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Die Gartenlaube (1896)/Heft 10

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[149]

Nr. 10.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (9. Fortsetzung.)

Während im Osmarschen Hause ein tiefer Zwiespalt zwischen Vater und Tochter ausgebrochen war, herrschte auch im Hotel, wo die deutschen Herren abgestiegen waren, seit zwei Tagen erbitterte Fehde.

Fräulein Ulrike Mallner hatte sich von ihrer anfänglichen Betäubung bei jener Ueberraschung in Karnak schnell genug erholt und that nun das Möglichste, um dem Brautpaar das Leben schwer zu machen. Unmittelbar nach der Rückkehr von dem Ausflüge, sobald die beiden Schwägerinnen allein waren, hatte es natürlich einen Sturm gegeben, das heißt, Ulrike stürmte und bot alles auf, die Witwe ihres Bruders zu überzeugen, daß ihre Wiedervermählung nicht viel weniger als ein Verbrechen sei. Selma ihrerseits weinte tapfer drauf los, ließ sich aber durchaus nicht zu dem erhofften Widerruf bewegen und flüchtete unmittelbar nach jener Scene in den Schutz ihres Bräutigams, der der feindlichen Dame denn auch in nachdrücklichster Weise klar machte, daß ihre Macht zu Ende sei. Das wußte Ulrike freilich selbst, aber sie baute auf die Unselbständigkeit ihrer Schwägerin, auf die Macht der langen Gewohnheit. In diesem Falle vergebens! Die junge Frau, die zum erstenmal in ihrem Leben Glück und Liebe kennenlernte, war doch nicht so schwach, sich beides wieder rauben zu lassen, nachdem sie es kaum gewonnen hatte, und blieb fest. Sie wußte zu gut, welch ein Leben ihrer wartete, wenn sie in die alte Sklaverei von Martinsfelde zurückkehrte.

In den Morgenstunden dieses sonnigen Weihnachtstages saß der glückliche Bräutigam auf der Terrasse des Hotels und neben ihm Herr Ellrich, der gleichfalls sehr vergnügt und zufrieden aussah. Er hatte auch alle Ursache, mit seinem Kurswechsel zufrieden zu sein, und brauchte sich nicht mehr über schlechte Behandlung zu beklagen. Der Doktor behandelte ihn sehr gut und nahm ihn bei jeder Gelegenheit in Schutz gegen Fräulein Mallner, die große Lust zeigte, sich an dem Ueberläufer zu rächen.

„Selma kommt noch immer nicht!“ sagte Bertram mit einem ungeduldigen Blick nach den Fenstern hinauf. Wahrscheinlich wird ihr wieder eine Predigt


Auf der Fahrt zur Schule.
Nach einer Originalzeichnung von F. Müller-Münster.

[150] gehalten. Wenn sie in fünf Minuten nicht hier ist, gehe ich hinauf und hole sie!“

„Ja, Fräulein Mallner intrigiert noch immer gegen die Verlobung, die sie nicht hindern konnte,“ bemerkte Herr Ellrich. Der Doktor lachte.

„Nun, ich meinesteils würde ihr dies Vergnügen gönnen, helfen thut es ihr nichts. Aber meine Braut wird in unverantwortlicher Weise damit gequält und das leide ich nicht länger. Ich werde der Sache ein Ende machen.“

„Wie wollen Sie denn das anfangen?“ fragte neugierig der kleine Herr.

„Ganz einfach, wir reisen ab.“

„Mit Fräulein Mallner?“

„Bewahre, wir packen sie auf einen Dampfer und schicken sie direkt nach Martinsfelde, dann haben wir Ruhe vor ihr.“

Herr Ellrich sah mit Bewunderung auf den Mann, der sich ein solches Heldenstück nicht bloß vornahm, sondern zweifellos auch ausführen würde, doch er schüttelte bedenklich den Kopf.

„Aber das geht doch nicht, Sie können doch unmöglich –“

„Es geht alles, wenn man nur ernstlich will!“ unterbrach ihn der junge Arzt. „Aber die fünf Minuten sind jetzt um, nun hole ich meine Braut.“

Die Ausführung dieses Entschlusses blieb ihm erspart, denn in diesem Augenblick erschien Selma in Begleitung ihrer Schwägerin.

Das Gesicht der letzteren zeigte wieder die Gewitterstimmung, in der sie sich jetzt immer befand, sie nahm kaum Notiz von Herrn Ellrich, der sich nur einen scheuen Gruß aus gemessener Entfernung erlaubte, und schritt geradeswegs auf den Doktor zu, aber dieser eilte an ihr vorüber seiner Braut entgegen.

„Guten Morgen, mein Lieb! Und ein frohes, glückliches Weihnachtsfest!“ sagte er zärtlich, indem er sie umfaßte und küßte.

Die junge Frau nahm das mit tiefem Erröten und glücklicher Verwirrung hin, Ulrike aber hob ihre Nasenspitze hoch in die Luft und rief entrüstet: „Herr Doktor – das ist unschicklich!“

„Was ist unschicklich?“ fragte er ruhig.

„Daß Sie Selma hier im offenen Garten und vor Zeugen küssen.“

„Ja, in Martinsfelde würde sich das allerdings nicht schicken,“ versetzte Bertram mit unerschütterlichem Ernst. „Aber wir sind hier am Nil, und bei den alten Aegyptern war es Sitte, daß ein Bräutigam nach öffentlich proklamierter Verlobung seine Braut auch öffentlich küßte. Wir fügen uns nur der Landessitte.“

Fräulein Mallner hielt es unter ihrer Würde, eine Antwort zu geben, sie spannte nur ihren großen Sonnenschirm mit einem so heftigen Ruck auf, daß es krachte.

„Ich habe mit Ihnen zu sprechen,“ begann sie. „Selma weiß bereits, um was es sich handelt.“

„Ja, lieber Adolf, Ulrike möchte Dir einen Vorschlag machen,“ sagte die junge Frau, aber sie sah dabei so ängstlich aus, als fürchtete sie diesen Vorschlag. Der Doktor verbeugte sich.

„Ich stehe ganz zur Verfügung, Sie wissen ja, es macht mir stets außerordentliches Vergnügen, Ihren Wünschen nachzukommen.“

„Ich will nicht stören,“ sagte Herr Ellrich, indem er Miene machte, sich zu entfernen, Ulrike dagegen befahl in ihrem gewohnten Tone: „Du gehst mit ihm, Selma, ich will den Doktor allein sprechen.“

„Bitte, meine Braut steht nicht unter militärischem Kommando,“ sagte Bertram sehr ruhig, aber sehr bestimmt. „Wenn Du zu bleiben wünschest, liebe Selma –“

„Nein, nein, es ist mir lieber, wenn Du die Sache allein mit Ulrike besprichst,“ fiel die junge Frau hastig ein. „Ich plaudere inzwischen mit Herrn Ellrich.“

„Das ist etwas anderes. Herr Ellrich, ich übergebe meinen Schatz feierlichst Ihrer Obhut. Hüten Sie ihn gut, ich rate es Ihnen!“

Er trat wie im Scherze an den kleinen Herrn heran und fuhr dabei leise fort: „Das wird wieder eine hübsche Katzbalgerei werden! Bitte, halten Sie Selma möglichst fern, sie ängstigt sich immer so dabei.“

Ellrich nickte. Er hatte gegen diese Art der Bewachung gar nichts einzuwenden und empfand eine geheime Schadenfreude darüber, daß seine Tyrannin nun endlich auch ihren Meister gefunden hatte. Er schlug der jungen Frau vor, nach dem Dampfer auszuschauen, der heute von Kairo kommen sollte, und führte sie plaudernd nach dem Garten hinunter.

Drüben nahm inzwischen die „Katzbalgerei“, wie Bertram es in seiner drastischen Weise nannte, ihren Anfang. Fräulein Mallner hatte volle zwei Tage gebraucht, um einzusehen, daß sie die Wiedervermählung ihrer Schwägerin in der That nicht hindern konnte.

Für sie war es schon eine unglaubliche Selbstüberwindung, daß sie das als Thatsache anerkannte und sich bequemte, damit zu rechnen. Ihre Einleitung klang denn auch demgemäß.

„Sie bestehen also noch immer auf dieser Verlobung, wie es scheint?“ begann sie im Tone eines Richters, der den Angeklagten zum Geständnisse veranlassen will.

„Ja, es scheint in der That so,“ bestätigte der Doktor, indem er ihr verbindlich einen Stuhl hinschob, auf dem sie denn auch Platz nahm.

„So werden wir wohl das Nötige besprechen müssen. Es giebt da noch vielerlei Bedenken.“

„Gar keine Bedenken giebt es, mein verehrtes Fräulein. Ich heirate Selma, und zwar sobald als möglich, das ist die einfachste Sache von der Welt.“

„Wollen Sie vielleicht als Schiffsarzt heiraten?“ fragte Ulrike höhnisch.

„Warum denn nicht? Wenn in der kleinsten Hütte Raum für ein glückliches Paar ist, weshalb nicht auch in einer Schiffskabine? Ich kann mir eigentlich gar nichts Idealeres denken! Es ist eine Hochzeitsreise in Permanenz, um die Wirtschaft brauchen wir uns nicht zu kümmern und können ganz unserem Glücke leben.“

„Was?“ rief die Dame, indem sie entrüstet vom Stuhle aufsprang. „In einer Schiffskabine wollen Sie wohnen und mit Ihrer Frau fortwährend zwischen zwei Weltteilen hin- und herfahren? Wenn das Ihr Ernst ist –“

„Beruhigen Sie sich, es ist nicht mein Ernst“, unterbrach sie Bertram lachend. „Dergleichen möchte ich meiner Frau denn doch nicht zumuten. Ich werde natürlich meinen Abschied nehmen und mir irgendwo in Deutschland eine Praxis gründen. Wir werden uns für den Anfang freilich einrichten müssen, denn ich habe kein Vermögen und bin ganz auf meinen Beruf angewiesen, aber Selma ist eine anspruchslose Natur und wird sich auch in bescheidenen Verhältnissen glücklich fühlen.“

Das Fräulein sah ihn einige Sekunden lang ganz verblüfft an, brach dann aber mit gewohnter Rücksichtslosigkeit los: „Stellen Sie sich doch nicht so an! Sie müssen es ja doch längst wissen, daß Selma Vermögen hat.“

„Nein, das weiß ich nicht,“ erklärte der junge Arzt. „Ich habe bei unserer Verlobung wirklich vergessen, mich danach zu erkundigen, aber ein Hindernis ist das in meinen Augen nicht. Fürchten Sie nichts, die Partie geht deshalb nicht zurück. Ich bin entschlossen, Selma trotzdem zu nehmen.“

„Ich bitte mir aus, daß Sie ernsthaft sind!“ rief Ulrike scharf. „Wir haben von ernsten Dingen zu sprechen und da brauchen Sie nicht so empörend vergnügt auszusehen.“

„Warum denn nicht, ich bin ja Bräutigam!“ sagte der Doktor mit einem so seelenvergnügten Gesicht, daß seine Gegnerin hätte aus der Haut fahren mögen.

„Es handelt sich um die Vermögensangelegenheit,“ betonte sie. „Selma versteht nicht das mindeste von solchen Dingen, also muß ich mich mit Ihnen auseinandersetzen.“

„Gut, setzen wir uns auseinander. Die Sache ist hoffentlich nicht verwickelter Natur.“

Ulrike hatte sich wieder niedergesetzt und sah ihn mit einem vernichtenden Blick an.

„Nein, leider ist sie das nicht, denn mein seliger Bruder hat es natürlich nicht für möglich gehalten, daß seine Witwe sich wieder verheiraten könnte, sonst hätte er Maßregeln dagegen ergriffen.“

„In welcher Weise?“ fragte Bertram mit unzerstörbarer Ruhe. „Unsere Gesetze gestatten unbedenklich die Wiedervermählung.“

„Das weiß ich, das brauchen Sie mir nicht erst zu sagen!“ grollte das Fräulein. „Aber mein Bruder würde in solchem Falle testiert und seine Frau von der Erbschaft ausgeschlossen haben. Jetzt ist er ohne Testament gestorben und das Vermögen fiel zu gleichen Teilen an uns beide. Die Verwaltung habe ich natürlich [151] allein geführt und ich sage es Ihnen ein für allemal, Martinsfelde behalte ich, die Wirtschaft lasse ich mir nicht nehmen.“

„Ganz einverstanden! Ich wüßte wirklich nicht, was ich als Arzt mit Martinsfelde anfangen sollte, und Selma hat gar keine Neigung für die Landwirtschaft.“

„Nein, sie hat in ihrer Zimperlichkeit und Schwächlichkeit nie dafür getaugt,“ sagte Ulrike verächtlich, aber etwas besänftigt durch die Antwort, die so ganz mit ihren Wünschen übereinstimmte.

„Und nun zu meinem Vorschlag! Sie wollen sich eine Praxis gründen – kommen Sie nach Martinsfelde!“

„Ich – nach Martinsfelde?“ wiederholte Bertram, der so erstaunt war, daß er nicht wußte, was er sagen sollte.

„Ja, wir brauchen dringend einen Arzt in der Umgegend. Die nächste Stadt ist zwei Stunden entfernt und der alte Doktor, der dort seinen Sitz hat, kann die Landpraxis nicht mehr bewältigen. Sie könnten in Martinsfelde wohnen –“

„Und alles bliebe beim Alten! Das würde allerdings ein liebevolles Zusammenleben werden, die reine Idylle. Ich bin tief gerührt von Ihrer Anhänglichkeit an meine Braut, die so groß ist, daß Sie sogar mich in Kauf nehmen wollen, und Selma wird gleichfalls gerührt sein, aber wir danken ergebenst.“

„Sie wollen nicht?“ rief das Fräulein und stampfte mit ihrem Sonnenschirm auf den Boden.

„Unter Ihrem Scepter leben? Nein, mein verehrtes Fräulein. Ich ziehe es denn doch vor, das Kommando in meinem Hause selbst zu führen.“

Ulrike sprang auf. Sie sah den letzten Versuch scheitern, die Oberherrschaft über ihre Schwägerin zu behaupten; mit diesem Menschen war nichts anzufangen!

„So sind wir fertig!“ sagte sie kurz. „Die Abrechnung über Seimas Vermögen und meine Verwaltung werden Sie erhalten, aber ich habe unter diesen Umständen keine Lust, hier zu bleiben und die Wirtschaft daheim drunter und drüber gehen zu lassen. Wenn Selma gesund genug ist, sich zu verloben und zu heiraten, so wird sie wohl auch unser Klima aushalten können. Ich bleibe nicht noch monatelang in diesem elenden Wüstenlande.“

„Dazu liegt auch gar keine Veranlassung vor,“ versicherte der Doktor mit dem liebenswürdigsten Lächeln, „denn wir reisen mit dem nächsten Dampfer ab.“

Fräulein Ulrike, die schon im Begriff war, zu gehen, blieb plötzlich wie an den Boden gewurzelt stehen.

Wer reist ab?“

„Meine Braut und ich. Selma ist allerdings so gut wie genesen, ich halte es aber für unbedingt notwendig, daß sie den ganzen Winter in Aegypten bleibt, damit ihre Gesundheit sich vollständig befestigt. Ich geleite sie nach Kairo zu meinem Kollegen Walter, dessen liebenswürdige Frau sich erboten hat, meine Braut in ihr Haus zu nehmen, bis zum Frühjahr, wo ich sie abhole, und dann heiraten wir ohne Zögern.“

Es war ein bitterer Augenblick für die bisher so unumschränkt regierende Dame, als ihr auf diese Weise ihre vollständige Ueberflüssigkeit klargemacht wurde. Sie hatte geglaubt, einen letzten, entscheidenden Trumpf auszuspielen, als sie mit ihrer Abreise drohte, und mußte es nun erleben, daß man von ihrem Bleiben oder Gehen überhaupt gar keine Notiz nahm.

„Nach Kairo? Zum Doktor Walter?“ wiederholte sie. „Woher wissen sie denn, ob er und seine Frau einverstanden sind? Ihr Brief kann ja noch nicht einmal abgegangen sein.“

„Das ist auch nicht nötig,“ war die ruhige Antwort. „Ich schicke nur ein Telegramm voraus, mit der Nachricht unserer Ankunft. Alles übrige wurde schon vorher abgemacht.“

„Vorher – was soll das heißen? Vielleicht ehe Sie –“

„Ehe ich nach Luksor kam – ganz recht! Ich kam ja mit der ausgesprochenen Absicht, Selmas Hand zu erringen, und glaubte auf Gegenliebe hoffen zu dürfen. Da habe ich beizeiten vorgesorgt.“

Ulrike rang nach Atem. Das war zu viel. „Das ist ja unerhört!“ brach sie los. „Das ist – Sie sind ja ein – ein –“

„O bitte, machen Sie mir keine Komplimente, ich verdiene sie wirklich nicht,“ lehnte der Doktor bescheiden ab. „Sie sehen, es liegt gar kein Grund vor, daß Sie sich noch länger Ihrem Martinsfelde entziehen, reisen Sie in Gottes Namen. Und nun gestatten Sie wohl, daß ich meine Braut aufsuche und ihr mitteile, daß wir alles freundschaftlich geordnet haben.“

Damit verneigte er sich und ging, während Fräulein Ulrike Mallner wie erstarrt stehen blieb.

Als der junge Arzt seine Braut antraf, fand er sie im Gespräch mit Herrn Ellrich und Ehrwald, der sich zu ihnen gesellt hatte. Der letztere gab sich offenbar Mühe, heiter zu erscheinen, aber auf seiner Stirn ruhte eine Wolke und sein Uebermut hatte heute etwas Erzwungenes. Selma dagegen blickte ihrem Bräutigam mit einer gewissen Unruhe entgegen.

„Hast Du mit Ulrike gesprochen?“ fragte sie schüchtern. Der Doktor lächelte und zog ihren Arm in den seinigen.

„Jawohl. Denken Sie sich, meine Herren, Fräulein Mallner machte mir die liebenswürdige Zumutung, mit meiner Frau künftig in Martinsfelde zu wohnen und uns dort gemeinschaftlich mit ihr des Daseins zu erfreuen. Was sagen Sie dazu?“

„Gott bewahre Sie in Gnaden davor!“ rief Herr Ellrich, mit einem solchen Ausdruck des Entsetzens, daß die beiden anderen Herren in lautes Lachen ausbrachen.

„Ich habe gerührt und dankend abgelehnt,“ fuhr Bertram fort, „und dabei zugleich von unserer bevorstehenden Abreise Mitteilung gemacht. Es bleibt also dabei, wir gehen in drei Tagen nach Kairo. Aber wo bleibt der Dampfer, ist er noch nicht in Sicht?“

„Nein, noch immer nicht,“ sagte Reinhart ungeduldig. „Er hätte schon in den Morgenstunden hier sein müssen und gerade heute, wo er unsere Leute bringen soll, verspätet er sich – Verzögerungen bis zum letzten Augenblick!“

„Können Sie es denn gar nicht erwarten, der schnöden Kultur den Rücken zu kehren und sich da draußen in der Wildnis mit Löwen und Tigern herumzuschlagen?“ fragte der Doktor lachend. „Wir haben gar nichts dagegen, wieder in die Kultur zurückzukehren, nicht wahr, Selma?“

In diesem Augenblick erschien eine alte Negerin, die jemand zu suchen schien. Sie hatte Ehrwald kaum erblickt, als sie sich ihm in unterwürfiger Haltung näherte; er sah sie etwas überrascht an.

„Was willst Du, Fatme?“ fragte er auf arabisch.

Fatme antwortete in derselben Sprache und zog einen Brief aus ihrem Gewande hervor, den sie dem jungen Manne übergab. Er trat rasch mit ihr seitwärts, öffnete das Schreiben und durchflog es. Die Antwort darauf schien mündlich erteilt zu werden, denn nach einem kurzen leisen Gespräche verabschiedete sich Fatme mit dem üblichen orientalischen Gruße und Reinhart kehrte zu den anderen zurück.

„Was sind denn das für geheimnisvolle Botschaften?“ neckte der Doktor. „Ehrwald, Ehrwald! Ich fürchte wirklich, mein Beispiel wirkt ansteckend.“

Reinhart lachte, aber es lag eine gewisse Gereiztheit in seinem Tone, als er antwortete: „Warum nicht gar! Dazu wäre auch gerade jetzt Zeit, da wir morgen aufbrechen. Es war eine Nachricht für Herrn Sonneck, ich habe einstweilen in seinem Namen die Antwort gegeben.“

„Da kommt der Dampfer!“ sagte Ellrich und richtete sein Fernglas auf das Schiff, das jetzt in der That sichtbar wurde.

„Endlich!“ rief Reinhart, „und da kommt auch Herr Sonneck!“

Er eilte nach der Terrasse, zu Sonneck, der eben aus dem Osmarschen Hause zurückgekommen war. Wenige Worte genügten zur Verständigung und die beiden Herren schritten nach dem Nil hinunter, um das Schiff zu erwarten, das langsam und ruhig heranzog.




Es war Abend geworden und das Leben und Treiben, mit dem die fremden Gäste aus allen Weltgegenden Luksor zu erfüllen pflegen, war allmählich verstummt. Die Hotels lagen still da, mit geschlossenen Thoren, und auch in der nahen Araberstadt regte sich nichts mehr zu dieser späten Stunde. Durch den schlummernden Ort schritt eine hohe dunkle Gestalt, mit raschem festen Tritt, und schlug den Weg nach den Tempelruinen von Luksor ein, die kaum eine Viertelstunde entfernt lagen. Jetzt trat sie aus dem Schatten einer Mauer hervor in das helle Mondlicht und man sah die Züge Reinhart Ehrwalds.

An dem hohen Uferrande des Nil blieb er wie unwillkürlich stehen, gefesselt von dem Anblick, der sich ihm bot. Der Abend war schon weit vorgerückt, jetzt nahte auf leisen Schwingen die [152] Nacht, eine Vollmondnacht, voll Licht und Glanz. Ringsum war es taghell, die Palmen, die sich hier am Ufer erhoben, wurden voll getroffen von dem weißen Lichte, jedes Blatt der mächtigen Kronen hob sich deutlich ab. Es war dieselbe Stelle, wo Reinhart damals in jener glühenden Mittagsstunde das geheimnisvolle Luftgebild geschaut hatte, wo die alte Wüstensage vor seinen Augen lebendig geworden war. Damals lag die weite Landschaft vor ihm sonnentrunken, im heißen blendenden Tageslicht, jetzt ruhte sie halb verschleiert im bleichen Scheine des Nachtgestirns, wobei alle Formen und Farben sich zu lösen und zu zerfließen schienen. Der Nil war nur eine leise wogende und wallende Silberflut, die gelben kahlen Höhen dort drüben gewannen einen seltsamen, beinahe rosigen Schimmer und über die Wüste, wo damals die Fata Morgana erschienen war, spannen die Mondstrahlen einen silberduftigen Nebel, der die ganze Ferne erfüllte mit einer bläulich schimmernden Lichtflut.

Reinharts Auge hing unverwandt an jenem Punkte. Morgen! Da sollte sich ja endlich der Schleier heben, da sollte die Ferne sich vor ihm öffnen, mit ihren Wundern und ihrem Drohen, die Märchenwelt aus „Tausend und eine Nacht“. Und doch zog in diesem Augenblick durch die Seele des jungen Mannes wie ein Traum die Erinnerung an die ferne nordische Heimat, die jetzt in Eis und Schnee vergraben lag, wo die Glockenklänge durch Berg und Thal zogen und aus dem dunklen tiefverschneiten Walde der Weihnachtszauber auftauchte. Sie gehörten wohl auch in diese Erinnerung, die leuchtenden blauen Kinderaugen, die damals so verwundert und entzückt auf das ferne Wüstenbild geschaut hatten, denn Reinhart sah sie jetzt so deutlich vor sich, als sei das Kind wirklich an seiner Seite.

Auf einmal aber fuhr er auf und besann sich. Welche Thorheit, hier die Zeit zu verträumen, er wurde ja erwartet und sollte einem Rufe folgen, der an ihn ergangen war! Noch einen Blick warf er auf die mondbeglänzte Landschaft, dann wandte er sich ab und schritt rasch weiter.

Auch die Ruinen des Tempels lagen in tiefster Einsamkeit und der Schritt des Wanderers war kaum hörbar auf dem weichen Sande des Bodens. Er war ja nicht zum erstenmal hier, er kannte den Ort und hatte ihn in den letzten Wochen oft betreten, im hellen Sonnenschein, in Gesellschaft Sonnecks und des Professors Leutold. Aber der stürmische Ehrwald mit seinem glühenden Lebensdrang hatte kein rechtes Verständnis gehabt für die tote Pracht einer längst vergangenen Zeit, sie war ihm fremd geblieben.

Reinhart betrat jetzt den weiten Vorhof, der ganz erfüllt war vom Mondenglanz, und sein Blick flog suchend umher. Noch zeigte sich niemand, er war allein und schritt nun langsam weiter nach der anderen Seite, wo er sich in dem Schatten einer Säule barg und zugleich den Eingang des Tempels im Auge behielt. Eine Minute nach der anderen verrann, es wurde eine Viertelstunde daraus und der Fuß des jungen Mannes schlug leise und ungeduldig auf den Boden, aber diese Ungeduld hatte nichts von der sehnenden, hoffenden Erwartung eines Liebenden. Die Wolke von heute morgen ruhte noch immer auf seiner Stirn und es sah nicht aus, als ob er freudig jenem Rufe gefolgt sei.

Da endlich wurde zwischen den Säulen des Einganges eine Frauengestalt sichtbar, sie war ganz eingehüllt in einen orientalischen Burnus von weißem Kaschmir und hatte die Kapuze tief über den Kopf gezogen. Mit flüchtigen Schritten kam sie näher, Reinhart eilte ihr entgegen und in der nächsten Minute schmiegte sich die zarte bebende Gestalt an ihn, als wollte sie Schutz bei ihm suchen.

„Zenaide, was haben Sie gewagt!“ sagte er leise.

Zenaide mochte wohl einen anderen Empfang erwartet haben, betroffen, fast bestürzt blickte sie zu ihm auf. Das klang ja wie ein Vorwurf!

„Hat man uns denn eine Wahl gelassen?“ fragte sie, noch atemlos vom raschen Gange. „Ich habe Sonneck gebeten, angefleht, uns dies Wiedersehen unter seinem Schutze zu gewähren! Er verweigerte es mir, er wollte nicht einmal die Botschaft an Sie übernehmen und ich wußte doch, daß Sie darauf warteten und harrten –“

„Nein,“ unterbrach sie Reinhart düster. „Ich habe nichts mehr erwartet nach dem, was gestern abend geschehen ist.“

„Nichts mehr? So wären Sie gegangen, ohne mir Lebewohl zu sagen, ohne mich auch nur zu sehen? Reinhart, das ist unmöglich!“

„Rechten Sie mit denen, die es mir unmöglich gemacht haben,“ sagte er herb. „Oder glaubten Sie, ich würde das Haus wieder betreten, aus dem man mich so fortgewiesen?“

„Nein, nein, das mutete ich Ihnen nicht zu!“ fiel sie heftig ein, „aber ich hoffte, durch Sonneck Nachricht zu erhalten. Er hatte keinen Auftrag, nicht ein Wort brachte er mir von Ihnen. Ich harrte vergebens bis zum Mittag, da griff ich zum letzten Mittel und sandte Ihnen Fatme mit dem Briefe. Ich wußte es, Sie würden dem Rufe folgen.“

„Ihrem Rufe – gewiß! Aber Sie hätten nicht diesen Ort und diese Stunde wählen sollen. Wir sind hier nicht sicher vor Überraschungen. Wie oft werden die Ruinen im Mondschein von Fremden aufgesucht. Wenn Sie gesehen würden!“

„Daran habe ich nicht gedacht, als ich hierher kam,“ sagte Zenaide mit einem Vorwurf, den sie nicht zu unterdrücken vermochte, aber Reinhart schien ihn nicht verstehen zu wollen, denn er entgegnete ernst: „So muß ich es thun – um Ihretwillen! Hier können wir nicht bleiben, es ist taghell und jeder zufällig Eintretende erblickt Sie sofort. Kommen Sie, Zenaide!“

Er führte sie nach dem Säulengange, der im tiefen Schatten lag, Zenaide folgte, aber es legte sich wie ein Eiseshauch auf ihre heißen Empfindungen. Sie hatte so viel gewagt, hatte in Todesangst geharrt auf den Augenblick, wo es ihr möglich wurde, unbemerkt das Haus zu verlassen. Wie gejagt war sie hierher geeilt, in der Erwartung, der Geliebte werde ihr entgegenstürzen, sie stürmisch an seine Brust schließen und ihr überschwenglich danken für diesen Beweis ihrer Liebe, und nun? Er hatte wohl den Arm um sie gelegt, aber nur, um sie zu schützen, und war nur ängstlich bestrebt, sie vor unberufenen Augen zu verbergen, ein Wort der Zärtlichkeit hatte er nicht für sie!

Seltsam, Zenaide empfand diese Sorge für ihren Ruf, diese Rücksicht des Mannes, der sonst keine Rücksichten kannte, fast als eine Beleidigung. Wie konnte er in diesem Augenblick überhaupt an etwas anderes denken als an das Wiedersehen! Sie fragte nichts nach der ganzen Welt, was brauchte er danach zu fragen!

Und er bediente sich noch immer des fremden kalten „Sie“ und zwang sie damit zu der gleichen Anrede. Sie hatte ja doch gestern, in jenem seligen Augenblick, wo sie in seinen Armen ruhte, das erste Du aus seinem Munde gehört.

Keines von den beiden sprach, während er sie tiefer hineinführte in die Ruinen, und je weiter sie schritten, desto weiter schien die Welt da draußen zurückzuweichen und zu versinken und eine andere Welt voll von Wundern und Geheimnissen that sich vor ihnen auf. Wohl herrschte Oede und Verfall in diesen Hallen, Säulengängen und Tempelgemächern, die sich endlos ausdehnten. Halbversunkene Mauern, zerstörte Altäre, umgestürzte Säulen gaben Zeugnis davon, daß auch dieser Bau nicht für die Ewigkeit geschaffen war, aber was der helle Sonnenschein dem Auge unbarmherzig enthüllte, das verschleierte und verklärte das Mondlicht. In seinem Scheine ragten all diese Hallen und Säulen so mächtig auf, wuchsen so riesengroß empor, als hätten nicht Menschen-, sondern Geisterhände sie gefügt. Jahrtausende waren vorübergezogen und sie standen noch immer da und ragten hinein in die Gegenwart als ein übermächtiges Denkmal der Vergangenheit.

In dem zweiten Vorhofe des Tempels blieb Reinhart stehen, hier waren sie weit genug vom Eingange entfernt und keine Ueberraschung war zu fürchten. Ringsum strebte ein Wald von Säulen empor und dazwischen erhoben sich Riesengestalten von Stein, uralte Götterbilder und die Statuen von Königen, die einst hier gelebt und geherrscht hatten. Sie alle waren überflutet von dem weißen Lichte, das diese ganze Tempelwelt erfüllte. Es lag blendend hell auf dem Boden, es stahl sich in das tiefste Dunkel der Gänge und trieb dort zwischen den Säulen sein phantastisches Spiel, es floß nieder an den Wänden, deren Bilder und Hieroglyphen noch deutlich erkennbar waren. Und das Dach dieser weiten Halle war das weite Himmelsgewölbe, mit seinen mattfunkelnden Sternbildern.

Ringsum herrschte das tiefe Schweigen der Einsamkeit. Das Ohr fing keinen Laut auf, und doch regte sich überall geheimnisvolles Weben und in dem bleichen Lichte schienen die Steinbilder Leben zu gewinnen. Es war, als regten sie sich, als löste die

[153]

Erinnerungen.
Nach dem Gemälde von W. Hannemann.

[154] Vollmondnacht den tausendjährigen Bann, der sie gefangen hielt, als wollte all diese tote Größe und Herrlichkeit noch einmal zum Leben erwachen.

Reinhart brach zuerst das Schweigen, er mochte es doch wohl fühlen, wie erkältend auf Zenaide sein Empfang gewirkt haben mußte, denn in seiner Stimme lag etwas wie Abbitte, als er sagte: „Ich danke Ihnen, Zenaide, daß Sie mir dies Lebewohl ermöglichten. Ich konnte und durfte es nicht erzwingen, nach der Art, wie meine Werbung aufgenommen wurde, das sehen Sie doch ein?“

Zenaide sah das allerdings nicht ein, aber es bedurfte nur dieses weichen bittenden Tones, um sie zu entwaffnen. Ihr Vater hatte recht, sie war gänzlich im Bann dieses Mannes; sobald er ihr nur Liebe zeigte, flog ihre ganze Seele ihm wieder zu.

„Sie sind tödlich gekränkt!“ sagte sie leise. „Ich begreife es nur zu sehr und kann Ihnen ja nur sagen, daß es mich ebenso schwer getroffen hat, daß ich es im tiefsten Innern mitempfinde. Deshalb kam ich her und nun –?“ sie vollendete nicht, aber ihr Auge suchte mit banger Frage das seinige.

„Nun müssen wir uns Lebewohl sagen!“ ergänzte er mit schwerer Betonung.

„Heute schon, Reinhart? Ich dachte, erst morgen.“

„Morgen? Das ist unmöglich! Unsere Leute sind endlich heute mittag eingetroffen und nun dürfen wir keinen Tag mehr verlieren. Wir wollen bei Tagesanbruch fort, da kann ich mich auch nicht eine Minute frei machen, und ein Aufbruch wie der unsrige, mit einer ganzen Karawane, vollzieht sich überhaupt nicht unbemerkt. Die sämtlichen Gäste des Hotels werden da sein, um uns ihre Abschiedsgrüße und Wünsche für die Expedition mitzugeben, ganz Luksor wird zusammenströmen, so etwas ist ja ein Ereignis für den Ort.“

Zenaide warf die Kapuze ihres weiten Burnus zurück, die bisher ihr Haupt verhüllte. Der Mond beleuchtete voll ihr Antlitz, es war bleicher als sonst, aber es trug den Ansdruck einer beinahe triumphierenden Entschlossenheit.

„Ich weiß es und ich will Sie auch nicht allein sprechen, Reinhart. Mein Vater glaubt, daß dieser Aufbruch unsere Trennung besiegeln werde, und gerade er soll uns vereinigen!“

Ehrwald sah sie betroffen und fragend an.

„Ich verstehe Sie nicht. Was wollen Sie thun, Zenaide?“

„Alles, alles will ich thun um Deinetwillen!“ brach sie leidenschaftlich aus. „Kein Machtwort meines Vaters soll mich von Dir reißen, Du wirst mich Deiner würdig finden! Morgen früh werde auch ich da sein und Abschied von Dir nehmen, aber offen, vor aller Welt! Man wird erfahren, daß wir uns verlobt haben, und Du wirst vor all den Zeugen Deine Braut zum Lebewohl in die Arme schließen. Dann gehe ich zu meinem Vater und sage ihn, was geschehen ist, und dann kann er uns nicht mehr trennen!“

Sie sprach mit glühendem, stürmischem Triumph, so erfüllt und hingerissen von ihrem kühnen Plane, daß sie Reinharts Schweigen gar nicht einmal bemerkte. Das glückliche, siegesgewisse Lächeln lag noch auf ihren Lippen, als sie leiser, aber mit vollster Innigkeit fortfuhr:

„Du siehst, wir brauchen uns hier nicht so ängstlich zu bergen vor fremden Augen. Wenn wir überrascht werden, nun, dann erfährt man schon heute, was morgen jeder wissen wird, und einem Brautpaar wird man wohl auch das Recht eines einsamen Spazierganges am letzten Abende vor der Trennung zugestehen.“

Reinhart schwieg noch immer, er hatte keine einzige Silbe erwidert, und jetzt fragte er langsam:

„Und Herr von Osmar?“

„Mein Vater wird einwilligen, er muß es; wenn ich diesen Schritt thue, dann bleibt ihm keine Wahl mehr.“

„O ja, er wird einwilligen!“ sagte Ehrwald mit schneidender Bitterkeit, „und dabei aus tiefster Seele den Glücksritter verwünschen und verachten, der klug genug war, sich noch im letzten Augenblick seine ‚Beute‘ zu sichern. Soll ich mir das vielleicht zum zweitenmal sagen lassen?“

„Reinhart!“

„Nein, beim Himmel, das thue ich nicht! Es war genug und übergenug an dem einen Mal!“

Er wandte sich ungestüm ab, Zenaide stand völlig fassungslos da. Sie hatte nicht einen Augenblick daran gezweifelt, daß er ihren Plan, der ja unfehlbar zum Ziele führen mußte, mit leidenschaftlichem Entzücken begrüßen würde, und nun nahm er ihn so auf! Die Eiseshand legte sich wieder kalt auf ihr heiß klopfendes Herz.

„Hast Du denn nur Sinn für die Beleidigung?“ fragte sie mit bebender Stimme. „Gilt Dir unsere Liebe nichts dagegen? Ich gebe Dir ja alles, alles! Mein ganzes künftiges Leben lege ich in Deine Hand – ist Dir das nicht genug?“

Reinhart wandte sich um, er sah das Weh in dem schönen Antlitz, sah die heiß aufquellenden Thränen in den dunklen Augen, und in aufflammender Reue ergriff er die Hände des jungen Mädchens und preßte seine Lippen darauf.

„Vergieb! Ich bin undankbar und verdiene Deine Liebe nicht. Ich fühle die ganze Größe des Opfers, das Du mir bringen willst, aber ich kann es nicht annehmen!“

Zenaide zuckte zusammen, wortlos, aber in tödlichem Schrecken blickte sie ihn an, während er fortfuhr:

„Ich sollte gehen und Dich allein lassen in einem Kampfe, wo ich Dir nicht zur Seite stehen kann? Ich soll es geschehen lassen, daß Dir täglich wieder der schmachvolle Verdacht zugeflüstert wird, während ich fern bin? Und wenn ich zurückkehre – ich kann mir da draußen auf unserem Zuge einen Namen und eine Lebensstellung erringen, aber Reichtümer und ein Adelswappen sind da nicht zu erobern, und das fordert Dein Vater ja doch nun einmal von dem, der um seine Tochter wirbt. Ich habe das nicht in die Wagschale zu legen, ich bleibe ihm nach wie vor der Abenteurer, der nur die Erbin erbeuten will, erst recht, wenn er von uns zur Einwilligung gezwungen wird.“

„Immer diese unseligen Worte!“ rief Zenaide verzweiflungsvoll. „Kannst Du sie denn gar nicht vergessen?“

„Nein!“ war die finstere Antwort.

„Aber um meinetwillen! Mein Vater glaubt ja selbst nicht daran, er sprach es ja nur aus, um uns zu trennen. Reinhart – um meinetwillen!“

„Nein, Zenaide, ich kann nicht!“

„Dann liebst Du mich nicht!“ brach sie mit vollster Heftigkeit aus. „Dann hast Du mich nie geliebt!“

„Soll ich um meiner Liebe willen Erniedrigung dulden?“ fragte er herb. „Könnte ich Dich losreißen von allem, was Dich jetzt umgiebt, und Dich mit mir nehmen, ich würde die Probe auf Deine Liebe wagen! Du weißt ja, daß das unmöglich ist, und das Haus Deines Vaters betrete ich nie wieder, auch in Jahren nicht. Ich,“ er richtete sich hoch empor und in seinen Augen sprühte es wild auf, „ich hasse ihn nun einmal bis aufs Blut, denn er hat mir einen Schimpf angethan, den ich nicht rächen kann! Er ist Dein Vater, ihn klage an, nicht mich, er hat mit jenen Worten unserer Liebe das Urteil gesprochen!“

Zenaide war unwillkürlich zurückgewichen vor diesem Ausbruch eines maßlosen Hasses, der ihrem Vater galt, dem Manne, der bisher doch nur Zärtlichkeit, ja Vergötterung für sein einziges Kind gehabt hatte. Sie sah es deutlich, die Liebe war machtlos dagegen, aber sie fühlte auch, daß die wahre Liebe anders gesprochen hätte.

Es war eine Stunde, wo zwei Menschenschicksale sich trennen sollten für immer, und sie war doch so märchenhaft schön, als könnte sie nur Segen und Glück bringen. Der Mond stand jetzt hoch am Himmel und seine Lichtflut ergoß sich bis in die fernsten Räume. Ein breiter leuchtender Streif fiel in den dunklen Säulengang und die steinernen Riesengestalten waren wie gebadet in den Strahlen. Sie blickten starr und düster nieder auf die beiden Menschenkinder, die ihr Glück und Leid hineintrugen in die alte tausendjährige Opferstätte, wo das Leben längst verstummt war, und doch regte sich jetzt wieder jenes geheimnisvolle Weben. Es war wohl nur ein Windhauch, der von der Wüste oder vom Nil herüberkam und sich hier verlor, aber es zog wie ein Raunen und Flüstern durch die Tempelhallen. Vielleicht ein Nachhall jenes Liedes, das so alt ist wie die Menschheit selbst: es ward schon damals vernommen, als man sich noch vor den Götterbildern niederwarf und sich dem Scepter der Pharaonen beugte, und heute erklang es den Kindern der Gegenwart – das Lied vom Scheiden und Meiden!

Es war eine lange, schwere Pause eingetreten, Zenaide lehnte am Fuße der Ramsesstatue, sie war totenbleich und wandte jetzt [155] langsam das Antlitz dem jungen Manne zu, der finster vor sich niederblickte.

„Also – Du giebst mich auf?“ fragte sie leise.

„Ich nicht, Zenaide,“ entgegnete er dumpf. „Aber frage Dich selbst, ob irgend ein Verhältnis zwischen mir und Deinem Vater möglich ist.“

„Mein Vater?“ wiederholte sie mit aufquellender Bitterkeit. „Nun ja, er ist trennend zwischen uns getreten, aber ich habe dennoch den Weg zu Dir gefunden und ich zeigte Dir auch den Weg, der uns trotz alledem vereinigt hätte – Du aber willst ihn nicht gehen!“

„Du thust mir unrecht,“ fiel Reinhart heftig ein. „Ich wiederhole es Dir, ich darf Dein Opfer nicht annehmen, um Deinetwillen nicht.“

„Wenn Du mich liebtest, würdest Du es ebenso freudig annehmen, wie ich es Dir biete, da giebt es kein Abwägen und kein Bedenken. Ich war bereit, alles zu wagen, mich an Deine Brust zu werfen und offen vor aller Wett zu bekennen, daß ich Dir allein angehören will, Du bist es, der das zurückweist – also müssen wir wohl scheiden!“

Ehrwald stand wie im inneren Kampfe da. Es wurde ihm ja nicht leicht, das holde Wesen aufzugeben, das ihm eine so grenzenlose Hingebung zeigte. Noch einmal stand er am Scheidewege. Ein heißes Liebeswort aus vollem Herzen, ein Ausbreiten der Arme und das Mädchen war trotz alledem sein, die Augen, die so angstvoll, so flehend die seinigen suchten, schienen dies Wort von ihm zu fordern – aber es wurde nicht ausgesprochen, der Groll war stärker als die Liebe.

„Ja, wir müssen,“ sagte er endlich düster. „Das Schicksal trennt uns unerbittlich für immer.“

Zenaide richtete sich empor, noch zuckte das Weh um ihre Lippen, aber ihr tief verletzter Stolz bäumte sich jetzt auch empor, als der Mann, der sonst alles erstürmte und erzwang, sich so ruhig einem „Schicksal“ beugte, dem sie zu trotzen bereit war.

„So leb’ wohl!“ sagte sie tonlos.

Reinhart zog sie noch einmal in seine Arme und drückte seine Lippen auf ihre Stirn.

„Leb’ wohl, Zenaide! Vergiß, daß ich in Dein Leben getreten bin und Dir Schmerz gebracht habe – ich werde Dich nie vergessen!“

Sie antwortete nicht, sondern machte sich los aus seinen Armen und wandte sich zum Gehen. Vielleicht hoffte sie, er werde ihr nachstürzen, sie zurückhalten, aber er verharrte unbeweglich an seinem Platze und blickte ihr nach. Er sah, wie die weiße Gestalt über den Tempelhof schritt, wie sie in den breiten Mondesstreif trat, der den Säulengang erhellte, und zuletzt im Schatten dieser Säulen verschwand.

War es wirklich sein Glück, das ihm da entschwand? Hatte er es von sich gestoßen?

Reinhart war allein mit den starren Riesenbildern und wieder erhob sich jenes Raunen und Flüstern, das wie aus Geistermunde zu kommen schien, aber eine Antwort auf jene Frage gab es nicht! – –




Der Tag war soeben angebrochen, und an dem Ufer von Luksor war die ganze Bevölkerung des Ortes und der größte Teil der hier weilenden Fremden trotz der frühen Stunde versammelt. Es galt einen Anblick, den man nicht oft hatte, den Aufbruch eines Entdeckungszuges in das Innere von Afrika unter einem der berühmtesten Führer. Es war in der That eine ganze Karawane; einen Teil der Leute hatte man erst hier angeworben, die andern waren gestern aus Kairo gekommen, und was noch fehlte, das sollte an Ort und Stelle ergänzt werden, sobald man erst die bekannten Gegenden hinter sich ließ und in das eigentliche Innere eindrang.

Sonneck hatte beschlossen, den Weg, der noch einige Tagereisen nilaufwärts ging, zu Lande zu machen. Die Leute und die Reit- und Lasttiere, welche man mitnahm, waren schon über den Strom gesetzt und eben stieß das Boot ab, in dem sich der Führer mit seinem jungen Gefährten befand. Es war schon völlig hell, aber noch lag die Landschaft grau und farblos da, nur im Osten kündete ein roter Schein, der immer größer und dunkler wurde, den nahenden Sonnenaufgang.

Während Sonneck freundlich die Grüße erwiderte, die man vom Ufer aus den Scheidenden nachwinkte, stand Ehrwald aufrecht im Boote, den Blick gleichfalls nach dem Ufer zurückgewandt, aber sein Auge hing an dem weißen palastähnlichen Hause, das sich dort aus den Palmen erhob und in welchem noch alles in tiefem Schlafe zu liegen schien.

„Nun, Reinhart, willst Du nicht noch einmal grüßen?“ fragte Sonneck. „Professor Leutold und Doktor Bertram winken uns ja fortwährend.“

Reinhart schreckte wie aus einem Traume auf, rasch zog er sein Tuch hervor und erwiderte die Grüße, aber dann kehrten seine Augen wieder zu jenem Punkte zurück und glitten von da zu den Tempelruinen hinüber, die jetzt, wo das Boot die Mitte des Stromes erreichte, sichtbar wurden. Auch sie lagen öde und grau da in dem fahlen Morgenlichte, so ganz anders als in dem träumerischen verklärenden Mondesglanz, der sie gestern abend erfüllte.

Sonneck mochte wohl ahnen, was den jungen Mann so ernst und schweigsam machte bei diesem doch so lang und heiß ersehnten Aufbruch, obwohl ihm Reinhart nichts von der letzten Zusammenkunft mitgeteilt hatte. Aber er berührte die Sache mit keinem Worte. Sie war zu Ende, mußte zu Ende sein, wozu sie wieder berühren?

Das Morgenrot leuchtete hell und heller auf, schon stand der ganze Osten im Purpurscheine und in seinem Abglanz gewann auch die Landschaft Licht und Farbe, es floß wie ein Hauch von Glut und Leben darüber hin.

Jetzt landete das Boot und die beiden Herren sprangen an das Ufer, von dem lauten Zuruf ihrer Leute begrüßt. Es war ein malerisches, bewegtes Bild, all diese schwarzen und braunen Gestalten der Eingeborenen, meist prächtige Erscheinungen, in allen möglichen Trachten, die sich um den Führer drängten. Ein riesiger Neger hielt zwei Pferde am Zügel, die für die beiden Europäer bestimmt waren, kraftvolle, feurige Tiere, ein Geschenk des Herrn von Osmar an seinen Freund. Sonneck stand wie ein Feldherr inmitten seiner Truppe, befehlend und ordnend, Reinhart war bald hier bald dort. Es kostete immerhin einige Mühe, Ordnung in dem Gewühl zu schaffen.

Endlich war alles bereit, der Führer setzte sich an die Spitze des Zuges und nun schwang sich auch sein junger Begleiter in den Sattel und ritt an seine Seite.

Der ganze Himmel loderte jetzt in blutroter Pracht, die Sonne sandte ihren Flammengruß voran und die Erde empfing ihn in leuchtenden Morgengluten. Die Höhenzüge am Ufer des Nils standen im roten Feuerschein, während die Wogen des alten heiligen Stromes sich purpurn färbten, und wie auf flammendem Hintergrunde erhob sich drüben der Tempel mit seinen Säulen und seinen Riesenbildern. Dort über der fernen Wüste schoß es jetzt empor wie feurige Lohe und mitten darin zuckte ein Blitz auf – der erste Sonnenstrahl – dann stieg es langsam auf und schwebte immer höher, das leuchtende Gestirn, das die Alten als einen Gott verehrten.

„Nun, Reinhart, bist Du jetzt endlich zufrieden?“ fragte Sonneck, sich zu seinem jungen Gefährten wendend. „Jetzt sind wir auf dem Wege, nun geht es hinein in die ersehnte Ferne.“

Reinhart hatte sich hoch im Sattel aufgerichtet, kein Blick flog mehr zurück nach den Stätten, die man soeben verlassen hatte, er schaute nur vorwärts und sein ganzes Wesen schien wieder aufzuflammen in stürmischer Lebensfreude, in glühendem Freiheitsdurst, als er rief:

„Ja, es geht vorwärts – der Sonne entgegen! Schelten Sie nicht, Herr Sonneck, aber ich kann jetzt nicht im Schritt reiten, nur auf eine Viertelstunde lassen Sie mich voranjagen, ich muß hinaus!“

Sonneck schüttelte lächelnd das Haupt.

„Nun, so reite, Du Ungestüm! Wirst endlich auch wohl müde werden. Jage voran, wir holen Dich schon noch ein.“

Mit einem Jubelruf ließ Reinhart seinem Roß die Zügel und es stob dahin wie vom Winde getragen. Der Sand wirbelte auf unter seinen Hufen und der Reiter jagte hinein in den flammenden, leuchtenden Morgen, hinein in das Wunderreich der Fata Morgana!

(Fortsetzung folgt.)




[156]

Friedrich Hessing.

Von Prof. Dr. Th. v. Jürgensen.

Wenigen Menschen ist es vergönnt, Eigenartiges zu schaffen, noch kleiner ist die Zahl derer, welche dazu nicht viel mehr als sich selbst gebrauchen. Die sehen mit ihren Augen, die denken mit ihrem Hirn, die schaffen mit ihren Händen anders, als es bisher geschah. Zu ihnen gehört Friedrich Hessing, der Meister der mechanischen Heilkunst. Als den erkennen ihn, den nicht als Arzt Ausgebildeten, die hervorragendsten Chirurgen unserer Zeit an, als den verehren ihn die vielen, denen er geholfen hat.

Ein Leben voll Mühe und Arbeit, aber auch voll großer Erfolge liegt hinter Hessing.

Als neunter Sohn armer Leute in dem nahe bei Rothenburg ob der Tauber gelegenen Schönbronn geboren, fand er im benachbarten Schillingsfürst in der Gärtnerei des Fürsten Hohenlohe, des jetzigen Reichskanzlers, seine erste Beschäftigung. Der Fürst merkte, daß in dem Jungen etwas Besonderes stecke, er ermöglichte es ihm, die Schreinerei zu erlernen, dann wurde Hessing noch Schmied, endlich Orgelbauer. Aber so viel er auch lernte, immer kehrte das ganz bestimmte Bewußtsein bei ihm wieder, daß sein innerer Beruf ihn auf das Gebiet der mechanischen Heilkunst verweise. Darüber erzählt er selbst:

„Wenn ich als Knabe von zehn Jahren jemand mit einem krummen Bein oder auf Krücken gestützt einhergehen sah, drängte sich mir wieder und wieder die Frage auf, sollte es denn nicht möglich sein, das Bein gerade, die Krücken entbehrlich zu machen? Daß ich dazu Kenntnis der Form des menschlichen Körpers nötig hätte, war mir gleich klar. Allein wie sollte ich die erwerben? In der Dorfschule, die ich besuchte, gab es keine Zeichenvorlagen, keine Anweisung zum Zeichnen – mir Zeichenunterricht zu verschaffen, dazu fehlte mir das Geld. Das einzige, was mir zu Gebote stand, waren alte Gebetbücher, in denen viele Anfangsbuchstaben mit hübschen Figuren und allerlei anderen Zeichnungen ausgeschmückt waren. Diese ahmte ich nach und erlangte so die erste Kenntnis von menschlichen Formen. – Nun ging ich daran, mir die Art und Weise anschaulich zu machen, wie die Bewegungen in den Gelenken zu stande kommen. Mein eigner Körper mußte dabei als Modell dienen. Tage-, wochen-, monatelang nahm ich ein Gelenk vor und grübelte darüber, wie die Knochen geformt sein, wo die Bänder, wo die Sehnenenden der Muskeln sich ansetzen, wie die Muskeln verlaufen müssen, wenn eine bestimmte Bewegung ausgeführt werden soll. Auch darüber dachte ich nach, wie stark der Knochen sein muß, um die Last zu tragen, die auf ihm ruht. Nun kam die Hauptsache: wie kann der einzelne Knochen, der einzelne Muskel oder das Band künstlich ersetzt und im Falle der Erkrankung entlastet oder ganz ausgeschaltet werden?

Friedrich Hessing.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph E. Bieber in Berlin.

Wohl 15 Jahre schrieb ich an diesem meinen eigenen Lehrbuch und glaubte mich nun imstande, die Aufgaben, welche ich mir selbst gestellt, mit Erfolg lösen zu können. Jetzt fand ich Gelegenheit, mir ein wirkliches Skelett und anatomische Lehrbücher anzuschaffen – da stand ich vor dem Examen! Ich verglich die Wirklichkeit mit meinen Gedankenformen und fand, daß eine Uebereinstimmung nicht überall vorhanden war. Allein so rasch die Fehler entdeckt, so rasch waren sie auch verbessert. Denn da ich mir bei meinen Vorstudien stets die Frage gestellt hatte, welche mechanische Thätigkeit hat der einzelne Körperteil zu verrichten? so wurde es mir leicht, die wirklichen, die weitaus vollendeteren Formen an die Stelle der von mir konstruierten zu setzen und mit ihnen zu rechnen. – Undankbar wäre es übrigens, wenn ich nicht den Aerzten und Professoren meinen Dank aussprechen wollte, die mir privatim das beizubringen sich bemühten, was man bei noch so viel Fleiß und Ausdauer allein nicht lernen kann. – Während dieser langen Reihe von Jahren lernte ich in den verschiedenen Zweigen des Handwerks die kunstgerechte Behandlung aller der Materialien, welche mir erforderlich schienen, um das, was ich mir vorgesetzt hatte, auch wirklich ausführen zu können. – Nun ging es an das Werk. Es ist wohl ein Glück für mich gewesen, daß ich weder ein Lehrbuch der Orthopädie gelesen, noch bei einem Orthopäden gearbeitet hatte. Unbeirrt durch die Schablone des Hergebrachten konnte ich den Weg gehen, den mir die Natur gezeigt hatte. Und je weiter ich darauf vordrang, desto mehr kam es mir zum Bewußtsein, welch ein mechanisches Meisterwerk der Körper des Menschen ist. Ich lernte immer besser die Fingerzeige der Natur verstehen und so Irrwege vermeiden. Stets wurde es mir klarer, daß die Orthopädie im alten Wortsinne nicht die gestellten Aufgaben im vollen Umfang zu lösen vermag. Ich suchte, das Ganze im Auge behaltend, Heiltechniker zu werden, nicht nur, wie mir scheint, etwas stümperhaft hier und da auszuflicken. – Nachdem ich im Jahre 1868 vom königl. bayer. Ministerium des Innern zur Errichtung einer Heilanstalt ermächtigt worden war, konnte ich meine Auffassungen vielseitig zur Geltung bringen. Die Bedeutsamkeit einer möglichst guten Ernährung, des Lichtes und der freien Luft lernte ich stets höher schätzen.

Der Gang meiner Entwicklung macht es verständlich, daß ich aus mir selbst manche Idee geschöpft, die andere Leute auch früher oder später gehabt haben.“

So erzählt Hessing von seinem Werdegang. Einfach und bescheiden, aber mit dem berechtigten Selbstbewußtsein des durch sich selbst zur Höhe Geführten. Sein äußeres Leben verlief in ruhigem Gleichmaß – langsam und sicher, immer bergauf! Zuerst hatte er in dem nächst Augsburg gelegenen Marktflecken Göggingen das zum Verkauf gestellte Landgerichtsgebäude erworben. Das freundliche Haus – viele denken an die „alte Anstalt“ zurück, aus der sie genesen heimkehrten – wurde so seiner früheren Bestimmung wiedergegeben. Es war ursprünglich „zum Wohl der Kranken und Schwachen“ gebaut, die Inschrift ist wohlerhalten noch jetzt eingemauert. Bald wurden die Räume zu eng für die Hilfesuchenden, die in immer größerer Zahl herbeiströmten. Der Errichtung des „Kurhauses“ folgte der Bau der „Neuen Anstalt“. Dabei ließ Hessing seine eigene Künstlerschaft walten. Was er geschaffen? „Ueberall sinnreiche Zweckmäßigkeit mit erquickender Schönheit gepaart“ – sagt Adolf Wilbrandt in einer größeren Abhandlung, die er dem Arzte gewidmet hat. Und das ist ein wahres Wort. Es giebt wohl kaum irgend einen für Kranke errichteten Bau, der soviel Licht, soviel Luft hat und daneben noch ein so freundliches Aussehen wie die neue Anstalt. Sie bringt den Grundgedanken Hessings zum Ausdruck: Herunter vom Krankenlager, hinaus ins Freie, dort winkt Genesung, fort mit der Zimmerhaft!

Was geschehen kann, um dem Leidenden, der länger der Heimat fernbleiben wird, die Trennung zu erleichtern, das ist geschehen.

Auch das dem „Kurhaus“ sich anschließende Theater dient dem gleichen Zwecke. „Ein im Formensinn der späteren Renaissance ausgeführter Bau, ganz aus Eisen und Glas, ein sonderbares Märchen, in das sich der Sonnenschein durch bleiche und farbige Gläser ergießt, in dem unzählige stilvolle Gewächse, Fächerpalmen mit nahen und fernen Verwandten, das ganze Rund des Zuschauerraumes unter und über der oberen Galerie erfüllen. Hier sei heiter und glücklich! scheint das Ganze zu sagen.“ Das ist der Eindruck, den ein Dichter von dem empfing, was der Kunstsinn Hessings ins Leben gerufen hat. Im Sommer dient das Theater [157]

Am Fischotterbau.
Nach einer Originalzeichnung von O. Vollrath.


seinem eigentlichen Zweck, im Winter ist es ein Palmengarten, den Gästen Hessings jederzeit geöffnet. Ich will noch erwähnen, daß Hessing in Reichenhall eine große Zweiganstalt besitzt, die aber nur im Sommer benutzt wird. Dort finden die Leidenden, bei deren Behandlung Soolbäder angezeigt sind, Unterkunft in den entzückend, hoch über der schmalen Thalsohle gelegenen Häusern.

Es giebt nicht viele Menschen, die so wenig Bedürfnisse haben wie Hessing. Er lebt ganz seiner Arbeit, seiner Kunst, was es an Genüssen giebt, achtet er gering. Aber Schaffensfreude erfüllt ihn, und was er schaffte, sei es, daß er eine neue Idee verwirklicht, sei es, daß er für den Einzelnen etwas Besonderes gestaltet – alles trägt den Stempel des wahren Künstlertums. Ich habe im Laufe der Jahre vielfach Gelegenheit gehabt, den Meister am Werke zu sehen. Wieder und wieder stand ich bewundernd vor der genialen Sicherheit, mit der er spielend die schwierigsten Aufgaben orthopädischer Technik löst. Der Grundgedanke: so ist es fertig zu bringen, dann dessen Ausführung mit ganzer Beherrschung aller mechanischen Hilfsmittel – eines wie das andere in einer Vollendung, die bisher nur ihm eigen war! Die Kinderlähmungen in ihrer so überaus vielgestaltigen Formenfülle sind es, welche dem Sachkundigen am unzweideutigsten zeigen, was Hessing im und am Einzelfall leistet. Das wäre schon Großes – aber Hessing hat Größeres geschaffen – nicht nur für den Einzelnen, für das Ganze. Seine Gedanken haben Bürgerrecht in der Wissenschaft erlangt und altgeheiligte Lehren umgestoßen. Vor allem gilt das von der Behandlung der Knochenbrüche und der Entzündungen der Gelenke an den unteren Gliedmaßen. Früher war es Regel, die an diesen Zuständen [158] Leidenden mit irgend einem die Bewegungsfähigkeit des ergriffenen Teiles unmöglich machenden Dauerverband in das Bett zu stecken.

Das Bettliegen mußte so lange anhalten, bis Heilung erfolgt war; bei gebrochenen Knochen einige, bei Gelenkerkrankungen viele Monate hindurch. Das ist vom Uebel: der ganze Körper wird zur Ruhe gezwungen, wo die Ruhe doch nur für eines seiner Glieder erforderlich, der Gang der Lebensmaschine wird so unnötig verlangsamt, es kommt unter bestimmten Verhältnissen zu wirklichen Störungen. Und die das ganz ruhig gehaltene Glied umfassenden Muskeln werden durch die lange Unterbrechung ihrer Thätigkeit schwach, erst durch Uebung können sie die alte Kraft wieder gewinnen – allein die Uebung kann erst dann beginnen, wenn nach vollkommener Heilung der hemmende Verband entfernt war. Die Wiederherstellung der vollen Gebrauchsfähigkeit erfordert daher eine weitaus längere Zeit als die Heilung selbst.

Hessing half hier von Grund aus. Er baute Apparate, welche dem leidenden Teil Stütze gewähren, dem kranken Menschen die freie Bewegung lassen. Dadurch, daß er auf unversehrte Körperteile die Aufgabe der erkrankten übertrug, schaltete er diese aus, er ließ die zur Leistung fähigen solange die Arbeit der zeitweilig unfähigen übernehmen, bis Heilung eingetreten war. Das ist der Gedanke eines genialen Menschen; denn er ist einfach, für manchen zu einfach und daher unverständlich! Um das Einfache allen verständlich zu machen, dazu gehört noch die Gestaltungskraft des Künstlers – Hessing dachte und schuf. Wieder und wieder mußte er auf den Versammlungen der Aerzte, in den Kliniken der Universitäten das Unerhörte und Unglaubliche den Zweiflern vor Augen führen. Es schien doch kaum denkbar, daß ein gebrochenes Bein die Last seines Körpers tragen und dabei heilen könne! Jetzt ist man davon überzeugt – der Grundgedanke Hessings wird mehr und mehr zum Gemeingut. Freilich seine Durchführung ist nicht jedermanns Sache, dazu gehört eben die Meisterhand. Das wird auch eingeräumt. Man sucht sich zu helfen, so gut es eben geht, man bemüht sich, mit billigerem, minder schwer zu handhabendem Material auszukommen. – Hessing selbst hat bei seinem „Kriegsapparat“ eine verhältnismäßig einfache Konstruktion durchgeführt und genaue Auskunft darüber gegeben, wie man vor dessen Anlegen verbinden soll.

Dieser „Kriegsapparat“ ist seinem Namen entsprechend eigentlich dazu bestimmt, Verwundete mit zerschossenen Gliedern sicher und ohne ihnen Schmerz zu machen zu transportieren. Neuerdings konstruierte Hessing eine Tragbahre, welche es erlaubt, die auf dem Schlachtfelde Verletzten in gesicherter Körperlage, ohne daß sie durch die Bewegung Schmerz empfinden, fortzuschaffen – dabei sind die Ansprüche an die Träger auf ein geringes Maß von Kraftaufwand beschränkt.

Der Grundgedanke Hessings: Entlastung des leidenden Teils, Uebertragung der Arbeit auf gesunde Teile, bewährt sich in allen den Fällen, wo überhaupt mechanisches Eingreifen möglich. Ich kann nicht alles erwähnen, ich will nur ein scheinbar weitabgelegenes Gebiet streifen: die sicheren Erfolge Hessings bei der Behandlung chronischer Erkrankungen des Rückenmarks durch seine Korsettbehandlung.

Und nun noch: Was ist Hessing als Mensch? Wer ihn mit einem Blick, mit einem Wort alles, was in seiner Nähe ist, beherrschen sieht, kennt in ihm nur den gebietenden Herrn, dem jeder unterthan ist. Wer Hessing näher steht, wer wie ich ihn Freund nennen darf, weiß, daß er ein von Herzensgüte erfüllter Idealist ist wie wenige Menschen. – Auch das Auge des Dichters blickt scharf. „Ich sah“ – sagt Wilbrandt – „wie seine Kleinen ihn liebten, mit welcher natürlichen rührenden Herzlichkeit die jungen Augen zu ihm aufblickten, wenn sie ihn begrüßten, während von seiner kraftvollen, durch und durch mannhaften Gestalt die schlichteste Menschenfreundlichkeit ausstrahlt.“ Die letztere haben auch von den Großen viele empfunden. Aber darüber schweige ich, denn Hessing will nicht gefeiert und nicht gepriesen sein.

1894 waren 25 Jahre vergangen, seit Hessing in Göggingen thätig ist. Viele seiner früheren Kranken wünschten ihrer dankbaren Verehrung durch festliche Begehung des Tages Ausdruck zu geben. Er wünschte das nicht. Aber er muß es sich nun schon gefallen lassen, daß einer unter den vielen seiner Geheilten ein bescheidenes Gedenkblatt an die reiche und gesegnete Lebensarbeit des Meisters der mechanischen Heilkunst hier niederlegt.




Mein Roman.

Novelle von Eva Treu.
(Fortsetzung.)

Ein bißchen zerzaust und erhitzt sah ich wohl aus, als ich mich anschickte, den Besuch zu empfangen; aber das ließ sich jetzt nicht ändern, obgleich es mir trotz meiner Gleichgültigkeit gegen die Männerwelt doch nicht ganz einerlei war, welchen Eindruck ich machte. Der junge Herr – „Franz Forst, Dr. med., prakt. Arzt“ stand auf der Karte, die Male uns überbracht hatte – mochte sich inzwischen die Kupferstiche und Photographien an unseren Wänden betrachtet haben; er kehrte der Thür den Rücken, als ich eintrat, wandte sich aber schnell und verbindlich um und zeigte ein hübsches junges Gesicht mit einem flotten braunen Schnurrbart und guten, ehrlichen Augen. Er sah weder geistreicher, noch schöner, noch eleganter aus als die meisten anderen Menschen, mit denen ich bisher verkehrt hatte, etwas Besonderes schien er in keiner Hinsicht zu sein. Wie sollte auch wohl etwas Besonderes nach unserem weltvergessenen Städtchen kommen? Lächerlich!

„Vater ist leider für ein paar Tage verreist, Herr Doktor,“ sagte ich, „er wird sehr bedauern, Sie verfehlt zu haben, und Mutter läßt bitten, sie entschuldigen zu wollen; es ist ihr augenblicklich unmöglich, hereinzukommen. Wir sind beim Reinmachen – auch ich bin im Morgenkleide, wie Sie sehen, Sie müssen es schon verzeihen.“

Sein Blick umfaßte für einen Augenblick meine ganze kleine Person – krauses, etwas zerzaustes Haar, blauen, bedruckten Kattunmorgenrock, leinene Hausschürze und so weiter, und seltsamerweise schien ihm der Anblick, der doch vermutlich nicht sehr schön war, keineswegs zu mißfallen, denn er lächelte, wie man über etwas Hübsches lächelt, und sagte: „O, was das anbelangt, ich habe eine besondere Vorliebe für Hauskleider, und im übrigen bin ich es ja wohl, der sich entschuldigen müßte, da ich Ihnen zu so sehr unpassender Zeit in das Haus falle.“

„Ja, das konnten Sie doch nicht wissen.“

„So ungefähr hätte ich es mir ja wohl denken können, als ich auf den Flur trat,“ meinte er und lachte über das ganze Gesicht, wohl in Erinnerung an Males holdselige Erscheinung. Was für prachtvolle Zähne er hatte, und wie merkwürdig das Lächeln sein Gesicht verschönte! Und ein hübsches Kinn hatte er auch. Mir dämmerte eine Ahnung auf, als könnte ich ihn mit der Zeit vielleicht ganz nett finden, aber ich entgegnete trotzdem ein bißchen impertinent: „Ach, von solchen Dingen werden Sie doch wohl nicht viel verstehen – ein junger Herr!“

„Sollte es nicht vielleicht möglich sein, daß junge Herren zuweilen liebe, alte Mütter und gute, wirtschaftliche Schwestern haben, und daß solche Mütter und Schwestern gelegentlich auf den Einfall kommen, auch einmal Scheuerfest zu halten? Oder sind die Scheuerfeste ein ganz besonderes Privilegium Ihrer Heimat?“ fragte er belustigt.

Ich lachte, weil ich nicht recht etwas zu antworten wußte, und ich weiß nicht, wie das so kam, anstatt daß er sich nun empfohlen hätte, wie ich es erwartet und Mutter es prophezeit hatte, saßen wir beide gleich darauf auf Stühlen und plauderten frisch drauf los. Und als wenn es das natürlichste Ding von der Welt wäre, daß ich selbständig den Besuch junger Herren entgegennähme, dauerte unsere Unterhaltung eine ganze lange Weile, bis der Herr Doktor auf einmal inne wurde, wie rücksichtslos und unpassend er die so überaus kostbare Zeit der vielbeschäftigten Haustochter in Anspruch nähme, aufstand und sich eilig empfahl, zum dritten- oder viertenmal lebhaft bedauernd, daß er nicht das Vergnügen hatte haben können, sich den Eltern vorzustellen.

Ich sah ihm durch das Wohnstubenfenster nach, bis nichts mehr von ihm zu erblicken war. Er hatte eine recht hübsche Figur, war aber nicht über Mittelgröße und eher ein wenig zu kräftig [159] als sehr schlank. Ueberhaupt nein – etwas Besonderes war er ja nicht – nur etwas Frankes, Frisches lag in seinem Wesen und auf seinem Gesichte, und dann lächelte er so hübsch, beinahe kindlich, – und wenn er einen ein klein wenig von der Seite ansah, – so – ich ahmte es unwillkürlich nach – dann gefiel er mir auch, und dann, wenn er etwas Ernsthaftes sagte, hatte er solchen schönen, klaren Blick, und mit einem Wort, er war nett, sehr nett sogar, und ich hoffte, daß die Eltern ihn mitunter einladen würden, den armen Menschen, damit er doch ein bißchen Familienanschluß haben möchte an dem fremden Ort.

Noch vor einer halben Stunde hatte ich den Augenblick herbeigesehnt, wo ich wenigstens den letzten, halb fertig geschriebenen Satz meines Romans vollenden konnte. Der armen Heldin war ja das Wort auf der Zunge schweben geblieben – jetzt dachte ich gar nicht daran, sondern kehrte, ein wenig langsam zwar, aber doch ohne Aufenthalt an mein Plättbrett zurück.

Ich möchte nicht gern bei voreiligen Menschen, deren es ja immer giebt, in den Verdacht geraten, als hätte ich mich in Herrn Franz Forst, Dr. med., auf den ersten Blick innerhalb einer guten Viertelstunde verliebt. Durchaus nicht! Ich möchte in keiner Weise so verstanden werden. Aber ich – nun, ich fand ihn nett, ich habe es schon mehrmals gesagt, und das darf man ja doch wohl, ohne Anstoß zu erregen.

Abends, als ich bei einem Lichtstümpfchen noch ein Stück Roman schrieb, geschah mir allerdings etwas sehr Sonderbares: anstatt gedankenvoll über seinen blonden Vollbart zu streichen, drehte mein Held sinnend an seinem braunen Schnurrbart; doch ich bemerkte den Irrtum gleich, verbesserte ihn empört und beging einen ähnlichen nicht wieder …

Nach wenigen Tagen waren wir mit der unerquicklichen Scheuerei, für welche selbst Mutter zuletzt keine Begeisterung mehr in ihrem Herzen hatte auftreiben können, fertig, das ganze Haus strahlte zum großen Verdruß unserer Gymnasiasten, die nirgends derb hintreten durften, von unerhörter Sauberkeit und Ordnung, und Mutter hielt infolgedessen den Zügel, mit welchem sie mich zu nützlichem Thun anzuleiten pflegte, nicht mehr ganz so straff. Ich konnte mein siebzehntes Kapitel in den nächsten acht Tagen erheblich fördern, und der beschriebene Papierballen, den ich von einem Versteck in das andere schleppte, schwoll mehr und mehr an.

Dann kamen die Pfingstferien. Unsere sämtlichen Schulkinder, mit Einschluß des Herrn Primaners und des Herrn Sekundaners, wurden während derselben alljährlich, wenn das Wetter es nur irgend erlaubte, aufs Land zu verschiedenen opferfreudigen Verwandten ausgethan und zogen auch diesmal, mit Butterbroten und einigen Reisegroschen wohlversehen, unter einem wahrhaft rothautmäßigen Jubelgeschrei ab. Es wurde auf einmal ganz wundervoll still bei uns.

Als das Jungvolk fort war, verleitete das prächtige Festwetter die Eltern zu dem Plan, auch einen kleinen achttägigen Ausflug in das schöne pfingstfröhliche Land zu machen, und nur der Gedanke, daß es die Reise über Gebühr verteuern würde, auch mich mitzunehmen, und man nicht recht wußte, was sonst aus mir werden sollte, erregte Bedenken. Da erbot ich mich zum nicht geringen Erstaunen der Eltern, die solche Selbstlosigkeit bisher nie an mir bemerkt hatten, freiwillig, allein mit Male das Haus zu hüten, und nach einigem Zögern und Schwanken wurde beschlossen, daß es wirklich so geschehen solle. Ich nahm die meinem Edelmut gespendeten Lobsprüche mit kleidsamer Bescheidenheit, das Mitleid wegen meiner langen Einsamkeit mit einer Miene heiterer Gefaßtheit und Mutters viele Ermahnungen, wie ich mich in ihrer Abwesenheit zu benehmen hätte, mit stiller Demut entgegen. In Wirklichkeit konnte nur, wenn ich doch nicht verreisen durfte, gar kein größerer Gefallen geschehen, als ohne Pflichten gegen irgend jemand allein gelassen zu werden. Mein Roman wurde gerade jetzt so fabelhaft spannend und verwickelt, daß ich wirklich notwendig einmal der Ruhe bedurfte, um an ihm weiter zu schreiben, wenn ich nicht selbst den durch das Labyrinth führenden Faden aus der Hand verlieren wollte. Ganz vergnügt begleitete ich die Eltern auf den Bahnhof, was mir ein anerkennendes Wangenstreicheln von Vater, dessen Lieblingskind ich im stillen war, eintrug.

Am Bahnhof war ein großes Menschengedränge. Alle Welt wollte reisen. Auch der neue Doktor, den ich inzwischen nur ein paarmal auf der Straße gesehen, welchem Vater aber seinen pflichtschuldigen Gegenbesuch längst erstattet hatte, war da. Als er uns sah, kam er gleich auf uns zu und fragte, ob wir verreisen wollten.

„Meine Frau und ich.“ sagte Vater, „wir machen eine kleine Rundreise durch das östliche Schleswig-Holstein – und Sie, Herr Doktor?“

„Auf ein paar Tage nach Hause, es giebt jetzt wenig Kranke,“ berichtete er, „der Sonnenschein macht alle Patienten gesund ohne Zaubertränke und Mixturen. Und Ihr Fräulein Tochter nehmen Sie auch mit?“

„Nein, unsere brave Lene bleibt daheim und sorgt fürs Haus,“ sagte Vater, mir freundlich zunickend, „nicht wahr, mein Töchterchen?“

Der junge Arzt zog lächelnd den Hut mit einer Verbeugung. „Alle Achtung, mein Fräulein, da werden Sie aber ein recht mühsames und bewegtes Fest haben. Hoffentlich machen Ihnen die Geschwister das Leben nicht gar zu sauer.“ Es lag etwas in seinen Augen von wirklicher Anerkennung, trotz seines Lächelns, und ich wurde unwillkürlich rot. Was für hübsche Augen er doch hatte, und wie deutlich sie sagten: Du gefällst mir, Du kleines, tüchtiges, zuverlässiges Mädchen. Schade, daß ich das Lob so gar nicht verdiente!

„Warum nicht gar,“ sagte ich schnell, „sie sind ja alle –“

„Einsteigen nach Ascheberg!“ – Ja, da war nun keine Zeit zu Erläuterungen. Der Herr Doktor stieg in ein Rauchcoupé, die Eltern gaben mir einen Kuß und die letzten Ermahnungen, die Thüren schlugen zu – und fahrwohl! dahin ging der Zug, keuchend und schnaubend wie ein scheußliches Ungeheuer, und barg doch nicht nur ein fröhliches Herz im Innern, sondern viele, viele!

Die Beschreibung der nächsten acht Tage kann ich in drei Worte zusammenfassen: ich schrieb Roman.

Ich vermute, daß die Sonne strahlte, wie sie es nur in einem wirklich schönen Mai kann, daß der See flimmerte und blitzte wie lauter Licht und Glanz, daß die großen Buchen sich in ihm spiegelten bis zu den allerobersten Wipfelblättern hinauf, daß Vogel jubilierten und holde kleine Blumen sich der Sonne entgegenstreckten und dufteten, eine immer noch süßer als die andere – wie gesagt, ich setze das voraus, aber ich merkte nicht viel davon: ich schrieb. Andere Leute machten sehr wahrscheinlich Bootfahrten und Waldpartien, mir kommt jetzt eine Erinnerung, als wenn Freundinnen bei mir gewesen wären, um mich ebenfalls zu dergleichen aufzufordern, doch muß ich sie wohl unter irgend einem Vorwande wieder fortgeschickt haben, denn ich weiß mit Bestimmtheit, daß ich immer nur schrieb. Ich entsinne mich, daß Male, der ich in der Küche freie Hand ließ, jeden Tag Klöße mit Pflaumenmus auf den Tisch brachte, einmal, weil dies ihr Lieblingsgericht war, und dann weil es sich als die einzige Speise erwies, auf deren Zubereitung sie sich verstand. Ich aß die zuletzt doch etwas einförmige Kost ohne Widerrede in mich hinein, denn mich hob die Geistesarbeit, die mich so ganz fesselte, über die kleinen Miseren des Alltagslebens hinaus. Ich schrieb, daß mir die Finger weh thaten und die Backen glühten, aber „wer ausharret, wird gekrönt“, und der Erfolg meines Fleißes war ein beinahe verblüffender.

Beängstigend schnell schwoll mein Manuskript an, und als ich an den Bahnhof ging, um die erste Portion Heimkehrender wieder in Empfang zu nehmen, da waren alle Verwicklungen, auch die scheinbar unentwirrbarsten, glücklich gelöst, fünf liebende Paare hatten sich gefunden, drei Bösewichter waren entlarvt und vernichtet, mehrere Personen, mit denen ich sonst nichts anzufangen wußte, waren eines rührenden Todes verblichen, und kurz und gut, mein Roman, der es allerdings doch nur auf achtundzwanzig Kapitel gebracht hatte, war fertig! Freilich konnte ich mich eines sehr tiefen Seufzers nicht erwehren, als ich den nach und nach angesammelten Papierballen nun aufrollte und die vielen, vielen Seiten überzählte, die es abzuschreiben gab; aber im großen und ganzen erfüllte mich doch ein Gefühl unbeschreiblichen Stolzes und Vergnügens. Ich hatte es also doch fertig gebracht, da lag er vor mir, mein Roman, der so viel Herzen schneller schlagen machen sollte! Der erste Schritt zur Berühmtheit war gethan!

Noch ehe ich zum Bahnhofe ging, kaufte ich für das Geld, welches eigentlich für ein Paar neuer Handschuhe bestimmt gewesen war, das nötige Ries Schreibpapier, extragute Federn und ein neues Glas Tinte, um recht aus dem vollen wirtschaften zu können, und schrieb mit meiner besten Schrift das Titelblatt: „Des Lebens Mai, Roman von Viola Odorata.“ Es machte sich,

[160]

Die Besatzung des Mont Saint-Michel.
Nach einem Gemälde von A. A. Lesrel.

[161] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [162] sowohl in der Nähe, als aus der Ferne betrachtet, vorzüglich. Noch nie im Leben hatte ich mich so wichtig und stolz gefühlt, als da ich diese Schätze in der bewußten obersten Schublade meiner Kommode barg. Leider sah ich bei dieser Gelegenheit, daß die Schublade des Ausräumens dringend bedurfte, aber ich konnte mich jetzt mit solchen Nichtigkeiten nicht abgeben. Alles zu seiner Zeit!

Als Mutter nach Hause kam, fand sie, anspruchsvoll, wie sie nun einmal in häuslichen Dingen war, mancherlei nicht nach ihrem Sinne, ich hatte mehr als einen Tadel zu schlucken, aber ich schluckte ihn schweigend nieder. Konnte Mutter einen Roman von achtundzwanzig Kapiteln schreiben? Nein! Hätte ich den Staub wischen und die anderen Alltagsdinge verrichten können, wenn ich gewollt hätte? Ja! Ich fühlte mich also in diesem Falle als die Ueberlegene.

Sommertage sind lang, und Begeisterung und guter Wille bringen viel fertig, und obgleich es mir vorkam, als wenn Mutter von Tag zu Tag höhere Ansprüche an mich stellte, lag doch in verhältnismäßig kurzer Zeit die fertige Reinschrift vor mir, ein, wenn ich jetzt daran zurückdenke, mir beängstigend dick erscheinendes Paket! Damals fand ich, daß gerade die Dicke ihm etwas Imponierendes verlieh, und ich gab mir die erdenklichste Mühe, mir vorzustellen, wie etwa der Totaleindruck auf jemand sein könnte, der noch nie einen Blick darauf geworfen hätte. Meiner Ansicht nach mußte er gut sein. Schon legte ich mir Papier und Feder zurecht, um den nötigen Begleitbrief zu schreiben, als ich hörte, daß Mutter nach mir rief. Eilig schloß ich alles fort und lief hinunter, denn es war Vesperzeit, und da lag mir ob, für unsere hungrige Schuljugend die Butterbrote zu schneiden und zu streichen.

Natürlich, ich brauchte nur die Thür zum Eßzimmer zu öffnen, da wurde mir auch schon in sechs verschiedenen jugendlichen Stimmlagen in Moll und Dur mitgeteilt, daß ich „immer so lange auf mich warten ließe“ und „man bei solcher Wirtschaft verhungern könnte!“

„Nun ja doch, ja, ich komme ja schon,“ sagte ich unfreundlich, schnell die Aermel meines hellen Kattunkleides ein wenig zurückstreifend, eine Hausschürze vorbindend und Brot und Butter herbeiholend. O, wie ich es haßte, dieses ewige Sorgen für die gewöhnlichsten Dinge! Und in meinem Aerger schnitt ich die Brotscheiben so dick, daß darob allgemeines Murren und lebhafter Protest im Kreise der anspruchsvollen Jugend entstand.

Da ging die Hausthürglocke. „Sieh nach, wer da ist, Peter Laß!“ kommandierte ich. Peter Laß, mit seinem richtigen Namen Max getauft, war einer der Kleinen und sah mich als große Schwester für eine Autorität an, eine Anschauung, der die anderen Geschwister nur bis zu sehr eng gezogenen Grenzen huldigten. Er ging deshalb ohne Widerrede, sein Butterbrot in der Hand, an die Thür und machte dieselbe hinter sich zu.

Gleich darauf trottete er wieder herein. „Da ist’n Mann,“ sagte er, sich mit großer Gemütsruhe wieder niedersetzend.

„So? was will der Mann denn?“

„Vater sprechen.“ Peter Laß griff nach seinem Milchbecher.

„Hast Du ihn denn hingeführt?“

„Nä,“ sagte mein liebenswürdiger kleiner Bruder, den Kopf schüttelnd und gemächlich in sein dickes Butterbrot beißend.

„Dummer Junge doch!“ Ich lief an die Thür, und dieselbe hinter mir weit offen lassend, das Brotmesser in der Rechten haltend, trat ich auf den Flur.

Da stand ganz geduldig wartend Doktor Forst und verbeugte sich wie ein rechter Gentleman, als er mich sah. Er hatte Vater im Klub gesprochen, von ihm die Zusage erhalten, ihm ein Buch, welches ihn interessierte, zu leihen, und kam, sich dasselbe abzuholen. Ich führte ihn bis zu Vaters Arbeitszimmer, und er warf im Vorbeigehen – es geschah gewiß unabsichtlich – einen Blick durch die weit offen stehende Thür unserer Eßstube.

„Wie reizend hausmütterlich Sie immer beschäftigt sind, Fräulein Peters,“ sagte er, meine Augen mit seinem Blick treffend, „man muß ja an Werthers Lotte denken, wenn man Sie so im Kreise Ihrer Geschwister walten sieht.“

Ich hatte „Werthers Leiden“ bis jetzt nicht gelesen, da ich neuere Litteraturerzeugnisse bevorzugte, aber ich kannte das anmutige Lottebild aus der Goethegalerie und fühlte mich geschmeichelt, obgleich ich mir bewußt war, wie wenig der Vergleich auf mich paßte. Ehe ich aber noch etwas Passendes antworten konnte, hatten wir Vaters Stube erreicht, und ich öffnete die Thür für den Gast, dem eine dichtere Tabakswolke entgegenströmte, als ihm vielleicht lieb war.

Nachher in meiner Dichterkammer warf ich, daß ich’s nur gestehe, schnell einen Blick in den Spiegel, um mich zu überzeugen, ob ich wirklich etwas „reizend Hausmütterliches“ an mir hätte, konnte aber nichts dergleichen entdecken, im Gegenteil, gerade mitten auf meiner ohnehin schon impertinenten kleinen Nasenspitze saß ein zwar winzig kleiner, aber kohlpechrabenschwarzer Tintenklex, den Lotte dort gewiß nie gehabt hat.

Jedoch ich sah mich nicht veranlaßt, mich lange darüber zu grämen, sondern schrieb nach einem bereits entworfenen Konzept den Begleitbrief für meinen Roman. Er erreichte eine Länge von etwa sechs eng beschriebenen Zeiten und klärte, wenn ich nicht irre, den Redakteur, an welchen er gerichtet war, nicht nur über meinen bisherigen Lebenslauf, sondern auch über meine Wünsche, Pläne und Hoffnungen, die ihn ja gewiß sehr interessierten, in ziemlich umfassender Weise auf. Wenn ich es auch nicht für wahrscheinlich hielt, daß ich das Manuskript zurückerhalten würde, so sah ich doch ein, daß ich auch diese Möglichkeit in Erwägung ziehen müßte. Ich bat also, mir das Paket nötigenfalls postlagernd unter X. Y. Z. wieder zugehen zu lassen.

Als die Adresse an die Redaktion einer sehr großen Zeitschrift in Berlin gemacht und alles gut verschnürt und versiegelt war, barg ich meinen kostbaren Schatz unter dem Regenmantel, suchte mir auf der Straße ein fremdes Kind und versprach dem selben einen Nickel, wenn es mir etwas auf die Post tragen wollte, was es bereitwillig that, während ich in einer Seitenstraße wartete, um dem zurückkehrenden kleinen Boten den ausbedungenen Lohn auszuzahlen.

So, nun war er fort, mein Roman. Glück auf den Weg!

Es war, als wenn der Dichtergeist in mir sich vorläufig nun einmal ausgetobt hätte, wenigstens hatte ich nicht das Bedürfnis, sofort wieder ein neues Werk in Angriff zu nehmen. Natürlich fing ich in den nächsten vierzehn Tagen den Briefboten jedesmal, wenn er unser Haus betrat, auf der Treppe ab, um zu fragen, ob kein Brief für mich aus Berlin da sei, aber er schüttelte immer den Kopf. Natürlich ging ich nach Ablauf dieser Zeit eines Abends in der Dämmerung auf die Post und fragte mit klopfendem Herzen nach einem postlagernden Paket „X. Y. Z.“ Man sah mich nur verwundert an und wußte von einer derartigen geheimnisvollen Sendung nichts. Natürlich hatte ich des Nachts schlaflose halbe Stunden, in denen ich meinte, vor Unruhe und Ungeduld überhaupt nicht wieder einschlafen zu können, – und natürlich kam mir, wie den meisten ungeduldigen Menschen, zuletzt die Erkenntnis, daß mir nichts übrig bliebe, als zu warten. Deshalb faßte ich den vernünftigen Entschluß, es mit so viel Fassung zu thun, als ich auftreiben konnte, wozu mir übrigens schließlich mancherlei, an das ich gar nicht vorher gedacht hatte, erheblich half.

Zuerst gaben wir eine kleine Abendgesellschaft, was bei uns immer ein besonderes und angenehmes Ereignis war. Die Eltern waren beide von Haus aus sehr gastfrei, aber die Kosten, welche eine lebhafte Geselligkeit ja leider zu veranlassen pflegt, ließen sie trotzdem mit ihren Einladungen sparsam umgehen. Nun hatte aber Vater sich im Klub mit dem jungen Doktor angefreundet und meinte, es wäre an der Zeit, ihn einmal bei uns zu sehen. Eigentlich war es auch keine rechte Gesellschaft, sondern nur ein ganz kleiner Kreis von Freunden, und wir gaben nur kalte Küche und Heringssalat. Aber es war sehr gemütlich, wie immer bei uns, wenn wir Besuch hatten.

Den Heringssalat hatte ich angefertigt. Ich war sonst nichts weniger als eine große Kochkünstlerin, aber für Heringssalat hatte ich ein ganz besonderes Talent, vielleicht weil ich ihn selbst sehr gern mochte, und Mutter vertraute mir seine Zubereitung auch immer unbedenklich an. Auch diesmal war mein einziges Paradestück mir wieder ausgezeichnet gelungen, so daß Tante Jule, die für eine große Feinschmeckerin gilt, ganz laut über den Tisch herüber zu Mutter sagte:

„Dein Heringssalat ist wieder einmal vorzüglich, Nanny, der hat bei Euch immer ein gewisses ‚je ne sais quoi‘, was er nirgend sonst hat. Wie machst Du das nur?“

„Ja, da mußt Du Lene schon fragen,“ sagte Mutter lächelnd, „die ist hier im Hause, was Heringssalat anbelangt, die erste Autorität.“ Worauf mir sofort mehrere Herren ihr Kompliment [163] über mein wohlgelungenes Werk machten und Doktor Forst, der die Schüssel vorher hatte vorübergehen lassen, sich eine große Portion auffüllte und anscheinend mit dem besten Appetit verspeiste.

Ich schenkte den Thee ein und besorgte die Aufwartung, da Mutter fand, daß Dienstboten im Zimmer die Gemütlichkeit stören, und ein besonderes Glück wollte, daß ich an diesem Abend weder einen Rahmtopf umstieß, noch einen Tassenhenkel zerbrach. Ueberhaupt war es ein wirklich hübscher Abend. Ich saß bei Tisch neben Doktor Forst; er war sehr lustig und nett. Später sang er auch am Klavier einige hübsche Lieder. Er hatte eine nicht gerade sehr geschulte, aber frische Stimme, einen schönen, weichen Bariton und begleitete sich selbst ohne Noten. Stundenlang hätte ich ihm zuhören können; es war gerade solch ein Klang in der Stimme, der mir zu Herzen ging.

Ich saß in der Nähe des Klaviers und konnte sein Gesicht sehen. Zuletzt sang er noch das reizende Studentenlied von der Lore, bei dem mir immer zu Mute ist, als müßte ich gleich mit einstimmen. Und jedesmal, wenn da kam:

„Sie ist mein Gedanke bei Tag und bei Nacht
Und wohnet im Winkel am Thore,“

traf mich auf einmal sein Blick. Zuerst meinte ich, es wäre Zufall, und ärgerte mich, daß ich rot wurde. Ich heiße ja auch gar nicht Lore, sondern Lene und wohne allerdings im Winkel, aber nicht am Thor, sondern am See. Aber der Zufall wiederholte sich – und zuletzt wartete ich schon förmlich darauf, daß der Doktor mich ansehen sollte, als der Refrain wiederkehrte.

Und als die Gäste sich endlich, wie immer bei uns, ziemlich spät in heiterer Laune entfernten, da sagte dieser sonderbare Mensch, als er mir ein wenig abseits von den anderen die Hand zum Abschied gab: „Gute Nacht, Fräulein Lore.“ Ich that, als merkte ich nichts davon, da ich mir nicht gleich klar darüber war, ob ich ihn korrigieren müßte oder nicht.

Alles in allem war es, wie gesagt, ein hübscher Abend, der mir schließlich sogar noch ein Lob von Mutter eintrug, weil ich mich nach ihrer Ansicht „so ziemlich benommen“ und nichts zerbrochen hatte.

Kurze Zeit darauf hielt eine meiner Freundinnen Hochzeit, und der Polterabend wurde mit sehr vielen Aufführungen und Scherzen ins Werk gesetzt. Das kostete natürlich viele Vorbereitungen. Zwei von uns, Grete Müller und ich, stellten Poesie und Prosa dar, die das Leben des jungen Ehepaares künftig beherrschen sollten. Der Gedanke war wohl schon ein bißchen abgedroschen, aber Grete Müller, die herrliches blondes Haar hatte und unglaublich eitel darauf war, wollte auf die Gelegenheit, die schweren mattgoldenen Massen lang aufgelöst um sich herwallen zu lassen, durchaus nicht verzichten und beharrte darauf, die Rolle der „Poesie“ zu übernehmen. So mußte ich denn wohl oder übel die „Prosa“ vorstellen im Gewande einer altdeutschen Hausfrau, mit dem klirrenden Schlüsselbund an der Seite.

Der Anzug war ja soweit ganz kleidsam, aber ich ärgerte mich doch ein bißchen, denn Grete Müller hatte nicht einen Funken poetischen Geistes in sich. Warum mußte sie nun trotzdem gerade die Poesie darstellen und ich die Prosa, die mir doch so verhaßt war?

Natürlich sah Grete mit dem süßen, zarten Gesicht und den großen blauen Augen „voll Seele“, mit dem weißen, schlichten, leichten Tüllkleide und dem Kranz von blaßroten Rosen entzückend aus, wenn sie auch die Verse herunterhaspelte, als wüßte sie garnicht, was sie sagte, und natürlich waren alle entzückt von ihrer Schönheit. Ich, das weiß ich wohl, sah lange nicht so gut aus, und das war auch nicht von mir zu verlangen. Doktor Forst hatte freilich trotzdem den schlechten Geschmack, mich hübscher zu finden als Grete, wenigstens that er so, und er sah so ehrlich dazu aus und tanzte so viel mit mir, daß ich kaum anders konnte, als ihm glauben. Ich hätte so gern noch etwas für mich allein vorgestellt, etwas Poetisches mit eigenen Versen, wenn auch ohne aufgelöste Haare, aber es waren schon zu viele Aufführungen angemeldet, ich mußte mich bescheiden. So war und blieb ich denn den ganzen Abend altdeutsche Hausfrau und Prosa des Lebens, habe mich aber doch, daß ich’s nur gestehe, recht poetisch glücklich dabei gefühlt. Tanzen ist doch etwas Herrliches, und Doktor Forst tanzte so gut. – Zur Hochzeit am nächsten Tage war ich als Brautjungfer auch geladen. Da war es aber langweilig. Ich hatte einen öden Gerichtsassessor als Tischherrn, und Doktor Forst war gar nicht eingeladen worden.

Es war ein recht bewegter Sommer. Wieder kurz darauf veranstaltete der Herrenklub für die während des Winters angesammelten Skatgelder eine Kahnpartie mit Damen. Selbstverständlich waren wir dabei. So etwas ist ja nun immer reizend. Ich hatte meinen Platz hinten in einem der Boote neben dem Steuer, dessen Doktor Forst sich bemächtigt hatte. Anfangs wußte er nicht recht damit umzugehen, denn er war nicht aus einer Wassergegend, sondern in den Bergen zu Hause, ich aber hatte oft gesteuert und zeigte ihm, wie es gemacht wird. Es war sehr nett – wirklich sehr! Ich bin ja tausendmal auf dem Wasser gefahren und kannte schon immer kein schöneres Vergnügen, aber ich wüßte nicht, daß es mir jemals vorher so ausnehmend gut gefallen hätte wie diesmal.

Ja, wie schön war es doch, als wir landeten, uns im Gehölz lagerten und die furchtbar prosaischen, aber doch recht angenehmen Eßkörbe hervorgeholt wurden, die Herren trockene Reiser sammelten und Feuer anmachten, das zuerst so gräßlich qualmte und nachher beinahe den Wald angezündet hätte, wie wir Kaffee kochten und Butterbröte und Kuchen vertilgten! Und die Freude, die ich dabei empfand. Unsere Plättchen hatte ich selbst gebacken, es war ein einfaches Rezept, aber sie waren gut geraten, und Doktor Forst aß sie beinahe allein, er aß gar nichts anderes! Dann zerstreuten wir uns gruppenweise in unserem herrlichen, grünen, frischen Wald und ganz zufällig blieben wir, Doktor Forst und ich, ein wenig hinter den anderen zurück und sprachen so mancherlei, und es war so still und grün um uns her, die kleine Quelle rieselte so blank und leise neben uns, die Vögel zwitscherten, und aus der Ferne hörte man zuweilen ein Lachen oder einen hellen Ruf, bis ich dann auf einmal ganz beklommen leise sagte: „Ich glaube, wir müssen schneller gehen“, und er die Hand auf meinen Arm legte und bat: „Ach nein!“ und mich so – so – sonderbar dabei ansah … Und wie wir dann nachher, viel später, wieder in unseren Kähnen zurückfuhren und der Mond auf das Wasser schien, glänzend wie Silber und Gold und träumerisch wie das Glück – wie der Gesang dann vielstimmig über das Wasser hinhallte, so wie er nie bei Tage klingt, und ich nicht mitsang, sondern nur immer auf die eine schöne Stimme horchte, die mir so nahe war – wie eine warme Hand die meine faßte, und die beiden Hände dann ganz still und zutraulich so blieben, bis zuletzt … ach Gott, das klingt ja alles nach gar nichts, wenn ich es so hinschreibe, man muß es auch eigentlich gar nicht schreiben oder davon sprechen, wenn man nicht den Duft davon streifen will – aber ich weiß ganz gewiß, es war das Liebste und Süßeste, was ich bis dahin erlebt hatte.

Als ich an diesem Abend zu Bett ging, konnte ich lange, lange nicht einschlafen. Ich hatte den Vorhang vom Fenster zurückgeschlagen und konnte gerade zum Himmel emporsehen, von dem der Mond so ruhig, klar und schön herniederleuchtete und an dem die Millionen Sterne so feierlich strahlten. In meinem Herzen war es auch feierlich, als wenn etwas ganz Neues und Reines darin eingezogen wäre, und ich sagte mir leise, wie man sein Gebet sagt, daß ich nichts auf der Welt, kein Ding und keinen Menschen, so lieb hätte wie Franz Forst.

„Franz“, ich sagte es ein paarmal in Gedanken vor mich hin. „Franz“ – eigentlich fand ich den Namen nicht hübsch, seit ich die „Räuber“ gelesen hatte, aber wenn man ihn ganz leise und sanft sprach und sich ein Paar schöner brauner Augen dazu dachte, klang er doch merkwürdig gut.

„Franz – mein Franz“, ob ich das wohl einmal sagen würde, indessen mich ein kräftiger Arm fest, ganz fest umschlang und ich meinen Kopf ganz sicher und geborgen an ihn schmiegen durfte? Ich atmete tief auf. Ja doch, ja, es mußte ja so kommen! Er hatte mich ja auch lieb, ganz gewiß, nur gesagt hatte er mir’s noch nicht. Und das sollte er auch gar nicht. Gerade so hinleben und jeden Augenblick denken, nun könne es kommen, das köstliche Wort, gerade das war ja schön, – noch viele, viele Male so wie heute es fühlen, und doch nicht sagen – o Gott, was für eine schone Welt war es doch!

Aber endlich schlief ich doch wohl ein, denn ich glaube nicht, daß selbst die heißeste Liebe, wenn sie in einem zwanzigjährigen Herzen glüht, es fertig bringt, eine ganze lange Nacht über sich selbst nachzudenken. Ich schlummerte also doch ein und schlief, bis in den hellen Tag.

(Schluß folgt.)


[164] 0


Blätter & Blüten


Auf der Fahrt zur Schule. (Zu dem Bilde S. 149.) Wie mahnt doch das hübsche Kinderbild hier an den ungeheuern Wandel der Verhältnisse seit wenig Jahrzehnten! Eisenbahn fahren – der höchste Wunsch früherer Knaben- und Mädchengenerationen – ist heute zur alltäglichen Gewohnheit der großstädtischen Vorortsjugend geworden, kein Blick fällt mehr durch die Scheiben auf das vorüberfliegende Feld hinaus: man ist froh, noch schnell einmal die Lektionen zu überlesen, denn trotz den Anforderungen der Neuzeit ist doch der Fleiß während des Sonntags durchaus nicht größer geworden, als er vor Erfindung der Eisenbahnen war. Der Künstler zeigt uns ein paar Haupttypen der Schule hier auf den Holzbänken vereint: den gewissenhaften Büffler im soliden Ueberzieher, wie er unruhig eine schwache Stelle in seinem Heft erwägt, den helläugigen guten Lernkopf, dessen Finger auf die richtige Lösung deutet, das hübsche Mädchen mit dem blonden Lockenhaar und dem plötzlichen Fleiß im Bewußtsein böser Lücken in den gelernt sein sollenden Zeitwörtern, den braven kleinen Abcschützen, der seine neue Fibel als kostbares Gut ans Herz drückt, und endlich über ihm, aus der andern Abteilung herüberlangend, den lustigen Schlingel, dem das Nachlernen nicht im Traume einfällt.

Gerade hat er sich mittels Lineal, Schnur und Griffel ein sinnreiches Instrument konstruiert, um den arglosen Kleinen aus seiner tugendhaften Versunkenheit herauszukitzeln, und wird, wenn ihm dies gelungen, nicht zögern, auch dem älteren Teil der Gesellschaft eine entsprechende Aufmerksamkeit zu erweisen. Es scheint also, daß der Schuljungenhumor noch ebensowohl in den Schülerzügen der Neuzeit vorkommt wie auf dem schneeverwehten beschwerlichen Schulweg der alten. Und das ist gut, es wäre auch wirklich schade um ihn gewesen! Bn.     

Erinnerungen. (Zu dem Bilde S. 153.) „Lang’, lang’ ist’s her“, daß diese beiden Alten frohgemut vor dem Altar standen und dann in ihr armseliges Häuschen einzogen, wo Sorge und Arbeit sie erwarteten und harte Jahrzehnte lang nicht mehr von der Schwelle wichen. Aber zwei andere Hausgenossen hielten gleichfalls in all dieser Zeit treulich mit aus: Friede und Liebe. Sie machten das Schwere leicht, trösteten in Kummer und Trübsal, und sie sind es auch jetzt, welche die Hände der beiden Altgewordenen fest zusammenschließen, wenn diese am Sonntag vor dem Kirchgang, an dem sie nicht mehr teilnehmen kann, sich gemeinsam in Erinnerungen an vergangene Zeiten vertiefen. Sie möchten sie nicht noch einmal erleben, selbst um den Preis neuer Jugend nicht den heißen, schweren Arbeitstag nochmals beginnen. Aber jetzt, am Feierabend, noch ein paar Jährchen so in Stille beisammen bleiben – ja, wenn das der liebe Gott gewährte, dann wollten sie dankbar erkennen, daß er’s doch nur gut und gnädig mit ihnen gemeint habe! A.     

Am Fischotterbau. (Zu dem Bilde S. 157.) Der gefährlichste Fischräuber unserer Gewässer ist der Otter, und wo er seine Wohnung aufgeschlagen – sei es an einem Teiche, sei es an einem Bache – kann sehr bald der Fischer merken, daß er eine unliebsame Konkurrenz bekommen hat. Der Teich wird leer, der Bach fischarm. Aber wenn auch der Fischer allen Grund hat, ihm wegen seiner Thaten zu grollen, so zieht der Otter doch durch seine körperliche Gewandtheit im Wasser, durch seine Schwimmkünste und seine pfeilgeschwinden eleganten Bewegungen in den klaren Fluten die Augen und die Herzen an ebenso wie Reineke, den der Jäger haßt und der Beobachter liebt. Doch ein Otter ist ein heimliches Tier und es ist nur ein glücklicher Zufall, ihn im Freien beobachten zu können.

Obgleich er im Körper nur etwa so stark wie ein Fuchs, aber langgestreckter, muskulöser und bedeutend niedriger auf den Läufen ist, muß er im Wasser eine Kraft haben, die ans Wunderbare grenzt. Ich habe nämlich vor Jahren an der Weser ein über fußlanges Stück vom Kopfe eines Lachses gefunden, der mindestens 16 bis 18 Pfund gewogen hatte und, wie die Spuren bewiesen, von einem Fischotter ans Land geschleppt und zum Teil verzehrt war. Wenn man bedenkt, daß ein Lachs die Kraft hat, ein zehn Fuß hohes Wehr mit Leichtigkeit zu überspringen, und sich dann vorstellt, daß ihn ein Räuber, der nicht viel schwerer ist als er selbst, in seinem eigenen Elemente angreift, packt und überwältigt, so muß man vor der Kraft und Gewandtheit des Otters staunen. Gewöhnlich sind es jedoch nur kleinere Fische, die er fängt und sofort an Ort und Stelle verzehrt. Ganz kleine Fische verschluckt er im Wasser, mit mittelschweren und starken schwimmt er ans Land. Die geringeren nimmt er zwischen die Pfoten und beißt, beim Kopf anfangend, Stück für Stück ab, ohne sich um die Gräten zu bekümmern, während er bei stärkeren Fischen geschickt das Fleisch von den Gräten zu trennen weiß.

Er hat die Gabe, sehr lange unter Wasser bleiben zu können, und ein Beobachter schreibt, daß der Otter, wenn er sehr weite Strecken unter Eis fortzutauchen gezwungen wäre, unter Wasser ausatmete und die sich hierdurch unter dem Eise bildende Luftblase, die aus dem Wasser schon wieder etwas Sauerstoff aufgenommen hätte, wieder einatmete und so fort, bis er eine freie Stelle fände. Im allgemeinen sind aber die Luftblasen, die aufsteigen, wo ein Otter unter Wasser schwimmt, kein Atem, wie vielfach geglaubt wird, sondern Luft, die zwischen Grannen und Wollhaar hängen geblieben ist und nach und nach entweicht. Diese Luft verleiht auch dem Tiere die auffallend helle Farbe, die es unter Wasser hat. – Der Künstler Otto Vollrath aus München, selbst ein großer Jäger vor dem Herrn, führt uns auf seinem Bilde eine Scene aus einer Fischotterjagd vor mit den beiden Erdhunden, welche heute in Deutschland die beliebtesten sind, dem englischen Foxterrier und dem Teckel. Der Jäger hat die Spur des Otters, die leicht an den Schwimmhäuten kenntlich ist, am sandigen Ufer des Baches gefunden, hat seine Hunde gelöst, und stromaufwärts suchend, haben dieselben unter dem dichten unterspülten Wurzelwerk einer mächtigen Schwarzpappel das Versteck ihres Wildes gewittert. Die Fluchtröhre liegt aber halb unter Wasser, und da die Hunde geradeaus nicht an den Feind kommen können, bemühen sich beide, sich von oben und seitwärts durchzuarbeiten. Sobald der Otter aber merkt, daß es draußen nicht geheuer ist, gleitet er fast unhörbar in die Flut und sucht tauchend seinen Feinden zu entrinnen. Aber der Jäger hat aufgepaßt – er sieht das Wasser sich kräuseln und eilt, so rasch er kann, nach einer seichten Stelle des Baches, wo das Wasser rauschend über die Kiesel läuft. Fast gleichzeitig mit ihm ist auch der Otter schon dort, doch es knallt und Raby Trickster und Erdmann stürzen sich ins Wasser und packen und würgen ihren Todfeind. Karl Brandt.     

Die Besatzung des Mont Saint–Michel. (Zu dem Bilde S. 160 und 161.) Der Mont Saint–Michel, auf dem die von dem französischen Maler Lesrel dargestellte Soldatenscene spielt, ist nicht nur das beliebteste Ziel aller Reisenden, welche die Normandie und die Bretagne besuchen, er hat auch in der französischen Geschichte als uneinnehmbare Festung eine große Rolle gespielt. Der Berg des heiligen Michael, dessen Bild die „Gartenlaube“ im Jahrgang 1887 S. 673 brachte, ist nichts anderes als ein ungeheurer Granitblock, der sich in der Bucht gleichen Namens erhebt. Bei der Flut, die hier besonders stark ist, stellt er eine Insel dar, bei der Ebbe ist er von einer weiten Sandfläche umgeben. Erst vor etwa zehn Jahren hat man den Berg durch einen Damm mit dem Festlande verbunden, der auch bei der höchsten Flut den Wagen- und Fußgängerverkehr ermöglicht. Schon im frühesten Mittelalter wurde der Mont Saint–Michel zu einem berühmten Wallfahrtsort und so entstand daselbst eine Abtei, deren Prachtbauten das Felseneiland zu einem Wunder der Architektur gestalteten. Eine Kirche wurde auf der höchsten Spitze des Berges errichtet und daneben ein großes Klostergebäude, das seiner kühnen Bauart wegen von jeher den Namen La Merveille (das Wunder) getragen hat. Im Bilde Lesrels sehen wir links den durch zwei vorspringende Erkertürme befestigten Treppenaufgang der Abtei und rechts durch die offene Halle hindurch die zierlichen Spitzbogen des Kreuzgangs.

Die feste Lage und die Nähe der Grenze zwischen der Bretagne und der Normandie verliehen dem Mont Saint–Michel in früheren Zeiten eine große strategische Bedeutung. Die Abtei war daher befestigt und für kriegerische Zwecke ausgerüstet. In Kriegszeiten hatte sie starke Besatzung. Die Bretagner beneideten die Normannen um den Besitz des Bergs. Später bestürmten ihn die Engländer mehrmals ohne Erfolg und zur Zeit der Religionskriege machten die Hugenotten ebenso vergebliche Versuche, sich dieses festen Punktes zu bemächtigen.

Diese entlegene Zeit der französischen Religionskriege wählte der Maler Lesrel als geschichtlichen Hintergrund, auf dem er, frei der Eingebung seiner Phantasie folgend, ein fesselndes Bild des damaligen Soldatenlebens schuf. Ein Schüler Gérômes, hat Lesrel von diesem Meister die Genauigkeit der Zeichnung und des historischen Kostüms bis in alle Einzelheiten übernommen, und diese Vorzüge seines Pinsels kommen auch auf dem Bilde „Die Besatzung des Mont Saint–Michel“ zur vollen Geltung. Die Situation, in die uns der Künstler versetzt, ist nicht schwer zu erkennen. Offenbar hält die Besatzung, da der Feind nicht in der Nähe ist, ein lustiges Zechgelage ab und die militärische Kapelle, in der selbst ein Guitarre spielender Mohr sich vorfindet und die durch freiwillige Geiger und Flötenbläser verstärkt ist, spielt lustige Weisen auf, während andere der Tapferen sich mit Würfelspiel die Zeit vertreiben. Der Wein, den die schmucke Marketenderin kredenzt, fließt reichlich und läßt die fröhlichen Geister gar ausgelassen werden. Inmitten dieser Zechenden erscheint plötzlich ein Bote, der dem Kommandanten ein wichtiges Schriftstück übergiebt. Was für Nachrichten bringt der Fremde? Die Linke auf dem Degenknauf, den breitkrempigen Hut mit der lang herabwallenden Feder in der Rechten, steht er abseits hinter dem Kommandanten und seine Haltung paßt nicht in die fröhliche Schar. Und siehe da, auch die Züge des Kommandanten werden ernster, während er die Botschaft für sich liest. Sein Antlitz verfinstert sich; die lustige Besatzung merkt noch nichts von dem Ernst, der nunmehr ihren Führer durchdringt. Bald aber wird der Kommandoruf erschallen, die Trommel kriegerische Wirbel schlagen; bald wird der Stabstrompeter die achtlos hingeworfene Drommete aufheben, um schneidige Fanfaren zu schmettern. Da wird der eine den Fiedelbogen mit dem blanken Säbel, der andere die Flöte mit der Hakenbüchse vertauschen und die Würfler werden im Kriegsspiel ihr Glück versuchen; denn der Feind ist im Auzug und eine Schande ohnegleichen wäre es, wenn er die noch jungfräuliche Feste des Saint-Michel überrumpeln und einnehmen sollte.


Inhalt: Fata Morgana. Roman von E. Werner (9. Forschung). S. 149. – Auf der Fahrt zur Schule. Bild. S. 149. – Erinnerungen. Bild. S. 153. – Friedrich Hessing. Von Prof. Dr. Th. v. Jürgensen. Mit Bildnis. S. 156. – Am Fischotterbau. Bild. S. 157. – Mein Roman. Novelle von Eva Treu (Fortsetzung). S. 158. – Die Besatzung des Mont Saint-Michel. Bild. S. 160 und 161. – Blätter und Blüten: Auf der Fahrt zur Schule. S. 164. (Zu dem Bilde S. 149.) – Erinnerungen. S. 164 (Zu dem Bilde S. 153.) – Am Fischotterbau. Von Karl Brandt. S. 164. (Zu dem Bilde S. 157.) – Die Besatzung des Mont Saint–Michel. S. 164. (Zu dem Bilde S. 160 und 161.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 10. 1896.


Karl Reinthaler †. In Bremen verschied am 13. Februar Karl Reinthaler, ein Musiker, dessen Bedeutung als Komponist allseitig anerkannt ist und der insonderheit auf das musikalische Leben der alten Hansestadt einen hervorragenden Einfluß ausgeübt hat. Im altehrwürdigen Lutherhause zu Erfurt wurde er am 13. Oktober 1822 als Sohn eines Geistlichen geboren. Dem Vater zuliebe studierte er in Berlin, trotzdem er mit Leib und Seele schon Musiker war, Theologie und ging erst nach abgelegtem Examen ganz zur Musik über, dabei in A. B. Marx in Berlin den eifrigsten Förderer seiner Bestrebungen findend. Einige wirkungsvolle Psalmenkompositionen für den k. Domchor in Berlin trugen ihm ein preußisches Reisestipendium nach Italien ein, wo er Kirchengesang studierte. 1853 folgte er einem Rufe Hillers als Gesangslehrer an das Konservatorium zu Köln, von wo er 1858 als städtischer Musikdirektor, Domorganist, Leiter der Singakademie und des Domchors nach Bremen kam. In dieser Stellung und später auch an der Spitze der Liedertafel hat er bis 1890 segensreich gewirkt und gleichzeitig zahlreiche Kompositionen von bleibendem Werte geschaffen. Reinthaler war eine durch und durch ideal angelegte Natur. Bei den alten Meistern ist er in die Schule gegangen. Zu Mendelssohn steht er insofern in besonderer Beziehung, als er sich im geistlichen Oratorium, und zwar in der demselben von Mendelssohn verliehenen verjüngten Gestalt, am erfolgreichsten hervorgethan hat. Sein treffliches Oratorium „Jephtha und seine Tochter“, das ihm am frühesten einen allgemein geachteten Namen errang, ist dafür Zeuge. Die romantische Seite seines künstlerischen Wesens zeigt sich am entschiedensten in seiner in Frankfurt a. M. preisgekrönten reizenden Oper „Das Käthchen von Heilbronn“. Er schuf noch eine zweite Oper „Edda“, ferner eine Symphonie, die Chorwerke „In der Wüste“, „Das Mädchen von Kolah“, Quartette für gemischten Chor und Männerchor, Psalmen und Lieder.

Karl Reinthaler.
Nach einer Aufnahme vom Hofphotographen J. B. Fellner Nachfolger Fritz Krüger in Bremen.

1876 errang er sich in der von der Stadt Dortmund ausgeschriebenen Konkurrenz für die Komposition der Gottschallschen „Bismarckhymne“ den ersten Preis, für welche er auch den Titel eines Königl. Preußischen Musikdirektors erhielt. 1888 wurde er zum Professor ernannt. Um die künstlerische Hebung des deutschen Chorgesangs hat er sich wesentlich verdient gemacht, im besonderen auch als Leiter der großen Konzerte der Bremer Singakademie. Er war das letzte Ehrenmitglied der „Vereinigten Norddeutschen Liedertafeln“. Seit einigen Jahren war er infolge eines Schlaganfalls gelähmt, behielt aber bis zuletzt die volle geistige Frische, so daß er noch kurz vor seinem Tode Konzerte besuchte und im Gesang unterrichtete. W. G.     

Ludwig Gabillon.

Ludwig Gabillon †. In dem ebenfalls am 13. Februar verstorbenen Ludwig Gabillon hat das Wiener Hofburgtheater eines seiner beliebtesten Mitglieder, das berühmte „Ensemble“ desselben eine seiner festesten, treuesten Stützen verloren. In ihm lebte der Geist Heinrich Laubes fort, unter dessen Leitung das Wiener Burgtheater eine seltene Blüte erreichte und dessen scharfer Kennerblick wie so viele auch diesen Künstler noch in der Zeit des Werdens in seiner Eigenart und seinem Vollwert erkannte. Laube war es, der, nachdem er 1853 den jungen stattlichen Mecklenburger für Wien gewonnen, dessen urkräftigem Talente diejenige Richtung wies, in welcher Gabillon dann von Erfolg zu Erfolg schritt, statt jugendlicher Liebhaber wie früher, nun düstere reckenhafte Helden, ernste Charaktere von Kraft und Mark, geistvolle Intriguanten oder auch von Humor übersprudelnde Bonvivants spielend. Dabei war er, der Landsmann Fritz Reuters, selbst ein Naturell von frischestem Humor, ein unermüdlicher Erzähler voll Witz und Laune, jovial im Umgang, treu im Dienst wie in der Freundschaft – kein Wunder, daß sein Tod in dem so theaterfreundlichen Wien außergewöhnlich betrauert wird! Das Wandervirtuosentum lag anderseits seiner Art fern, woher es kommt, daß man ihn in den Jahren seiner künstlerischen Gereiftheit nur auf wenigen anderen Bühnen öfter als Gast gesehen hat.

Seine schauspielerische Laufbahn hatte er im Alter von 16 Jahren 1844 auf dem Stadttheater in Rostock begonnen, und zwar mit der Statistenrolle eines Indianers in der „Sonnenjungfrau“. Die folgenden Lehr- und Wanderjahre sahen ihn in Oldenburg, Schwerin, Kassel, Hannover und London, wohin er Emil Devrient auf ein Gastspiel begleitete. Zu seinen bewundertsten Rollen, denen er dann in Wien mustergültige Gestalt gab, zählten neben Alba und Talbot der Hagen in Hebbels „Nibelungen“, der Lindenschmied in Otto Ludwigs „Erbförster“ und Ritter Boffesen in Bauernfelds „Landfrieden“. Der bedeutende Darsteller war auch ein ausgezeichneter Regisseur; als solcher hat er dem Burgtheater seit 1875 gedient. Seiner norddeutschen Heimat bewahrte er im Herzen eine große Anhänglichkeit, von den Werken Fritz Reuters war er ein großer Verehrer, und durch öffentliche Vorlesungen aus denselben gelang es ihm, dessen Poesie und Humor auch in Wien volkstümlich zu machen. Seine Gattin, Zerline Gabillon, die gleichzeitig mit ihm von Laube nach Wien engagiert worden war und neben ihm an die vierzig Jahre auf derselben Bühne mit gleichem Erfolge gewirkt hat, ist ihm schon vor drei Jahren in den Tod vorausgegangen. p.     

Universal-Gardinen-Anstecker.

Universal-Gardinen-Anstecker. Eine recht praktische Neuerung, durch die unseren Hausfrauen das Anstecken der Vorhänge wesentlich erleichtert wird, wurde von der Firma Zimmermann u. Co., Berlin SW., Markgrafenstraße 72, in den Handel eingeführt. Dieselbe besteht, wie unsere Abbildung zeigt, aus einem Blechstreifen, an dem in regelmäßigen Abständen Haken von Stecknadelstärke angebracht sind. Man nagelt den Blechstreifen an der Rückseite der Gardinenstange fest und kann nun durch einfaches Aufziehen der Vorhänge auf den Nadeln des Blechstreifens den schönsten Faltenwurf erzielen. Das Abnehmen der Gardinen wird beim Gebrauch dieses Ansteckers gleichfalls bedeutend erleichtert, so daß im Vergleich zu den alten Befestigungsarten viel Zeit gewonnen wird.

Hauswirtschaftliches.

Gegen den Rost. Kunstgußwaren aus Eisen und Stahl rosten leicht und lassen sich nur auf folgende Weise gut und völlig reinigen. Man muß sich aus Zinnasche und gepulvertem Hirschhorn zu gleichen Teilen mit der doppelten Menge Spiritus einen Teig anrühren und damit die Gegenstände gut abbürsten, worauf man sie mit Löschpapier trocken reibt. Will man vermeiden, daß sich in Zukunft neuer Rost ansetzt, so muß man die Gegenstände nach der Reinigung mit einem farblosen Lacküberzug versehen. He.     

Praktischer Plättbrettbezug. Nichts hindert mehr am raschen und guten Plätten, als ein nicht tadellos glatt sitzender Plättbrettbezug. Die gewöhnlichen Bezüge, die jede Hausfrau wohl selbst aus alten Bettbezügen, Leinwandlaken u. s. w. fertigt und meist mit Bändern unter dem Plättbrett schließt, haben oft die Neigung, sich zusammenzuschieben und außerdem dort, wo die Bänder angenäht sind, auszureißen. Man fertigt daher den Plättbrettbezug am praktischsten, wenn man ihn etwa 8 cm breiter als das Plättbrett schneidet, an beiden Längsseiten einen etwa 4 cm breiten Streifen entgegensetzt und nun beide Seiten in regelmäßigen Abständen mit Knopflöchern versieht. Man schraubt dann in die Unterseite des Plättbrettes an den entsprechenden Stellen kleine Messingknöpfchen ein und knöpft den Bezug daran fest. L. H.     



An unsere Leser.

     manicula Um den praktischen Interessen der Familie zu dienen, haben wir in dem Anzeigenteil der „Gartenlaube“ eine besondere Rubrik, den Kleinen Vermittler“, eingeführt. In denselben werden Anzeigen, welche Stellengesuche und Stellenangebote, Unterricht und Pensionatswesen betreffen, Inserate über Kauf und Verkauf von Grundstücken, sowie überhaupt Ankündigungen aus dem täglichen Kleinverkehr zu besonders ermäßigtem Insertionspreise aufgenommen. Das Wort in gewöhnlicher Schrift kostet 15 Pf., in fetter Schrift 20 Pf. Wir empfehlen den „Kleinen Vermittler“ der freundlichen Beachtung unserer Leser. Die Anzeigen sind an die Anzeigen-Administration der „Gartenlaube“ (Annoncen-Expedition Rudolf Mosse), also nicht an den unterzeichneten Verlag, zu richten. Der Verlag der „Gartenlaube“. 

[164 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]