Die Gartenlaube (1896)/Heft 12

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[181]

Nr. 12.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Der erste Star.
Nach einer Originalzeichnung von Lothar Meggendorfer.

Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (11. Fortsetzung.)

Es mochte etwa vierzehn Jahre her sein, daß sich Professor Helmreich in Kronsberg niedergelassen hatte, das damals noch ein ganz unbedeutendes Bergstädtchen war. Er hatte einen Sommer lang dort gewohnt, angeblich um seine Gesundheit in der Alpenluft zu kräftigen, und dann schon im Herbste die Besitzung Burgheim erworben, die gerade zum Verkauf stand.

Man erfuhr bald, daß er einen nicht unbedeutenden wissenschaftlichen Ruf besaß und an einer großen Universität einen philosophischen Lehrstuhl bekleidet, sein Amt aber schon vor einigen Jahren niedergelegt habe. Der Professor hatte beim Abschluß des Kaufes erklärt, er habe seine Stellung aufgegeben, um ganz seinen Studien zu leben und ein größeres wissenschaftliches Werk in ungestörter Ruhe zu vollenden. Weiter verlautete nichts, aber das erklärte auch vollständig die Zurückgezogenheit des Gelehrten, der sich hartnäckig von jedem Verkehr abschloß. Er widmete in der That seine ganze Zeit seinen Studien, die er mit einer wahren Leidenschaft trieb, und das Ergebnis derselben waren denn auch mehrere philosophische Werke, die in den betreffenden Kreisen sehr geschätzt, im Publikum aber kaum dem Namen nach bekannt waren.

Vor zehn Jahren hatte er dann seine Enkelin, nach dem jähen Tode ihres Vaters in Kairo, zu sich ins Haus genommen, aber die Ankunft des damals achtjährigen Kindes hatte nicht das Geringste an den einsiedlerischen Gewohnheiten des Großvaters geändert. Die Kleine wurde zu demselben Leben verurteilt, das er selbst führte, und grundsätzlich von jedem Umgange mit Altersgenossen ausgeschlossen. Helmreich hatte sie sogar selbst unterrichtet, nur um zu verhindern, daß sie in der Schule mit andren Kindern in Berührung kam. So wuchs denn die kleine Elsa heran, in dem alten düsteren Hause, ohne Spielgefährten, ohne Kinder- und Jugendfreuden, immer nur auf den Verkehr mit dem strengen, finsteren Großvater angewiesen, der nach und nach ganz zum Sonderling geworden war.

Sonneck hatte, als er sich von dem Hofrat trennte, den Rückweg nach Burgheim angetreten. Er erreichte eben das Thor und wollte es öffnen, als ein wütendes Gebell ertönte und ein riesiger Hund, der aus dem Garten hervorstürzte, sich drohend hinter dem Gitter aufrichtete, ihm den Eingang zu verwehren.

[182] „Ruhig, Wotan – ich bin es!“ rief der Gast. Wotan hörte kaum die bekannte Stimme, als sein Gebell sich in freudiges Gewinsel verwandelte. Es war ein prächtiges Tier, riesengroß und offenbar auch riesenstark; das dichte dunkelgraue Fell war hier und da mit schwarzen Streifen gezeichnet, der mächtige Kopf, den eine förmliche Mähne schmückte, hatte etwas wolfsartiges, aber das eben noch so zornige Tier schmiegte sich jetzt schmeichelnd und wedelnd an den Eintretenden und ließ es sich nicht nehmen, ihn nach dem Hause zu begleiten.

Das Gebell des Hundes hatte inzwischen noch einen zweiten Wächter herbeigezogen. Am Fuße der Steintreppe tauchte ein alter aber noch rüstiger Mann auf, eine kräftige Gestalt, in Lodenjacke und Kniehosen, mit einem verwitterten, griesgrämigen Gesicht. Er schien Diener und Gärtner in einer Person zu sein und nicht übel Lust zu haben, den schweren Spaten, den er in der Hand hielt, gegen den Eindringling zu brauchen. Beim Anblick desselben wurde seine grämliche Miene zwar nicht freundlicher, aber doch minder grimmig. Er zog den Hut und ließ ein brummiges „Grüß Gott!“ hören. Dann gab er den Eingang frei und ging, um eilig das Gitterthor zu schließen, das halb offen geblieben war. Sonneck mußte unwillkürlich lächeln, die „Instanzen“ blieben auch ihm nicht erspart. Er hatte dem Alten flüchtig zugenickt und trat nun in das Haus.

Der Professor befand sich jetzt in seinem Arbeitszimmer, das ebenso groß, aber womöglich noch düsterer war als das Wohngemach und auf der anderen Seite der Flurhalle lag. Hier sah man nur Bücher und nichts als Bücher, die ganze umfangreiche Bibliothek Helmreichs war in diesem Raume untergebracht. Die offenen Schränke nahmen die ganzen Wände bis hinauf zur Decke ein und ließen gar keinen Platz für andere Gegenstände. Am Fenster stand ein großer Schreibtisch, der mit Papieren, Büchern und Manuskripten förmlich belastet war, und davor ein hoher Lehnstuhl, mit schwarzem Leder überzogen. Beide zeigten die Spuren langjähriger Benutzung, sonst fehlte auch hier jeder Zimmerschmuck und damit jede Behaglichkeit. Dort, wo der Schreibtisch stand, hatte man allerdings einen Teil der Tannenzweige draußen entfernt, um Licht für die Arbeit zu schaffen, dafür drängten sie sich vor dem anderen Fenster um so dichter zusammen, so daß in diesem Teile des Zimmers eine halbe Dämmerung herrschte.

Professor Helmreich saß in dem Lehnstuhl und vor ihm auf einem niedrigen Sessel ein junges Mädchen, das ihm aus einem Buche vorlas, sich aber beim Eintritt des Gastes sofort erhob.

„Guten Tag, Fräulein Elsa!“ sagte dieser, ihr die Hand reichend. „Wie geht es, Herr Professor? Leider, wie ich eben hörte, nicht zum besten, ich bin gerade dem Hofrat begegnet.“

„Jawohl, er hat mich wieder einmal gequält mit seinen Verordnungen und Befehlen,“ murrte der Professor. „Helfen kann er mir natürlich nicht. – Nehmen Sie Platz, Lothar! Du kannst jetzt gehen, Elsa.“

„Ich muß Dir erst Deinen Wein bringen, Großvater,“ erinnerte das junge Mädchen.

„Laß mich in Ruhe, ich mag nicht!“

„Aber der Hofrat hat mir eigens aufgetragen, Dir vormittags –“

„Den Hofrat soll der Kuckuck holen – ich will nicht, sage ich Dir!“

Elsa schwieg bei dieser unfreundlichen Abweisung und blickte nur wie Hilfe suchend zu Sonneck hinüber, der denn auch nicht zögerte, für sie das Wort zu ergreifen: „Ich denke, Sie wollen sich arbeitsfähig erhalten für Ihr letztes großes Werk,“ sagte er ruhig. „In Ihrem Alter geht das nicht ohne solche Kräftigung, das müssen Sie sich doch selbst sagen.“

„Der Hofrat hat mir ja das Arbeiten verboten,“ grollte Helmreich, den der Besuch des Arztes offenbar in die übelste Laune gebracht hatte.

„Nicht verboten, nur beschränkt, und da hat er recht. Nehmen Sie sich an mir ein Beispiel! Glauben Sie, daß es mir, der nie gewußt hat, was Schonung heißt, jetzt leicht wird, mich all den Vorschriften der Kur zu fügen? Ich trage eben der Notwendigkeit Rechnung, das müssen wir alle.“

Die ruhige Bestimmtheit dieser Worte verfehlte nicht ihren Eindruck auf den alten eigensinnigen Mann, er machte eine ungeduldige, aber doch zustimmende Bewegung.

„Nun denn, meinetwegen – gieb das Zeug her!“

Elsa trat an einen kleinen Tisch, der an dem anderen Fenster stand, und goß aus einer Karaffe schweren dunklen Wein in das bereitstehende Glas. Sonnecks Blick hing dabei unverwandt an dem jungen Mädchen, das er einst als Kind in den Armen gehalten und nun erst nach zehn langen Jahren wiedergesehen hatte.

Von dem Kinde war freilich nichts mehr zu entdecken in dieser hohen, schlanken Mädchengestalt, aber sie hatte auch keinen Zug mehr von dem kleinen sonnigen Wesen, das einst so süß schmeicheln und so trotzig aufflammen konnte, wenn es gereizt wurde. Schön war Elsa von Bernried allerdings geworden. Was damals noch in der Knospe schlief, das entfaltete sich jetzt in der vollen, rosigen Frische der Jugend, aber es lag etwas eigentümlich Kaltes, Ernstes in der ganzen Erscheinung, und das jugendliche Antlitz hatte einen Ausdruck, der beinahe herb erschien. Und doch war das Mädchen kaum achtzehn Jahr alt.

Das blonde Haar war im vollsten Widerspruch mit der herrschenden Mode einfach gescheitelt und legte sich in zwei schweren, goldig schimmernden Flechten um den Kopf, den sie wie ein Kranz schmückten. Das war aber auch der einzige Schmuck, denn weder das graue Hauskleid, noch das glatte weiße Schürzchen zeigten auch nur das Geringste von jenem zierlichen Tand, mit dem die Jugend sich so gern schmückt, sie waren von höchster Einfachheit. Auch die Bewegungen Elsas hatten, trotz aller Anmut, etwas Einförmiges, Abgemessenes und ihr auffallend schweigsames und zurückhaltendes Wesen vollendete noch das Befremdende des ganzen Eindrucks, der so vollständig im Widerspruch mit der Schönheit und dem Alter des Mädchens stand.

Sie brachte jetzt das gefüllte Glas dem Großvater, der es widerwillig genug nahm und dann kurz und herrisch seinen früheren Befehl wiederholte: „Und nun geh’, wir wollen allein sein!“

Elsa gehorchte schweigend, sie schien vollständig an diese Behandlung gewohnt zu sein. Sonnecks Augen folgten ihr auch jetzt, als sie das Zimmer verließ, dann sagte er halblaut: „Sie haben sich eine sehr gehorsame Enkelin erzogen, Herr Professor.“

„Nun ja, es hat auch Mühe genug gekostet,“ entgegnete Helmreich kühl. „Sie ahnen nicht, was ich im Anfang für Not hatte mit dem verzogenen kleinen Geschöpf, das gewohnt war, überall seinen Willen zu haben, und gar nicht wußte, was Gehorsam ist. Es zeigte bei jeder Gelegenheit einen Trotz und eine Leidenschaftlichkeit, die gar nicht zu bändigen waren. Nun, ich habe sie gebändigt, aber ich mußte zu den allerschärfsten Mitteln meine Zuflucht nehmen. Ja, Lothar, da runzeln Sie nun wieder die Stirn, ich weiß es längst, daß Sie meine ganze Erziehungsweise für eine Grausamkeit halten. Sie haben mir das oft genug zu verstehen gegeben, aber ich habe es erfahren, wohin es führt, wenn man ein Kind verwöhnt und vergöttert, wenn man ihm jeden Wunsch erfüllt, jede Freiheit gestattet. An mir hat sich das schwer genug gerächt – das Ende war Unheil und Schande.“

„Schande haben Sie an Ihrer Tochter nicht erlebt, die Ehe von Elsas Eltern war eine völlig korrekte!“ warf Lothar mit Nachdruck ein. „Sie ließen sich ja nach jener Flucht trauen, freilich ohne den Segen des Vaters.“

Helmreich lachte herb und höhnisch auf.

„Jawohl, ohne den Segen des Vaters! Das heißt, sie lief bei Nacht und Nebel davon mit ihrem Geliebten und die ganze Universität zeigte mit Fingern auf ihren Rektor, dem das seine Tochter anthat! Schweigen Sie mir davon, ich kann noch jetzt nicht daran denken, aber ich will es nicht zum zweitenmal erleben! Deshalb habe ich Elsa so und nicht anders erzogen.“

„Und dabei haben Sie ihre eigentliche Natur vollständig gebrochen – freilich, das wollten Sie ja!“

„Ganz recht, das wollte ich, denn darin lag die größte Wohlthat für das Mädchen. Ich weiß es nur zu gut, von wem diese ‚Natur‘ stammte, dieser störrische Eigenwille, diese maßlose Leidenschaftlichkeit, die sich gegen alle Schranken und Pflichten aufbäumt. In dem achtjährigen Kinde schon verriet sich das Blut des Vaters, dieses Buben, der mir die Tochter stahl –“

„Ludwig von Bernried ruht seit zehn Jahren im Grabe, lassen Sie ihn ruhen!“ unterbrach ihn Lothar ernst; aber die Mahnung fruchtete nichts bei dem Erregten, er fuhr mit bitterem Spott fort: „Sie haben ihn wohl sehr betrauert, Ihren Busenfreund, und er hat doch auch Sie betrogen, damals als Sie die Hand boten zu jener Zusammenkunft – Lothar, das habe ich Ihnen auch heute noch nicht verziehen!“

[183] „Ich glaubte, es handelte sich um einen Abschied, Bernried hatte mir sein Wort gegeben.“

„Und es dann gebrochen! Der ehrlose Verräter!“

Sonneck erhob sich plötzlich und trat dicht vor ihn hin.

„Nicht weiter, Herr Professor, wenn Sie mich nicht forttreiben wollen! Ludwigs Wortbruch hat mich damals schwer genug getroffen, viel schwerer als Ihre Vorwürfe, aber er hat gebüßt mit einem verfehlten Leben und einer bitteren Todesstunde. Der Tod löschte seine Schuld – ich dulde es nicht, daß er noch im Grabe geschmäht wird!“

Die Worte wurden mit einer solchen Entschiedenheit gesprochen, daß der alte verbitterte Mann davor verstummte, er lehnte sich finster in seinen Stuhl zurück.

„Nun so lassen Sie auch die alten Erinnerungen,“ murrte er. „Sie wissen es ja, ich kann sie nicht vertragen.“

„Habe ich diese Erinnerungen wachgerufen? Sie sind es, der sich in unaufhörlicher Selbstquälerei damit martert. Brechen wir ab davon, Sie wollten ja schon gestern etwas Wichtiges mit mir besprechen, waren aber zu unwohl, um eine längere Unterhaltung zu führen.“

„Ganz recht, und der Anfall hat mir gezeigt, daß ich nicht mehr viel Zeit zu verlieren habe, wenn ich Verfügungen treffen will. Meine Tage sind gezählt.“

„Der Hofrat meint, daß eine nahe Gefahr nicht vorhanden sei,“ warf Sonneck ein, indem er wieder seinen Platz einnahm. Der Professor zuckte verächtlich die Achseln.

„Jawohl, das hat er mir auch gesagt, er wollte mich wahrscheinlich trösten damit. Lächerlich! Als ob es ein Vergnügen wäre, diesen elenden, gebrechlichen Körper noch ein paar Jahre länger mit sich herumzuschleppen. Und was das Leben selbst betrifft, dies erbärmliche Dasein, das nichts als Not und Elend bringt, das habe ich schon seit zwanzig Jahren satt. Ich möchte nur mein letztes großes Werk noch abschließen und das ist in ein paar Monaten gethan, dann mag die Geschichte ein Ende nehmen, je eher desto besser!“ Es lag eine so herbe Bitterkeit in dem Ausbruch, daß man wohl sah, dem Manne war es ernst mit seiner Verachtung des Lebens.

Lothar wußte das längst und hatte es auch längst aufgegeben, dagegen anzukämpfen, jetzt aber mahnte er in vorwurfsvollem Tone: „Und Ihre Enkelin?“

„Elsa? Ja, darüber wollte ich eben mit Ihnen reden. Burgheim ist immerhin etwas Wert, besonders seit der – berühmte Weltkurort da drüben seine Arme immer weiter ausstreckt. Es ist schuldenfrei und wird, wenn es nach meinem Tode verkauft wird, Elsa ein bescheidenes Los sichern. Aber wohin mit dem Mädchen? Ich stehe mit niemand mehr in Verkehr und habe all meine früheren Beziehungen abgebrochen.“

Sonneck hatte schweigend zugehört, ohne ihn zu unterbrechen, jetzt fragte er ruhig: „Wollen Sie mir Elsas Zukunft anvertrauen?“

„Ihnen?“ Helmreich sah ihn erstaunt an. „Ich denke, Sie gehen nach Afrika zurück, sobald Sie völlig wiederhergestellt sind?“

„Nein, ich bin entschlossen, in Deutschland zu bleiben, wenn auch der Entschluß kein freiwilliger ist. Hofrat Bertram hat mir keinen Zweifel darüber gelassen, daß ich das Tropenklima ein für allemal meiden muß, wenn ich überhaupt noch auf Leben und Gesundheit rechnen will. Ich besitze ja keine Reichtümer, aber doch immerhin genug, um ganz unabhängig leben zu können. Ich werde mich also irgendwo in Deutschland niederlassen.“

Das finstere Gesicht des Professors hatte sich bei dieser Erklärung mehr und mehr aufgehellt und jetzt richtete er sich mit ungewohnter Lebhaftigkeit auf.

„Da nehmen Sie mir eine drückende Sorge vom Herzen, Lothar; auf diesen Ausweg hatte ich gar nicht gehofft. Jetzt kann ich bei meinem Tode alle Verfügungen in Ihre Hände legen und meine Enkelin Ihrer Vormundschaft übergeben. Sie sind ja alt genug, um ihr Vater sein zu können – nun erschrecken Sie nur nicht, ich meine das nicht buchstäblich! Ich werde Ihnen selbstverständlich nicht zumuten, sich eine solche Last aufzubürden.“

Lothar hatte in der That bei dem Worte „Vater“ eine ablehnende, halb unwillige Bewegung gemacht, jetzt aber flog ein Lächeln über seine Züge, während er halblaut wiederholte: „Eine Last? Halten Sie es wirklich dafür?“

„Ein Mädchen ist immer eine Last!“ sagte Helmreich in herbem Tone. „Denken Sie etwa, daß es mir leicht geworden ist, in meinem Alter noch ein Kind, ein heranwachsendes Mädchen in das Haus zu nehmen und da noch den Erzieher zu spielen? Mir blieb keine Wahl, denn erzogen mußte das kleine Geschöpf doch werden; aber Sie sollen natürlich kein Opfer bringen, sondern nur dafür sorgen, daß Elsa in irgend einer stillen bescheidenen Familie untergebracht wird. Ich werde sofort meinem Testament die nötigen Bestimmungen wegen Ihrer Vormundschaft hinzufügen und Ihnen unbeschränkte Vollmacht geben, dann ist die Sache erledigt.“

In den Worten lag keine Spur von Herzlichkeit oder wirklicher Fürsorge, sie zeigten deutlich, daß der Großvater seine Enkelin in der That nur als eine Last betrachtete. Er war offenbar froh, einer Sorge überhoben zu sein, die ihn weit mehr gestört und geärgert als bekümmert hatte. Sonneck erhob sich und seine Stimme verriet den kaum verhehlten Unwillen, als er entgegnete: „Herr Professor, Sie haben sehr wenig Herz für Ihre Enkelin, sie hat es von jeher bei Ihnen büßen müssen, die Tochter ihres Vaters zu sein.“

„Nur keine Predigten, das verbitte ich mir!“ fuhr Helmreich gereizt auf. Dann lenkte er ein und sagte milder: „Wollen Sie etwa schon wieder fort? Ich wollte Ihnen erst noch eine Stelle aus meinem neuesten Kapitel vorlesen.“

„Später – möchte ich bitten. Jetzt will ich Elsa aufsuchen, ich habe mit ihr zu sprechen.“

„Worüber denn?“ grollte der Professor. „Es soll wohl wieder allerlei Verhaltungsregeln für mich geben, die dieser Hofrat ausgeheckt hat? Der Mensch ist mir unerträglich mit seiner ewigen Rechthaberei!“

Lothar antwortete nicht, sondern wandte sich mit einem kurzen „Also auf Wiedersehen!“ nach der Thür und verließ das Zimmer, während Helmreich zur Feder griff und an dem Manuskripte, das vor ihm auf dem Schreibtische lag, mit der Durchsicht fortfuhr.

Elsa befand sich im Wohnzimmer; sie saß am Fenster, mit einer Handarbeit beschäftigt, als Sonneck eintrat und einen Augenblick lang auf der Schwelle stehen blieb. Das düstere Gemach sah heute an dem trüben Sturmtage noch düsterer und unwohnlicher aus als sonst, das einzig Lichte war der blonde Kopf des jungen Mädchens, der sich über die Arbeit beugte.

„Bleiben Sie sitzen, Elsa,“ sagte Lothar, rasch zu ihr tretend, als sie sich erheben wollte. „Ich habe etwas Ernstes mit Ihnen zu besprechen, wollen Sie mich anhören?“

Elsa sah ihn groß und erstaunt an, sie war es nicht gewohnt, daß man etwas mit ihr besprach, und noch weniger daß man erst fragte, ob sie es auch hören wolle. Sie verriet aber nicht die mindeste Neugier, sondern neigte nur bejahend das Haupt und wartete schweigend auf eine Erklärung.

Es vergingen jedoch einige Sekunden, ehe Sonneck sprach. Der Mann, der die halbe Welt kannte und gewohnt war, mit den verschiedensten und bedeutendsten Persönlichkeiten zu verkehren, schien seltsamerweise hier befangen zu sein. Er suchte offenbar nach einer Einleitung, aber die helle Röte in seinem Antlitz, der gepreßte, etwas unsichere Klang seiner Stimme verrieten eine mühsam niedergehaltene Erregung, als er endlich begann: „Ihr Großvater ist recht leidend gewesen in der letzten Zeit und darunter müssen auch Sie leiden, nicht wahr? Er ist eben krank, und ein Kranker quält oft wider Willen seine ganze Umgebung, selbst das, was ihm lieb ist.“

„Der Großvater hat mich nicht lieb,“ sagte das junge Mädchen herb.

„Elsa!“

„Nein, Herr Sonneck, er hat mich nie lieb gehabt, auch damals nicht, da ich als kleines Kind zu ihm kam, und mein Papa –“

Sie brach plötzlich ab und preßte die Lippen zusammen, als sei ihr das Wort wider Willen entflohen.

„Nun?“ fragte Sonneck nach einer Pause. Das Mädchen schwieg und beugte sich wieder über die Arbeit.

„Sie wollten von Ihrem Vater sprechen, Elsa. Erinnern Sie sich seiner noch?“

Sie schüttelte langsam verneinend den Kopf. „Nein, bisweilen ist es mir wohl, als wollte sein Bild auftauchen, allein es ist ganz nebelhaft und unbestimmt, und wenn ich versuche, es festzuhalten, dann zerfließt es ganz. Sprechen durfte ich ja nie von dem Papa und auch niemals nach ihm fragen; der Großvater hat mich stets hart gescholten und gestraft, wenn ich das that.“

„Gestraft? Wenn ein Kind nach seinem Vater fragt! Das ist ja –“ Lothar hatte eine sehr harte Aeußerung auf den Lippen,

[184]

Palms Abführung zur Richtstätte.
Nach dem Gemälde von Jos. Weiser.

[185] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [186] unterdrückte sie aber; er konnte den alten tyrannischen Mann doch nicht vor seiner Enkelin anklagen, und so sagte er ernst: „Zu mir dürfen Sie von ihm sprechen, Elsa. Ich war der Jugendfreund Ihres Vaters, er ist mir einst sehr teuer gewesen und ich stand auch an seinem Sterbebette. Das Leben hatte ihm in den letzten Jahren viel Bitteres gebracht und es gab nur eins, was ihn hier zurückhielt – sein Kind, das er nun allein und frendlos zurücklassen mußte. Ich konnte die schwere Sorge nicht von ihm nehmen, denn ich hatte ja keine Heimat und stand unmittelbar vor meinem großen Zuge in das Innere Afrikas, der jahrelang dauerte – es hat mir damals wehe genug gethan!“

Elsa hatte die Hand an die Stirn gelegt, als wollte sie sich auf etwas besinnen, doch gelang es ihr offenbar nicht und sie fragte nur leise: „Mein Papa ist schon lange, sehr lange tot? nicht wahr?“

„Seit zehn Jahren, und zwei Monate später traten Sie die Reise nach Deutschland an. Erinnern Sie sich gar nicht mehr der großen fremden Stadt auf afrikanischem Boden? Der schönen, jungen Dame, zu der ich Sie nach dem Tode Ihres Vaters brachte? Des breiten, mächtigen Nilstroms mit den hohen Palmen und der fernen Wüste? Sie waren doch damals bereits acht Jahr und in dem Alter pflegt man sonst schon Eindrücke aufzunehmen.“

Das junge Mädchen hörte aufmerksam zu, aber es war nur jene Aufmerksamkeit, mit der man einem fremden wundersamen Märchen lauscht. Sonnecks Worte berührten augenscheinlich keine Saite in ihrer Erinnerung. „Ich habe das alles wohl noch gewußt, als ich hierher kam,“ erwiderte sie wie entschuldigend. „Hofrat Bertram sagt es wenigstens: ich bin jedoch einmal lange und schwer krank gewesen, und als ich wieder gesund wurde, hatte ich alles vergessen – alles!“

Das klang nicht bitter und nicht traurig, sondern nur gleichgültig. Sonneck unterdrückte einen Seufzer.

„Nun, so wollen wir es auch ruhen lassen,“ entgegnete er. „Ihr Großvater erträgt es ohnehin nicht, wenn von den alten Erinnerungen die Rede ist, und wir haben allen Grund, ihn zu schonen. Sie wissen es ja längst, Elsa, daß seine Krankheit ernster Natur ist, und wenn auch keine nahe Gefahr droht, so fühlt er es doch selbst am besten, daß ihm keine lange Lebensdauer mehr beschieden ist. Er hat vorhin ausführlich mit mir darüber gesprochen und wünscht für den Fall seines Todes, Sie meinem Schutze zu übergeben – sind Sie damit einverstanden?“

Es flog etwas wie ein heller Schein über die Züge des jungen Mädchens und ohne Zögern und Bedenken antwortete sie: „O gewiß, Herr Sonneck! Sie sind immer so gut gegen mich gewesen.“

Lothar nahm ihre Hand und schloß sie fest in die seinige, seine Stimme gewann einen weichen bebenden Klang, als er weiter sprach: „Und wenn ich dies Recht nun für immer in Anspruch nehmen wollte – für das ganze Leben? Wenn ich Ihnen jetzt sagen würde, was mir damals verwehrt war, als ich die kleine Waise aus den Armen des toten Vaters nahm. Komm an mein Herz! Ich will Dich schützen und behüten bis zu meinem letzten Atemzuge. Du sollst das Glück, der Sonnenschein meines Hauses sein, und alles, was ich bin und habe, soll Dein sein! – Was würden Sie mir antworten?“

Er beugte sich in atemloser Erwartung vor, aber die Antwort klang seltsam kühl und ernst auf die leidenschaftliche Frage.

„Ich würde Ihnen gewiß sehr dankbar sein und mir alle Mühe geben, Ihre Güte zu verdienen. Ich habe ja so manches gelernt und führe den Haushalt des Großvaters schon seit Jahren, da könnte ich mich gewiß auch in Ihrem Hause nützlich machen.“

Lothar ließ plötzlich ihre Hand fallen und stand heftig auf.

„Nützlich machen? Glauben Sie denn, daß ich eine Haushälterin aus Ihnen machen will? Kind, Sie verstehen mich nicht!“

Die großen Augen des Mädchens hingen wieder fragend und erstaunt an seinem Gesichte. Sie verstand ihn in der That nicht und begriff seine unwillige Abwehr so wenig wie vorhin seine hervorbrechende Zärtlichkeit. Sonneck sah, daß er deutlicher sprechen mußte.

„Sie sind im Irrtum, Elsa,“ sagte er, an ihren Stuhl tretend, und legte leise den Arm auf die Lehne desselben. „Sie sehen in mir nur den väterlichen Freund, der Ihnen eine Zuflucht in seinem Hause bietet – es ist etwas anderes, was ich von Ihnen fordere, etwas ganz anderes. Freilich, Sie halten es wohl nicht für möglich, daß der Mann, dem die Jugend längst versunken ist, es noch wagt, um Glück und Liebe zu werben, um ein holdes junges Wesen zu werben, das erst eintreten soll in das Leben. Es ist eine Thorheit, ich weiß es und habe den ganzen Winter lang mit mir gekämpft, ob ich überhaupt nach Kronsberg zurückkehren, Sie wiedersehen solle, allein die Sehnsucht war mächtiger als alle Vernunft. Komme was da will, ich muß wenigstens Gewißheit haben!“

Elsa schien jetzt endlich zu begreifen, um was es sich handelte, sie machte eine Bewegung, aber es war ein vielleicht unbewußtes, scheues Zurückweichen. Lothar sah das, seine Hand glitt langsam von der Lehne des Sessels nieder und er trat zurück.

„Soll ich schweigen? Sagen Sie ein Wort und – ich gehe für immer.“

„Nein, nein! Es war nur – ich wollte Sie nicht beleidigen, gewiß nicht!“ Das klang fast wie die Abbitte eines Kindes. Sonneck lächelte flüchtig und traurig.

„Beleidigen! weil Sie erschrecken, wenn ein Mann mit grauen Haaren Ihnen von Liebe spricht? Ich hätte freilich früher daran denken sollen, aber in den Jahren, wo die Jugend noch schwärmt und träumt, da verließ ich bereits Europa und ging hinaus in ein Leben, das mir gar keine Möglichkeit ließ, an ein häusliches Glück zu denken. Ein halbes Menschenalter lang bin ich umhergeschweift da draußen in der weiten Ferne, mein Frühling und mein Sommer sind darüber vergangen und Liebe und Glück sind mir ferngeblieben. Jetzt, im Herbst meines Lebens, tauchen sie endlich vor mir auf – zu spät! Ist es wirklich zu spät, Elsa? Das sollst Du mir sagen. Ich stelle trotz alledem die entscheidende Frage an mein Schicksal, an Dich! Willst Du mein Weib sein, mein geliebtes, angebetetes Weib? Sprich – ich lege mein ganzes Geschick in Deine Hände.“

Es war keine stürmische, leidenschaftliche Werbung, aber aus jedem Worte sprach eine grenzenlose Zärtlichkeit und Innigkeit. Elsa hörte zu mit einem starren, ungläubigen Staunen, sie konnte es noch immer nicht fassen, daß der Mann, der ihr stets so hoch und fern gestanden hatte, zu dem sie nur mit scheuer Ehrfurcht aufblickte, ihr jetzt von Liebe sprach, daß er sie zum Weibe begehrte. Als er geendet hatte, saß sie noch immer da, die verschlungenen Hände im Schoße, und regte sich nicht.

„Hast Du kein Wort für mich?“ mahnte er endlich in bebender Unruhe. „Sprich, und wenn es ein Nein ist, ich will es tragen, aber gieb mir Gewißheit!“

Elsa hob das Auge zu ihm empor, nur eine Sekunde lang, dann streckte sie die Hand aus und legte sie wortlos in die seinige.

„Heißt das – Ja?“ fragte er in aufflammender Hoffnung.

„Ja!“ sagte das junge Mädchen ruhig und einfach.

Da leuchtete es auf in den Zügen Lothars, ein Strahl unendlichen Glückes brach daraus hervor. Er schloß seine junge Braut in die Arme und nun strömte eine Flut von Zärtlichkeit über sie hin, die das so einsam und liebeleer aufgewachsene Mädchen wie ein Traum umfing. Sie sah es jetzt zum erstenmal, daß diese tiefen grauen Augen, die ihr immer bisher so düster erschienen, sehr schön waren; freilich leuchteten sie auch heute zum erstenmal in diesem sonnenhellen Glanze. Das ganze Wesen des sonst so ernsten, ruhigen Mannes war wie verklärt von Glück.

„Meine Elsa!“ sagte er leise, und seine Stimme zitterte in tiefster Bewegung. „Habe Dank für dieses Ja, tausendfachen Dank – Du ahnst es nicht, wie unaussprechlich glücklich Du mich gemacht hast!“

–       –       –       –       –       –       –       –       –       –       –       –       –

Professor Helmreich hatte sich weiter in sein Manuskript vertieft und alles andere darüber vergessen, als Lothar Sonneck mit seiner jungen Braut am Arme eintrat und sie zu dem Großvater führte. „Herr Professor, Sie haben mir vorhin erklärt, daß Sie Elsas Zukunft mit vollem Vertrauen in meine Hand legen,“ sagte er. „Ich nehme Sie beim Wort und bitte um Ihren väterlichen Segen für meine Braut und mich.“

Helmreich fuhr vom Stuhle auf und starrte die beiden an, als traute er seinen Augen und Ohren nicht. „Lothar, ich glaube, Sie haben den Verstand verloren!“ rief er in seiner rücksichtslosen Art.

„Sie meinen, weil der Altersunterschied zwischen uns so groß ist?“ fragte Lothar mit ruhigem Ernst. „Den kenne ich am besten, aber er geht nur meine Elsa allein an, und sie hat mir trotzdem ihr Jawort gegeben. Wir warten nur auf das Ihrige, das Sie uns doch wohl nicht verweigern?“

[187] Der Professor begriff jetzt erst, daß es mit der Sache ernst sei, aber er fand sich merkwürdig schnell darein, denn er erkannte, daß sie für ihn im höchsten Grade wünschenswert sei.

„Heiraten wollen Sie das Mädchen!“ sagte er. „Hm, die Geschichte ist im Grunde gar nicht so unsinnig, wie sie auf den ersten Blick aussieht. Wenn Sie sich ein Heim gründen wollen, müssen Sie natürlich auch eine Hausfrau haben. Es wirtschaftet sich schlecht mit Fremden, das habe ich erfahren, und Elsa versteht etwas vom Haushalt. Im Grunde haben Sie ganz recht, Lothar, und mir kann es nur recht sein, wenn ich das Mädchen geborgen weiß an Ihrer Seite. Sie haben mein Wort.“

Er sah die ganze Sache offenbar nur vom Nützlichkeitsstandpunkte an und setzte es als selbstverständlich voraus, daß auch Sonneck keinen anderen Beweggrund habe für seine Werbung. Elsa schien die unglaubliche Herzlosigkeit, die darin lag, kaum zu fühlen, um so mehr wurde Lothar durch sie verletzt, seine Stirn zog sich finster zusammen.

„Herr Professor, Ihre Enkelin wartet auf den Glückwunsch des Großvaters,“ mahnte er in einem Tone, der Helmreich doch daran erinnerte, daß er in diesem außergewöhnlichen Fall auch etwas Besonderes thun müsse, und so entschloß er sich denn dazu.

„Komm her, Elsa,“ sagte er. „Du weißt, ich halte nicht viel von den Menschen, aber der da, Dein künftiger Gatte, der ist einer von den Besten, einer von den wenigen, mit denen es sich lohnt zu leben. Du kannst stolz darauf sein, daß er Dich gewählt hat, und ich hoffe, Du wirst Dich dankbar dafür erweisen und im vollsten Maße Deine Pflicht thun.“

Die Worte hatten wohl einen Anflug von Wärme, aber doch nur, soweit sie Sonneck betrafen, für seine Enkelin hatte der Professor nur eine Mahnung an ihre künftigen Pflichten. Sie erwiderte keine Silbe darauf, sondern trat zu dem Großvater und empfing einen Kuß auf die Stirn, den ersten seit Jahren. Dann wandte sie sich wieder zu Sonneck, der sie in die Arme schloß, als wollte er sie schützen vor dem alten harten Manne, dem tiefe Verbitterung nicht einmal die Liebe für das einzige Kind seiner Tochter übrig gelassen hatte. Lothars tiefe graue Augen blickten wieder in die ihrigen so voll unendlicher Zärtlichkeit; jedoch Elsa hatte es noch nicht gelernt, diese Sprache zu verstehen.

(Fortsetzung folgt.)



Buchhändler Palm und die Napoleonische Gewaltherrschaft.

(Zu dem Bilde auf S. 184 und 185.)

Aus der Zeit der tiefsten Erniedrigung Deutschlands, da Volk und Fürsten der tyrannischen Willkür Napoleons preisgegeben waren, leuchten uns die Gestalten der Männer entgegen, die den Mut fanden, angesichts eines übermächtigen Feindes ihre Stimme gegen die Vergewaltigung zu erheben und ihr Blut für die Freiheit des Vaterlandes hinzugeben. Diese edlen Märtyrer, denen das Schicksal die Dornenkrone aufs Haupt gedrückt hat, entfachten im Volke die Flammen der Begeisterung und drängten es auf die Bahn der zuletzt siegreichen Freiheitskämpfe. Zu diesen Streitern für Deutschlands Ehre und Unabhängigkeit zählt auch der Nürnberger Buchhändler Palm, dessen Andenken das tiefergreifende Gemälde von Jos. Weiser geweiht ist.

Es war am 23. August 1806, da jene Schandthat verübt und Palm als Opfer der französischen Tyrannei in dem österreichischen Städtchen Braunau zur Richtstätte geführt wurde. Seine Schuld bestand nur in der Verbreitung einer deutschpatriotischen Schrift und doch mußte er sie mit seinem Leben büßen – ein Zeichen, wie sehr Napoleon ein Erwachen des deutschen Nationalgedankens fürchtete und mit welchen barbarischen Mitteln er den deutschen Geist zu knebeln suchte.

Johann Philipp Palm, geboren 1766 in Schorndorf, kam bei seinem Onkel, dem Buchhändler Palm in Erlangen, in die Lehre und war dann einige Zeit in Frankfurt a. M. und Göttingen im Buchhandel beschäftigt; dann machte er in Leipzig die Bekanntschaft des Nürnberger Buchhändlers Stein und heiratete dessen Tochter. So wurde er Inhaber der Steinschen Buchhandlung. Als solcher versandte er im Frühjahr 1806 die kleine anonyme Schrift „Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung“ nach Augsburg. Dort geriet sie in die Hände französischer Offiziere, welche sie wegen ihrer heftigen Angriffe auf Napoleon und die französische Herrschaft als eine hochverräterische der Pariser Regierung anzeigten; man suchte alsbald den Urhebern und Verbreitern derselben auf die Spur zu kommen, was bei der Menge der geheimen französischen Agenten, deren Netz über ganz Deutschland verbreitet war, nicht schwer fiel; auch nannte der Augsburger Buchhändler die Stein’sche Firma als diejenige, von welcher er das Buch erhalten.

Palm war noch in Geschäftsangelegenheiten in München, als er von seiner Gattin die Nachricht erhielt, vier schwarzgekleidete Herren seien in die Buchhandlung gekommen, um alles zu durchsuchen. Palm kehrte nach Nürnberg zurück, und als er dort die Nachricht von der Verhaftung des Augsburger Buchhändlers erhielt, begab er sich zu seinem Oheim nach Erlangen, wo er sicher gewesen wäre; denn diese Stadt befand sich noch unter preußischem Schutze. Die Sehnsucht nach seiner Familie und nach seinen Geschäften trieb ihn indes zurück, trotz aller Warnungen seiner Freunde. Sobald die Franzosen von seiner Anwesenheit in Nürnberg Kunde erhalten hatten, und zwar mit Hilfe eines Betteljungen, der für eine arme Soldatenwitwe um Almosen bat und bei Palm Zutritt gefunden, wurde der Buchhändler von Gendarmen verhaftet und bald darauf nach Ansbach zum Marschall Bernadotte gebracht. Vergebens war bei diesem das Flehen der verzweifelnden Gattin; ihm selbst bewilligte Bernadotte keine Audienz; sein Adjutant erklärte dem Buchhändler und dem Rechtsfreund, der ihn begleitete, alle Bittgesuche seien vergeblich, denn Palms Verhaftung beruhe auf einem unmittelbaren Befehl aus Paris. Palm wurde zunächst ins Gefängnis geworfen und dann nach Braunau abgeführt; er hätte dorthin zu Fuße wandern müssen, hätte ihm sein Rechtsfreund nicht Geld geliehen, wofür er sich einen Wagen verschaffen konnte. In Braunau kam er am 22. August an und wurde hier vor ein Kriegsgericht von 7 Obristen gestellt, welches, da ein kaiserlicher Befehl vorlag, nur diesem entsprechend sein Urteil fällen konnte. So wurde denn auch kurzer Prozeß gemacht und nach einem nichtssagenden Verhör das Todesurteil über Palm ausgesprochen, indem die Kommission einstimmig erklärte, daß alle Verfasser, Drucker und Verbreiter der angeführten Schandschrift des Hochverrats schuldig seien, „in Erwägung, daß, wo sich immer eine Armee befinde, es die erste und vorzüglichste Sorge des Chefs sein müsse, über ihre Sicherheit und Erhaltung zu wachen, daß die Verbreitung solcher Schriften, welche zu Aufstand und Meuchelmord reizen, nicht nur die Sicherheit der Armeen, sondern auch der Nationen bedrohe, daß nichts dringender sei, als die Fortschritte einer Lehre zu hemmen, durch welche das Völkerrecht, die Achtung, die man den gekrönten Häuptern schulde, gefährdet wird, so daß alle Ordnung und Subordination zusammenbricht.“ Außer Palm waren noch einige Buchhändler angeklagt, die aber rechtzeitig die Flucht ergriffen hatten; ein Handelsmann aus Donauwörth, der gleichfalls der Verbreitung jener Schrift bezichtigt und wie Palm zum Tode verurteilt war, wurde auf Verwendung seines Landesherrn begnadigt. Drei Stunden nach Verkündigung des Urteilsspruchs wurde dieser schon vollzogen und Palm, der aus dem Gefängnis noch einen rührenden Brief an seine Gattin geschrieben hatte, mit gebundenen Händen auf einen mit zwei Ochsen bespannten Leiterwagen gebracht und auf ein über die Leitern quergelegtes Brett gesetzt. An seiner Seite saßen zwei katholische Geistliche, welche über seine letzten Stunden eingehend berichtet und in diesen Berichten Zeugnis abgelegt haben von edelster Gesinnung und innigstem Mitgefühl. Auf dem Glacis vor dem Salzburger Thore stand die französische Besatzung in offenem Karree gegen die Stadtseite, nach welcher die Schüsse gerichtet werden sollten. Auf den Wällen der Festung waren die Kanonen zum Abfeuern bereit; denn man fürchtete Unruhen, da das Volk dem Verurteilten seine wärmste Teilnahme schenkte. Sein von Thränen feuchtes Schnupftuch sandte er als letzten Liebesgruß durch den Geistlichen seiner Gattin; mit einem andern wurden ihm die Augen verbunden, sechs Soldaten feuerten dann auf ihn mit zitternden Händen; er fiel zu Boden und stöhnte laut. Die nächststehenden Soldaten schossen noch einmal auf ihn; doch immer atmete er noch, bis andere herbeieilten und das Gewehr in nächster Nähe auf seinen Kopf abfeuerten. Damit endete die Todesmarter. Die höheren Offiziere hatten sich, mit Ausnahme des Majors, dem die Exekution anvertraut war, beurlaubt, um dem traurigen Schauspiel nicht beizuwohnen; die ganze Stadt war von tiefster Trauer erfüllt.

Heldenmütig und standhaft ertrug Philipp Palm sein Schicksal. Am Morgen des Todestages sang er noch heitere Lieder, weil er an seine Freisprechung glaubte; als aber die Würfel gefallen waren, fügte er sich ergeben in das Unvermeidliche. Was ihm einen ehrenvollen Platz in der Geschichte des deutschen Buchhandels einräumt, das ist die Tapferkeit, mit der er alles auf sich nahm und den Namen des Autors nicht preisgab. In diesem Sinne ist ihm 1866 in Braunau ein lebensgroßes Bronzestandbild errichtet worden. Solche Auszeichnung verdient der wackere Vertreter des deutschen Buchhandels, das Opfer der französischen Tyrannei.

Der Verfasser jener Schrift war höchst wahrscheinlich der Kammerassessor Johann Konrad von Yelin in Ansbach.

Palms Blut war aber auch nicht vergeblich geflossen; ein einziger despotischer Eingriff beleuchtet oft mit grellerem Lichte das Wesen einer alle Rechte mit Füßen tretenden Gewaltherrschaft als die Großthaten derselben auf den Schlachtfeldern und in den Kabinetten. Der volkstümliche Schimmer der korsischen Weltmacht verblich, als sie den deutschen Bürger aus seinem Heim herausschleppte, um ihn im tiefsten Frieden nach den brutalen Formen des Kriegsbrauchs zu morden. In allen deutschen Gauen erhob sich ein Schrei der Empörung über diese Gewaltthat, welche den Druck der Fremdherrschaft fühlbarer machte als jede andere. Auch schon jene kleine anonyme Schrift war wie eine geistige Brandrakete in die schwüle Stickluft dieser traurigen Zeiten gestiegen – oder war das Gemälde derselben etwa mit zu grellen Farben ausgeführt?

Auf den Gefilden der Dreikaiserschlacht hatte Napoleon seinen glänzendsten Sieg errungen; die Sonne von Austerlitz war aufgegangen, eine neue Losung für den Kriegsruhm und die Weltmacht des Imperators. Die nächste Folge war, daß das Deutsche Reich aus den Fugen ging. Napoleon versammelte um seinen Thron ein Gefolge von Fürsten, die er gleichsam von neuem mit ihren Ländern belehnte, unter der Bedingung, daß sie ihn als ihren Schutzherrn anerkannten und sich von jedem andern [188] Bundesverhältnis, besonders von dem deutschen Reichsverbande, loslösten. So entstand der Rheinbund, dessen Akte von den diplomatischen Vertretern der beteiligten Fürsten und Herren im Juli 1806 in Paris unterzeichnet wurde, und zwar in der Wohnung Talleyrands und so eilig, daß viele nicht einmal von dem Wortlaute der Akte genaue Kenntnis hatten. Außer den Landesherren von Bayern und Württemberg traten auch viele kleinere reichsunmittelbare Adelige dem Bunde bei; diejenigen, die nicht beitraten, wurden ihrer reichsumnittelbaren Herrlichkeit entkleidet und in Unterthanen der Staaten verwandelt, von denen ihre Besitzungen umschlossen waren. Am 6. August 1806 erklärte der deutsche Kaiser Franz, er sei zur Ueberzeugung gekommen, die Pflichten seines kaiserlichen Amtes nicht mehr erfüllen zu können, und in dieser Ueberzeugung durch die Vereinigung mehrerer Stände zu einem besonderen Bunde bestärkt worden. Demnach sehe er das Band, das ihn selbst bisher an den deutschen Reichskörper gebunden habe, als gelöst an; er lege die deutsche Kaiserkrone nieder, entlaste alle Kurfürsten, Fürsten und Stände des ihm geleisteten Eides. Das war das Ende des alten Deutschen Reichs.

Inzwischen blieben die französischen Heere auf deutschem Boden und es fehlte nicht an empörenden Gewaltthaten, deren ihre Befehlshaber sich schuldig machten. Die Freie Reichsstadt Frankfurt war noch kurz vor der Begründung des Rheinbundes, und ehe der neue Fürstprimas in ihr seinen Wohnsitz nahm, wegen ihrer Handelsverbindungen mit England zu einem Strafgelde von vier Millionen Franken verurteilt worden. Die Hinrichtung Palms aber bewies, daß Napoleon seine Kabinetts- und Militärjustiz selbständig auch in den Landen des ihm befreundeten Bayernkönigs und gegen die Unterthanen desselben ausübte.

In der That, es war eine Zeit der tiefsten Erniedrigung Deutschlands und die für Palm so verhängnisvolle kleine Schrift, welche nur für Oesterreich Worte der Anerkennung hatte, Preußen aber, das erst kurz darauf zu den Waffen griff, und die neuen Könige mit den heftigsten Vorwürfen überhäufte, hatte ein Recht, die ganze Weltlage und die deutschen Zustände mit grellem Farbenauftrag zu malen. Von den Erpressungen und den Schandthaten, welche die französische Soldateska damals verübte, teilte sie empörende Beispiele mit; nicht genug danken können wir, wenn wir uns ihren Inhalt vergegenwärtigen, den deutschen Heeren und ihren Führern, welche die Barbarei einer drohenden Fremdherrschaft damals mit blutigen Opfern und glorreichen Siegen von der deutschen Erde abgewendet haben. †     


An der Küste von Amalfi.

Von Woldemar Kaden.0 Mit Illustrationen von P. Scoppetta.

Venedig, das im Mittelalter zweimal Konstantinopel eroberte, den ganzen Orient mit allen Schätzen des Morgenlandes beherrschte, dessen Fahne als die der mächtigsten Meereskönigin allüberall hochgeachtet war, was ist es heute? Ein „Traum von Stein“. Es lebt ein Scheinleben in verschämter Armut, mit etwas buntem Flitterkram herausgeputzt.

Pisa, die einst mächtige Nebenbuhlerin Genuas, ist auch eine tote Stadt, auf seinen Plätzen wächst Gras, in seinen Gassen herrscht Schweigen. Aber sein Name wird noch genannt, die Eisenbahn bindet es noch an das Leben der übrigen Welt.

Und Amalfi? Dies Städtchen an der südlichen Küste Italiens? Wie aus einer längst versunkenen Welt klingt sein Name zu uns herüber, und doch war Amalfi einst ebenso reich und vornehm, beides ebenfalls durch das Meer geworden, wie Pisa und Venedig, und hätte es auch mit Genua aufgenommen!

Das Sortieren der Citronen.

Heute ist die Stadt verarmt, eine gestürzte Große, und nur noch einige denkwürdige Bauten zeugen von ihrer einst so glorreichen Vergangenheit. Amalfi ist eine hochinteressante Ruine. Die meisten Besucher Neapels versäumen es auch nicht, der südlich an der Küste gelegenen Stadt einen pflichtschuldigen Besuch zu machen, vielleicht auch darum, weil der Weg zu ihr ein gar so schöner ist. Die Sache ist auch bequem genug: ein Eisenbahnbillet Neapel-Salerno, von Salerno aus mit Dreigespann die herrliche Küsten-Gebirgsstraße entlang über die einst maurischen Oertchen Cittara, Majori, Minori, Atrani in zwei bis drei Stunden nach Amalfi, oder mit Wagen von Castellamare aus über die sonnigen Hänge des Monte St. Angelo hinab nach Positano, über Prajano und Conca. Ist Amalfi noch so dürftig, ja lumpig, die Hotels bieten auch den vornehmsten Gästen alle Annehmlichkeiten der Hotels ersten Ranges. Der zahlreiche, im Winter und Frühling sehr zahlreiche Fremdenverkehr ist eine Hauptnahrungsquelle des Städtchens, das uns verschämt in wehmutsvollem Erinnern die Geschichte seiner Blüte und seines Verfalls erzählt.

Es war einmal …

Nach Amalfi mußte der berühmte Desiderius, Abt von Monte Cassino reisen, um für Kaiser Heinrich IV. Geschenke an kostbaren Stoffen und wertvollen Metallkunstwerken einzukaufen. Denn die Kaufmannschaft Amalfis hatte bis ins 11. Jahrhundert hinein auf dem Seewege nach dem Orient, nach den Häfen von Asien, Afrika, Aegypten, Syrien und Palästina einzig die Venetianer zu Konkurrenten. Damals dufteten die Straßen Amalfis nach allen Wohlgerüchen des „Glücklichen Arabiens“, und indisches Gewebe, persische Seidenstoffe und Purpurgewänder waren in allen seinen Niederlagen zu haben. Diese Stoffe deckten auch die Plätze, seidene Teppiche hingen von Dächern und Balkonen, in goldenen und silbernen Räucherpfannen brannten Zimmet und andere köstliche Spezereien, wenn irgend ein Großer zu Besuch kam. Schon durch das Seerecht der Stadt, Tabula Amalphitana, das auf dem ganzen Mittelmeer galt, ward ihr Name berühmt.

Das alles änderte sich mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts; Handel und Wandel ging zurück wie die Einwohnerzahl, die von 50000 bis heute auf 7000 gesunken ist. Weltvergessen, eine arme gebeugte Alte, in dürftige Lumpen gehüllt, kauert die schöne Meeresbraut von einst auf ihrem schmalen Uferstreif in den Felsen drin. Ihre Kinder stehen im Staube der Landstraße, strecken bettelnd gegen

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Der Domplatz in Amalfi.

[190] den vorüberfahrenden Fremdling die Hand aus und rufen: „Einen Soldo den Nachkommen Masaniellos!“

Die Weizenwäscherei an der Terrasse vor dem Hotel de’ Cappuccini.

Das Volk von heute, mit Ausnahme weniger Begüterter, ist furchtbar arm und meist häßlich, weil es durch überschwere Arbeit in den altväterischen Papiermühlen der Valle de’ Molini, durch Lasttragen, dürftige Kost und Entbehrungen jeder Art in abscheulichen Wohnstätten niedergedrückt wird.

Auch das Schiffer- und Fischervolk ist schlimm dran. Nur wenige Segel gleiten über das Meer. Der weite schöne Golf ist vereinsamt. Alles Leben mit Handel und Wandel, mit Dampf, Segel und Eisenbahnen fließt zusammen auf der andern Seite der Halbinsel, wo Castellamare, Torre Annunziata und Torre del Greco mit Neapel blühen. Hier sind es arme Fischer, die ihre Netze werfen, nur selten verirrt ein Dampfer sich in diese Gewässer. Die kleinen goldbraunen Segel da drüben, sie erscheinen als verblichene Fetzen des einst so glänzenden Purpurmantels, den diese Küste im Mittelalter mit so viel Stolz getragen.

Aber dem armen Volke der Küste ist nicht einmal die Erinnerung an jene Glorie geblieben, gedanken- und wunschlos lebt es seine Tage. Was es verdient, ist zu wenig, um ein einigermaßen menschliches Dasein zu führen, doch noch zu viel, um geradezu Hungers zu sterben; dem kommt allerdings die gänzliche Bedürfnislosigkeit der südlichen Arbeiterklasse entgegen.

Mit dem, was so ein armes braunes Mädchen, das harte Lasten Holz auf dem gebeugten Nacken zu Thal schleppt, was so eine arme dürre Alte, die durch den Staub der Landstraße ungeheure Säcke gebrannten Kalkes keuchend dahinbuckelt, mit dem, was ein Arbeiter in den Maccaronifabriken verdient, würde in Deutschland nicht der allergeringste Handlanger zufrieden sein.

Aber auch die Herren klagen schwer, und gar manches kleine Nudelfabrikchen hat seine Arbeit einstellen müssen. Die Orangen und Citronen blühen noch immer, golden glühen noch immer die Früchte im dunklen Laub, aber sie lassen sich jetzt nur schwer noch in Gold umsetzen. Und wenn heute der Sarazene den tiefen Frieden dieser am Berge prangenden Gärten nicht mehr stört, so ist an seine Stelle der viel unbarmherzigere Steuerbote der jüngsten Regierung getreten. Und wenn man in dem maccaronisierten Neapel drüben die „Maccheroni della costiera“, die den guten Ruf der Stadt erhalten müssen, noch immer für die feinsten der Welt erklärt, so können ihre weltfernen Erzeuger doch nicht die Konkurrenz mit den Eisenbahnstädten, wo man die Nudeln aus Maschinen herstellt, aushalten.

Die Agrumikultur, d. h. der Anbau und Vertrieb der Südfrüchte, ist neben Maccaroni- und Papierfabrikation der bedeutendste Industriezweig der Küste. Jene Kultur ist uralt, denn schon im Jahre 1002 fanden die Normannen hier die Pomeranze vor, arancio forte oder bittere Orange vom Volke genannt. 1279 bezog Karl von Anjou die für seine Gärten in Manfredonia, am Fuße des Monte Gargano, bestimmten Orangenbäume von den Nachbarorten Amalfis Majori und Minori. Zur Zeit der Kreuzzüge brachten Sicilianer und Genueser auch die Citrone oder Limone ins Land und von Salerno bis Amalfi ward sie fleißig angebaut.

Ganz zuletzt, anfangs des 15. Jahrhunderts, erhielt Europa die süße, eigentliche Orange, die in Süditalien fleißigste Pflege fand. Ueber 150 Spielarten haben sich aus den einfachen Einwanderern herausbilden lassen, alle, süße, saure und bittere, heißen Agrumi (Sauerfrüchte) und die Gärten, wo man sie zieht, Agrumeti.

Die Arbeit in diesen Agrumeti ist keine leichte und der Boden ist dem Bauer keineswegs so gnädig, als man meinen sollte. Ehe die Pflanze lohnt, muß mancher Sommer ins Land gehen.

Die aus Samen gezogenen Bäumchen bleiben drei Jahr, immer fleißig begossen, in der Schule, um dann veredelt zu werden. Acht bis zehn Jahre alt, tragen sie die ersten Früchte, wenn sie nicht vorher hundertweise einer einzigen Frostnacht erlegen sind oder den die Agrumeti heimsuchenden Krankheiten, von denen die sogenannte Gummikrankheit Hunderttausende von Stämmen in Italien vernichtet hat. Zu große Nässe nämlich erzeugt die „Morphaea“, diese geht in die „Melasse“ über, bei der ein schleimig zuckeriger Saft der Pflanze entfließt und diese gänzlich entkräftet. Unzählig auch sind die Parasiten und Baumläuse, die die Schalen und Früchte überziehen und ihnen jedes Aroma nehmen.

So ein Orangenbaum im offenen Land wird überhaupt im Mittel nur 25 bis 30 Jahre alt und das nur, wenn er treu und fleißig umhackt, beschnitten, gewässert und gedüngt wird. Er kann dann in seinen besten Jahren bis 5000 Früchte im Jahr geben, ein Citronenbaum bis 8000. Doch ist der Agrumibauer zufrieden, wenn der Baum in seinem Orangengarten im Durchschnitt 400 bis 600 Früchte im Jahr giebt und sein Limonenbaum 700 bis 1000 Citronen reift. Das in Agrumeti angelegte Kapital verzinst sich in guten Jahren mit 4%, in den letzten Jahren war es bedeutend weniger.

Mit dem Transport der Früchte, ihrer Sortierung und Verpackung sind viele fleißige Menschenhände beschäftigt. Es ist ein duftiges Geschäft, die goldenen Früchte zu pflücken, in die Magazine zu tragen und hier die Hunderttausende zu sortieren. Wer dies aber besorgt, meist junge Mädchen und Frauen, hat den ganzen Tag an Kopfweh zu leiden, denn auch unter Orangenbäumen wandelt man [191] nicht ungestraft. Einer sechsfachen Auslese werden die Citronen unterworfen, und jede Auslese wird in besonderes Papier gepackt. Dies Papier wird gern aus alten Schiffstauresten fabriziert, es hat die Eigenschaft, die Citronen vor äußerer Feuchtigkeit zu hüten, sie vor dem Austrocknen durch Ausschwitzen zu bewahren.

Die aus Kastanienholz gefertigten Kisten sind 1,02 m lang, 0,36 m hoch, 0,38 in breit; benannt werden sie nach der Nummer „16“ oder „20“, je nachdem, den Boden der Kiste zu bedecken, es 16 oder 20 Früchte braucht. Wenn man nun in jede Kiste fünf Schichten packt, so enthält „16“ achtzig Früchte, „20“ deren hundert. Die grün geernteten Citronen reifen und färben sich auf der Reise; die im November, Dezember und Januar geernteten halten lange Reisen aus, die Februar- und Märzfrucht ist zu reif und verträgt kaum hundert Stunden Weges.

Die Tageslöhne der Agrumiindustrie sind furchtbar niedrig und können nie steigen, ebensowenig wie die der armen in feuchten Höhlen schaffenden Maccaroniarbeiter.

Wenn man die goldene, in einer Sauce von Paradiesäpfeln (Pomidoro) gebadete, mit flockigem Käse überstreute Nudel von napolitanischen Leckermäulern in sonnendurchleuchteten Trattorien „verspinnen“, d. h. in langen unzerschnittenen Fäden bündelweise verschlingen sieht, so gedenkt man, wie bei den Spitzen, den Perlen der festprangenden Dame, nicht der Urheber dieser Herrlichkeiten. Nur selten ist jemand eingedrungen in die dunklen Geheimnisse der Maccaronifabrik. Wir begnügen uns, die Nudeln an Stangen und Gestellen in Strähuen zum Trocknen ausgehängt zu sehen vor den Häusern der Ortschaften, die wir durchfahren. Wir wissen kaum, daß die große Terrasse vor dem Hotel de’ Cappuccini in Amalfi mit dem daneben fließenden Bächlein, allwo den ganzen Tag ein ameisenhaftes Treiben stattfindet, die Vorspielbühne zu der im Stadtinnern betriebenen Maccaronifabrikation ist. Hier wird der Weizen, das „grano duro“, harte Korn, oder „grano da paste“, Nudelkorn, gewaschen, getrocknet, wieder gewaschen, gegen den Meerwind geworfen, in Säcke gefüllt, zu den Mühlen getragen und zu verschiedenen Sorten Griesmehl vermahlen. Das Anmachen des Teiges ist danach das Wichtigste, das Schwerste das „Durchreiten“ der Teigmasse, wie wir es auf einem unserer an Ort und Stelle aufgenommenen Bilder (s. u.) im Hintergrunde der furchtbar primitiven Maccaronifabrik durch drei fast unbekleidete Männer ausgeführt sehen. Sie reiten kniewippend auf einem messerförmigen Ruderholze vorwärts, rückwärts, und durchschneiden damit tausendfach die mehlige Masse, um sie zu mengen. Die vier Mann am steuerruderähnlichen Preßbengel sodann besorgen das Durchtreiben des Teiges durch die verschiedenen ganz eigenartigen Metallformen, während ein Knabe fächernd am Ausfluß kauert, um die zu Tage tretenden Nudeln vor dem Zusammenpappen zu behüten. Sind die Maccaroni schon ihrer Farbe nach in viele Kategorien geteilt, so ist die Namensbezeichnung der in den Handel kommenden schier endlos. Was sind aber Namen, oder was kann der Nordländer sich denken bei Maccaroni della Regina, Zite, Lasagne, Tagliolini, Vermicelli, Canneroncini, Fidelini, Spaghetti, Stelletti, Semensi di Mellone, Occhi di Quaglio u. a. mehr? Die armen bleichen abgezehrten Männer jedoch, die sich für eine Lira den Tag in den Tod „reiten“, bekommen nichts davon zu essen, nur an Festtagen steht eine Schüssel schwarzer Pasta auf ihrem Tisch, von der das Kilo 40 Centimes kostet.

Doch sind die Männer in ihrer Schattennacht immer gutes Mutes: sie haben einen Dom, wie ihn nicht leicht eine andere Stadt hat, und in dem Dome wohnt der allmächtige Schutzpatron Sankt Andreas.

Wohl, dieser Dom ist ein „Märchen aus alten Zeiten“! Er predigt auf den armen schmutzigen Krautmarkt herab neun Jahrhunderte Geschichte. Anfangs war er nur zweischiffig und der heiligen Assunta geweiht. Der amalfitanische Doge Mansone III. weihte ihn 987 zur Episkopalkirche und fügte ein drittes Schiff hinzu. Zweihundert Jahre später, 1203, erneuerte ihn der Kardinal Capuano vollständig, ließ das Atrium im Spitzbogenstil errichten und brachte viel reichen Marmor- und Mosaikschmuck an. Das Atrium, eingedrückt durch die auf ihm lastende Attika, ist vor wenig Jahren endgültig restauriert worden.

Dem Dome treu zur Seite steht der prächtige Campanile, der Glockenturm im byzantinischen Stile, dessen Bau schon 1180 angefangen wurde. Wir schauen, von einer wehklagenden Bettlerschar umringt, im Geiste die vergangenen Herrlichkeiten ….


In einer Amalfitaner Maccaronifabrik.

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Ueber Schulnervosität und Schulüberbürdung.

Von Prof. A. Eulenburg in Berlin.

In einem Zeitalter, das sich selbst mit einem gewissen Stolz als das nervöse hinzustellen liebt, und das im Genusse seiner glücklich erstiegenen Kulturhöhe fast auf allen Lebensgebieten das Unnatürliche, das „Komplizierte“ und „Raffinierte“ vor dem Einfachnatürlichen so ersichtlich bevorzugt, kann es bereits nicht mehr genügen, schlechtweg „nervös“ zu sein: man muß sich vielmehr, um auf volle Zeitgemäßheit Anspruch zu machen, noch durch die besondere, den individuellen Verhältnissen entsprechende Abart und Form der Nervosität ausweisen können! Wie es bekanntlich sehr verschiedene Arten von Ehre giebt, je nach Ständen, Berufsklassen und nicht zum wenigsten natürlich nach dem Geschlechte, so „erfreuen“ wir uns auch des anerkannten Besitzes mannigfaltiger, sozusagen mit einem bestimmten Lokalkolorit behafteter Arten von Nervosität, wobei wiederum teils die Standes- und Klassen-, teils die Geschlechtsunterschiede, außerdem aber noch die Lebensalter das trennende und charakterisierende Moment bilden. Von einer Nervosität des kindlichen Alters zu sprechen wäre unsern Vorfahren und Vorvorfahren gewiß noch als etwas Ungeheuerliches, Undenkbares, als ein lebendiger Widerspruch erschienen. Das Kind, diese Verkörperung naivfreudigen Lebensgefühls, dem ein gütiges Geschick noch alle Sorgen und Kämpfe, alle verderblich wirkenden Leidenschaften und Aufregungen in weite Ferne gerückt hat – und dem gegenüber alle die nur zu wohlbekannten Zeichen der „krankhaften Reizbarkeit“ und „reizbaren Schwäche“, der Zerfahrenheit und der Unzulänglichkeit für die herantretenden Lebensaufgaben, wie wir sie mit dem Begriffe der entwickelten und voll ausgereiften Nervosität der Erwachsenen ohne weiteres verbinden!

Und doch ist es so: doch vermögen wir Aerzte wenigstens uns schon längst der niederdrückenden Erfahrung nicht mehr zu entziehen, daß sogar im zarten kindlichen Lebensalter die schweren und schwersten Formen der Nerven- und Geistesstörung in immer gesteigerter, schreckenerregender Häufigkeit zur Entfaltung gelangen! Und bei näherer Betrachtnng haben wir kaum einen Grund, uns über diese fürchterliche Thatsache auch nur zu verwundern. Von der weitaus überwiegenden Mehrzahl der späteren Nerven- und Geisteskranken müssen wir, nach den Ergebnissen immer und immer wieder bestätigter Untersuchungen, annehmen, daß sie von Anfang an nicht frei war von krankhaften, vielfach auf Vererbung zurückführbaren Anlagen, oder von beginnenden, erst leise angedeuteten Krankheitskeimen, deren rasches und üppiges Aufschießen nur durch entgegenwirkende Einflüsse, durch die Gunst der Verhältnisse also, zeitweise gehemmt und in Schranken gehalten wurde. Nur zu viele aber von diesen unselig Veranlagten trafen es schon in Kindheit und Jugend minder gut; bei ihnen wurde im Gegenteil schon in den grundlegenden Jahren durch allerlei verderbliche Einflüsse der Erziehung und der ganzen Umgebung ein üppiges Wuchern der Krankheitskeime angeregt und gefördert. So habe ich selbst unendlich häufig schon bei Knaben und Mädchen im ersten Lebensjahrzehnt die ausgeprägten Erscheinungen schwerer Hysterie, und bei Zehn- und Zwölfjährigen wiederholt das Bild der mit Sinnestäuschungen verbundenen chronischen Verrücktheit (Paranoia) beobachtet. Zuweilen wird der Abgrund solcher Zustände, gegen den wir nur zu gern so lange wie möglich die Augen verschließen, wie mit einem grellen Blitzstrahl durchleuchtet. So bei den häufigen Tagesmeldungen über Kinderverbrechen: von Kindern begangene schwere Eigentums- und Sittlichkeitsverbrechen, Morde, selbst Elternmorde! Fast noch unheimlicher berührt die zunehmende Häufigkeit von Selbstmorden im kindlich jugendlichen schulpflichtigen Alter. Vor mehreren Jahren erst machte eine Verfügung des preußischen Unterrichtsministeriums an die Direktoren der höheren Schulanstalten in den Blättern die Runde, die auf diese beklagenswerte Thatsache der häufigen Schülerselbstmorde die Aufmerksamkeit lenkte und die Pflicht der Unterrichtsverwaltung betonte, nach Mitteln zu suchen, um die krankhaften Neigungen des heranwachsenden Schülergeschlechts nach Möglichkeit zu bekämpfen. Ob man solche „Mittel“ inzwischen gefunden, ob man auch nur ernstlich und andauernd danach gesucht hat? Es wird vielleicht erlaubt sein, daran bescheiden zu zweifeln.

Freilich würde man der Schule – das ist von vornherein festzuhalten – das größte und schreiendste Unrecht zufügen, wollte man sie allein und ausschließlich für die traurigen Folgewirkungen verantwortlich machen, die aus so mancherlei von ihr ganz unabhängigen, in Haus und Familie wurzelnden Ursachen entspringen oder sich, wie bereits angedeutet wurde, aus dem Keime mitgebrachter, großenteils angeborener und ererbter krankhafter Veranlagung entwickeln. Der Prozentsatz derjenigen, die schon mit den Zeichen nervöser Disposition behaftet die Schulen aufsuchen, ist, wie bezügliche Untersuchungen gelehrt haben, erschreckend hoch – wenn er auch immerhin noch erheblich hinter dem Prozentsatz derjenigen Schüler zurückbleibt, die, zumal in den mittleren und oberen Gymnasialklassen, die mehr oder weniger schweren Erscheinungen eines gestörten und krankhaft veränderten Nervenlebens, die Erscheinungen der „Schulnervosität“ darbieten. Wenn wir also auch gern der Schule gegenüber gerecht sein wollen – wenn wir sogar den größeren Teil der Schuld auf Haus und Familie abwälzen, die ihre vorbereitende erzieherische, sittlich festigende und körperlich kräftigende Aufgabe an den Kindern oft so mangelhaft gelöst und die Schule mit ungeeigneten, unfähigen Elementen zu beiderseitigem Nachteil belastet haben: so läßt sich doch auch die Schule von einer direkten und indirekten Mitschuld an der betrübenden Lage der Dinge keineswegs freisprechen. Viele der gegen sie erhobenen Einzelvorwürfe sind nur allzu berechtigt; und sie werden, wie doch nicht zu verkennen ist, um so härter und schwerer empfunden, weil dem Publikum die Schule als ein Starres, Gegebenes, Unabänderliches gegenübersteht, worauf einen Einfluß zu üben schlechterdings unmöglich erscheint, und in dem zumal empfindsame Mutterherzen oft den Moloch erblicken, in dessen geöffnete Arme sie ihre Kinder als bedauernswerte Opfer staatlicher Barbarei abliefern müssen.

Ich habe bereits bei einer früheren Gelegenheit und an anderem Orte[1] den Versuch gemacht, die „nervenfeindlichen Potenzen“ der Schule genauer zu zergliedern und auf ihre einfachsten Bestandteile zurückzuführen. Im folgenden will ich mich, soweit es für nichtärztliche Leser verständlich und auch für solche, wie ich glaube, von Wichtigkeit ist, nur mit jenen krankhaften Störungen beschäftigen, die man heutzutage vielfach unter dem schon erwähnten Ausdrucke „Schulnervosität“ zusammenfaßt – sowie mit dem Verhältnisse dieser Störungen zur „Schulüberbürdung“. –

Unter Schulnervosität verstehen wir einen in seinen Hauptzügen wohl charakterisierten, im einzelnen allerdings nicht bloß gradweise, sondern auch seiner Zusammensetzung nach vielfach wechselnden Inbegriff nervöser Störungen, zumeist in Verbindung mit Blutarmut und allgemeiner Ernährungsschwäche, wie wir ihn in dieser typischen Ausprägung gerade bei schulbesuchenden Kindern, also vom 7. Lebensjahre aufwärts bis an die Grenze des Schulalters, in nach oben stetig wachsender Zahl und Schwere überaus häufig beobachten. Wie häufig? – darüber gehen allerdings die Angaben der verhältnismäßig wenigen ärztlichen Autoren, die dem Gegenstande ihre Aufmerksamkeit zuwandten und die zugleich in der Lage waren, ein größeres „Material“ von Schulkindern methodisch durchzuuntersuchen, nicht unbeträchtlich auseinander. Natürlich kommen hierbei auch die örtlichen, nationalen und sozialen Verschiedenheiten wesentlich in Betracht. Während nach den in Schweden und Dänemark ausgeführten Untersuchungen von Axel Key fast 40% der Schulkinder an schweren, durch die Schulüberbürdung mitveranlaßten Störungen leiden, fand Nesteroff an russischen Mittelschulen 30% der Kinder nervös (neurasthenisch), und zwar in aufsteigendem Verhältnisse, so daß der Prozentsatz in der ersten (untersten Klasse) mit 15% beginnt und in der achten (obersten) bis auf 69% anwächst – also ähnlich wie es bekanntermaßen mit der Schulkurzsichtigkeit nach den Statistiken von Hermann Cohn und vielen anderen der Fall ist.

Sehr genau und durchaus vertrauenerweckend sind die von dem ungarischen Schularzte und Professor der Hygieine Schuschny neuerdings veröffentlichten Prüfungen; sie ergaben, daß von den Schülern der dortigen Staats-Oberrealschule durchschnittlich 51,7% an ausgesprochenen nervösen Störungen leiden, und zwar beträgt der Durchschnittssatz in

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Vom Märchenfest des Weimarer Künstlervereins: das Festspiel in der Meeresgrotte.
Nach einer Originalzeichnung von Hans W. Schmidt.

[194] den vier unteren Klassen zusammen 46,4%, in den vier oberen Klassen 57% (also auch wie bei Nesteroff nach oben anwachsend). Das sind doch ganz entsetzliche Zahlen! Und es dürfte bei uns in Deutschland, zumal in unseren Großstädten und vor allem in Berlin, schwerlich besser sein, wenn auch entsprechende schulhygieinische Statistiken bei uns leider noch vollständig fehlen. Wenn ich meinen eigenen, in der Privatpraxis gesammelten Erfahrungen trauen darf, so ist die Zahl schwerer und schwerster Formen der Schulnervosität an den höhern Knabenschulen Berlins – von den Mädchenschulen, wo teilweise auch verwandte Zustände herrschen, mag aus mancherlei Gründen an dieser Stelle vorläufig abgesehen werden – ganz außerordentlich bedeutend. Die Ursache dieses betrübenden Zustandes ist, wie schon angedeutet wurde, natürlich in erster Reihe darin zu suchen, daß ein verhältnismäßig großer Prozentsatz von Kindern von vornherein mit einem nicht normalen Nervensystem, mit Zeichen angeborener oder früh erworbener Nervosität in die Schule hineinkommt, wo sich dann die vorhandene Krankheitsanlage auf so besonders günstigem Nährboden rasch fortentwickelt. Die genaue Zahlbestimmung dieser von Anfang an nervös disponierten Kinder ist allerdings schwierig und bisher noch nicht sicher gelungen; einen ungefähren Anhalt liefern jedoch hier für die Untersuchungen von Schuschny, der bei nicht weniger als 49,5% der Schüler sogenannte „Entartungszeichen“ feststellte – körperliche Merkmale, die freilich nicht immer notwendig mit Nervosität verknüpft sind aber doch auf eine gewisse (meist ererbte) „Belastung“ hinweisen. Von den Vererbungseinflüssen – die übrigens keineswegs immer nachweisbar direkt, von Eltern auf die Kinder, übertragen zu sein brauchen – kommen für die Entstehung und Entwicklung der nervösen Disposition in früher Kindheit noch mancherlei schädigende Einwirkungen in Betracht, von denen hier nur namhaft gemacht werden sollen: durchgemachte körperliche Erkrankungen und chronische Ernährungsstörungen (Rachitis und Skrofulose); ungünstige häusliche Verhältnisse; verkehrte, verweichlichende Erziehung; Mangel an Bewegung in freier Luft und an körperlicher Pflege und Abhärtung; unzureichende und noch mehr ungeeignete Ernährung, verfrühte Gewöhnung an Genußmittel und namentlich an spirituose Getränke, die aus der Diät des Kindesalters unter allen Umständen verbannt bleiben sollten und daher am allerwenigsten, wie es leider noch vielfach geschieht, mit „Gesundheitsrücksichten“ gerechtfertigt werden dürfen; endlich auch Gewöhnung an unpassende, für das kindliche Alter ungeeignete Zerstreuung und Unterhaltung.

Von den gewöhnlichen Zeichen der Schulnervosität pflegt man den Kopfschmerz als eins der regelmäßigsten, frühesten und sonach am meisten charakteristischen zu betrachten: und in der That wird dieser sogenannte „Schulkopfschmerz“ in den hierhergehörigen Fällen fast niemals vermißt, wenn er sich auch nach Beschaffenheit, Dauer, Ausdehnung und Heftigkeit in sehr verschiedener Form äußert. In der Regel handelt es sich dabei um die als „Kopfdruck“ vorzugsweise bezeichneten, dumpfen und pressenden Empfindungen, die bald ziemlich gleichmäßig über den ganzen Kopf, bald über eine Kopfhälfte verbreitet, bald mehr an einzelnen Stellen, namentlich in der unteren Stirngegend (Oberaugenhöhlengegend) und im Hinterkopf, lokalisiert sind, und mit denen sich übrigens namentlich bei erblich disponierten Kindern schon in frühen Jahren oft regelrechte Migräneanfälle mit Frost, Gähnen, Uebelkeiten, Augenflimmern und den sonstigen charakteristischen Begleiterscheinungen solcher auf Gefäßkrampf und örtliche Blutleere innerhalb des Gehirns hindeutenden Anfälle verbinden. Im übrigen werden die Zeichen der Kopfneurasthenie in sehr mannigfaltiger Weise ergänzt und vervollständigt durch Schwindelgefühle, Benommenheit, Unfähigkeit aufzumerken und dem Unterrichte zu folgen (ein Umstand, den man von spezialistischer Seite mit den bei solchen Kindern allerdings sehr häufigen Lokalaffekten der Nase und des Nasenrachenraums in nähere Beziehung gebracht und mit dem besonderen Fremdnamen „Aprosexie“ belegt hat) – wie überhaupt durch Lern- und Denkunfähigkeit, Arbeitsunlust, beständige Müdigkeit und dennoch Schlaflosigkeit oder vielfach gestörten, unruhigen Schlaf mit plötzlichem Erwachen und Auffahren, selbst lautem Aufschreien (dem sogenannten pavor nocturnus). Weiterhin finden wir nicht selten, zumal in ernsteren und vorgeschrittenen Fällen, motorische Reizerscheinungen, Zucken in den Augenlidern und in anderen Gesichtsmuskeln oder Handmuskeln, Hand- und Zungenzittern oder andere Formen von Muskelkrampf bis zu dem in diesem Alter so häufigen „Veitstanz“ und zu schweren hysterieähnlichen Krampfzuständen; abnorme Reflexsteigerungen, abnorme Pupillenweite und Ungleichheit beider Pupillen, Gesichtsfelddefekte, allerlei Sehstörungen, schließlich Sprachstörungen, namentlich bei gesteigerter Erregung, in Form von Wortvergessen und Wortverwechslung. Als gemeinsame Grundlagen dieser vielen und mannigfachen Störungen erkennen wir in zahlreichen Fällen die Blutarmut, die Schwäche der Herzthätigkeit und der Cirkulation mit allen für sie charakteristischen Erscheinungen, dem beschleunigten, schwachen oder ungleichen Herzschlag, der blassen oder jäh und plötzlich wechselnden Gesichtsfarbe, den kalten Händen und Füßen, den kalten Schweißen, Frostgefühlen, der Neigung zu Nasenblutungen, die, durch mangelhafte Ernährung der Gefäßwände und durch Lokalerkrankungen begünstigt, auch ein so häufiges und gefürchtetes Symptom der „Schulnervosität“ bilden; endlich die Appetitlosigkeit, Abmagerung, die Störungen der Nahrungsaufnahme und Verdauung, der gesamten Ernährung. – Es soll und will dies natürlich kein vollständiges Symptomenverzeichnis sein, was übrigens auch um so unausführbarer wäre, als die Konturen des Krankheitsbildes keineswegs fest umzogen, sondern vielfach schwankend sind und namentlich nach oben hin, bei den schwereren Formen, in anderweitige chronische Krankheitszustände des Nervensystems (Veitstanz, Hysterie, Epilepsie, Psychosen) ohne scharfe Abgrenzung übergehen. Das Gesagte wird aber genügen, um für gebildete Laien das Wesen des Zustandes einigermaßen zu kennzeichnen und ihnen jedenfalls von dem vollen Ernst und der Tragweite der Sache eine Andeutung zu geben.

Doch nun der wichtigste Punkt: wodurch und in welcher Weise, vermöge welcher Konstruktions- oder Organisationsfehler wirkt denn eigentlich die Zchule, sei es im Sinne direkter Veranlassung dieser Zustände, sei es, bei schon gegebener Veranlagung, fördernd und verschlimmernd? – Hier kommen wir auf die so vielbesprochene Frage der „Schulüberbürdung“, die ebenso einseitig und übertrieben von den Einen als wahre Pandorabüchse alles Unheils hingestellt, wie von Anderen gänzlich forteskamotiert worden ist, und der man doch eine recht handgreifliche Realität nicht abstreiten kann, falls man nur eben den Ausdruck nicht in allzu engem und wörtlichem Sinne nimmt, sondern als bequeme Gesamtbezeichnung einer Reihe einzelner, das kindliche Nervensystem schädigender Schuleinwirkungen auffaßt.

Die Schule bewirkt diese Schädigung hauptsächlich in zweierlei Weise: einmal durch Ueberspannung ihrer Ansprüche an Schul- und häusliche Arbeitszeit, also durch Auferlegung einer quantitativ zu hoch gegriffenen Leistung, und die damit zusammenhängende Verkürzung der dem Zchulalter entsprechenden Erholungs- und Zchlafzeit; sodann durch die Auferlegung fast ununterbrochener einseitiger Kopfarbeit (Gehirnarbeit), also durch eine auch qualitativ ungeeignete Art der Leistung, bei Ausschluß oder doch ungenügender und vielfach selbst fehlerhafter Verwertung ausgleichender Muskelarbeit.

Für den speziellen Nachweis dieser schädigenden Wirkungen selbst und der Bedingungen ihres Zustandekommens fehlte es bis vor kurzem freilich ganz und gar an genauen, nach Wissenschaftlicher Methodik angestellten schulhygieinischen Untersuchungen; ein Mangel, dem aber die letzten Jahre mit den vortrefflich durchgeführten und in allen wesentlichen Punkten übereinstimmenden und sich ergänzenden Versuchen und Studien von Sikorski, Burgerstein, Laser, Hoepfner, Kraepelin, Griesbach und G. Richter aufs erfreulichste abgeholfen haben, so daß damit den früher wohl schon namentlich in ärztlichen Kreisen herrschenden Ansichten eine festbegründete wissenschaftliche Beweisunterlage gegeben worden ist. Ich kann auf die näheren Einzelheiten natürlich nicht eingehen, halte aber die Ergebnisse der eben genannten Aerzte und Schulmänner doch für wichtig genug, um sie wenigstens in ihren Hauptzügen auch weiteren Leserkreisen zur Kenntnis zu bringen.

Die dankenswerten Untersuchungen von Burgerstein, Hoepfner, Kraepelin und anderen beziehen sich vor allem auf die genaue Feststellung der durchschnittlichen Ermüdbarkeit der Schulkinder. Wie Kraepelin mit Recht hervorhebt, stellt die Schule an ihre Zöglinge tagtäglich die Forderung, ein bestimmtes Maß von Verstandesarbeit zu leisten, ohne daß wir darüber im klaren sind, ob das jugendliche Gehirn wirklich imstande ist, diese Forderung ohne [195] dauernde Schädigung zu erfüllen. „Wir schicken,“ wie Kraepelin sich ausdrückt, „das Schiff hinaus in den Dienst auf offener See ohne Probefahrt, ohne zu wissen, ob und wie lange es seetüchtig sein wird.“ Als Prüfuugsmittel für die Ermüdbarkeitbestimmung dienten nun teils Diktate, hei denen die mit der Länge der Arbeitszeit anwachsende Fehlerzahl bestimmt wurde (Sikorski, Hoepfner) – teils Additions- und Multiplikationsaufgaben von einfacher Art. Burgerstein stellte 4 Reihen solcher Aufgahen zusammen, deren jede etwa 10 Minuten Arbeitszeit beanspruchte; diese wurden, zumeist während der ersten Unterrichtsstunden, in Klassen mit 11- bis 13jährigen Schülern vorgelegt, zwischen je 2 Reihen wurde eine Pause von 5 Minuten eingeschaltet, so daß der ganze Versuch 55 Minuten dauerte. Dabei wuchs, wie sich zeigte, anscheinend die Arbeitsleistung oder genauer ausgedrückt die Arbeitsgeschwindigkeit in den einzelnen Versuchsabschnitten, wenigstens bei der größeren Hälfte der Schüler, um etwa 40%, während jedoch gegen 43% der Schüler auch bei dieser leichten und einfachen Arbeit schon ein beträchtliches Sinken der Leistung erkennen ließen. Aber selbst jener anscheinenden Steigerung der Arbeitsleistung stand ein sehr viel beträchtlicheres Anwachsen der Fehlerzahl (um 177%) und der Zahl der Verbesserungen (um 162%) und somit eine sehr hedeutende Abnahme der Güte der Leistung gegenüber. Diese „Ermüdungserscheinungen“ machten sich bereits von der zweiten Versuchsreihe an in wachsender Stärke fühlbar und konnten nur bei der Mehrzahl der Kinder durch die ebenfalls wachsende Versuchsübung, die eine größere Arbeitsmenge, aber bei herabgesetztem Werte der Arbeit, ermöglichte, äußerlich verdeckt werden. Ganz in Uebereinstimmung damit sind auch die über mehrere Schulstunden ausgedehnten Resultate von Laser (wachsende Korrekturenzahl, beständige Abnahme der fehlerfreien Rechner bis zur fünften Schulstunde), während bei den Hoepfnerschen Diktatversuchen sich ein stetiges Anwachsen der Fehlerzahl, und zwar, auf je 100 Buchstaben berechnet, von anfänglich 0,9% bis über 6,4%, herausstellte.

Das Gesamtergebnis aller dieser und vieler anderen Untersuchungen ähnlicher Art, namentlich auch der in letzter Zeit mit sehr genauen und feinen Methoden von Griesbach angestellten Empfindungsprüfungen, ist immer und immer wieder dasselbe, nämlich daß die von der Schule an die Leistungsfähigkeit besonders ihrer jüngeren Schüler gestellten Anforderungen bei weitem über das zulässige Maß hinausgehen. Es ist dabei noch besonders hervorzuheben, daß die Ergebnisse der Burgersteinschen und Hoepfnerschen Versuche unzweifelhaft noch weit ungünstiger hätten ausfallen müssen, wenn nicht Ruhepausen, wie sie sonst im Verlaufe einzelner Schulstunden gar nicht üblich sind, zwischen die Versuchsabschnitte eingeschaltet worden wären: diese Ruhepausen waren aber, wie die Endresultate lehren, viel zu kurz, um den sich immer mehr geltend machenden Einfluß der Ermüdung auch nur annähernd zu kompensieren. Selbst bei Erwachsenen genügen, wie entsprechende Versuche von Kraepelin zeigen, Pausen von 10 Minuten zwischen halbstündigen Arbeitszeiten höchstens ein- oder zweimal, um eine vollständige Erholung zu erzielen, während bei weiterer Fortsetzung des Versuches die Ermüdungswirkung auch hier nicht mehr ausgeglichen wird und die Leistungsfähigkeit somit endgültig herabgeht. Wieviel weniger läßt sich erwarten, daß unsere Schuleinrichtnngen, die durchschnittlich erst nach 50 (und an einzelnen Berliner Schulen sogar erst nach 110 Minuten!) eine kurze Unterbrechung gewähren, bei jüngeren Schulkindern zur Aufrechthaltung der Leistungsfähigkeit bei fünf und nicht selten sogar sechs aufeinanderfolgenden Unterrichtsstunden auch nur im geringsten genügen. Als natürliche Reaktion dagegen entwickelt sich die Unaufmerksamkeit, die, wie Kraepelin bemerkt, geradezu den Wert eines „Sicherheitsventils“ hat, da bei fortdauernd wach erhaltenem Interesse sich die Folgen der geistigen Ueberbürdung noch viel bedrohlicher und unabsehbarer gestalten müßten.

Noch schlimmer und bedenklicher wird übrigens die Sache ohnehin durch den an sehr vielen Orten (besonders in Berlin) wenigstens für die Hälfte der Wochentage beibehaltenen und zum Teil in höchst unzweckmäßiger Weise geordneten Nachmittagsunterricht. Griesbach konnte bei seinen in elsässer Schulanstalten vorgenommenen zahlreichen Empfindungsmessungen, deren schon oben gedacht wurde, den direkten Beweis liefern, daß nach dem Morgenunterrieht das normale Empfindungsvermögen, und damit geistige Erholung, um zwei Uhr nachmittags noch nicht zurückgekehrt ist. Wenn unter diesen Umständen das noch müde Gehirn aufs neue in Anspruch genommen wird, so kann dies, wie Griesbach mit Recht hervorhebt, auf die Dauer zu ernstlichen Schädigungen der Gesundheit führen. Es ist daher, wenn schon durchaus Nachmittagsunterricht sein muß (was ich übrigens bestreite), bei dessen Ansetzung mit größter Vorsicht zu verfahren: statt um 2 Uhr dürfte unter allen Umständen, wie auch G. Richter befürwortet, nicht vor 3 Uhr zu beginnen sein, wodurch freilich die Tagesordnung an den kurzen Wintertagen zumal noeh mehr zerrissen und noch uneinheitlicher gestaltet wird. Auch so haftet dem Nachmittagsunterricht der Vorwurf an, daß bei seinem Hinzukommen, wie Griesbach bemerkt, eine dreimalige tägliche Beanspruchung des Gehirns durch die Schule bedingt wird (zum drittenmal dann, wenn die Kinder sich an ihre oft recht zeitraubenden häuslichen Zchularbeiten begeben). Der Nachmittagsunterricht hat überdies noch so viele anderweitige Nachteile, er bewirkt, namentlich in Großstädten bei den weiten Entfernungen, eine solche Zeitvergeudung und mangelhafte Kontrolle der Schulkinder, solche Störungen des gemeinsamen Familienlebens, Undurchführbarkeit einer einheitlichen und gemeinsamen Tischzeit, und im Zusammenhange damit auch unregelmäßige Lebensweise und Ernährnng der Kinder: er ist zu alledem so unersprießlich und bei einigermaßen rationeller Anordnung des Stundenplans so vollkommen entbehrlich, daß seine fortgesetzte Beibehaltung nachgerade als ein schreiender und nicht zu duldender Anachronismus aufgefaßt werden muß. Die erste, dringendste schulhygieinische Forderung, von der unter keinen Umständen abgegangen werden sollte und die von der öffentlichen Meinung unter Anwendung der kräftigsten Mittel nötigenfalls zu erzwingen wäre, sollte „Fort mit dem Nachmittagsunterricht!“ lauten. Wenn der Wochenlehrplan infolgedessen um 2 oder 3 Stunden hier und da verkürzt werden müßte – um so besser; es dürfte aber kaum nötig sein, da man an so vielen Orten mit 26 bis 30 wissenschaftlichen Lehrstunden in den Unter- und Mittelklassen der Gymnasien, also mit 4 bis 5 Unterrichtsstunden täglich vollständig auskommt.

Eine zweite, wie sich unmittelbar aus dem Vorausgehenden ergiebt, ganz unabweisbare Forderung ist die nach einer Verkürzung der einzelnen Unterrichtsstunden, oder, was damit zusammenfällt, nach einer Verlängerung – und zwar einer im Laufe des Vormittagsunterrichtes stetig fortschreitenden Verlängerung – der Unterrichtspausen. Auch damit ist es bei uns sehr ungleich, aber fast allenthalben recht mangelhaft bestellt; während im Durchschnitt je zwei aufeinanderfolgende Unterrichtsstunden durch Pausen von 15 Minuten getrennt sind (was zusammen 40 Minuten Pause auf eine fünfstündige Arbeitszeit ergiebt), kenne ich auch Schulen, bei denen nur auf jede zweite Unterrichtsstunde eine Erholungspause, die erste von 10, die zweite von 15 Minuten, folgt; im ganzen also nur 25 Minuten bei 5 Stunden Unterricht! Und auch diese so völlig unzureichenden Pausen werden hier und da noch willkürlich verkürzt, lassen sich übrigens bei der räumlichen Unzulänglichkeit mancher Schulgebäude nicht einmal immer in einer für Erholungszwecke angemessenen Weise verwerten. Wie es sein müßte, geht aus den oben mitgeteilten Untersuchungen ohne weiteres hervor; allenfalls würde man sich mit der von dem schon obengenannten praktischen Schulmanne, Gymnasialdirektor G. Richter in Jena, vorgeschlagenen Zeiteinteilung befreunden können, wobei nach der ersten Stunde 10, nach der zweiten 15, nach der dritten 20 und nach der vierten (wenn der Hinzutritt einer fünften Vormittagsstunde unvermeidlich) 30 Minuten Pause stattzufinden hätten, die betreffenden Stunden natürlich dementsprechend verkürzt würden.

Es ist in diesem Zusammenhange bisher absichtlich noch nicht vom Turnunterricht die Rede gewesen, in dem so manche naiverweise das Heil- und Ausgleichsmittel für alle in der geistigen Ueberbürdung beruhenden Schulschäden erblicken, und von dem auf Grund solcher Vorstellungen neuerdings oft eine ganz falsche und verkehrte – man kann geradezu sagen, mißbräuchliche – Anwendung gemacht wird. Man hat insbesondere vielfach gemeint, durch Einschaltung körperlicher Uebungen, sei es am Beginne oder im Verlaufe oder auch gegen Ende des Vormittagsunterrichts, durch diesen „angemessenen Wechsel“ von geistiger Thätigkeit und Muskelarbeit den Folgen der Ueberbürdung auf geistigem Gebiet vorzubeugen oder zu begegnen. Aber dies ist leider ein bei Laien verzeihlicher, jedoch darum nicht minder verderblicher physiologischer Irrtum, den [196] neuere Untersuchungen – besonders des ausgezeichneten Turiner Physiologen Mosso – auch mit Sicherheit als solchen erwiesen haben. Körperliche Anstrengungen sind in keiner Weise als zweckmäßige Vorbereitung für geistige Arbeit, noch weniger als zweckentsprechende Erholung im Verlaufe der letzteren zu betrachten. Sie steigern und vergrößern vielmehr bei vorausgegangener Gehirnarbeit nur noch die Ermüdung, indem sie dem Ergebnisse der Gehirnanstrengung noch das der Muskelanstrengung hinzufügen; anderseits sind auch die Muskeln nach vorausgegangener Geistesarbeit weniger leistungsfähig, so daß die Turnübungen selbst unter solchen Umständen mangelhafter ausfallen. Ganz verkehrt ist es daher (wie ich es in einem Lehrplan gefunden habe), eine Turnstunde an den Schluß eines sechsstündigen Vormittagsunterrichts zu setzen; kaum minder verkehrt aber, den Unterricht mit einer Turnstunde zu beginnen, oder die Zwischenpausen (wie ich es auch gesehen habe) durch anstrengende Uebungen, Springen, Stabwerfen und dergleichen auszufüllen. „Erholend“ wirken – dies ist eine beherzigenswerte, durch Kraepelin neuerdings wieder eingeschärfte physiologische Thatsache – bei geistiger Ermüdung nicht körperliche Anstrengung, sondern Ruhe und Nahrungsaufnahme; es gehört daher zu den ersten und wesentlichen Anforderungen der Schulhygieine (wodurch sie aber freilich wieder mit unseren üblichen Lehrplänen in unvermeidliche Kollisionen gerät), behufs dauernder Erhaltung der Arbeitskraft und Gesundheit die dem jugendlichen Alter entsprechende Befriedigung des Schlaf- wie des Nahrungsbedürfnisses in ausreichendem Maße zu sichern.

Noch ein langes, überlanges Wunschverzeichnis ließe sich hier anknüpfen; doch was frommt uns der schönste weihnachtliche Wunschzettel, wenn kein Weihnachtsengel herabsteigen will, ihn zu verwirklichen! Zudem: will man der „Schulnervosität“ gründlich zu Leibe gehen, will man ihre Quellen und Zuflüsse ernstlich abschneiden, so muß man weit über den Rahmen derartiger, so dringender wie sachlich berechtigter Einzelfordernngen hinausgehen und zu einer durchgreifenden Veränderung des Systems und der Methodik unseres gesamten Schulunterrichts schreiten, wie es ja einsichtsvolle Pädagogen und Aerzte schon seit langer, langer Zeit, leider immer und immer wieder vergeblich, angestrebt haben! Man muß, wie erst neuerdings wieder besonders Kraepelin in vortrefflicher Weise dargelegt hat, vor allem mit der vielfach noch rein mechanischen Aneignung des Lehrstoffs brechen, die zu dessen geistiger Erfassung und Verarbeitung so garnichts beiträgt, vielmehr ein schwer zu bewältigendes Hindernis bildet – und die sich, wie vielfache Erfahrungen bestätigen, heutzutage wieder auf den verschiedensten Unterrichtsgebieten, nicht nur bei den Sprachen, sondern auch in Religion und Naturwissenschaften, in Geographie und Geschichte, ja sogar in der Mathematik höchst bedenklich ausbreitet. Was – um nur ein vor kurzem selbsterlebtes Beispiel anzuführen – was soll es frommen, von Schülern der Unterstufe die ganze Bergpredigt auswendig lernen und aufsagen zu lassen, ohne ihnen für das Verständnis dieser schönsten und tiefsinnigsten christlichen Offenbarung den Schlüssel zu bieten? Auf sachliches Beherrschen des Stoffes, auf Reife des Urteils, nicht auf toten Gedächtniskram sollte überall das Ziel gehen – womit dann die so wünschenswerte Abkürzung der Unterrichtszeit schon von selbst und notwendig gegeben sein würde! Noch mehr würde die Erreichung dieses Zieles gefördert werden durch die von Kraepelin dringend befürwortete Trennung der Schüler nach ihrer Arbeitsfähigkeit, nach dem Grade ihrer individuellen Ermüdbarkeit, womit wir wieder an die oben andeutungsweise geschilderten Untersuchungen anknüpfen.

Es sind das ja scheinbar weitgehende Forderungen, deren innere Berechtigung aber doch auch von einsichtsvollen Schulmännern, wie G. Richter, mehr und mehr gewürdigt und anerkannt wird; nur daß sie eben zu ihrer Erfüllung einstweilen noch keinen gangbaren Weg wissen. Es muß aber ein solcher Weg endlich doch gefunden und, wenn gefunden, mit der Energie, die unsern Reformern auf andern Gebieten in den glücklichsten Stunden unserer Geschichte noch niemals versagte, ergriffen und durchgeführt werden! Anläufe sind ja hier und da gemacht – freilich nach der Art unserer Zeit, teils schwächliche teils verfehlte; zumal die Schulkonferenz von 1891 mit dem von ihr eingeführten Zwischenexamen war, nach jetzt wohl ziemlich allgemein feststehendem Urteil, ein solcher verunglückter Anlauf. Suchen wir es also besser und gründlicher zu machen! – und wenden wir uns für das, was not thut, nicht an diese und jene zufällig von der Gunst der Mächtigen getragenen „Autoritäten“, sondern an die Gesamtheit, an die öffentliche Meinung, die mit ihrer tausendköpfigen Vertreterin, der Presse, doch heutzutage eine recht respektable, bei einmütigem Zusammenwirken auf die Dauer fast unwiderstehliche Macht bildet. Wenden wir uns auch vor allem, weit mehr als es bisher geschehen ist, an die Lehrerschaft selbst, der wir mit Recht sagen können „tua res agitur“ – „es ist Deine Sache, um die es sich handelt“ –, da in deren wohlverstandenem Interesse jede volle und durchgreifende Schulreform liegt. Denn alle Uebelstände, die die Schüler treffen, wirken mit fast gleicher Schwere auch auf sie, wenn auch davon aus natürlichen Gründen weniger die Rede zu sein pflegt – und von einer „Schulnervosität“ kann bereits nicht bloß bei den Schülern, sondern auch bei den Lehrern gesprochen werden, von denen (ich rede hier wiederum auf Grund vielfacher eigener Erfahrung) unter den jetzigen Zuständen ein nicht geringer Teil in frühzeitiger Erschöpfung der Arbeitskraft, der Leistungsfähigkeit, und leider auch der inneren Berufsfreudigkeit, körperlich und geistig dahinsiecht.

Große Interessen stehen hier auf dem Spiel; nicht bloß um die Kinder als Einzelmenschen handelt es sich (was auch schon genug wäre), sondern um die Jugend als Ganzes, um die lebenskräftig und lebensfreudig zu erhaltende Zukunft des Volkes; und so dürfen wir an die Wächter und Hüter des Volkswohles mit besonderer Berechtigung den uns von den Schulbänken her geläufigen Mahnruf ergehen lassen: „Videant consules, ne quid res publica detrimenti capiat“ – „Achtung, ihr Konsuln, daß der Staat keinen Schaden leidet!“




Frühlingssturm.

Ein Sausen und Brausen zieht durch die Lüfte,
Es klingt wie das Branden von Meereswogen –
Mir ist, als bringe es heimliche Düfte,
Die fern aus dem Süden herübergezogen.

Der Atem des Frühlings geht durch die Lande,
Das jauchzt und jubelt, das ruft: Es werde!
Das sprengt gewaltsam die fesselnden Bande
Und küßt im Triumph die erwachende Erde!

Vorboten des Lenzes! Willkommen – willkommen
Dem Herzen, das winterlich lag gefangen,
Facht an, ihr Stürme, was halbverglommen,
Nach vollem Leben das heiße Verlangen!

Erwecket aufs neue des Daseins Freude!
Fegt fort aus der Seele das Sorgen und Zagen,
Befreiet mein Herz vom vergangenen Leide
Und lehrt es noch einmal wünschen und wagen!

Doch schone mir, Sturm, die Knospen, die süßen,
Und störe nicht grausam ihr liebliches Keimen!
Ich aber, ich will dich dankbar begrüßen
Und wirken wie du, statt müßig zu träumen!
  Marie Bernhard.


[197]

Ein Bergler Knecht.

Charakterbild aus Tirol von Carl Wolf-Meran.
Mit Bildern von W. Humer.

Steigt man von Lana hinauf durch die Weinberge, dann durch die Kastanienwaldungen und endlich hinein über den steinigen Weg in das Ultenthal, so bemerkt man hinter Außerhof rechts oben auf dem zerklüfteten Berge den Weiler Pawiegl. Die aus Baumstämmen zusammengezimmerten Häuser mit den Schindel- und Strohdächern sehen aus, als klammerten sie sich ängstlich an, um auf dem stark abschüssigen Boden nicht ins Thal zu rutschen. Es wird vielfach als Witz erzählt, daß auf diesen Berghöfen die kleinen Kinder mit Stricken an die Bäume gehängt werden, damit sie beim Spiel nicht über die abschüssigen Wiesen und Felder hinunter purzeln. Dies ist aber eine Thatsache und der Volksspruch, der da umgeht, „do droben af Pawiegl tragen die Hennen Fußeisen“ ist gar nicht dumm erdacht.

Die Leute, welche da oben leben, müssen in harter und schwerer Arbeit dem mageren Boden das abgewinnen, was sie zum Leben brauchen. Jede Garbe Korn, jede Bürde Heu müssen Männer, Weiber und Kinder auf dem Rücken in die Scheune tragen, und wenn eines jener fürchterlichen Hochgewitter niedergegangen ist, welche dort so fürchterlich toben, als wolle es die Berge niederreißen, so eilt alt und jung, um die vom Regen abgeschwemmte Ackererde wieder hinaufzutragen.

Gar manches Marterl am Wege zeigt, wo ein Holzknecht von einer stürzenden Tanne oder Fichte erschlagen wurde oder von einem niedergehenden Felsen. Oder wo ein lebfrisches Diendl beim Wildheuern abstürzte, oder ein Geißbube, wenn er ein verlorenes Stück seiner Herde aufsuchen sollte in den Abhängen und Schrofen.

Und dennoch leben dort zufriedene und glückliche Menschen.

Wenn der Bauer nach Feierabend so mitten unter seinen Kindern sitzt, alle frisch und rotwangig, einer der Buben vielleicht eine ordentliche Schramme auf dem Kopfe, die Mädchen mit dem grobwollenen Strickzeug, da schmaucht er sein Pfeifchen und schmunzelt: „Vergeltsgott, tüchtig nachwachsn thuan sie, die Jungen, daß d’ Alten a sichers Nestl haben, wenns Krippl (Körper, Körperchen) nimmer recht mitthuan will.“

Wenn dann die Knechte und die Mägde hereinkommen in die kleine, ganz ausgetäfelte Stube und alle setzen sich um den runden Tisch in der Ecke, über welchem der Heilige Geist in Gestalt einer Taube hängt, und an den Wänden herum die Heiligenbilder und das vom Rauch gebräunte Kruzifix, dann sind es nicht Herr und Knecht, sondern eine große Familie, was da zusammen sitzt.

Da scheut sich der Knecht nicht, seine Zweifel über eine getroffene Anordnung des Bauern kundzugeben, ebensowenig wie der Bauer keinen Augenblick zögert, dieselbe zu ändern, wenn er einsieht, daß der Knecht recht hat. Die Bäuerin verkehrt mit den Mägden wie mit den Töchtern des Hauses und wird von denselben wie eine Mutter respektiert. Unter einem Jahre aus einem Dienste auszutreten, gilt als große Schande, und meistens bleiben die Dienstleute bis an ihr Lebensende, denn sie finden ja auch ihre Altersversorgung auf dem Hofe, welche den Bauer wahrlich nicht drückt.

Da fand ich einmal auf einem einsamen Berghofe ein meeraltes Männlein. Das hockte auf einem Stein vor der Hütte, hielt ein vielleicht einjähriges Kind auf dem Schoße und lachte vergnügt, wenn es das Näschen verzog und mit den Aeuglein blinzelte, so oft der Alte ihm einen Mundvoll Tabaksrauch aus seiner kleinen eisernen Pfeife in das Gesichtchen blies.

„Jetztern bin i achtzig,“ erzählte der Alte, „achtzig bin, wenn i mi nit um a nettlene Jahrlen überzählt hab. Und sell kann leicht sein, weil ma in der jungen, überschüssigen Zeit so viel leicht aufs Zähln vergessen thuat.

Alsdann wär i siebenzig Jahr auf’n Höfl. Mit zehn Jahr bin i kummen; da war i Einleger von der Gmein aus.[2] A Heidngeld hab i der Gmein kostet. Sieben Guldn ’s Jahr und alle Winter a Paarl Schua und jedwedn zweitn Winter a lodenes Gwand und a Pfoat (Pfaid = Hemd).

Nachher bin i Goasbua gwordn und zelm bin i a mal drei Tag und zwei Nächt drobmet im Eggstoan verstiegner Weis’ gseßn und hätt’s no a nettlene Stundn dauert, meiner Seel, ’s lederne Hösl hätt i aufgeßn. Mit’n Hosntrager bin i so schon bald ferti gwest. Der Kienklammsepp hat mi ober bracht, vergelt’s ihm Gott im Himml drobmet. ’s Jahr drauf hat er si auf der Gamsjagd ’s Gnagg (Genick) abgsteßn.

Nachher bin i rindviechener Hirt gwordn, schon mit sechzehn Jahr. Gelt, wie a manicher Mensch in d’ Höh’ kummt! Dreihundert fünf und zwanzig Guldn sein mir z’ meist anvertraut gwest; so viel war mein Hüatvieh wert.

Mit neunzehn Jahr ist der große Knecht von einer Feichtn beim Holzmachn erdruckt gwordn. Da ist der zweite Knecht erster, der dritte zweiter und i bin Jungknecht gwordn. Jetztern war i Knecht und da ist’s Herrnleben angangen. A Pfeif hab i mir kauft und an Tabak, a schön’s Stechmesser um fünf und vierzig Kreuzer. Da schau, i hab’s nou. Die Klingen ist freili a bissele zammen gschliff’n.

Und nach’n Messer und ’n Raachzeug hab i miar um a Diendl umgschaut. Hab nit weitum zu suachn gehabt, gar nit. Der zweite Knecht, der Longfaller Luisl, dem hat inser [198] Moidele (Mariele) in die Augn gestochn. Nit grad für’s Leben, lei so zur Kurzweil. Miar hat selb Diendl aber fürs Leben guat gfalln und da hab i den Luisl, wie er ’s Moidele a mal um d’ Mittn gnummen hat, so im Gspaß, angstenkert. Da ist dann Raufets (Rauferei) draus gwordn und schön hab i ihn gschmißn, den Luisl, saggrisch schön. Aftn (nachher) ist’s Moidele mein Schatz gwordn. Dem Bauer und der Bäurin war’s nit zwider und ins zweien war’s schon gar aus recht. I bin auf’n Hof ja kuan fremd’s Leut gwest und allwegs wie’s Kind angsechn.

Nachher ist wieder a Zeit umgangen. Da bringt der Bettlrichter (Polizeidiener) an Zettl, zur Soldatnstellung müß i in die Stadt. Und da hat mir’s Moidele, wia’s der Brauch ist, an schön Nagelestrauß auf’n Huat bundn und dieweil i in die Stadt gangen bin, haben sie, ’s Moidele und die Muater, drei Rosenkränz betet, daß i durchschlüpf. I hab drunt in der Stadt Nummero drei aus ’n Hafn außerzogn und der Soldatndokter hat die Brilln aufgsetzt, hat mi von ob’n bis unt’n angschaut und hat gsagt: a fester Bua ist’s! Taugli!

Lei drei Rosenkränz haben halt nit glangt. A Stuck a drei Meßn hätt’s braucht, wenn nit gar fünf.

Wi i eingruckt bin, sein i und’s Moidele zum letznmal da drent beim Wetterkreuz beinand gstandn. Da hab i’s mit’n rechtn Arm um der Hüftn gfaßt und mit der linkn Hand hab i ihr’s Köpferl in die Höh’ gruckt, daß ihr a Thränentröpfl grad im Grüberl auf der Wangen liegen blieben ist.

‚Wirst mi alleweil lieb habn, Moidele, und wirst miar treu bleiben?‘

Gar gwundrig hat’s aufgschaut. ‚Giebt’s denn etwas anders als Treu, wenn sich zwei lieb habn?‘

Aufs die Red aufi bin i gangen. Was hab i no mehrer braucht?

Und siehst, jetzt kumm i miar selber auf a Lug. Siebenzig Jahr, hab i gsagt, sei i auf’n Hof und sein thuan’s lei acht und fufzig. Zwölf Jahr bin i ja beim Militär Soldat gwest!

In der Welsch drein, tief drein in der Welsch, hab i gfochtu unter’m Vater Radetzki und an Schuß hab i bekummen mittn durchs Fleisch, ’s Bein nit a bissele beleidiget. Dös sag i lei, daß d’ a Idee hast, was i für a guat gstellter Mensch gwest bin. Heut soll’s a mal oaner versuachn lei ’s Fleisch zu treffn bei mir!

Von daheim hab i nie mear was gspürt. Schreiben? Mei, wer soll schreiben? Bis a Tintn kaufst beim Krämer und a Papier und ar Hennen a Feder ausrupfst, nachher ist wieder neamd da, der’s bschneidn kann die Feder. Und bis d’ a Briafwappl hast, dieweil ist ei’m lang schon ausgfalln, was man hat schreiben wölln.

Nach neun Jahr bin i als Patent-Urlauber heimkummen.

Wie i so mit no zwei Kameradn drunt in Lana durchs Dorf einmarschier, kummt von der Pfarrkirchn grad a Hochzeit her.

Und wer ist’s gwest, die Hochzeiterin?

Mein Moidele mit’n Longfaller Luis!

Kreuz sackera, bin i da erschrockn, bin i da so erschrockn!

Aber i hab mi schon auklärn laßn. Vor anderthalb Jahr ist der Baur gstorben gwest und die alte Bäurin hat döcht nit heiratn können und i war ja nit da, und a Bauer muß sein auf an Berghöfl und der Luis weiß da drobmet alles acht und kennt alles, so hat’s freili so sein müßn.

Um a drei Wochn, a viere früher heimkummen hätt i solln!

Bin so sinniger a halbete Stund beim Kirchnegg gestandn und hab der Sach nachdenkt. Nachher hab i mein Stock gnummen und bin wieder durchs Dorf aus. Koan Mensch hat mi kennt und koan Mensch hat nach mir gschaut. Und zwegn warum hätt i den solln mein Moidele im Weg stehn? ’s ist gnuag gwest an meim schwärn Herzn.

Schnüarlgrad bin i af Bozn zua und hab beim Platzkummando a neue Kapitulation für mi angmeldet auf drei weitere Jahr. Hundert Guldn hab i dafür bekummen und de hab i heimschickn laßn, zum Aufheben für mi.

[199] Wie die drei Jahr ummer gwest sein, bin i heim. ’s Moidele, die Bäurin, wär bald erschrockn und der Luis, der Bauer, a. Den Schreckn hab i ihnen aber glei ausgredt und nachher haben ’s mi zum ersten Knecht eingstellt.

Ha, weit hab i’s bracht! Und no weiter hätt i’s bringen können, hätt i lei mögn.

Der Baur ist gstorben und nach einem Jahr meint die Bäurin: ‚Was guat zu machn hätt i an dir,‘ meint sie, die Bäurin.

‚O na, na, sag i, o na, na, Bäurin, ’s ist all’s, wie’s sein soll, sag i, und wie’s hat kummen müaßn. I bleib, wenn’s Dir recht ist, erster Knecht, so lang mi die Haxn tragn, und fürs Alter kauf i mi ein auf Dein Hof, sag i, mit mein Geld.‘

Und so ist’s blieben. Die Kinder sein aufgwachsen, a Diendl und a Bua; meine Knochn sein mürb gwordn und jetzt auf der Letzt bin i gar zur Kindsdiern aufgruckt.

Gelt, Du Fratzl, Du kloans, Du liabs, Du putzigs, Du herzigs!

Und ’s Tabakraachn thu i ihm angwöhnen,“ sagte der Alte und qualmte dem Kleinen lustig ins Gesicht.

„Freili, ’s Raachn muaß ’s gwöhnen, mein Fratzl. ’s Winterl kummt und im Offerl kracht ’s Holz und ’s Katzl schreit miau, miau, laß mi ein, und ’s Hunderl bellt hu, hu, hu, laß, mi ein, und’s Vögerl macht am Fensterl pick, pick, pick, machts auf, ’s Vogerl muaß erfriarn, und ’s Muaterl kocht dem Kinderl a Muaserl und ’s Kinderl macht schnapp, schnapp, weil’s Hungerl hat –“

Da schritt aus dem Hause die junge, lebensfrische Bäuerin. Zwei dicke blonde Zöpfe um den Kopf gewunden; ein eng anliegendes Miederleibchen mit bauschigen, groben, aber sauberen Hemdärmeln, ein faltiger, grober Kittel und eine blaue Schürze. An den Füßen trug sie derbe Bundschuhe. Das Gesicht war jugendlich frisch, mit blauen Augen, Grübchen in den Wangen, und die lebhaft gefärbten, leicht geöffneten Lippen ließen die schneeweißen Zähne hervorgucken, welche die Berglerleute fast immer haben.

„Mei der Saggera,“ schalt sie lachend, „thut er mir schon wieder ’s Kind verzauslen (verwöhnen), daß ’s bei koan Menschn mehr bleiben mag als bei ihm.“

Mit starken Armen schwang sie das Kleine hoch in die Luft.

„Hutschau, Popperl, Hutschau! Mags Mammerl giarn?“ –

„Woher kemt’s denn ös,“ wendete sich die junge Bäuerin an mich.

„Vom Land aufer (aus der Ebene) kimm i, Bäurin, und wenn a Platz war, an Löffl Suppen möcht i mit enk essn.“

„Auf alle Weis’, kemmt’s lei einer, Stadtlinger,“ antwortete sie freundlich und schritt mit dem Kinde ins Haus.

„Schau Dir’s guat an, die Bäurin,“ schmunzelte der Alte, „schau Dir’s guat an, sou, aber glatt a sou hat’s Moidele ausgschaut, jungerweis’! Gelt, i hab mi schun richti auskennt bei die Weiberleut?“

Im kleinen getäfelten Stüberl hockten schon die Ehalten (Dienstleute) am runden Tisch und die Jungdiern rückte auf der Bank und wischte für mich an ihrer Schürze den Löffel ab, den sie bisher selbst benutzt hatte.

Der Alte aber war mit seinem Pfeifchen zur Ofenbank getrippelt. Da hockte ein Mütterchen mit einem großen Spinnrade und spann einen knopfigen, dicken Zwirn; so gut es eben mit den steifen, dürren Fingern ging.

Der Alte aber nahm sein Pfeifchen aus dem Munde und rechnete mir mit wichtigem Gesichte vor: „Alleweil verrechn thu i mi, mit meiner Rechnung heut. A nit achtafufzig Jahr thut’s sein, daß i auf ’n Hof sein thu. Die drei Jahr, de i damals ausgwichn bin und wo i no a mal zrugg eingruckt bin zu die Soldatn, dieselben kann i a mit Recht dem Dienst zuschreiben, ganz mit gütn Gwißn kann i sell.“

Vorsorglich und zärtlich fast rückte er das Spinnrad beiseite schob einen kleinen Tisch an den knisternden Ofen, welchen das alte Mutterle nie mehr verließ, außer sie wurde ins Bett gebracht und holte ein Schüsselchen Milchsuppe aus der Küche.

„Schau,“ lachte er gar freundlich zu mir herüber, „was a Mensch nit all’s werdn kann im Leben! Als Huaterbua hab i mein Dienst angfangt auf dem Hof und als Kindsmadl für alt und jung hör i auf.“


Blätter und Blüten.


Eine Bitte für den ersten Star! (Zu dem Bilde S. 181.) Lange bevor der Kampf zwischen Winter und Frühling entschieden ist, erscheinen die Stare wieder in ihrer nördlichen Heimat. Diese frühen, ja man könnte wohl sagen, vorzeitigen Boten des Lenzes leiden beim rauhen Wetter keine Not, wenn nur keine Schneedecke den Boden verhüllt; denn in der Ackerkrume, auf Gartenbeeten und im Wiesengrase finden sie in allerlei Gewürm und Gesäme reichliche Nahrung. Schlimm sind sie aber dran, wenn das trügerische Wetter umschlägt und der Nachwinter mit Schneefällen und Frost sich einstellt. Dann kommt die Leidenszeit für die heimgekehrten gefiederten Sänger und viele von ihnen rafft der Tod dahin. Die Untersuchung der kleinen Leichen, der Opfer des Nachwinters, hat nun gelehrt, daß der Nahrungsmangel ihrem Leben ein frühzeitiges Ende bereitet hat. Der tiefe Schnee hat ihnen den Zutritt zu dem Tischlein verwehrt, das die Natur für sie gedeckt hatte. Erfahrene Vogelkundige, vor allem Prof. Dr. K. Th. Liebe, haben die Aufmerksamkeit der Vogelfreunde wiederholt auf diese Thatsache gelenkt. Außer den Staren werden noch viele andere Vögel vom Nachwinter besonders hart getroffen und für diese erscheint das Anlegen von Futterplätzen, namentlich von sogenannten Feldplätzen, dringend wünschenswert. „Etwas entfernt vom lebhaften Treiben der Ortschaft und im freien Felde,“ schreibt Liebe, „aber in der Nähe von kleinen Feldgehölzen, Raingebüschen oder abgelegenen Obstpflanzungen wird auf einer Wiese oder in freiem Felde, am liebsten auf einer gegen Süden gelegenen Böschung, ein Platz mit einigen Dornen besteckt. Darauf werden kleine Pfählchen eingeschlagen und an diesen aufrecht Bündelchen dürrer Sträucher von Disteln, Cichorien, wilden Möhren oder statt dessen auch nur von Erbsen- oder Getreidestroh aufgesteckt. Auf den Platz und unter die Dornen streut man Rübsen- und Rapsabfälle, Heugesäme, Mohnsamen und allerhand ölige und mehlige Garten- und Feldsämereien.“ Daneben ist auch Beigabe von Fleischstückchen erwünscht. Auf solchen Plätzen können die Vögel, vor Raubzeug geschützt, ihrer Nahrung nachgehen. Der Ruf „Erbarmet euch der darbenden Vögel!“ erklingt oft während des Winters, mit dem Eintritt des Tauwetters pflegt er zu verstummen und nur wenige Menschen denken im Nachwinter an die hungernde Vogelwelt. Möge das hübsche Bild auf der ersten Seite dieser Nummer der „Gartenlaube“ unsre Leser, falls noch ein Nachwinter uns beschert werden sollte, an die Not der frühen Lenzesboten erinnern und sie zur Mildthätigkeit anregen! *     

Das Künstler-Märchenfest in Weimar. (Mit dem Bilde S. 193.) Zu einem Gang „in das alte romantische Land“ der Märchenwelt lud der Weimarer Künstler-Verein die Gäste ein, die zur Teilnahme an seinem diesjährigen Kostümfeste in den Räumen des Künstlerhauses erschienen. Und die phantastischen Gestalten und Motive des Märchens, welche für die Kostüme der Teilnehmer, für die Ausschmückung der Räume wie die scenischen Veranstaltungen als Vorbild und Anregung dienten, bewährten auch in diesem Fall ihre unverwüstliche Macht über die künstlerische Phantasie. Drei Tage, vom 21. bis 23. Februar, dauerte das fröhliche Fest, dessen stärkster Anziehungspunkt wohl die wiederholte Aufführung des Opernfestspiels „Nerilda“ war, welches Dr. J. Wahle vom Goethearchiv eigens für diese Veranstaltung gedichtet hatte. Die Maler Prof. F. Rieß und der vielseitige Hans W. Schmidt hatten für das mit Gutheils Musik ausgestattete Singspiel eine zauberhaft phantastische Scenerie geschaffen, wie sie unser Bild auf S. 193 wiedergiebt. Zuschauerraum und Bühne zusammen stellten eine unterseeische Felsgrotte dar, belebt und geschmückt mit den vielfarbigen und formenreichen Wundergebilden der Tiefseefauna, welche Stahlschmidt zum großen Teil plastisch ausgeführt hatte. Den Hintergrund der Bühne bildete ein von Rieß [200] gemaltes Transparent, welches die Grotte in weite Tiefe zu verlängern und einen fernen Durchblick in die sonnendurchleuchtete Flut zu eröffnen schien. Von der Decke hingen mächtige Felszacken; träg neugierig glotzte ein Walroß aus einer tiefen Nische, während ungeheuerliche Fische durch Gänge und Spalten dem fernher schimmernden offenen Meer zuschwammen. In magischem Licht erglänzten von oben her transparente Seesterne und Polypen und erleuchteten dämmernd die Grotte, an deren Seitenwänden sich Felsdurchblicke eröffneten auf einen die versunkene Stadt Vineta umspielenden Nixenreigen, eine gesunkene von der Tiefseefauna umwucherte Fregatte (s. unser Bild unten links) und einen erstaunt aufblickenden Nix (s. unser Bild unten rechts). Ein buntes Gemisch meist kostümierter Zuschauer drängte sich Kopf an Kopf in der Grotte, wenn die „Wasseroper“ stattfand. In ihr wird sie von einem Nix in die Tiefe gelockte und dort in tausendjähriger, starrer Verzauberung gehaltene Königstochter Nerilda von dem Weimarer Kunstschüler Spachtel befreit, der – loreleiberückt – in den Rhein gefallen ist und weiter in die Tiefsee verschwemmt ward. Nach längerer Unterhaltung gewinnt er ihr durch Anfertigung einer Porträtskizze das erlösende Lächeln ab und wird von einer herbeigewinkten günstigen Welle, vereint mit seinem unterseeischen Modell, wieder nach oben getragen.

In den vielgegliederten Räumen des Künstlerhauses entfaltete die Märchenfee aber auch sonst noch gar viel des Ueberraschenden und Schönen, dem echter Künstlerhumor die Weihe gab. Das einstige Zeughaus von Weimar, welches der Großherzog dem Künstler-Verein zur dauernden Heimstätte angewiesen hat, bietet zur Abhaltung solch großer Feste die günstigsten Verhältnisse. Der große, säulengetragene Saal des Erdgeschosses zeigte an seinen Wänden Prospekte von weithin sich dehnenden Hallen und Gängen eines verlassenen Klosters; auf erhöhtem Podium war eine Hexenküche mit mächtigem Rauchfang und dem unheimlichen Apparat magischer Kunst hergerichtet. In der Geisterhalle trieben bei Dämmerlicht Hexen und Zauberer, Gespenster und Teufel ihr unheimliches Wesen. Aus diesem Reich des Grauens führte die durch einen entsprechenden Vorhang gekennzeichnete Reisbreipforte in die lieblichen Gefilde des Schlaraffenlandes, wo die Blicke zuerst gefesselt wurden durch das von einem dichtblühenden Apfelbaum beschattete Pfefferkuchen-Häuschen der Knusperhexe. Diese wahrsagte ihren Gästen durch Kartenschlagen, während Männlein und Fräulein in der Tracht der Biedermeierzeit ihr halfen, die Hungrigen, wie die Leckermäuler zu befriedigen. Am Herde saß, von Tauben umflattert, Aschenbrödel beim Erbsenlesen, während man durch ein romanisches Doppelbogenfenster, das sich aus rosenumsponnenem Kreuzgewölbe eröffnete, Dornröschen schlummern sah. Beim Eingang in den Zauberwald hauste die Waldhexe mit der Kröte als Köchin und der fleißigen Kreuzspinne; nahebei der fromme Einsiedler. Vom Geistersaal steil aufwärts führte ein enger Felsgang in den winterlichen Hochwald, wo Rübezahl sein Wesen trieb und man vom Grund einer tiefen Höhle aus Schneewittchen schlummern sah in ihrem von Zwergen bewachten Glassarg. Der hohle Stamm einer alten mächtigen Eiche bot dem treuen Schwesterlein der sieben Raben die Zufluchtsstätte für ihre stumme Liebesarbeit. In einem maurischen Gemach hatte das morgenländische Märchen und ein vielbesuchtes Variététheater, in einem norwegischen der König von Thule und Frau Holle ihren Sitz. – So gab es viel zu sehen und zu staunen, und eifrige Besucher des Festes fanden selbst am dritten Abend noch immer Neues und Wunderbares. Den herzerfreuendsten Erfolg aber erzielten die fleißigen Künstler, als am vierten Nachmittag Hunderte von jubelnden Kindern mit strahlenden Augen die Wunder ihrer Märchenwelten schauen und mit den Leckermäulchen ihre Süßigkeiten kosten durften. W. V.     

Ein wackerer Deutscher Nordamerikas, Karl Rümelin, ist am 16. Januar d. J. in Cincinnati zur ewigen Ruhe eingegangen. In Heilbronn a. N. hat seine Wiege gestanden; dort erblickte er als Sohn eines Kaufmanns am 19. Mai 1814 das Licht der Welt. Er genoß eine gute Erziehung, besuchte in seiner Vaterstadt und in Marbach die Lateinschule und das Obergymnasium und trat darauf in das Geschäft seines Vaters ein. Den Jüngling litt es aber nicht in der Heimat, er wollte ferne Länder schauen und jenseit des Oceans sein Glück versuchen. Schwere Kämpfe kostete es, bis er im Jahre 1832 die Einwilligung seines Vaters erlangte und, gut ausgestattet, die weite Reise antreten durfte. Nachdem er zuerst in Philadelphia Wurzel zu schlagen gesucht, fand er in Cincinnati, was er suchte. Er wurde zuerst Angestellter, dann Miteigentümer eines Materialwarengeschäfts. Nahrungssorgen blieben ihm fremd; er konnte eine Tochter der eingewanderten Schweizer Familie Mark als Gattin heimführen und erwarb Grund und Boden, um fortan auf einer blühenden Farm als Landwirt zu wirken. Ruhig und glücklich floß hier ihm und den Seinen das Leben dahin; aber mit diesem Glück begnügte sich Karl Rümelin nicht; frühzeitig war sein Sinn auf das Gemeinwohl gerichtet. Schon im Jahre 1834 wurde er einer der Begründer der „Deutschen Gesellschaft“ und rief auch eine deutsche Zeitung, das „Cincinnatier Volksblatt“, ins Leben. 1836 brachte er die Schöpfung einer deutschen Universität in Anregung, beteiligte sich auch in reger Weise an politischer Arbeit und sammelte in den Kämpfen des Lebens reiche Erfahrung.

Karl Rümelin.
Nach einer Photographie von Landy in Cincinnati.

Nach zehnjährigem Aufenthalt in Amerika machte er eine Reise nach Europa, wo er seinen Wissenskreis zu erweitern suchte. Im Jahre 1844 wurde er in das Haus der Repräsentanten von Ohio und zwei Jahre darauf in den Senat gewählt. Ob er in der Politik stets das Richtige getroffen, mag hier unerörtert bleiben. Sicher hat Rümelin stets das Gute und Edle gewollt. Rein stand er da und bekämpfte aufs schärfste jede Korruption, am nachdrücklichsten in der eigenen Partei. Das brachte ihm Feindseligkeiten ein, hinderte seinen Lauf zu den höchsten Aemtern, schuf ihm aber den hohen Ruf eines makellosen Mannes, der niemals um des persönlichen Nutzens willen der Oeffentlichkeit gedient hat.

Diesen seinen Charaktereigenschaften entsprach es, daß er an der eigentlichen Politik weniger Gefallen fand, um so nachdrücklicher aber sozialen und wirtschaftlichen Fragen sich zuwandte. Und wie ernst war ihm die Mitarbeit auf diesem Gebiete! Als Mann in voller Reife studierte er die Rechte und bestand glänzend die Anwaltsprüfung und als Greis hörte er auf seinen Reisen durch Deutschland bei hervorragenden Universitätslehrern Volkswirtschaft, Technologie und Philosophie. Für sein deutsches Vaterland hat er stets das wärmste Interesse bewahrt, und politische Flüchtlinge fanden in ihm in den sturmbewegten Jahren der Freiheitskämpfe einen werkthätigen Helfer. Rümelin war es, der sich Gottfried Kinkels und Ludwig Kossuths jenseit des Meeres annahm und nicht eher ruhte, als bis ihre Existenz gesichert war.

Bis in die letzten Augenblicke war sein Geist rege geblieben, unermüdlich wirkte er als Redner und Schriftsteller fort und noch im letzten Frühjahr hielt der 81jährige in Cincinnati einen Vortrag über das Thema „Die Erde und die Menschheit als völkerverbindendes Ganze“. Das war sein Schwanengesang. Karl Rümelin galt mit Recht als Patriarch der Deutsch-Amerikaner, als solcher wurde er an seinem Lebensabend geehrt und als ein Vorkämpfer für das Gemeinwohl, als Förderer alles Edlen und Guten wird er in der Erinnerung der Menschen fortleben.

Das tiefste Bohrloch der Erde. Lange Zeit hindurch war das Bohrloch bei Schladebach mit 1748,40 m Teufe das tiefste Bohrloch der Erde, bis es durch die Bohrungen bei Paruschowitz in Oberschlesien übertroffen wurde. Es handelte sich am letzteren Orte in einer noch unbelegten Gegend Gerechtsame auf Steinkohlen für den Staat zu erwerben, wobei selbstverständlich auch wissenschaftliche Zwecke verfolgt wurden. Das Bohrloch erreichte 2003,34 m Teufe. Die Arbeiten mußten zuletzt wegen eines Unfalls eingestellt werden: das Hohlgestänge riß und es blieben zwei Diamantkronen von 69 mm Durchmesser, 40 m Kernrohre und 1343 m Mannesmannrohre im Bohrloch zurück. Ueber diese trotzdem hervorragende Leistung der Bohrtechnik ist jüngst von Bergrat Köbrich ein ausführlicher Bericht erschienen, dem wir folgende Thatsachen entnehmen. Nach Erreichung von 2000 m Teufe betrug das Gesamtgewicht des Bohrzeuges 13 875 kg. Die Zeit, die nötig war, um die Diamantkrone aus 2000 m Tiefe heraufzuholen, damit der Kern herausgenommen werden konnte, dauerte im Durchschnitt 10 Stunden. Die Temperatur nahm mit der Tiefe unregelmäßig zu; im Durchschnitt trat bei je 34 m eine Steigerung um 1° C ein; bei 2000 m Tiefe betrug die Temperatur 69,3° C. Die Bohrung hat insgesamt 399 Arbeitstage in Anspruch genommen und 75 225 Mark Kosten verursacht, während die Ausgaben bei dem Bohrloche von Schladebach sich auf 121 304 Mark beliefen. Die Bohrung von Paruschowitz war auch in wirtschaftlicher Hinsicht erfolgreich. Sie wies 83 Steinkohlenflötze von teilweise großer Mächtigkeit auf; denn alle diese Flötze ergeben zusammengelegt eine Steinkohlenmächtigkeit von 89,50 m. *     


Inhalt: [wird hier nicht dargestellt.]



Nicht zu übersehen! Mit der nächsten Nummer schließt das erste Quartal dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“; wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellung auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders darauf aufmerksam, daß der Abonnementspreis von 1 Mark 75 Pf. bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs bei der Post aufgegeben werden, sich um 10 Pfennig erhöht.

Einzeln gewünschte Nummern der „Gartenlaube“ liefert auf Verlangen gegen Einsendung von 30 Pfennig in Briefmarken direkt franko die Verlagshandlung: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. 


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

[200 a] 0


Die Gartenlaube.

Beilage zu No 12. 1896.


Der Fahrraddienstmann. Der Verkehr steigt in unseren Großstädten; alles sucht er sich dienstbar zu machen; die alten Omnibuswagen werden von elektrischen und Gasbahnen überflügelt und auch der alte gute Dienstmann, der so prompt allerlei eilige und auch vertrauliche Aufträge besorgt, ist vielen nicht mehr fix genug. Doch eine Abhilfe ist leicht geschaffen. Warum soll er weiter zu Fuß als Eilbote der rastlos hastenden Menschheit dienen? Gebt ihm ein Dreirad und er wird durch das Gewühl der Straßen schnell dahinfliegen! Seit einiger Zeit ist dieser Gedanke in Berlin verwirklicht worden. Da radelt er in rotgestreiften Pumphosen, mit enganschließenden Gamaschen von Segeltuch auf dem rotlackierten Stahlroß emsig dahin – ein neuer Typus des Großstädtertums: der Fahrraddienstmann! Der neue Bote kann auch Pakete übermitteln, denn das Dreirad ist mit einer Plattform, die bis 75 kg Tragfähigkeit besitzt, versehen. Es werden zunächst gegen einhundert der Fahrraddienstmänner an den verkehrsreichsten Punkten Berlins aufgestellt, die jeden Augenblick bereit sind, einer mündlichen oder telephonischen Bestellung Folge zu leisten. Der Fahrraddienstmann hat gewiß eine Zukunft, denn an Schnelligkeit im Nachrichtendienst im Stadtbezirk übertrifft er selbst die Rohrpost und den Telegraphen.

Berliner Fahrraddienstmann.
Nach dem Leben gezeichnet von Ewald Thiel.

Das größte Kriegsschiff aller Flotten ist augenblicklich im Besitz Englands: es ist der vor nicht allzulanger Zeit vom Stapel gelassene Panzerkreuzer „Terrible“. Während Deutschland hauptsächlich durch die technischen Leistungen im Bau seiner Handelsflotte hervorragt – es besitzt zur Zeit sowohl das größte Segelschiff als den größten Passagierdampfer aller Meere – hat der Vorrang im Bau riesiger Kriegsschiffe mehrfach gewechselt. Bemerkenswert ist dabei, daß diese gigantischen Kampfmittel jetzt nicht mehr auf den reinen Panzertyp gebaut werden, sondern immer die Stärke eines Panzerschiffes mit der Schnelligkeit eines Kreuzers vereinigen sollen. Daher heute die vor fünf Jahren noch ziemlich ungebräuchliche Bezeichnung „Panzerkreuzer“ für die größten Kriegsschiffe fast aller Flotten! Seit 1892 war das größte Exemplar dieser Gattung der russische „Rjurik“, der bei der Eröffnung des Kaiser Wilhelmskanals im Kieler Hafen viel Aufsehen erregte. Die amerikanische „Columbia“, ein Panzerkreuzer von leichterer Bewaffnung, übertraf „Rjurik“ seit 1893 bedeutend an Schnelligkeit, wenn auch nicht an Größe, sie ist bis jetzt das schnellste große Schiff auf der Erde. Nunmehr hat der „Terrible“ der englischen Flotte den „Rjurik“ an Größe und Schnelligkeit gleich weit überholt, denn er ist mit seiner Länge von 164 m fast um ein Viertel länger, an Tonnengehalt um ebensoviel schwerer und überdies imstande, 22 Knoten (22 Seemeilen in der Stunde) zu laufen, während „Rjurik“ in der Stunde 18 macht. Seine ungeheuren Maschinen, die in einem Raum von 75 m Länge aufgestellt sind, entwickeln 25000 Pferdestärken, 10000 mehr etwa als diejenigen in den größten Schnelldampfern unserer Handelsmarine. Seine Kohlenräume sind so groß, daß sie ihn bei der ermäßigten Geschwindigkeit des gewöhnlichen Marschtempos wahrscheinlich zu einer Reise um die ganze Erde befähigen, ein Kunststück, welches zur Zeit nur noch zwei Panzerkreuzern der amerikanischen Flagge möglich ist. Aeußerlich zeichnet sich das Schiff, neben seiner Größe und gewaltigen Höhe, noch durch vier hintereinander liegende Schornsteine aus. Seine Bewaffnung und Bepanzerung ist stark genug, um das Treffen selbst mit den mächtigsten Schlachtschiffen anderer Flotten nicht zu scheuen, zumal es allen durch seine Manövrierfähigkeit überlegen sein dürfte.Bw.     

Musterblätter für Flachschnitzerei. Neben der allgemein beliebten Kerbschnitzerei beschäftigt auch die Ausgründungsarbeit oder Flachschnitzerei bereits viele Dilettanten. Das Muster hebt sich bei dieser Technik als flaches Relief von einem durch vertiefte Punkte einheitlich wirkenden Grund ab, es besteht entweder aus einfacheren geometrischen Figuren oder aus Ornamenten von reicherer Zeichnung. Zum Selbstunterricht in dieser hübschen, zur Verzierung aller möglichen Holzgegenstände geeigneten Kunst dient in sehr praktischer Weise das oben genannte Werk (München, Mey & Widmeyer); es führt in sehr rein und deutlich gezeichneten Blättern, vom Einfachsten ausgehend, eine große Zahl von Band- und Füllungsmustern vor bis zu sehr wirkungsvollen Stücken und erläutert in einem gut geschriebenen Text die besondere Technik klar und leicht faßlich. Zu Festgeschenken an junge Liebhaberkünstler eignet sich das hübsche und billige Werk ganz vortrefflich.

Reinigen der Vogelbadekästen. Die Badeküsten aus Glas an den Vogelbauern zeigen bald einen trüben Ueberzug innen, den weder Seife noch Soda löst, weil er meist aus dem kalkhaltigen Niederschlag des Wassers besteht. Wo Salzsäure zur Hand ist, dient sie am besten zur Reinigung; man lasse sie erst einige Zeit auf das getrübte Glas einwirken, nehme dann eine kleine Bürste und bürste das Badehaus gut aus. Es muß erst mit lauem, dann verschiedene Male mit kaltem Wasser nachgespült werden, so daß jede Spur der giftigen Salzsäure entfernt wird, da sonst die kleinen gefiederten Sänger beim Trinken noch etwas davon verspüren und danach erkranken könnten. Auch die Bürste, die man zum Reinigen benutzte, muß wiederholt mit kochendem Wasser ausgespült werden. Wenn Salzsäure nicht vorhanden ist, kann zur Not Essigsprit genommen werden, der in ähnlicher Weise den kalkhaltigen Niederschlag löst. Das Reinigen und Nachspülem bleibt dasselbe. L. H.     

Tragkörbchen. Aus an sich wertlosen Dingen zaubert eine geschickte Hand die hübschesten und praktischsten Sachen, denen man ihren einfachen ursprünglichen Zustand kaum ansieht. So gibt ein alter Spankorb, der schon lange unbenutzt auf der Bodenkammer gestanden haben mag, ein nicht nur hübsch ausschauendes, sondern auch ein sehr praktisches Tragkörbchen für fettige und feuchte Sachen, das man außen und innen durch feuchtes Auswischen leicht wieder reinigen kann. Für das Innere des Korbes nimmt man dünnes, hübsch gemustertes Wachstuch, von dem man Boden und Seitenwände des Körbchens genau schneidet, die darauf mit Tischlerleim fest angeleimt werden. Außen wird das Holz mit Lack getränkt und jedes Spanviereck sodann, wenn der Lack getrocknet ist, bemalt, indem man mit mehreren Farben auf den Feldern regelmäßig abwechselt und jedes Feld außerdem in bestimmter Richtung mit gelben, schwarzen oder braunen Strichen versieht, so daß die Außenwand des Körbchens wie ein schottischer Kleiderstoff aussieht. Auch der Henkel wird in entsprechender Weise mit Schrägvierecken bemalt. Als Abschluß des Inneren häkelt man eine schmale Banmwollspitze, bronziert sie und leimt sie dann ebenfalls fest. Das Körbchen ist apart und reizend. He.     


Hauswirtschaftliches.

Schinkenkartoffeln. Von Februar an büßen die Kartoffeln immer mehr von ihrem Wohlgeschmack ein, und die Hausfrau sinnt darauf, aus ihnen allerhand Gerichte herzustellen, die den schlechteren Geschmack verdecken, wobei Nahrhaftigkeit, Billigkeit und rasche Bereitung ausschlaggebend bei der Wahl solcher Speisen sind. Die folgenden „Schinkenkartoffeln“ vereinen alle drei Gesichtspunkte. Man kocht Kartoffeln in der Schale in reichlich Salzwasser. Bevor man sie abzieht, schneidet man 400 g rohen Schinken in ganz feine, kurze Streifen. Die abgezogenen Kartoffeln werden so heiß wie möglich in Scheiben geschnitten und gleich in Butter getan. Man brät sie gut durch, thut nun den Schinken dazu und mengt ihn unter beständigem Umrühren unter die Kartoffeln, bis der Schinken durch und durch heiß geworden ist. Drei Eier zerquirlt man mit etwas Liebigs Fleischextraktbrühe, schüttet sie über die Kartoffeln und rührt sie noch so lange, bis sich die Eier zu einem weichen Rührei gebunden haben, dann muß die einfache und doch sehr wohlschmeckende Speise sofort zu Tisch gegeben werden. L. H.     

Wer Schwarzwurzeln im Keller hat, wird entdecken, daß diese jetzt anfangen zu keimen, und sie schleunigst verbrauchen. Das ist aber nicht nötig; denn das ausgekeimte Kraut gibt ein sehr feines Gemüse, das man in Frankreich hochschätzt. Die Bereitung ist sehr einfach und verlangt nur in betreff des Kochens Aufmerksamkeit, damit die langstieligen zarten Blättchen nicht zerkochen. Man braucht sie meist nur einmal in Salzwasser aufwallen zu lassen, läßt sie dann abtropfen, hackt sie gröblich und dämpft sie in Butter mit einer Messerspitze Liebigs Fleischextrakt und einer Prise Pfeffer schnell durch. Man reicht das treffliche Gemüse mit Zungenscheibchen und gerösteten Kartoffeln. He.     

[200 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]


  1. „Nervenfeinde in Schule und Haus.“ Vortrag im Verein „Frauenwohl“ in Berlin am 13. Mai 1890.
  2. Einleger sind Waisenkinder, welche auf Kosten der Gemeinde bei den Bauern in Pflege gegeben werden.