Schnee weich, wie in unserm Fall, so werden sie nach den Regeln des Gewölbebaus aus größeren zurechtgehauenen Schneestücken aufgeführt, die dann durch Begießen mit Wasser zum Zusammenfrieren gebracht werden. Bei dem festen Lawinenschnee genügt einfaches Aushauen des Tunnels.
Frühling im Winter. (Zu dem Bilde S. 144 und 145.) Wie man bei uns in der Stadt die regelmäßigen Zusammenkünfte der jungen Mädchen „Kränzchen“ nennt, so hat im deutschen Alpenland vielfach die Bezeichnung „Heimgarten“ eine ähnliche Bedeutung und einen ähnlichen Anklang an die Welt der Blumen, mit welcher der poetische Sinn der weiblichen Jugend so gern vergleicht. Nicht immer aber vereinigt solch ein Heimgarten so viel taufrischen Liebreiz und knospenhafte Anmut wie derjenige, in welchen der Maler unsres Bildes uns einführt. Das ist ein gesegneter Ort, wo die hübschen Dirndl’n so dicht bei einander aufblühen, und die Burschen, die sich dann beim Dunkelwerden zum Abholen einstellen, sind zu beneiden, wenn sich die Thür des verschneiten Hauses öffnet und ihnen auf einmal dieser Frühling im Winter entgegenglänzt. Und wie dann die nun verschämt und verlegen dreinblickenden Mädchen, die unter sich so ausgelassen lachen und übermütig spotten konnten, so spüren es auch die durch den Schneesturm herangekommenen Burschen wie Frühlingshauch durch ihre Herzen gehen, ein beseligendes Ahnen voll Hoffnungsglück schwellt ihre Brust.
Inhalt: Echt. Erzählung von R. Artaria (1. Fortsetzung). S. 133. – Ein Schneetunnel auf dem Albula-Paß. Bild. S. 133. – Die Mädchenhorte in Leipzig. Von L. Windscheid. S. 138 – Der Auswanderer-Bahnhof in Ruhleben. Von Richard Nordhausen. S. 140. Mit Abbildungen S. 137, 140, 141 und 142. – Loni. Erzählung von Anton von Perfall (4. Fortsetzung). S. 142. – Frühling im Winter. Bild. S. 144 und 145. – Blätter und Blüten: Die Geretteten von der Mannschaft der „Elbe“. Mit Bildnissen. S 148. – Trauben im Treibhaus. S. 148. – Ein Schneetunnel auf dem Albula-Paß. S. 148. (Zu dem Bilde S. 133.) – Frühling im Winter. S. 148. (Zu dem Bilde S. 144 und 145.)
- ↑ Wir glauben den schönen Aufschwung, welchen gerade neuerdings die Bewegung zu gunsten der „Mädchenhorte“ in vielen deutschen Städten erlebt, nicht besser fördern zu können als durch die nachfolgende Schilderung eines vorbildlich wirkenden Beispiels. D. Red.