Fata Morgana (Werner)/II

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Textdaten
Autor: E. Werner
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Titel: Fata Morgana
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1–12, 13–24, S. 201–207, 221–228, 242–246, 261–268, 277–282, 293–296, 310–315, 325–330, 341–346, 357–363, 373–376, 398–404
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Hinweis: Der Text wird aus technischen Gründen aufgeteilt in I und II.
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[201] Das Haus des Hofrats Bertram lag inmitten des Badeorts. Es war eine hübsche geräumige Villa, von geschmackvollen Gartenanlagen umgeben, aber der vollste Gegensatz zu dem düsteren Burgheim. Hier war alles hell, luftig und sonnig, und das weiße Haus, mit seinen Altanen, die im Sommer von wildem Wein umrankt waren, sah so recht aus, als ob das Glück und die Zufriedenheit darin wohnten.

Für den Augenblick freilich gaben sich dieses Glück und diese Zufriedenheit in etwas lärmender Weise kund. In dem Speisezimmer, dessen Fenster und Thüren auf den Garten hinausgingen, tobte die gesamte Nachkommenschaft des Herrn Hofrats umher, drei kräftige Buben, mit krausen Haaren, braunen Augen und roten Backen, allesamt dem Vater ähnlich. Der älteste hatte seine beiden jüngeren Brüder als Pferdchen an eine lange Leine gespannt [202] und trieb sie unter lautem Hallo mit der Peitsche an. Das ging um Tisch und Stühle herum, gelegentlich auch darüber hinweg, und es war ein Lachen und Jauchzen ohne Ende.

In diesen Lärm hinein gerieten nun die Eltern, die aus dem Wohnzimmer kamen und von der wilden kleinen Gesellschaft beinahe umgerannt wurden. Wenn Bertram selbst nur etwas stattlicher geworden, aber im großen und ganzen doch derselbe geblieben war wie vor zehn Jahren, so hatte sich seine Gattin um so auffallender verändert. Niemand würde in dieser kleinen blühenden Frau, die von Gesundheit förmlich strahlte, das zarte, blasse und schmächtige Wesen von früher wiedererkannt haben, das vor Schüchternheit kaum die Augen aufzuschlagen wagte und überhaupt nur sprach, wenn die gestrenge Schwägerin es erlaubte. Die Frau Hofrätin war noch immer eine sehr anmutige Erscheinung, wenn ihre Gestalt auch etwas zur Fülle neigte, und das zierliche Spitzenhäubchen auf dem blonden Haare, der moderne und geschmackvolle Anzug standen ihr jedenfalls besser als damals die dunkle Trauerkleidung. Von ihrer Schüchternheit schien auch nicht viel übrig geblieben zu sein, denn sie fuhr mitten unter ihre Sprößlinge mit einer Energie, die nichts zu wünschen übrig ließ.

„Wollt Ihr wohl Ruhe halten, Ihr Jungen! Das ist ja ein Höllenlärm, den Ihr da vollführt, man kann sein eigenes Wort nicht verstehen!“

„Ruhe!“ kommandierte jetzt auch Bertram. „Achtung – Stillgestanden – Richt’ Euch!“

Das Kommando wurde pünktlich befolgt, die Jungen standen wie die Mauern und der älteste salutierte mit der Peitsche.

„Brav gemacht!“ lobte der Vater. „Ihr wißt wenigstens Order zu parieren.“

„Auf zwei Minuten,“ fiel Selma ein. „Dann geht die wilde Jagd von neuem los. Du läßt den Knaben zu viel Freiheit, sie sind schließlich gar nicht mehr zu bändigen in ihrer Wildheit.“

„Nun, Du bändigst sie schon, sie haben vor Dir ja mehr Respekt als vor mir,“ meinte der Hofrat. „Aber jetzt lauft hinüber in den Stall, Jungen, sagt dem Sepp, er solle anspannen und an der Gartenseite vorfahren – marsch!“

Der Auftrag wurde mit einer förmlichen Begeisterung aufgenommen, die drei Knaben stürzten in den Garten und unternahmen dann einen Wettlauf nach dem Stallgebäude, Bertram blieb mit seiner Frau allein.

„So, jetzt haben wir Ruhe!“ sagte er. „Ich will zu Lady Marwood fahren. Ich habe um zwölf Uhr meinen Besuch angesagt und bin neugierig, was aus dem zarten schönen Mädchen geworden ist, das wir damals in Luksor sahen. Erinnerst Du Dich noch ihrer, Selma?“

„O gewiß. Ich sah sie bereits gestern bei ihrer Ankunft, als sie hier vorbeifuhr; aber sie trug einen dichten Schleier, so daß ich die Züge nicht unterscheiden konnte. Glaubst Du, daß sie ernstlich leidend ist?“

„Es scheint so, da sie mich gleich am ersten Tage rufen läßt und sich für einen längeren Aufenthalt in Kronsberg eingerichtet hat, die Villa ist für den ganzen Sommer gemietet. Indessen, diese vornehmen Damen bilden sich oft ein, leidend zu sein, wenn sie Langeweile haben. Wir werden ja sehen, jedenfalls kann ich mich bei ihr mit einer willkommenen Nachricht einführen. Sie weiß es vermutlich noch nicht, daß Sonneck hier ist, er hat mir selbst gesagt, daß er seit Jahren nicht mehr in Verkehr mit ihr steht.“

Selma hatte sich niedergesetzt und stützte nachdenklich den Kopf in die Hand. „Was sagst Du eigentlich zu Sonnecks Verlobung?“

„Bravo!“ habe ich gesagt. „Es war das Gescheiteste, was er thun konnte, nun es entschieden ist, daß er in Deutschland bleibt, und die Elsa ist auch gescheit, daß sie ihn nimmt, denn einen besseren Mann bekommt sie überhaupt nicht.“

„Glaubst Du denn, daß sie freiwillig Ja gesagt hat? Der Großvater wird es wohl befohlen haben. Dieser Egoist bedenkt sich ja nicht einen Augenblick, sie dem alten Manne zu opfern, weil es sein Freund ist.“

„Dem alten Manne?“ wiederholte Bertram unwillig. „Nun, auf Sonneck paßt doch diese Bezeichnung sicher nicht, der ist interessanter als ein ganzes Dutzend unserer jungen Herren, zumal für ein Mädchen wie Elsa.“

„Aber sie ist achtzehn Jahre alt und er vierundfünfzig!“

„Nun dafür ist er eben Lothar Sonneck, bei dem machen die Jahre nichts aus. Elsa wird künftig einen weltberühmten Namen tragen und eine Stellung einnehmen, um die sie manches junge Mädchen beneiden dürfte.“

„Aber dann ist es eine bloße Vernunftheirat, lieben kann sie ihn doch unmöglich.“

„Warum denn nicht?“ rief der Hofrat ungeduldig. „Du meinst wohl, es müsse bei jeder Werbung so romantisch zugehen wie bei uns? Ich mußte Dich Deiner liebenswürdigen Schwägerin ja erst abkämpfen und ein förmliches Komplott mit Ehrwald schmieden. Weißt Du noch, wie er die unglückliche Ulrike eine volle Stunde lang mitten in den heißen Wüstensand setzte, nur damit ich Dir auf den Trümmern des Karnaktempels eine Liebeserklärung machen konnte? Ja, ja, mir ist es sauer genug geworden.“

„Die Liebeserklärung oder der Kampf?“ fragte die Frau Hofrätin mit einiger Schärfe.

„Beides, denn es war eine Erklärung mit Hindernissen,“ versetzte Bertram lachend. „Aber was schreibt Dir denn Ulrike eigentlich? Du erhieltest ja vorhin einen Brief aus Martinsfelde. Ist es nun endlich verkauft? Die Bahngesellschaft wollte ja Ernst machen und drohte mit dem Zwangsverfahren. Das hat hoffentlich gewirkt.“

„Ja wohl, der Verkauf ist vor acht Tagen abgeschlossen worden. Du weißt ja, Ulrike sträubte sich bis zum letzten Augenblick dagegen und hätte freiwillig nie ihre Zustimmung gegeben. Sie ist schließlich der Notwendigkeit gewichen, scheint aber ganz verzweifelt darüber zu sein.“

„Sie ist nicht gescheit!“ sagte der Hofrat ärgerlich. „Sie wird sich doch nicht bis in ihr spätes Alter hinein mit der Wirtschaft plagen wollen, und einen solchen Preis wie die Bahngesellschaft zahlt ihr niemand. Jeder andere würde diesen Verkauf als einen Glücksfall betrachten und sie lamentiert darüber!“

„Mir thut Ulrike leid,“ erklärte Selma. „So lange sie die Wirtschaft führte, hatte sie doch immer noch eine Beschäftigung, einen Lebenszweck. Jetzt ist das zu Ende und ein anderes Gut wird sie sich schwerlich kaufen, sie hing ja mit allen Lebensfasern an Martinsfelde, das schon ihren Eltern gehörte. Ihr herbes rücksichtsloses Wesen hat ihr nirgends Freunde geschaffen, nun steht sie ganz vereinsamt da und sieht einem öden, trostlosen Alter entgegen. Ihr Brief zeigt, wie tief sie das fühlt, er klingt ganz verzweifelt. Was meinst Du, Adolf, ich möchte sie für einige Wochen einladen. Ist es Dir recht?“

„Warum denn nicht?“ lachte Bertram. „Ich fürchte mich nicht vor Deiner gestrengen Schwägerin und es steht jawohl auch nicht mehr zu befürchten, daß Du wieder unter ihr Scepter gerätst. Treibt sie es gar zu arg, so komplimentiere ich sie mit der größten Liebenswürdigkeit zum Hause hinaus; Du weißt ja, das verstehe ich ausgezeichnet.“

Sie wurden unterbrochen, denn eben fuhr draußen der Wagen vor, geleitet von den drei Jungen. Nun gab es ein jubelndes Abschiednehmen von dem Vater und dann hing sich die ganze Gesellschaft an die Mutter und begleitete sie unter Lärmen und Lachen in das Wohnzimmer. Es ging immer sehr lustig zu im Hause des Hofrat Bertram.




Kronsberg hatte die Genugthuung, diesmal schon sehr früh einen vornehmen Kurgast zu begrüßen. Sonst pflegten um diese Zeit nur jene Familien zu kommen, die die hohen Preise der Hauptsaison scheuten. Es war ein Ausnahmefall, daß eine Persönlichkeit wie diese reiche englische Dame schon im Mai eintraf, und sie mußte sehr reich sein, das bewies ihr Auftreten.

Sie hatte nicht nur die schönste und teuerste Villa des ganzen Kurortes für sich allein gemietet, sondern auch einen Kammerdiener vorausgesandt, der alles nach ihren Wünschen und Gewohnheiten einrichten mußte. Ihm folgten Wagen und Pferde, dann traf die Dienerschaft ein und endlich erschien Mylady selbst. Die ganze Villa bevölkerte sich zum Dienste einer einzigen Frau und der Haushalt wurde auf einem Fuß eingerichtet, wie es sonst nur bei Fürstlichkeiten zu geschehen pflegt.

Es war um die Mittagsstunde, als Lothar Sonneck in das Haus trat und dem Diener, der ihn in Empfang nahm, seine Karte übergab. Die Villa war erst vor einigen Jahren entstanden, als Kronsberg bereits den Aufschwung zum Weltkurorte nahm, und konnte selbst einem verwöhnten Geschmack als Sommersitz für einige Monate genügen, aber die ganze innere Einrichtung war jetzt ergänzt und teilweise völlig umgestaltet worden, das zeigte sich schon in dem Salon, wohin der Gast geführt wurde. Kostbare Decken und Teppiche, reichgewirkte Vorhänge, die offenbar aus dem Orient stammten, eine Fülle von Blumen und eine Menge wertvoller [203] und künstlerischer Kleinigkeiten, die überall aufgestellt waren, gaben dem Raume ein ebenso vornehmes wie behagliches Ansehen. Sonneck fand aber nicht viel Zeit, sich umzublicken, er war kaum eingetreten, als sich eine Seitenthür öffnete und Lady Marwood erschien.

„Herr Sonneck, welche unverhoffte Freude!“ rief sie, ihm beide Hände entgegenstreckend. „Sie sind auch in Kronsberg, und hier, in dem fernen deutschen Alpenlande, sehen wir uns wieder!“

„Nach zehn Jahren!“ ergänzte er, die dargebotenen Hände mit vollster Herzlichkeit ergreifend. „Sie sehen, ich mache von einem alten Rechte Gebrauch und überfalle Sie gleich am ersten Tage Ihres Aufenthaltes, Mylady.“

„Um Gotteswillen, nur nicht diesen Titel!“ wehrte sie heftig ab. „Für Sie bin und bleibe ich Zenaide, wie Sie mir der alte teure Freund bleiben. Aber nun kommen Sie, lassen Sie uns plaudern! Was führt Sie nach Kronsberg? Sind Sie der Kur wegen hier? Ich las es in einer Zeitung, daß Sie eines hartnäckigen Leidens wegen nach Europa zurückgekehrt seien, ist das wahr?“

Sie that all diese Fragen hastig nacheinander, ohne eine Antwort abzuwarten, zog ihn neben sich auf den Diwan nieder und begann ein lebhaftes Gespräch, in das Lothar ebenso lebhaft einstimmte; allein sein Auge hing dabei fragend und forschend an dem Antlitz der schönen Frau, die er nicht wiedergesehen hatte seit jener Stunde, wo er in Luksor von ihr Abschied genommen.

Aus dem schlanken Mädchen mit den sanften, träumerischen Zügen war eine blendende, siegesbewußte Schönheit geworden, und die einst so elfenhaft zarte Gestalt hatte sich zum vollsten, üppigsten Reiz entwickelt. Der herrliche Kopf mit dem bläulich schwarzen Haar wurde jetzt so hoch und stolz getragen, als wollte er die ganze Welt herausfordern, und jenes orientalische Element, das trotz ihrer deutschen Abkunft schon damals, wenn auch verschleiert, in der Erscheinung Zenaidens lag, trat jetzt schärfer und deutlicher hervor. Es war, als ob etwas von dem glühenden Hauch ihrer Heimat sie umschwebte und durchflammte, und jenes Feuer, das einst halb verborgen in den großen tiefdunklen Augen schlief, war heraufgestiegen aus der Tiefe und loderte heiß und verzehrend in dem Blick.

Lady Marwood war schöner, viel schöner als Zenaide von Osmar es je gewesen, doch jener eigenartige, halb schwermütige Reiz, der das junge Mädchen umgab, war verschwunden, die glänzende Weltdame zeigte keine Spur mehr davon. Ihre Unterhaltung war sprühend lebendig, aber es lag etwas Ruheloses, Unstetes darin. Sie sprang ganz unvermittelt von einem Gegenstande zum andern über und ihr ganzes Wesen verriet eine nervöse Ueberreiztheit.

„Ja, ich bin so eine Art Zugvogel geworden,“ sagte sie lachend. „Immer auf der Wanderung, von einem Ort zum andern! Ich war in Deutschland und Italien, in Frankreich und der Schweiz, gelegentlich auch einmal wieder in Kairo, und nun haben mich die Aerzte eines Nervenleidens wegen nach Kronsberg geschickt, das ja jetzt Mode geworden ist und aller Welt helfen soll. Ich hätte auch gar nichts dagegen gehabt, die Saison hier zuzubringen, aber welch ein Einfall, mich schon im Mai hierherzuschicken, wo der Ort noch wie ausgestorben ist und das Gebirge noch halb im Schnee begraben liegt! Ich wollte von Rom, wo es nachgerade unerträglich heiß wurde, noch auf sechs Wochen nach Paris gehen und dann herkommen, allein die Aerzte sind Tyrannen. Sie schreckten mich mit allerlei düsteren Prophezeiungen, bis ich nachgab und in die eisige Verbannung ging.“

„Die Verbannung ist so schlimm nicht,“ versetzte Sonneck lächelnd. „Der Frühling zieht ja endlich auch hier ein, wenn auch spät genug, und die Umgebung ist wunderschön, ein großartiges, mächtiges Alpenpanorama.“

„Aber keine Menschen! kein Leben! keine Bewegung! Und das alles brauche ich.“

„Wirklich? Sonst liebten und suchten Sie gerade die Einsamkeit –“

„Sonst, ja sonst!“ unterbrach sie ihn ungeduldig. „Das ist eben anders geworden. Jetzt kann ich die Einsamkeit nicht ertragen und gerade dazu wollen die Aerzte mich verurteilen. Nur deshalb allein haben sie mich nicht nach Paris gelassen. Ruhe! Ruhe! Darauf läuft ja ihre ganze Weisheit hinaus. Ein abscheuliches Wort – ich werde schon krank, wenn ich es nur höre!“

Sie sprang auf und begann hastig und ruhelos im Zimmer hin und her zu gehen. Sonneck sah es jetzt erst, wie krankhaft das Wesen der jungen Frau war, deren Bild er so ganz anders in der Erinnerung hatte. Als er damals von seinem Zuge in das Innere Afrikas zurückkehrte, war Zenaide mit ihrem Gemahl in England gewesen, und auch bei seinen späteren Besuchen in Kairo hatte er sie niemals getroffen, obwohl sie oft monatelang bei dem Vater weilte.

„Sie sind seit drei Jahren nicht in Kairo gewesen,“ hob er wieder an. „Ich hörte es, als ich auf meiner Rückkehr nach Europa wieder dort rastete. Ihr Haus stand verschlossen und verödet.“

„Jawohl, verödet!“ wiederholte sie mit Bitterkeit. „Das ist es für mich immer seit dem Tode meines Vaters gewesen, selbst wenn ich es bewohnte. Seitdem liebe ich Kairo nicht mehr, es ist mir, als hätte ich mit ihm meine Heimatsrechte dort verloren. Und unseren Landsitz am Nil habe ich verkauft. Ich mochte nicht wieder den Fuß dorthin setzen, mochte überhaupt nicht mehr daran erinnert sein!“

„An Luksor, wo Ihre liebsten Kindheits- und Jugenderinnerungen wurzeln?“

„Und wo das Unglück meines Lebens seinen Anfang nahm – ich hasse Luksor!“ Sie schleuderte das Wort mit einer wilden Energie heraus. Lothar schwieg, er wußte ja, daß sie sich dort mit Marwood verlobt hatte, und kannte auch den Tag, an dem es geschehen war, er ahnte längst den Zusammenhang. Zenaide blieb plötzlich stehen und richtete finster das Auge auf ihn.

„Wozu denn dies rücksichtsvolle Schweigen? Sie wissen ja doch alles, mein Vater hat Ihnen später oft genug sein Herz ausgeschüttet. Mein armer Vater! Er klagte sich so bitter an, weil diese Heirat sein Wunsch gewesen war, und doch hat er mich nicht dazu gedrängt, nicht einmal überredet. Ich war es, die freiwillig den Entschluß faßte, die Schuld trifft mich allein!“

„Ihre Ehe war keine glückliche, ich weiß es,“ sagte Sonneck halblaut. Die junge Frau lachte grell und höhnisch auf.

„Wie rücksichtsvoll Sie sich ausdrücken! Nein, sie war in der That nicht glücklich, das ist jetzt auch der Welt kein Geheimnis mehr! Ich liebte Marwood ja nicht, darüber täuschte ich mich auch nicht einen Augenblick, als ich ihm die Hand reichte; aber ich glaubte mich geliebt, weil er so beharrlich um mich warb und sich durch keine Kälte, keine Ablehnung zurückschrecken ließ. Schon in den ersten Wochen meiner Vermählung sah ich klar: es war Eitelkeit, Eigensinn gewesen, die Hartnäckigkeit eines Charakters, der gerade das Versagte erzwingen will. Die träge kalte Natur dieses Mannes ist ja überhaupt keiner Liebe fähig, und nun war ich an ihn gekettet und sollte mein Leben lang die Kette tragen, die mir ein Unheil, ein Fluch geworden war!“

„Zenaide, Sie regen sich furchtbar auf mit diesen Erinnerungen,“ mahnte Lothar in dem Wunsche, sie abzulenken. „Wir wollen sie ruhen lassen, wenigstens in den ersten Stunden des Wiedersehens.“

„Nein, nein!“ unterbrach sie ihn ungestüm. „Ich muß mich endlich einmal aussprechen, ich bin ja immer nur von Dienern und Fremden umgeben! Wie konnte mein Vater es zulassen, daß Marwood mich nach England führte? Er kannte es ja doch; mir hatte man es in den glänzendsten Farben geschildert, aber als ich zum erstenmal die Küste betrat, in Reif und Nebelgrau, da fror ich bis ins innerste Herz hinein. Ich, deren Heimat das Sonnenland war, sollte in Kälte und Nebel atmen. Ich war an den freien großen Verkehr im Hause meines Vaters gewöhnt und nun dies Leben, das wir in London und auf unseren Gütern führten! Abgeschlossen von allem, was nicht zur englischen Hocharistokratie gehörte, denn mein Herr Gemahl war ungemein exklusiv in diesem Punkte! Es war immer derselbe tödlich langweilige Kreislauf von Jagden und Dinners auf dem Lande, von Routs und Bällen in der Stadt, die Menschen um mich nur Marionetten, von lächerlichen Vorurteilen wie von einer chinesischen Mauer umgeben, kein Schritt unbewacht, kein Atemzug frei – ich erstickte in diesem Leben!“

Sie preßte beide Hände gegen die Brust, als fühlte sie noch jetzt dies Ersticken, und fuhr dann in steigender Erregung fort: „So lange mein Vater lebte, schreckte ich noch vor dem Aeußersten zurück. Er litt schon so schwer unter dem inneren Zerwürfnis meiner Ehe, er sollte sie nicht auch noch öffentlich beklatscht und in den Staub gezerrt sehen. Als er jedoch tot war, als ich nicht mehr zu ihm flüchten konnte, da war es vorbei mit meiner Fähigkeit zum Ertragen, da zerriß ich die Ketten und wurde frei – frei! Die Freiheit hat mich freilich viel gekostet, meinen Glauben an Gott, an die Menschen, an mich selbst – ich habe nichts mehr auf der Welt!“

Die letzten Worte erstickten fast in einem krampfhaften, thränenlosen Schluchzen; die junge Frau warf sich stürmisch in [206] einen Sessel und verbarg das Gesicht in den Polstern. Sonneck trat zu ihr und legte leise seine Hand auf ihren Arm.

„So dürfen Sie nicht sprechen, Zenaide,“ sagte er mit tiefem Ernst. „Sie sind ja Mutter!“

„Eine Mutter, der man ihr Kind genommen hat!“ fuhr sie auf, mit sprühenden Augen. „Ich habe meinen Percy ja zurücklassen müssen. Marwood beansprucht natürlich seinen Sohn und Erben und doch ist er mein Kind, er hat mein Blut in den Adern. Da sehen Sie es selbst, ob er seinem Vater gleicht oder mir!“ Sie wies auf ein Aquarellbild, das auf dem Schreibtische den Hauptplatz einnahm und einen Knaben in Matrosenkleidung darstellte. Es war ein schönes Kind mit dunklen Haaren und den großen dunklen Augen der Mutter. Lothar schritt dorthin und blickte prüfend auf das Bild.

„Ja, er hat Ihre Züge,“ sagte er mit voller Bestimmtheit. „Vor allem Ihre Augen.“

„Nicht wahr? Und seit drei Jahren habe ich ihn nicht gesehen und muß es dulden, daß er fern von mir, daß er im Hasse gegen mich erzogen wird!“

„Sie übertreiben, ein achtjähriges Kind kann man doch noch nicht zum Haß erziehen.“

„Warum denn nicht, wenn es planmäßig geschieht? Und daran wird Marwood es nicht fehlen lassen! Sie kennen ihn nicht, wie ich ihn kenne! Wie oft habe ich daran gedacht, mein Kind heimlich zu entführen und mit ihm zu fliehen, zunächst nach Kairo und dann weiter, immer weiter und wäre es bis in die fernste Wüste, wo niemand uns findet, wo –“

„Um Gottes willen, nur das nicht!“ fiel Sonneck erschrocken ein. „Marwood würde Sie zu finden wissen, er würde Ihnen das Kind gewaltsam entreißen, ihm steht das Gesetz zur Seite.“

Die junge Frau lachte wieder auf, so wild und verzweifelt wie vorhin. „O ja, das weiß ich, das hat man mir hinreichend klar gemacht: der Sohn gehört dem Vater! Die Rechte der Mutter schützt kein Gesetz, die darf man ungestraft mit Füßen treten – ich habe es erfahren!“

Ein leises Klopfen an der Thür unterbrach die erregte Scene und gleich darauf trat ein Diener ein, um zu melden, daß Herr Hofrat Bertram soeben vorgefahren sei. Zenaide sah auf und fuhr mit dem Taschentuch über das glühende Antlitz.

„Ah, der Arzt! Ich vergaß, daß er sich für diese Stunde angemeldet hat. – Sie wollen schon fort? Nein, nein, das dürfen Sie nicht! Wir haben noch gar nicht von Ihnen gesprochen und ich habe noch so unendlich viel zu fragen und zu hören.“

„Der Arzt hat immer den Vortritt,“ warf Sonneck ein, der in der That Miene machte, zu gehen, obgleich auch er noch eine Mitteilung auf dem Herzen hatte.

„O, sein Besuch wird nicht allzulange dauern und dann bin ich wieder ganz zu Ihrer Verfügung. Das Gute muß man festhalten, es wird einem selten genug zu teil. Nicht wahr, Sie bleiben?“

Die Bitte klang beinahe leidenschaftlich und Lothar gab nach. Er übernahm es, den jetzt eintretenden Hofrat vorzustellen, und betonte, daß er mit ihm befreundet sei. Lady Marwood empfing denn auch infolgedessen den Arzt sehr liebenswürdig.

„Herr Sonneck ist mir eigentlich mit seinem Besuche zuvorgekommen,“ sagte Bertram nach der ersten Begrüßung. „Ich wollte mich mit der Nachricht von seinem Hiersein bei Ihnen einführen, Mylady, und hoffte dann nicht so unwillkommen zu sein, als es der Arzt gewöhnlich ist.“

Zenaide hatte sich längst wieder gefaßt, sie war jetzt ganz die vornehme Dame und ihre Lippen kräuselten sich spöttisch, als sie erwiderte: „Unwillkommen? Man lehrt uns ja die Aerzte als Retter und Heilbringer zu betrachten!“

„Aber Sie glauben nicht daran, Mylady?“

„Ich bin in diesem Punkte sehr ungläubig, Sie sehen jedoch, ich gebe mich trotzdem in Ihre Hände. Herr Sonneck, ich bitte Sie, mich für eine Viertelstunde zu entschuldigen. Ich sende Ihnen inzwischen eine Erinnerung an Kairo. Betrachten Sie sich ganz als zu Hause, Sie haben das ja bei uns stets gethan.“

Sie klingelte, gab mit leiser Stimme einen Befehl und ersuchte den Arzt dann, ihr in das Nebenzimmer zu folgen. Sonneck war wieder an den Schreibtisch getreten und betrachtete nachdenklich das Bild des kleinen Percy, als die Mittelthür sich öffnete und ein junger Orientale erschien.

Er war kaum dem Knabenalter entwachsen, etwa sechzehn Jahre alt und von tiefbrauner Färbung, mit einem Gesicht, das durchaus nicht hübsch zu nennen war, denn die charakteristischen Kennzeichen der afrikanischen Rasse, die niedrige Stirn und die breiten, aufgeworfenen Lippen prägten sich sehr deutlich darin aus. Er trug die reiche Tracht, in welche die vornehmen Familien Kairos ihre eingeborenen Diener zu kleiden pflegen, weite orientalische Beinkleider, über dem weißen, faltigen Obergewand ein offenes goldgesticktes Jäckchen und einen gleichfalls reichgestickten Fez auf dem dunklen Haar. Der junge Aegypter brachte ein vergoldetes Kaffeeservice von feinster arabischer Arbeit und ein mit Elfenbein ausgelegtes Kästchen, in dem sich Cigaretten befanden. Verwundert riß er die glänzend schwarzen Augen auf, als der fremde Herr ihn in der Sprache seiner Heimat anredete.

„Nun, Hassan, bist Du mit nach Europa gekommen? Wie gefällt es Dir in dem fremden Lande mit den hohen Bergen und den dunklen Wäldern?“

„Herr, Du kennst mich?“ stammelte Hassan ganz verwirrt und bestürzt.

„Ich sah Dich vor sechs Jahren in Kairo bei Deinem Herrn und auch schon früher in Luksor. Weißt Du noch von Luksor und von dem schönen weißen Kinde, das Deine junge Herrin damals begleitete, und mit dem Du spielen durftest? Es trug immer weiße Kleidchen –“

„Und langes goldenes Haar!“ fiel Hassan mit aufleuchtenden Augen ein, „aber es ging fort, weit über das Meer und kam nicht wieder.“

„Nun, wer weiß, vielleicht siehst Du es einmal hier wieder,“ sagte Sonneck lächelnd. Es freute ihn, daß Elsa noch nicht vergessen war. Das „schöne weiße Kind mit dem langen goldenen Haar“ hatte freilich bei dem damals so verwahrlosten kleinen Aegypter die Rolle einer Märchenfee gespielt, und deshalb mochte ihm die Erinnerung an sie nicht ganz erloschen sein.

Hassan staunte noch immer darüber, daß der Fremde, der so ganz das Aussehen eines vornehmen Europäers hatte, das Arabische so fließend sprach, aber es machte ihn zutraulich und er antwortete bereitwillig auf alle Fragen. Er berichtete, daß sein Vater, der einstige Gärtner auf der Osmarschen Besitzung, schon seit Jahren tot sei. Seine ältere Schwester war schon als Kind für den persönlichen Dienst der jungen Herrin bestimmt und ihrer Fürbitte verdankte es der Bruder, daß man auch ihn später mit nach Kairo nahm. Nach dem Tode des Konsuls hatte Lady Marwood den Knaben mit nach Europa genommen, wo er und die Schwester sie auf ihren Reisen begleiteten. Er hatte auch schon etwas Deutsch gelernt, denn die Herrin liebte nichts, was an England erinnerte, sie sprach immer nur deutsch oder arabisch mit ihrer Umgebung.

Die orientalische Unterhaltung wurde durch die Rückkehr Bertrams unterbrochen. Lothar ging ihm rasch entgegen und fragte mit gedämpfter Stimme: „Nun, wie steht es? Doch hoffentlich kein ernstes Leiden?“

Der Arzt zuckte die Achseln.

„Wir haben es mit den Nerven zu thun. Damit ist eigentlich nichts und doch wieder alles gesagt, denn hier handelt es sich leider um mehr als um die Modekrankheit. Lady Marwoods Nerven sind in einer so gefährlichen Weise überreizt, daß es die höchste Zeit ist, ernstlich einzugreifen, wenn nicht schweres Unheil entstehen soll. Leider scheint die Dame keine sehr gehorsame Patientin zu sein und ich werde wohl öfter auf Ihren Einfluß rechnen müssen, denn wir haben einen schlimmen Feind zu bekämpfen – das Morphium! Doch darüber sprechen wir noch, jetzt muß ich fort.“

Er reichte ihm die Hand und ging. Gleich darauf erschien auch Zenaide, gab Hassan einen Wink, sich zu entfernen, und nahm ihrem Gaste gegenüber auf dem Diwan Platz.

„Nun wollen wir es uns heimisch machen,“ sagte sie. „O, ich habe Ihre kleinen Liebhabereien nicht vergessen, ich kenne sie noch ganz genau.“ Sie reichte ihm den Kaffee und die Cigaretten. Sonneck bemerkte mit einigem Befremden, daß sie gleichfalls eine der letzteren nahm. Die Damen rauchten ja viel in Kairo, Zenaide hatte das jedoch nie gethan, sondern stets den größten Widerwillen dagegen gezeigt. Das war eben auch „anders geworden“, wie so vieles!

„Wie gefällt Ihnen Hofrat Bertram?“ fragte er. „Flößt er Ihnen Vertrauen ein?“

„Wenigstens mehr als meine römischen Aerzte, er hat eine ruhige, bestimmte Art, die sehr angenehm berührt. Im übrigen singt er genau dasselbe Lied wie seine Herren Kollegen. Ruhe, [207] Stille, Einsamkeit – das habe ich nun nachgerade bis zum Ueberdruß gehört. Doch wir wollten ja von Ihnen sprechen! Der Doktor sagt mir, Sie würden nicht nach Afrika zurückkehren, sondern in Europa bleiben, er habe Ihnen das zur unabweisbaren Pflicht gemacht. Werden Sie denn ein ruhiges Privatleben aushalten?“

„Ich werde es wohl müssen. Man fügt sich schließlich immer der eisernen Notwendigkeit, und die Früchte meiner zwanzigjährigen Arbeit da drüben, das, was ich für mein Vaterland erreicht und errungen habe, das ist ja nicht verloren. Es bleibt freilich noch viel zu thun übrig, aber ich habe es in starke, kühne Hand gelegt. Ich habe mir ja in Reinhart einen Nachfolger erzogen.“

Sonnecks Blick streifte wie unwillkürlich das Gesicht der jungen Frau, als er den Namen aussprach, aber sie stäubte ruhig die Asche von ihrer Cigarette und fragte kühl: „Reinhart? Wer ist das?“

„Erinnern Sie sich des Namens nicht mehr? Mein junger Gefährte, der mich damals auf meinem Zuge begleitete. Er ist seitdem oft und viel genannt worden in der Oeffentlichkeit – Reinhart Ehrwald!“

„Ah so! Nun, der Name ist freilich bekannt genug. Man kann ja keine Zeitung in die Hand nehmen, wo von Afrika die Rede ist, ohne auf diesen Herrn Ehrwald zu stoßen. Er wird auf eine Weise in den Vordergrund gestellt, die beinahe kränkend ist für Sie und Ihre Verdienste. Sind Sie nicht eifersüchtig?“

„Auf meine Freunde bin ich nie eifersüchtig,“ versetzte Lothar ruhig, „und Reinhart ist mir ein Freund geworden, wie man ihn selten findet. Ich wußte es freilich schon damals, als ich ihn mit nach Kairo nahm, daß mein Schüler mich dereinst überflügeln werde, aber es geschah schneller, als ich dachte. Damals war ich noch sein Mentor, der den jungen Tollkopf zügeln und bändigen mußte; sobald jedoch der Ernst an ihn herantrat, zeigte er sich als Mann. Ich verdanke es nur seiner Energie und Aufopferung, daß ich lebend von jenem Zuge zurückkehrte.“

„Sie erkrankten damals schwer, ich weiß,“ warf Zenaide ein.

„Ja, es war der erste schwere Anfall jenes Leidens, das mich seitdem nie ganz verlassen hat. Es war mir noch vergönnt, das Ziel zu erreichen und die Entdeckung und ihre Früchte dem deutschen Namen zu sichern. Aber nun handelte es sich um die Rückkehr, auf einem Wege, den vor uns noch kein Europäer gezogen war, durch Gebiete, wo die Gefahren nur so aus dem Boden emporwuchsen. Als ich mich dafür entschied, wußte ich, daß ich meine ganze Kraft und Erfahrung einzusetzen hatte, und da gerade warf mich die Krankheit nieder und hielt mir monatelang Geist und Körper in Bann. Ich konnte nichts leiten, nicht einmal mehr Rat geben, denn das Fieber machte mich größtenteils besinnungslos, ich mußte alles in Reinharts Hände legen.“

Er hielt einen Augenblick inne, als erwartete er irgend eine Aeußerung, die aber nicht erfolgte, und fuhr dann mit steigender Wärme fort: „Da führte er, der damals Sechsundzwanzigjährige, der sich auf dieser Reise erst die Sporen verdienen sollte, die ganze Expedition allein zurück. Er regierte mit eiserner Hand unsere Leute, die nach Art der Eingeborenen mehr als einmal in Meuterei ausbrechen wollten, als sie sahen, daß ich nicht mehr an der Spitze stand; er bezwäng jede Gefahr, warf jedes Hindernis nieder, und das alles mit dem Hemmnis eines Totkranken, den er mit sich führte. Wie oft hat er seine und des ganzen Zuges Sicherheit preisgegeben, nur um mich zu schützen, wie oft das Unglaublichste geleistet, um mir die nötige Hilfe und Erquickung zu schaffen! Er brachte mich glücklich zurück zur Küste, wo ich genas. Was das heißen will unter solchen Verhältnissen, das weiß ich allein! Wenn man ihn jetzt wirklich in den Vordergrund stellt, selbst gegen mich – bei Gott, er hat es verdient!“

Es geschah vielleicht nicht ganz ohne Absicht, daß Sonneck so viel von dem Manne sprach, den er einst als jungen unbekannten Fremdling in das Osmarsche Haus eingeführt hatte. Sein Auge ruhte noch immer forschend auf dem Antlitz der jungen Frau, aber die unausgesprochene Frage fand keine Antwort. Zenaide hatte sich in die Kissen des Diwans zurückgelehnt und blies langsam blaue Rauchwölkchen aus ihrer Cigarette. Sie hörte zu, aber mit einer Miene, als erzählte man ihr die gleichgültigsten Dinge.

„Nun, jedenfalls haben Sie ihm den Weg zur Höhe geebnet,“ sagte sie endlich mit einem leichten Achselzucken. „Er hat vermutlich nur eine Schuld der Dankbarkeit abgetragen. In welchem Teile Afrikas weilt er denn jetzt?“

„Augenblicklich ist er in Europa und auf dem Wege hierher.“

Die junge Frau richtete sich plötzlich auf. „Hierher – nach Kronsberg?“

„Allerdings. Er geht nach Berlin, um persönlich mit der deutschen Regierung zu verhandeln, die ihm eine Stellung im Kolonialdienst angeboten hat. Da wir uns seit Jahresfrist nicht gesehen haben, so wird er mich zuerst hier aufsuchen. Sein letzter Brief kam aus Genua, ich kann ihn jeden Tag erwarten.“

Es trat eine augenblickliche Pause ein, dann warf Zenaide ihre Cigarette fort und sagte ebenso kühl wie vorhin: „So? Nun, das ist für Sie ja sehr erfreulich. Doch nun zu einer Frage, die mir – verzeihen Sie – für jetzt interessanter ist. Kronsberg war ja der Ort, dem ich damals meinen Liebling, die kleine Elsa von Bernried, abtreten mußte. Das Kind war mir ans Herz gewachsen, ich hätte es so gern behalten, aber der Großvater verlangte es mit aller Entschiedenheit. Er hieß ja wohl Helmreich?“

„Allerdings,“ bestätigte Sonneck, erstaunt über dies treue Gedächtnis, das nur in einem einzigen Punkte zu versagen schien – wenn es sich um „diesen Herrn Ehrwald“ handelte, dessen Vornamen man nicht einmal mehr kannte.

„Der alte Herr ist vermutlich längst tot. Wissen Sie, was aus seiner Enkelin geworden ist? Ich wollte schon in den nächsten Tagen Erkundigungen einziehen, aber Sie können mir jedenfalls die beste Auskunft geben.“

„O ja, das kann ich,“ versetzte Lothar lächelnd. „Und da komme ich auch endlich zu einer Mitteilung, die ich die ganze Zeit schon auf dem Herzen habe. Professor Helmreich ist nicht gestorben, wie Sie voraussetzen. Er wohnt eine halbe Stunde von hier und seine Enkelin lebt in seinem Hause.“

„Wie, klein Elsa ist hier? Ich kann sie sehen?“

„Gewiß, aber aus klein Elsa ist ein großes, schönes Mädchen geworden, das Sie schwerlich wiedererkennen würden und das seit acht Tagen – meine Braut ist!“

Zenaide fuhr auf und blickte ihn in grenzenloser Ueberraschung an. „Ihre Braut? Unmöglich – Sie scherzen!“

Ueber Lothars eben noch so strahlende Züge legte sich ein Schatten und in seiner Stimme klang eine leise Bitterkeit, als er erwiderte: „Ist das Ihr Urteil über meine Verlobung?“

„Nein, nein!“ fiel die junge Frau hastig ein. „Sie mißverstehen mich! Mein Erstaunen galt nur Ihrem Entschluß, sich überhaupt noch zu vermählen.“

„Und Sie meinen, daß dieser späte Entschluß eine Thorheit ist und vielleicht auch ein unverzeihlicher Egoismus, wenn es sich dabei um ein achtzehnjähriges Mädchen handelt? – Vielleicht haben Sie recht!“

„Ich meine, daß Ihr Weib glücklicher sein wird als ich es gewesen bin an der Seite eines Mannes, dessen Jahre den meinigen entsprachen,“ sagte Zenaide ernst. „O, darin liegt das Glück nicht, ich habe es erfahren! Meine herzlichsten, innigsten Wünsche für Sie und Ihre junge Braut!“ Sie streckte ihm in der That mit vollster Innigkeit die Hand hin, die er bewegt an seine Lippen zog.

„Ich danke Ihnen für diese Worte. Zenaide, glauben Sie mir, ich bedarf der Ermutigung!“

„Weshalb?“ fragte sie neckend. „Vielleicht weil mein süßer kleiner Trotzkopf es Ihnen angethan und sie so ganz erobert hat? Ja, Sie werden nicht so sehr leicht mit ihm fertig werden! Klein Elsa hatte schon damals einen sehr entschiedenen Willen und wußte ihn nachdrücklich durchzusetzen. Nehmen Sie sich in acht! Ich fürchte, ich fürchte, der große Afrikaheld beugt sich ganz dem Scepter seiner jungen Frau.“

Es lag etwas unendlich Liebenswürdiges in ihrer Neckerei, in der Art, wie sie ihm mit dem Finger drohte, aber Sonneck schüttelte leise den Kopf.

„Sie sind im Irrtum. Elsa ist ein ernstes, stilles Mädchen geworden, das weder Trotz noch Uebermut mehr kennt. Der Großvater hat da mit einer allzu strengen Erziehung viel oder vielmehr alles geändert. Doch Sie werden das ja selbst sehen.“

Er stand auf, um sich zu verabschieden, und verhieß, in den nächsten Tagen mit seiner jungen Braut wiederzukommen. Lady Marwood entließ ihn mit der ganzen Herzlichkeit und Vertraulichkeit der früheren Zeit, aber Lothars Stirn war umwölkt, als er das Haus verließ. Er dachte an jene Warnung, die er damals gegen Osmar ausgesprochen hatte, und die nicht gehört worden war. Es war gekommen, wie er es vorhergesagt, wie er es gefürchtet hatte!

[221] Das Thal von Kronsberg lag im hellen Mondlichte, und Mitternacht mochte bereits nahe sein, als eine dunkle Männergestalt den Weg hinaufstieg, der nach Burgheim führte. Aber der rasche, feste Schritt wurde langsamer, je mehr er sich dem Ziele näherte, und eine Strecke davon entfernt blieb der Fremde stehen und blickte auf den Giebel des alten Hauses, der sich hell beschienen aus den Tannen emporhob. Minutenlang stand der einsame Wanderer regungslos da, dann stieg er vollends zu der [222] Höhe empor und trat unter eine mächtige Linde, die ihre Aeste weithin streckte. Sie trug das erste zarte Grün, das noch keinen Schatten gab, und durch die erst halb belaubten Zweige fiel das volle Mondlicht auf den Mann, der sich an den Stamm lehnte. Es war eine hochgewachsene Gestalt in dunkler Reisekleidung, unter dem Hute hervor drängte sich üppiges, blondes Haar, das mit der auffallend dunklen Färbung des Gesichtes im Widerspruch zu stehen schien, und der Blick schweifte langsam, wie suchend über die ganze Umgebung.

Das Thal und die Berge ruhten im träumerischen Glanze der Mondnacht. Das weiße Licht lag hell auf den Dächern und Häusern der alten Bergstadt mit ihrer jetzt zum Fürstenschloß gewordenen Feste. Man sah deutlich die hohen Giebel, die engen Straßen, die Brücke, welche über den Fluß führt, und jenseit derselben die weißen Häuser und Villen des Badeortes. Und über dem allen lag tiefe Ruhe und tiefer Frieden.

Es war eine kalte, beinahe rauhe Frühlingsnacht, aber der Fremde dort unter der Linde atmete die herbe Luft in so tiefen, vollen Zügen, wie ein Durstiger den erquickenden Trank schlürft, und jetzt richtete er sich empor und lauschte weit vorgebeugt. Die Luft war ruhig, kein Windhauch regte sich, aber von den Bergen herüber kam ein Hallen und Rauschen, das in der stillen Nacht weithin vernehmbar war. Dort oben, unter den starren, weißen Gipfeln schien ein geheimnisvolles Leben erwacht zu sein, es klang wie fernes, fernes Brausen und Tosen, wie dumpfe Meeresbrandung.

„Ah, die Gletscherbäche!“ sagte der nächtliche Wanderer halblaut, mit einem tiefen Atemzuge. „Der Schnee schmilzt da droben, die Wasser stürzen – es wird Frühling im Lande!“

Er wandte sich wieder nach Burgheim zurück und versuchte durch das Gitterthor einen Einblick zu gewinnen, aber das war kaum möglich, denn das Haus lag still und dunkel da im Schatten der hohen Bäume, es war kaum in seinen Umrissen sichtbar.

„Mauern und Gitterthor!“ murmelte er. „Sonst war eine lebendige Hecke hier und eine kleine Gartenpforte. Das Haus scheint unverändert zu sein, aber die Tannen sind hochgewachsen und die alte Linde hier draußen auch. Ob ich mir den Eingang suche? Da drinnen schläft ja alles und im schlimmsten Falle – gleichviel, ich muß hinein!“ Ein Druck an der Gitterthür zeigte ihm, daß sie fest verschlossen war, er betrachtete prüfend die Mauer, die, hoch und glatt, nicht den mindesten Stützpunkt für den Fuß bot, aber die weit ausgebreiteten Aeste der Linde reichten bis in den Garten und der Fremde blickte mit einem flüchtigen Lächeln zu ihr hinauf.

„Nun, so versuche ich es mit Dir, Du alter Freund. Hast mich ja oft genug getragen, so thu’ es heut’ noch einmal!“

Er klomm gewandt an dem knorrigen Stamme empor, schwang sich auf den größten Ast und gewann die Höhe der Mauer. Ein kecker Sprung trug ihn hinunter in den Garten. Drinnen im Hause schlug ein Hund an, kurz und laut, aber da der Eindringling die Vorsicht gebrauchte, einige Minuten lang regungslos stehen zu bleiben, so schien sich das Tier wieder zu beruhigen, es verstummte.

Langsam schritt nun der nächtliche Wanderer durch den halbverwachsenen und verwilderten Garten dem Hause zu. Das Mondlicht, das draußen so hell auf der Erde lag, schien hier abzugleiten an den schwarzen finsteren Tannen, nur hin und wieder ließen die Zweige oder das dichte Gebüsch einzelne Strahlen hindurch, die gespenstig über den Boden hinhuschten. Die stille Mitternachtsstunde, das dunkle, einsame Haus, das dämmernde bläuliche Licht, das alles hatte etwas Geisterhaftes, etwas, das fernab zu liegen schien von dem Leben und der Welt im hellen Strahl des Tages.

„Die echte deutsche Märchenstunde!“ sagte der Fremde leise. „Kaum setzt man den Fuß auf den alten Boden, so ist man auch schon wieder in dem alten Bann, und ich glaubte doch frei geworden zu sein in den langen Jahren. Da dringe ich wie ein echter, rechter Märchenheld ein in das verwunschene Schloß, das im Zauberschlafe liegt, und mache mich unglaublich lächerlich, wenn ich dabei ertappt werde – aber lassen kann ich es nicht!“

Er stand jetzt vor dem Hause, dessen Läden fest geschlossen waren, nur der hohe Giebel ragte hinein in das Mondlicht, alles andere lag in tiefem Schatten. Aber durch zwei Tannenwipfel hindurch fiel ein breiter, heller Streifen gerade auf die Terrasse und auf die halbeingesunkenen, moosbewachsenen Stufen, die zu dem Eingang hinaufführten. Der fremde Mann blickte stumm und unverwandt darauf nieder, lange, lange Zeit, dann plötzlich warf er sich auf die Knie und drückte seine Lippen auf die verwitterten moosigen Steine, so heiß, so leidenschaftlich wie ein Pilger, der die heilige Stätte grüßt – wie der verlorene Sohn, der die Schwelle der Heimat küßt!

Da schlug drinnen im Hause von neuem der Hund an, diesmal lauter und anhaltender und es mußte auch noch jemand wach sein, denn man vernahm eine gedämpfte Frauenstimme, die das Tier beschwichtigte: „Still, Wotan! Es ist ja Bastian – kennst du ihn denn nicht?“

Der Fremde war aufgesprungen und wollte den Rückzug antreten, aber das Klirren eines Riegels verriet ihm, daß es bereits zu spät war. Wenn er jetzt durch den Garten eilte, mußte er bemerkt werden, der Hund spürte ihn jedenfalls auf. Er trat deshalb rasch seitwärts in das dichte Tannendunkel, das keinen Mondstrahl hindurchließ, und drückte sich fest an einen Baumstamm.

Der Riegel wurde in der That zurückgeschoben, ein heller Lichtschein fiel auf die Steintreppe und in der geöffneten Thür zeigte sich eine schlanke Mädchengestalt. „Bist Du schon zurück, Bastian?“ klang es in die Nacht hinaus. „Wird der Arzt kommen?“

Es erfolgte keine Antwort, der Fremde stand regungslos unter der Tanne und blickte auf die Erscheinung, die nun freilich so ganz dieser „Märchenstunde“ entsprach. Die Lampe, die das junge Mädchen in der Hand hielt, beleuchtete voll ihr Gesicht und die reichen, goldig schimmernden Flechten, die sich wie ein Kranz um den Kopf legten; aber neben ihr wurde jetzt auch ein mächtiger schwarzgrauer Hund sichtbar, der trotz der Beschwichtigung argwöhnisch und spürend den Kopf hoch emporstreckte.

Befremdet durch das Ausbleiben der Antwort, setzte Elsa die Lampe in der Flurhalle nieder und trat vollends heraus. Wotan aber schien jetzt zu wittern, daß sich irgend etwas Fremdes in der Nähe befand. Er stieß ein dumpfes, drohendes Knurren aus und drängte sich an seiner Herrin vorüber auf die Terrasse; dann aber schoß er plötzlich mit lautem wütenden Gebell die Stufen hinab und auf die Tannen zu, er hatte den Eindringling entdeckt.

Jeden anderen würde der Anfall des riesigen Tieres niedergeworfen haben, hier aber taumelte es, von einem furchtbaren Faustschlag getroffen, halb betäubt zurück, doch nur einen Augenblick lang. Dann stürzte es sich von neuem mit noch größerer Wut auf den Unbekannten und es schien sich ein wilder Kampf zwischen den beiden zu entspinnen.

„Wer ist da? Was hast Du, Wotan?“ rief das junge Mädchen, das gespannt lauschte, was denn Wotan etwa Feindseliges aufgespürt habe. Da klang eine fremde Stimme von drüben her: „Rufen Sie den Hund zurück! Ich bin in der Notwehr – wenn er mich nicht losläßt, erwürge ich ihn!“

Das schien keine bloße Prahlerei zu sein, denn das eben noch so laute Gebell Wotans klang jetzt dumpf und halberstickt, als fehlte ihm der Atem. Ohne Besinnen eilte Elsa die Stufen hinunter zu den Ringenden, die während des minutenlangen Kampfes in das Freie gelangt waren. Der riesige Wotan stand halb aufrecht, die Tatzen auf den Schultern des Fremden, den er gepackt hielt, aber dieser hatte beide Fäuste an der Gurgel des Tieres, das vergebens seine ganze Kraft aufbot, sich frei zu machen. Die eisernen Hände dort ließen nicht los und machten es wehrlos, seine wilden Laute erstarben in einem angstvollen Keuchen und Röcheln.

„Lassen Sie los!“ rief das junge Mädchen halb erschrocken, halb befehlend und riß den Hund am Halsbande zurück. „Wotan, hierher – leg Dich nieder!“

Der Fremde gehorchte, seine Hände lösten sich und er trat zurück, aber auch Wotan folgte dem Rufe seiner jungen Herrin. Mit dumpfem drohenden Murren kauerte er sich an ihrer Seite nieder, aber er erneuerte den Angriff nicht. Elsa schien seine Nähe für einen genügenden Schutz zu erachten, denn sie machte keine Miene, in das Haus zu flüchten, sondern hielt dem unerwarteten Abenteuer stand.

„Was wollen Sie hier? Wer sind Sie?“ fragte sie in einem Tone, der mehr Unwillen als Furcht verriet. Der Unbekannte zog den Hut und machte eine Verbeugung, so ruhig und artig, als stehe er in einem Salon und habe nicht soeben erst einen gefahrvollen Kampf bestanden. „Ein Fremder, mein Fräulein,“ antwortete er, „der um Verzeihung zu bitten hat, daß er unberechtigterweise in Ihren Garten geraten ist.“

Elsa stutzte beim Laut dieser Stimme, es war ihr, als hörte sie diesen vollen, tiefen Klang nicht zum erstenmal. Betroffen sah sie auf den Mann, der nur wenige Schritte von ihr entfernt im hellen Mondlichte stand, denn der Mond war jetzt über die Tannenwipfel emporgestiegen und erhellte den ganzen Platz vor dem Hause. [223] Sie blickte in ein völlig fremdes Gesicht, in ein paar große flammende Augen, die unverwandt auf ihr ruhten und ihr dieselbe Empfindung erweckten, als habe sie diese Augen schon einmal gesehen.

„Der Garten ist fest verschlossen,“ sagte sie mit scharfer Betonung. „Wie sind Sie hereingekommen?“

„Ueber die Mauer!“ versetzte der Fremde so gelassen, als sei dieser Weg ganz selbstverständlich. „Ich kann Ihnen trotzdem die Versicherung geben, mein gnädiges Fräulein, daß ich weder ein Räuber noch ein Dieb bin. Sie haben durchaus nichts von mir zu fürchten.“ Es lag etwas in der Sprache und der Haltung des Mannes, das seine Worte zu bestätigen schien, ein energischer Stolz, der jede beleidigende Annahme zurückwies. Auch Elsa mochte das fühlen, denn sie wiederholte in gemildertem Tone ihre Frage von vorhin:

„Und was wollten Sie hier, zu dieser Stunde?“

„Mir den Garten und das Haus etwas näher ansehen! Das glauben Sie mir nicht, mein Fräulein? Ich begreife das vollkommen, es ist mir aber leider nicht möglich, Ihnen eine andere Erklärung zu geben. Ich bitte nochmals um Verzeihung wegen der Unruhe, die ich unfreiwillig veranlaßt habe.“

Er blickte auf den Hund, den das junge Mädchen noch immer am Halsbande festhielt. Wotan war an strengen Gehorsam gewöhnt. Da seine Herrin ihm befohlen hatte, ruhig zu sein, so regte er sich nicht, aber er bewachte mit glühenden Augen seinen Feind, bereit, sich beim ersten Zeichen eines weiteren Vordringens wieder auf ihn zu stürzen, und ließ von Zeit zu Zeit einen dumpfen, drohenden Ton hören.

Elsa war offenbar im Begriff, die Unterredung abzubrechen; da sah sie an der herabhängenden Hand des Fremden einen schmalen roten Streifen, es war Blut, das aus dem Aermel herabrieselte.

„Sind Sie verwundet?“ fragte sie rasch.

Er lachte kurz und spöttisch auf und blickte gleichfalls auf seine Hand nieder. „Es scheint so. Ein kleines Liebeszeichen Ihres Wotan! Es ist nicht von Bedeutung, aber ich habe seine Zähne doch gespürt, als er mich vorhin an der Schulter packte.“

„Wotan hat nur seine Pflicht gethan,“ sagte das junge Mädchen mit herber Entschiedenheit. „Er soll das Haus bewachen und darf es nicht dulden, daß ein Fremder zur Nachtzeit hier eindringt. Sie können von Glück sagen, daß ich herbeikam und ihn zurückhielt, er hätte Sie sonst vielleicht zerrissen.“

„Glauben Sie das, mein Fräulein?“ fragte der Fremde, dessen Augen noch immer auf ihrem Gesichte ruhten. „Ich fürchte, der Ausgang wäre ein anderer gewesen, denn ich hätte mich schwerlich gutwillig zerreißen lassen, und ich habe wohl noch andere Kämpfe bestanden als den mit einem gereizten Hunde. Es hätte Ihnen wahrscheinlich das schöne Tier gekostet.“

War es der Spott in diesen Worten, der Elsa reizte, oder der Gedanke, ihr Liebling hätte wirklich das Opfer werden können, sie richtete sich plötzlich empor, sah den kecken Eindringling, der es nun gar noch wagte, zu drohen, von oben bis unten an und wies dann mit einer verächtlichen Gebärde hinaus. „Gehen Sie! Der Weg über die Mauer ist ja immer offen für Sie und Ihresgleichen. Ich werde den Hund so lange festhalten, bis Sie draußen sind.“

Der Fremde zuckte leicht zusammen bei diesem verächtlichen Tone und sein Blick sprühte zornig auf, man hörte die Gereiztheit in seiner Stimme, als er erwiderte: „Sie gebrauchen Ihr Hausrecht sehr nachdrücklich. Freilich, es ist meine Schuld, wenn ich hier wie der erste beste Ritter von der Landstraße behandelt werde. Ich kann Ihnen nur wiederholen, daß ich weder rauben noch stehlen wollte. Vielleicht gelingt es mir noch einmal, Sie davon zu überzeugen, für jetzt habe ich die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen, Fräulein von Bernried!“

Er legte einen beinahe hohnvollen Nachdruck auf das letzte Wort, verbeugte sich noch einmal und verschwand im Dunkel der Gebüsche. Ein Geräusch in der Nähe der Linde verriet bald darauf, daß er den Garten auf demselben Wege verließ, auf dem er gekommen war, und einige Minuten später sah man die hohe dunkle Gestalt am Gitterthor vorübergehen. Das junge Mädchen ließ jetzt den Hund los, der es offenbar nicht begriff, daß der Eindringling so unbehelligt gehen durfte, und sehr unzufrieden damit war. Er stürzte schleunigst nach dem Gitter und begann dann rastlos den ganzen Garten zu durchstreifen, als wollte er sich überzeugen, daß niemand mehr dort sei.

Elsa achtete nicht darauf, sie stand noch immer da und hatte die Hand an die Stirn gelegt, als sinne sie angestrengt über etwas nach. Wo hatte sie diese Stimme schon gehört, diese Augen gesehen? Der Mann war ihr ja fremd, sie kannte ihn nicht und doch war es ihr, als sei er ihr schon einmal begegnet, vor langer, langer Zeit. Und als hätten jene flammenden Augen einen Bann gebrochen, so tauchten jetzt seltsame Bilder auf, die längst versunken und vergessen waren: eine weiße, leuchtende Stadt, ein breiter, schimmernder Strom, hohe, fremdartige Bäume, die ihre Kronen bis in den Himmel hoben, und über dem allen heiße, brennende Sonnenglut. Das alles schwankte und zerfloß in nebelhaften Umrissen, es versank und tauchte wieder auf, die Bilder waren nicht festzuhalten, aber sie gaben auch keine Ruhe mehr.

Das junge Mädchen träumte mit offenen Augen, träumte in der kalten nordischen Frühlingsnacht von dem fernen Sonnenlande. Die Alpengipfel ringsum starrten in Schnee und Eis, aber wieder klangen jene geheimnisvollen Stimmen herüber, jenes dumpfe Brausen und Tosen. Der Schnee löste sich da droben, die Wasser stürzten. – Es wurde Frühling im Land!




Lothar Sonneck hatte, wie im vergangenen Jahre so auch diesmal, seine Wohnung in der Bertramschen Villa genommen, deren oberer Stock in den Sommermonaten vermietet wurde, und der Hofrat und seine Frau thaten das möglichste, es dem berühmten Gast in ihrem Hause behaglich und angenehm zu machen. Reinhart Ehrwald, der von Tag zu Tag erwartet wurde, sollte gleichfalls hier wohnen, und die drei Jungen des Doktors hatten bereits verschiedene Empfangsfeierlichkeiten für den neuen „afrikanischen Onkel“ geplant, selbstverständlich mit allerlei afrikanischen Anspielungen. Leider kam diese schöne Idee nicht zur Ausführung, denn der Erwartete traf ganz plötzlich, ohne vorherige Anmeldung ein. Er kam eines Morgens zu Fuß und ohne Gepäck, fragte nach Herrn Sonneck und begab sich sofort zu ihm.

Im Wohnzimmer Lothars saßen die beiden Gefährten, die fast ein Jahrzehnt lang unzertrennlich gewesen waren und gemeinsam Gutes und Böses durchlebt und getragen hatten. Der eine mit grauen Haaren und schwindender Kraft, der andere noch in der ersten Blüte des Mannesalters und in der Vollkraft des Lebens. Aber das Verhältnis zwischen ihnen war ein anderes geworden. Der ältere, dem Jahre und Erfahrungen einst ein so großes Uebergewicht über seinen Schützling gaben, behandelte diesen jetzt auf dem Fuße völliger Gleichheit, und der jüngere hatte längst das respektvolle „Herr Sonneck“ fallen lassen und gab ihm das brüderliche Du.

Auch an Ehrwald war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Seine hohe Gestalt, welche die Sonnecks weit überragte, war sehniger, markiger, die Züge waren fester und tiefer geworden. Das Leben voll Kampf und Gefahr, voll Anstrengungen und Entbehrungen hatte auch bei ihm Spuren zurückgelassen, aber sie standen dem Antlitz gut, das die afrikanische Sonne so dunkel gebräunt hatte. Nur das blonde Haar, das sich ebenso üppig wie einst um die hohe Stirn krauste, verriet noch den Deutschen. Seine Haltung war ruhiger, seine Erscheinung überhaupt reifer und ernster geworden, aber in den dunklen Augen flammte noch immer das alte Feuer. Jenes heiße, volle Leben, das einst so stürmisch das ganze Wesen des Jünglings durchflutete, war auch dem Manne geblieben. Er war noch jung, trotz seiner vierunddreißig Jahre.

„Mußt Du denn immer so überraschend und blitzartig kommen und gehen!“ sagte Sonneck in einem Tone, der vorwurfsvoll sein sollte und doch die ganze Freude dieser Ueberraschung verriet. „Da warte ich täglich auf das Telegramm, das mir Deine Ankunft melden soll, und auf einmal trittst Du selber zur Thür herein. Bist Du die ganze Nacht hindurch gefahren?“

„Nein, ich bin schon gestern abend angekommen,“ versetzte Reinhart. „Es war aber sehr spät und da wollte ich das Haus hier nicht in Unruhe bringen mit meiner nächtlichen Ankunft. Ich stieg deshalb im Hotel ab, das heißt, ich schickte meinen Wagen mit dem Gepäck dorthin, und ich selber –“ er hielt inne.

„Nun, und Du?“

„Ich bin zur Abwechslung einmal sentimental gewesen und ein Paar Stunden lang im Mondschein umhergestreift. Ich wollte sie doch wiedersehen – die alte Heimat!“

Die Worte klangen halb spöttisch, Sonneck sah ihn prüfend an.

„Ja, Reinhart, es hat lange gedauert, ehe ich erfuhr, daß Kronsberg Deine Heimat ist. Du schwiegst jahrelang hartnäckig darüber und ich mochte nicht in Dich dringen. Warst Du – in Burgheim?“

„Ja!“ Das Wort klang beinahe grollend.

[226] „Ich dachte es mir! Du wirst nicht viel gesehen haben von dem Hause. Helmreich hat den ganzen Garten mit einer Mauer umziehen lassen, da ist ein Einblick zur Nachtzeit kaum möglich.“

Ehrwald schwieg. Es wäre doch nur natürlich gewesen, das nächtliche Abenteuer dem Freunde zu erzählen, der, wie er längst wußte, ein täglicher Gast in Burgheim war, aber es war, als ob irgend etwas dem Manne die Lippen schließe, er brach rasch ab.

„Doch nun vor allen Dingen, wie geht es Dir? Deine Briefe brachten mir ja die besten Nachrichten! Bist Du ganz genesen?“

„Wenigstens zum größten Teil, und Bertram stellt mir in einigen Monaten die volle Genesung in Aussicht. Jetzt heißt es nur noch Schonung – Ruhe – Geduld! Das sind freilich Worte, die wir beide nie gekannt haben, aber ich habe sie lernen müssen. Laß Dir das zur Warnung dienen, Reinhart, Du bist auch zehn volle Jahre lang nicht in Europa gewesen. Man nutzt sich schnell ab in den Tropen und auch Deine eiserne Gesundheit wird schließlich erliegen, wenn Du Dir nicht einmal Ruhe gönnst.“

„War das möglich in unserm bisherigen Leben?“ fragte Reinhart achselzuckend. „Uebrigens hängen meine nächsten Zukunftspläne ja von den Verhandlungen in Berlin ab. Das ist auch wieder eine von Deinen Aufopferungen, Lothar! Man hatte Dich für die Stellung in Aussicht genommen, ich weiß es, und Du lehntest ab und setztest Deinen ganzen Einfluß für mich ein.“

„Weil ich schon damals wußte, daß ich einer solchen Stellung nicht mehr gewachsen bin,“ sagte Lothar ernst. „Damit ist’s für mich zu Ende. Ich habe allerdings, als ich im Winter in Berlin war, das möglichste gethan, Dir dort die Wege zu ebnen; ob Du aber bei Deinem stolzen Selbständigkeitsgefühl fertig wirst mit den Herren am grünen Tische, ist eine andere Frage. Doch das wird sich ja finden, einstweilen bin ich froh, Dich ein paar Wochen für mich zu haben. Auch Bertram und seine Frau freuen sich sehr, Dich wiederzusehen, und dann wirst Du auch noch eine andere Bekannte aus früherer Zeit wiederfinden – Lady Marwood ist hier.“

„Zenaide von Osmar?“ rief Ehrwald überrascht. „Hast Du sie bereits gesehen?“

„Jawohl, gestern. Sie soll die Kronsberger Quellen gebrauchen und beabsichtigt, den ganzen Sommer hier zu bleiben. Du weißt wohl, daß sie von ihrem Gemahle getrennt lebt?“

„Allerdings – man spricht in Kairo sehr viel über sie.“

„Das hat man leider von jeher gethan. Marwoods Name und Rang stellen ihn nun einmal in die erste Reihe und Zenaide ist eine gefeierte Schönheit in der großen Welt. Solche Persönlichkeiten sind immer die willkommensten Gegenstände für die üble Nachrede.“

Reinhart antwortete nicht. Es schien, als wünschte er den Gegenstand fallen zu lassen, doch Sonneck hielt ihn fest.

„Hast Du etwas Näheres gehört?“ fragte er. „Ich habe bei meinem letzten Aufenthalt in Kairo kaum mit jemand verkehrt, ich war schwer leidend damals und schiffte mich sobald als möglich ein. Du aber bist jetzt wochenlang dort gewesen – was spricht man eigentlich?“

„Alles mögliche! Die englischen Kreise in Kairo sind ja stets sehr genau unterrichtet über alle Vorgänge in der Londoner Gesellschaft, aber – sie nehmen entschieden Marwoods Partei.“

„Wirklich?“ rief Sonneck peinlich überrascht.

„Fast ohne Ausnahme, und in den einheimischen Kreisen hört man dasselbe. Lady Marwood soll sich in England sehr excentrisch benommen und sich rücksichtslos über alles hinweggesetzt haben, so daß schließlich nur die Trennung übrig blieb; die gesetzliche Scheidung unterblieb wohl nur des Kindes wegen, auf das keines der Eltern verzichten wollte; es heißt aber, daß Marwood sie anstrebt. Seitdem reist seine Gemahlin allein in der Welt umher, taucht überall wie ein Meteor auf und streut das Geld mit vollen Händen aus, um ebenso plötzlich wieder zu verschwinden. Dabei hat sie immer einen Schwarm von Verehrern hinter sich und umgiebt sich überall mit einem förmlichen Hofstaat von Bewunderern, der ihrem Rufe nicht gerade förderlich ist. Ich mag nicht wiederholen, was man da alles flüstert und klatscht, aber etwas davon wird wohl auch bis zu Dir gedrungen sein.“

„Ja, aber ich habe es nie geglaubt. Diese unselige Ehe, die von Anfang an den Keim des Unheils in sich trug! Es war ja, als ob man Eis und Feuer aneinander ketten wollte! Zenaide mag unvorsichtig gewesen sein der Gesellschaft gegenüber; mag es jetzt doppelt sein, wo sie die Fesseln gebrochen hat – an wirklich Schlimmes glaube ich nicht.“

Ehrwald schwieg, aber seine Miene verriet, daß er nicht derselben Meinung war.

„Du wirst doch nicht umhin können, sie wiederzusehen,“ hob Lothar wieder an, „denn ich verkehre mit ihr auf dem alten freundschaftlichen Fuße, und hier in Kronsberg kann man sich überhaupt nicht ausweichen.“

„Weshalb denn auch?“ fragte Reinhart gelassen. „Doch nicht etwa wegen der einstigen Jugendschwärmerei, die wir füreinander hegten? Dergleichen trägt man doch nicht sein Leben lang mit sich herum. Lady Marwood ist inzwischen eine gefeierte Weltdame geworden und ich – nun, ich bin auch nicht der junge ‚Abenteurer‘ mehr, dem Herr von Osmar so verächtlich die Thür wies. An Deiner Seite, in den Wüsten und Wäldern Afrikas habe ich mir Namen und Lebensstellung errungen. Wir treten uns als zwei völlig neue Menschen gegenüber, und wenn da wirklich die alten Erinnerungen wieder auftauchen, werden wir darüber lächeln wie über Kinderthorheiten. Etwas anderes ist ja die sogenannte Jugendliebe überhaupt nicht, sie hält niemals stand für das Leben.“

Es war derselbe gleichgültige Ton, mit dem Lady Marwood von „diesem Herrn Ehrwald“ sprach. Sonneck war offenbar überrascht davon, er hätte anders empfunden und hatte deshalb mit einer gewissen Unruhe an dies Wiedersehen gedacht, das ein Spiel des Zufalls hier herbeiführte. Diese Gleichgültigkeit der beiden, die sich einst so nahe gestanden, nahm ihm eine geheime Sorge vom Herzen.

„Jugendliebe?“ wiederholte er. „Hast Du Zenaide denn wirklich geliebt? Dann hättest Du sie schwerlich so leicht und schnell aufgegeben, weil ein erzürnter Vater zwischen Euch trat. Ich glaube, Reinhart, Du kannst überhaupt nicht lieben! Was hilft Dir Dein beinahe sprichwörtlich gewordenes Glück bei den Frauen? Ein wahres Glück hat es Dir ja doch nie gebracht! Wie oft sind Dir seitdem Jugend, Schönheit und Liebe entgegengekommen, wie oft brauchtest Du nur die Hand auszustrecken, um zu erreichen, was anderen als der höchste Preis des Lebens gilt – und wie oft hast Du damit gespielt, in einer unverantwortlichen Weise gespielt! Aber Du selbst bliebst immer kühl bis ans Herz hinan! Freilich, das alles war ja nahe und wirklich, deshalb genügte es Dir nicht. Jenes große unendliche Glück, das Du Dir zusammenphantasierst, hat es nie und nirgends in der Welt gegeben, und anstatt zu nehmen, was sich Dir bietet, jagst Du noch immer dem alten unerreichbaren Traumbilde nach, dieser –“

„Fata Morgana!“ ergänzte Reinhart lachend. „Ja, das ist Deine alte Predigt, wie oft hast Du mich schon ausgescholten deshalb, aber kann ich’s ändern? Es ist nun einmal mein Verhängnis, nur daß ich einst glaubte, ich könnte das Traumbild herabzwingen in die Wirklichkeit. Das ist vorbei, jetzt weiß ich, daß sie nie zur Erde herabsteigt, meine schöne Fata Morgana, aber lassen kann ich doch nicht von ihr. Vielleicht umfange ich sie einst im Tode!“

Er legte dem Freunde die Hand auf die Schulter und seine Stimme wurde plötzlich tiefernst, als er fortfuhr:

„In Einem irrst Du doch. Ich kann lieben, auch das Nahe und Wirkliche, aber geliebt ohne Wandel und Enttäuschung habe ich nur eins auf der Welt – Dich, Lothar! Du allein hast mir immer Wort gehalten, im Leben wie im Tode, denn wir beide haben ja oft genug zusammen dem Tode ins Auge geschaut. Was Du mir warst und bist, das kann mir niemals ein Weib sein – nie!“

„Schmeichler!“ wehrte Lothar ab, aber man hörte es an seinem Tone, wie viel ihm dies Geständnis galt.

„Nein, bei Gott, das ist keine Schmeichelei,“ brach Reinhart leidenschaftlich aus. „Das ist die volle echte Wahrheit.“

„Das weiß ich, mein Junge,“ entgegnete Sonneck warm, „und was Du mir bist, das brauche ich Dir wohl nicht erst zu sagen, aber trotzdem werden wir es lernen müssen, einander zu entbehren. Du kennst ja das Ultimatum, das Bertram mir gestellt hat, und er wird Dir bestätigen –“

„Ah, da ist er ja selbst!“

Es war in der That der Hofrat, der jetzt die Thür öffnete und noch auf der Schwelle sagte: „Verzeihung, wenn ich störe, aber die erste Stunde des Wiedersehens ist verstrichen, und nun möchte ich doch auch unseren ‚Afrikaner‘ begrüßen. Willkommen in Deutschland, Ehrwald!“ Er trat vollends ein und streckte Reinhart die Hand hin.

Dieser ergriff sie herzlich, fragte aber mit einiger Verwunderung: „Woher wissen Sie denn schon, daß ich hier bin? Ich kam ja ganz inkognito.“

[227] „In meinem Hause geht nichts inkognito ein und aus, dafür sorgen meine Jungen,“ erklärte Bertram. „Ihre Gesichtsfarbe hat Sie verraten; mein Aeltester behauptete steif und fest, der ‚afrikanische Onkel‘ sei angekommen, und die Beschreibung stimmte. Noch einmal herzlich willkommen! Auch meine Frau freut sich sehr auf den lieben Gast, der damals bei unserer Liebes- und Leidensgeschichte am Nil so eine Art Schutzgeist für uns gewesen ist.“

„Auf Kosten des armen Fräulein Mallner,“ lachte Ehrwald. „Ich glaube, sie hat mir das niemals verziehen. Ist sie denn noch am Leben?“

„Natürlich, und sie wird sogar baldigst in voller Lebensgröße hier erscheinen. Doch wie finden Sie Herrn Sonneck? Er hat sich sehr erholt, nicht wahr?“

„Lothar sieht wie verjüngt aus! Da haben Ihre Kronsberger Quellen in der That ein halbes Wunder gethan.“

Um die Lippen des Hofrates zuckte wieder der alte lustige Spott, als er entgegnete: „Nun, unsere Quellen sind vorzüglich, das ist ausgemacht; ob sie aber gerade an dieser ‚Verjüngung‘ schuld sind, möchte ich bezweifeln. Das wird wohl einen anderen Grund haben … Ah so,“ unterbrach er sich, indem er einen Wink Sonnecks auffing. „Er weiß noch gar nichts? Nun, da will ich Ihnen die Ueberraschung nicht verderben.“

„Was weiß ich nicht?“ fragte Reinhart ahnungslos. Bertram lachte.

„Eine große Neuigkeit, die erst acht Tage alt ist, und solange sind Sie gerade unterwegs. Sie können freilich noch nichts wissen, wenn Sie es nicht gleich in der ersten Stunde hier erfuhren, aber ich will nicht vorgreifen. Doch noch eins, Herr Sonneck! Ich bin heute schon vor Tagesgrauen in Burgheim gewesen. Bastian kam in der Nacht, um mich zu rufen. Der Professor hatte wieder einen argen Anfall seines alten Leidens.“

„Steht es schlimm?“ fragte Sonneck besorgt.

„Nein, für den Augenblick ist die Gefahr beseitigt. Helmreich hat eine ungemein zähe Natur, die solche Anfälle immer wieder überwindet. Daß sein Zustand hoffnungslos ist, habe ich Ihnen ja längst mitgeteilt, aber es kann noch bis zum Herbste dauern.“

„Eine traurige Frist unter diesen Umständen!“ sagte Lothar ernst. „Jedenfalls will ich noch am Vormittag nach Burgheim.“

„Thun Sie das,“ stimmte der Arzt bei. „Sie sind der einzige, der noch etwas bei ihm ausrichtet. Die arme Elsa hat natürlich während der ganzen Nacht kein Auge geschlossen. Sie erinnern sich ihrer doch noch, Ehrwald?“

„Gewiß – da ist sie ja, meine kleine Feindin!“ rief Reinhart, indem er zum Schreibtische trat und ein dort stehendes Bild ergriff. „Das achtjährige Fräulein erklärte mir damals den Krieg auf Tod und Leben, weil ich einen Kuß erzwang, den es mir verweigerte. Es war wirklich nicht ratsam, dem kleinen Trotzkopfe nahe zu kommen, wenn er übler Laune war.“

Die Worte waren wohl scherzhaft gemeint, aber sie hatten eine eigentümliche Beimischung von Gereiztheit. Sonneck war zu ihm getreten und sah mit leisem glücklichen Lächeln auf das Bild nieder, das er damals in Kairo gezeichnet und später in Aquarell ausgeführt hatte. Das Kinderköpfchen der kleinen Elsa blickte dem Beschauer mit seinem ganzen Liebreiz entgegen, doch mit jener zarten, beinahe scheuen Zurückhaltung, die der ältere Mann stets beobachtete, wenn von seiner jungen Braut die Rede war, schwieg er auch jetzt noch über die „große Neuigkeit“. Die Gegenwart Bertrams legte ihm einen Zwang auf: das, was ihn am tiefsten berührte, sollte der Freund erst unter vier Augen erfahren.

„Ich habe es Dir ja geschrieben, was die Erziehung Helmreichs aus dem einst so lebhaften und leidenschaftlichen Kinde gemacht hat,“ sagte er. „Es war ein Unglück, daß es gerade in die Hände dieses alten, verbitterten Mannes kam. Er hatte gar kein Verständnis für das kleine, sonnige Geschöpf, das in seinem jungen Leben nur Liebe und Zärtlichkeit empfangen hatte und den Sonnenschein und die Freude brauchte, um zu gedeihen. Seine Erziehung war überhaupt so widerspruchsvoll wie nur möglich, einerseits unterrichtete er seine Enkelin selbst und gab ihr eine Bildung, die weit über das gewöhnliche Maß hinausging, und anderseits kettete er sie förmlich an den Haushalt fest –“

„Aus krasser Selbstsucht!“ fiel Hofrat Bertram mit einer ihm sonst ganz fremden Bitterkeit ein. „Er wollte seine Behaglichkeit im Hause haben und sah, daß die alte Zenz nicht mehr viel leisten konnte, also mußte sie in Elsa ihre Nachfolgerin erziehen. Er brauchte jemand, der ihm halbe Tage lang vorlas oder nach seinem Diktate schrieb, und es störte ihn, wenn das verständnislos geschah, also wurden dem jungen Mädchen alle möglichen gelehrten Dinge eingetrichtert – lehren Sie mich den alten Egoisten kennen!“

„Sie scheinen kein besonderer Freund des Professor Helmreich zu sein,“ bemerkte Ehrwald, der das Bild noch immer in der Hand hielt und es betrachtete.

„Nein, wahrhaftig nicht!“ brach Bertram aus. „Wir sind sogar heimlich geschworene Feinde, und wenn ich die ärztliche Behandlung in seinem Hause nicht aufgab, so geschah es nur Elsas wegen. Ich konnte ihm die Grausamkeit gegen das Kind nicht verzeihen, das doch sein eigenes Fleisch und Blut war; ich glaube, er hat es von jeher gehaßt, weil es das Kind seines tiefgehaßten Schwiegersohns war. Als ich mit meiner jungen Frau hierher kam, war die Kleine etwa ein halbes Jahr bei dem Großvater, und da war der Kampf noch im vollen Gange, denn sie wehrte sich anfangs verzweifelt gegen diese sogenannte Erziehung. Sie wurde ja wie in einem Gefängnis gehalten, sogar die Spielgefährten blieben ihr versagt, jede kleine Unart, jeder kindische Trotz wurde in der erbarmungslosesten Weise gestraft, und wenn sie nun vollends von ihrem Vater und von dem Leben in Kairo sprach, geriet der Alte geradezu in Wut.“

„Ja, das war von jeher das Schlimmste!“ bemerkte Lothar.

„Sagen Sie lieber: das Unvernünftigste! Und das Kind hing mit einer solchen Leidenschaft an dem Andenken des Vaters – wie glücklich war es, wenn es bei mir und meiner Frau davon plaudern durfte, es verzehrte sich förmlich in Sehnsucht und Erinnerung! Helmreich brachte ja schließlich die große Heldenthat fertig, den Widerstand des neunjährigen Kindes zu brechen, aber wie das geschah, das muß man mit angesehen haben – es hat der Kleinen beinahe das Leben gekostet.“

Reinhart legte plötzlich das Bild nieder, trat an das Fenster und blickte hinaus, während Sonneck mit verfinstertem Gesichte zuhörte.

„Das Kind war damals schwer krank, ich weiß,“ warf er ein.

„Ja, es war eines Tages in seiner Verzweiflung entflohen, war fortgelaufen von dem ‚bösen, bösen Großvater‘, hinaus in die Winternacht, in Schnee und Eis, soweit die Füßchen es trugen, bis es zusammenbrach. Erstarrt und leblos wurde es aufgefunden; die Folge war eine schwere Krankheit und es war zum Erbarmen, wie das arme kleine Ding im Fieber nach dem toten Vater weinte und die Aermchen nach ihm ausstreckte. Ich glaube: damals hat sogar dem Professor das Gewissen geschlagen. Ich sagte es ihm freilich ins Gesicht, daß, wenn es mir nicht gelänge, das Kind zu retten, er an seinem Tode schuld sei, und das hat er mir bis auf den heutigen Tag nicht verziehen!“

Der sonst so heitere Mann hatte sich in eine förmliche Erbitterung hineingeredet; jetzt fuhr er ruhiger fort: „Sie begreifen es nun wohl, daß ich nicht viel Mitleid mit dem Alten da oben habe, trotz seines Leidens. Die Kleine genas ja endlich nach wochenlanger Gefahr, und da war ihre Widerstandskraft gebrochen und die früher so lebhafte Erinnerung völlig erloschen. Sie wußte kaum mehr, daß sie früher in einem anderen Lande, unter ganz anderen Verhältnissen gelebt hatte, sogar das Andenken des Vaters war nebelhaft und undeutlich geworden und ich hütete mich wohl, das wieder aufzuwecken, denn damit hörte auch die krankhafte Sehnsucht auf und das war ein Glück. Schließlich ist ihr das alles ganz entschwunden!“

Die beiden Männer hatten schweigend zugehört. Sonneck sprach auch jetzt nicht, aber man sah es, wie die Erzählung ihn erregt hatte. Reinhart stand noch immer mit verschränkten Armen am Fenster, ohne sich umzuwenden, da erhob sich drunten im Garten ein Lärm, der aber freudiger Natur zu sein schien, denn man hörte Jubel- und Hurrarufe. Bertram wurde aufmerksam.

„Was giebt es denn da draußen? Sind die Jungen toll geworden?“ rief er und trat gleichfalls an das Fenster, wo er nun allerdings die Ursache entdeckte. Im Garten stand ein riesiger Neger, der verschiedene Reiseeffekten trug, während hinter ihm ein Träger mit einem großen Koffer sichtbar wurde. Die drei hofrätlichen Sprößlinge hatten den Schwarzen beim Eintritt abgefangen und gaben nun ihre Verwunderung und ihr Entzücken über diesen neuen afrikanischen Besuch in der stürmischsten Weise kund.

„Es ist mein Achmet mit dem Gepäck,“ sagte Ehrwald. „Wollen Sie so freundlich sein, ihn zurechtzuweisen? Ich weiß ja noch gar nicht, wo meine Zimmer liegen.“

[228] „Hier, neben denen des Herrn Sonneck, aber ich werde wohl selbst hinunter müssen, um da Ordnung zu stiften!“

Damit ging er und die beiden blieben allein. Sonneck war offenbar tief verstimmt durch jene Erzählung, und Reinhart schien gleichfalls den peinlichen Eindruck verwischen zu wollen, denn er fragte ablenkend: „Was ist denn das für eine Neuigkeit, auf die Bertram vorhin anspielte? Soll ich sie nicht endlich erfahren?“

„Gewiß, ich wollte nur allein mit Dir darüber sprechen. Es handelt sich da um meine Zukunftspläne. Du weißt es ja durch meine Briefe, daß die Laufbahn da drüben in Afrika für mich zu Ende ist, auch wenn ich genesen bin.“

„Ja, Lothar, und das muß ein furchtbarer Schlag für Dich gewesen sein!“ rief Reinhart mit leidenschaftlich aufflammender Teilnahme. „Noch im besten Mannesalter zur Unthätigkeit verdammt zu werden – das hältst Du ja gar nicht aus!“

„Vielleicht halte ich es besser aus, als Du denkst,“ entgegnete Lothar mit einem vielsagenden Lächeln. „Die Zeit der inneren Kämpfe liegt jetzt hinter mir. Ein Leben, wie ich es mehr als zwanzig Jahre lang geführt habe, giebt immer noch Gelegenheit zur Thätigkeit. Ich habe viel Wertvolles gesammelt und aufgezeichnet, das alles nun geordnet und ausgearbeitet werden muß, und das wird Jahre dauern. Ueberdies – was wirst Du sagen, wenn ich Dir das Geständnis mache, daß ich im Begriff stehe, mir ein häusliches Glück zu gründen?“

„Du willst heiraten?“ rief Ehrwald in unverkennbarer, aber offenbar freudiger Ueberraschung. „Nun, das ist ein Entschluß, den ich mit tausend Freuden begrüße, zumal jetzt! Der Gedanke, wie Du die vollständige Aenderung Deines Lebens ertragen würdest, hat mir oft schwer auf der Seele gelegen. Du hast das Sehnen nach Liebe und Heimat ja stets mit Dir herumgetragen, und was mir als eine Fessel erschien, galt Dir als das höchste Glück, aber Du hättest Dich nie gebunden ohne eine wahre, tiefe Neigung. Hast Du sie so spät noch gefunden?“

„Ja, so spät noch!“ wiederholte Sonneck ernst. „Vielleicht allzu spät, denn der Altersunterschied zwischen mir und meiner Braut ist sehr bedeutend und mitten in all’ dem Glück liegt es mir doch fast wie ein Vorwurf, wie eine Schuld auf der Seele, daß ich ein junges Wesen, das noch gar nichts vom Leben kennt und weiß, an das meinige gefesselt habe. Ich kann meiner Gattin keine Jugend mehr geben und wenn sie das je fühlen, wenn sie unglücklich werden sollte an meiner Seite –“

„Ein Weib, das Du liebst und an Dein Herz nimmst, wird nicht unglücklich!“ fiel Ehrwald beinahe stürmisch ein. „Was sie auch aufgeben mag um Deinetwillen, sie tauscht Besseres dafür ein. Nein, Lothar, wehre das nicht ab, ich kenne Dich wie kein anderer, ich darf es sagen! Aber nun laß mich endlich Näheres hören. Jetzt will ich wissen, wer Deine Braut ist!“

„Du hast sie ja soeben gesehen!“ Lothar wies lächelnd nach dem Schreibtische hinüber. „Dort steht ihr Bild.“

„Elsa?“ Reinharts Augen richteten sich groß und starr auf den Freund. „Elsa von Bernried? – Sie ist Deine Braut?“

„Gewiß. Ueberrascht Dich das so sehr? Freilich, Deine weise Theorie von der ‚sogenannten Jugendliebe‘, die im Grunde eine Kinderthorheit ist, bestätigt das nicht. Du siehst, bei mir hat sie stand gehalten, denn eigentlich habe ich klein Elsa schon damals in Kairo geliebt, wenn ich auch noch nicht ahnte, was sie mir dereinst werden sollte.“

Ehrwald stand noch immer da und sah ihn an, mit einem seltsamen Ausdruck, als könnte er das eben Gehörte nicht begreifen, dann aber sagte er kurz und beinahe schroff: „Du hast in dem Kinde nur den Vater geliebt, der Dir einst so nahe stand.“

„Du scheinst das ja besser zu wissen als ich,“ scherzte Sonneck. „Aber Du hast mir noch nicht einmal einen Glückwunsch gesagt.“

„Ich wünsche Dir Glück!“ sprach Reinhart langsam, indem er ihm die Hand reichte. „Wann wirst Du Dich vermählen?“

„Sobald als möglich. Du hörst ja, wie es mit Helmreich steht. Er hat nur noch Monate zu leben, und was er auch an dem Kinde gesündigt haben mag, ich kann dem totkranken Manne gerade jetzt seine Enkelin nicht nehmen. Ich hoffe es durchzusetzen, daß unsere Vermählung schon in sechs Wochen in aller Stille gefeiert wird, und dann bleiben wir vorläufig hier. Mir ist der Aufenthalt in Kronsberg ja ohnehin bis zum Herbste vorgeschrieben; wir werden ihn ausdehnen, bis wir dem Professor die Augen zugedrückt haben. Auf diese Weise verliert er Elsa nicht, sie kann nach wie vor sein Haus und seine Pflege überwachen, aber ich werde dafür sorgen, daß die Krankenpflege selbst in andere Hände gelegt wird. Als Gatte habe ich das Recht dazu und werde es brauchen. – Doch da höre ich den Achmet schon in Deinen Zimmern. Komm, Reinhart, sie liegen hier gleich nebenan!“

Er öffnete eine Seitenthür und trat in das Nebengemach, aber Reinhart folgte ihm nicht sogleich. Im Begriff, an dem Schreibtisch vorüber zu schreiten, blieb er plötzlich stehen und blickte wieder auf das Bild der kleinen Elsa, so unverwandt, als suchte er in dem Gesichte des Kindes die Züge, die er heute nacht im hellen Mondlicht gesehen hatte.

„Lothars Braut!“ murmelte er halblaut. „Ja freilich, da werden wir wohl Frieden schließen müssen, oder doch wenigstens Waffenstillstand. – Ob sie mir wohl wieder so verächtlich die Wege weisen wird, wenn ich mit ihm nach Burgheim komme?“

Er lachte kurz und spöttisch auf, und mit einer beinahe rauhen Bewegung das Bild bei Seite schiebend, richtete er sich hoch auf und folgte seinem Freunde.

[242] Kronsberg fing allmählich an, sich zu bevölkern. Trotz der verhältnismäßig noch rauhen Jahreszeit kamen doch schon Gäste von nahe und fern und die Frühsaison versprach sehr belebt zu werden. Ehrwald hatte sich in den drei Tagen, die seit seiner Ankunft verstrichen waren, ausschließlich seinem Freunde gewidmet und verkehrte sonst nur noch mit der Bertramschen Familie, die in der That alles aufbot, ihm den Aufenthalt angenehm zu machen. Besonders die jüngsten Familienglieder leisteten darin Außerordentliches, sie spielten ihm und Sonneck zu Ehren nur noch „Afrikaner“, und zwar meist unter der sachverständigen Leitung Achmets, der das doch verstehen mußte. Zum Glück sprach er etwas deutsch und die drei kleinen Europäer hingen sich wie die Kletten an den gutmütigen Schwarzen. Daß bei diesen orientalischen Spielen noch etwas mehr Lärm vollführt wurde als gewöhnlich, war selbstverständlich, störte aber niemand, und man war allerseits sehr zufrieden miteinander.

Sonneck selbst war täglich einige Stunden in Burgheim bei seiner Braut, hatte aber bisher weder seinen Freund dort vorstellen, noch das Versprechen halten können, das er Lady Marwood hinsichtlich Elsas gegeben hatte. Professor Helmreich befand sich zwar bedeutend besser, sein Zustand erlaubte aber seiner Enkelin noch nicht, Besuche zu machen oder anzunehmen.

In den Vormittagsstunden pflegte im Bertramschen Hause gewöhnlich Ruhe zu herrschen, denn die beiden ältesten Knaben, die schon in dem vorgeschrittenen Alter von sieben und acht Jahren standen, befanden sich dann in der Schule, und das war auch heute der Fall. Der Jüngste, der erst vierjährige Hans, vergnügte sich inzwischen im Kinderzimmer mit einem ganz neuen Spielwerk, einer Art Flöte, die ihm Achmet sehr kunstvoll geschnitzt hatte, und welcher der junge Virtuos jetzt Töne entlockte, die allerdings mehr merkwürdig als schön waren.

Die Frau Hofrätin saß im Wohnzimmer mit einer Handarbeit beschäftigt, als die Thür sich öffnete und das Stubenmädchen sich zeigte, offenbar in der Absicht, jemand anzumelden, aber es kam nicht so weit. Das Mädchen wurde plötzlich zur Seite geschoben, eine ältere, sehr lange Dame trat ein, die in der einen Hand eine Reisetasche, in der anderen einen großen Regenschirm trug und mit dem letzteren nachdrücklich auf den Boden stampfte, während sie kurz und bündig sagte: „Guten Tag, Selma! Da bin ich!“

„Ulrike!“ rief die junge Frau, überrascht aufspringend. „Du kommst schon jetzt? Deinem Briefe nach erwarteten wir Dich ja erst gegen Abend.“

„Ich bin die Nacht durch gefahren und habe mir an der Bahnstation einen Wagen genommen,“ erklärte Ulrike. „Draußen steht er mit dem Gepäck. Laß es hereinbringen!“

Es war noch der alte herrische Ton, der jetzt sehr ungewohnt in den Ohren der Frau Hofrätin klang; trotzdem begrüßte sie ihre Schwägerin freundlich, war ihr beim Ablegen ihrer Sachen behilflich und gab dem Mädchen Weisung, das Gepäck nach dem Fremdenzimmer zu schaffen. Ulrike sah sich inzwischen in dem geschmackvoll und behaglich eingerichteten Wohnzimmer um, dann bemerkte sie trocken: „Nun, vornehm genug sieht es hier bei Euch aus. In Martinsfelde war es einfacher. Und nun habt Ihr Euch gar einen schwarzen Lakaien angeschafft. Ich denke, ich komme in ein deutsches, christliches Haus, und das erste, was ich sehe, ist solch ein rabenschwarzes heidnisches Ungetüm, wie sie am Nil zu Hunderten herumlaufen. Das grinst mich an und will mir meine Reisetasche nehmen, in der ich das Geld habe, aber ich drohte ihm mit dem Regenschirm, daß es zurückfuhr.“

„O, das war der Achmet des Herrn Ehrwald,“ lachte Selma. „Ich schrieb es Dir ja, daß wir die beiden berühmten Gäste Sonneck und Ehrwald im Hause haben. Achmet ist sehr gutmütig und dienstfertig, er hat die Tasche nur tragen wollen.“

„Einerlei, ich leide es nicht, daß man mir meine Sachen so aus den Händen reißt,“ erklärte Fräulein Mallner, „und diesem afrikanischen Diebsgesindel träue ich ein für allemal nicht. Aber nun laß Dich einmal anschauen, Selma, wir haben uns ja zehn Jahr lang nicht gesehen!“

Sie musterte die kleine blühende Frau, die mit dem rosigen lachenden Gesichte allerdings himmelweit verschieden war von der blassen, ängstlichen und verschüchterten Witwe des seligen Martin. Aber auch Selma kam jetzt erst dazu, ihre Schwägerin genauer anzusehen. Schöner war Fräulein Ulrike Mallner im Laufe der Jahre nicht geworden, aber noch etwas hagerer und sehr viel älter. Das nunmehr ganz einsame Leben, das sie in Martinsfelde geführt hatte, schien sehr ungünstig auf sie gewirkt zu haben, denn während sie früher nur herrisch und rücksichtslos gewesen war, hatte ihr ganzes Wesen jetzt einen Zug von Verbitterung und Verbissenheit, der sofort hervortrat.

„Dir ist es gut gegangen, das sieht man!“ sagte sie im herbsten Tone. „Mir nicht. Mein Martinsfelde haben sie mir genommen, Du weißt es ja, und nun bin ich obdachlos in die Welt hinausgetrieben worden.“

„Du hättest ja aber das Gut nicht sofort zu übergeben brauchen,“ wandte Selma ein. „Man wollte Dir ja Zeit lassen bis zum Herbste, nötigenfalls bis zum nächsten Frühjahr.“

„Glaubst Du etwa, daß mir das Vergnügen gemacht hätte?“ fuhr das Fräulein zornig auf. „Soll ich vielleicht noch ein Jahr lang arbeiten, wenn ich weiß, daß dann Haus und Hof dem Boden gleich gemacht werden, um Raum zu schaffen für diese verwünschten Bahnbauten! Da ich nun einmal fort mußte, ging ich lieber gleich.“

Der rücksichtslose Ton berührte die Frau Hofrätin sehr peinlich und es kam ihr der Gedanke, daß sie mit dieser Einladung doch wohl einen Fehlgriff begangen habe. Da erhob sich nebenan im Kinderzimmer ein lautes Zetergeschrei, dazwischen tönten zwei streitende Knabenstimmen und das Gepolter eines umfallenden Stuhles. Ulrike wurde aufmerksam.

„Was giebt es denn da?“ fragte sie. „Ist etwas geschehen?“

„O nein, es sind nur meine Jungen,“ versetzte Selma mit vollster Seelenruhe. „Sie werden sich wohl wieder prügeln, wie gewöhnlich.“

„Und das leidest Du?“ rief die Schwägerin entrüstet.

„Warum denn nicht? Das liegt nun einmal in der Natur der Jungen und Adolf meint, es sei eigentlich eine sehr gesunde Bewegung. Aber sie sollen nicht solchen Lärm dabei machen, ich werde sie gleich zur Ruhe bringen.“

Damit stand Selma auf, ebenso gelassen wie vorhin, und öffnete die Thür des Nebenzimmers, wo sie ihre Voraussetzung denn auch bestätigt fand. Die beiden ältesten Knaben waren soeben nach Hause gekommen, denn sie trugen die Schulranzen noch auf dem Rücken, und hatten das neue Spielzeug ihres jüngsten Bruders schleunigst begutachten und probieren wollen. Dieser aber wehrte sich dagegen; er verteidigte tapfer sein Eigentum, und als er der Uebermacht weichen mußte, erhob er ein lautes Hilfegeschrei. Die beiden anderen aber waren nun ihrerseits über die eroberte Flöte in Streit geraten und augenblicklich bildeten alle drei einen Knäuel und pufften eifrig und vergnüglich aufeinander los, als die Mutter dazwischen fuhr.

Sie faßte ihren ältesten Sprößling mit der rechten, den zweiten mit der linken Hand und gab jedem eine schallende Ohrfeige, dann raffte sie ihren Jüngsten auf, der zappelnd am Boden lag, und schalt sie alle aus.

„Könnt Ihr denn niemals Ruhe halten? Was soll die fremde Tante denken, die eben angekommen ist! Schämt Ihr Euch denn gar nicht?“

Die Neuigkeit wirkte. Die Knaben wurden augenblicklich ruhig und besahen sich die fremde Tante, die erst heute abend ankommen sollte und nun schon da war. Diese aber stand starr und steif auf der Schwelle und blickte auf die kleine Frau, die so energisch Ruhe stiftete.

„Nun, das muß man sagen – Du hast Dich ganz merkwürdig verändert!“ brach sie endlich aus.

„Ja, wenn man drei solche Wildfänge hat, kommt man mit der Sanftmut nicht durch!“ meinte Selma. „Jetzt folgt mir ins Wohnzimmer, gebt der Tante die Hand und benehmt Euch artig!“

Die Knaben gehorchten und die beiden ältesten, Adolf und Ernst, wie der kleine Hans wurden jetzt in aller Form vorgestellt. Fräulein Mallner sah jeden einzelnen scharf an, dann zuckte sie die Achseln und sagte mit Bedauern: „Allesamt dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten! Deshalb sind sie auch so geraten! [243] Im übrigen weißt Du ja, Selma, daß ich Kinder nicht leiden kann, also halte sie mir möglichst vom Leibe.“

Das war aber leichter gesagt als gethan, denn die drei Jungen belagerten die neue Tante von allen Seiten und versuchten Bekanntschaft mit ihr anzuknüpfen. Sie erzählten ihr mit ungemeiner Wichtigkeit, daß sie zwei „afrikanische Onkel“ im Hause hätten und auch den Achmet, der kein Onkel sei, aber gleichfalls aus Afrika komme, und brachten Ulrike durch die fortwährende Erwähnung des verhaßten Wüstenlandes in die übelste Laune. Die Geduld riß ihr aber vollends, als der kleine Hans ganz naiv fragte: „Kommst Du auch aus Afrika?“

„Nein, aus Hinterpommern!“ schnaubte sie ihn an und machte dazu ihr grimmigstes Gesicht. Der kleine Bursche schaute sie anfangs ganz verdutzt an, dann aber schien er diesen Ton und dies Gesicht sehr komisch zu finden, denn er fing laut und herzlich an zu lachen, seine beiden Brüder stimmten ein und es erhob sich ein förmlicher Jubel über die neue Tante, die so köstlichen Spaß zu machen verstand.

„Nun lacht mich die kleine Bande gar noch aus!“ rief das alte Fräulein gereizt und wollte aufspringen, aber Hans kletterte ohne weiteres auf ihren Schoß und setzte sich da fest, und die anderen beiden blockierten sie rechts und links.

Ulrike hatte nie mit Kindern verkehrt, die der unfreundlichen, ewig scheltenden Dame immer scheu auszuweichen pflegten. Diese Zutraulichkeit machte sie daher so bestürzt, daß sie gar nicht versuchte, sich zu wehren, sondern ruhig sitzen blieb. So fand sie denn auch der eintretende Hofrat, der draußen schon von ihrer Ankunft gehört hatte und sie nun in seiner jovialen Art begrüßte.

„Guten Tag, Fräulein Mallner! Bitte, behalten Sie Platz, das ist ja sehr freundlich, daß Sie sich meiner Jungen so annehmen!“

„Die Jungen haben mich genommen,“ erklärte Ulrike, die nun allerdings einen Versuch machte, ihre Bedränger abzuschütteln. Aber das gelang nur teilweise, denn Hans behauptete seinen Platz auf ihrem Schoße und verkündete sehr energisch: „Ich will bei der Tante bleiben!“

Diese ließ sich das merkwürdigerweise gefallen, aber sie gewann es nicht über sich, ihrem alten Widersacher freundlich zu begegnen, obgleich sie sich jetzt als Gast in seinem Hause befand. Ihr Ton war nichts weniger als freundschaftlich, als sie jetzt fortfuhr: „Ihre Frau hat mich eingeladen – ob es Ihnen recht ist, weiß ich nicht.“

„Was meine Frau thut, ist mir immer recht,“ versetzte Bertram artig. „Und überdies kennen Sie ja die Hochachtung, die ich stets vor Ihnen gehegt habe. Also, Sie haben Martinsfelde verkauft –?“

„Genommen hat man es mir – schändlicherweise!“ unterbrach ihn das Fräulein in voller Gereiztheit.

„Sie thun, als habe man Ihnen das Gut geraubt oder gestohlen,“ warf er ein. „Sie haben doch einen schönen Preis dafür bekommen, fast das Doppelte des Bodenwertes, und könnten eigentlich damit zufrieden sein.“

„Zufrieden!“ fuhr Ulrike zornig auf. „Glauben Sie, ich hätte mir mein altes Erbgut, den Hof, auf dem schon meine Eltern saßen, für irgend einen Preis abkaufen lassen, wenn man mir nicht mit dem Zwangsverfahren gedroht hätte? Was soll ich denn mit all’ dem Gelde anfangen?“

„Vermachen Sie es meinen Jungen,“ riet der Hofrat. „Das ist eine sehr nützliche Verwendung.“

„So?“ Sie sah ihn argwöhnisch an. „Haben Sie mich vielleicht deswegen eingeladen?“

„Einzig und allein deswegen! Ich stelle Ihnen die ganze Familie Bertram hiermit als Erbschleicher vor!“

Dabei lachte der Herr Doktor ebenso übermütig wie einst, Selma stimmte mit ein und für die drei Knaben war jedes Lachen ein Stichwort, auf das sie immer einfielen. Fräulein Mallner ließ den kleinen Hans unsanft von ihrem Schoße gleiten und sprang auf.

„Das scheint ja hier recht lustig zuzugehen,“ rief sie entrüstet. „Wird hier immer so gelacht?“

„Meistenteils,“ bestätigte der Hofrat. „Sie sehen, ich bin noch immer so ‚empörend vergnügt‘ wie damals in Luksor, und meine Jungen schlagen in dieser Beziehung ganz nach dem Vater.“

Jetzt mischte sich Selma ein, sie schlug vor, den Gast nach dem Fremdenzimmer zu führen, und die drei Knaben beteiligten sich schleunigst an dem Aufbruch. Adolf stürzte sich auf die Reisetasche, Ernst auf den Regenschirm, um sie hinaufzutragen, und der kleine Hans, der nichts mehr zum Tragen fand, hing sich an das Kleid Ulrikens und schrie aus vollem Halse: „Ich will auch mit!“

„Laß die Tante in Ruhe, Hansel,“ sagte Bertram. „Du reißt ihr ja das Kleid vom Leibe, Du bleibst hier!“

Fräulein Mallner schien aber dies Verbot merkwürdigerweise übelzunehmen, denn sie fuhr nicht den kleinen zudringlichen Burschen, sondern dessen Vater an: „So lassen Sie doch das ewige Verbieten! Was liegt an dem alten Kleide – Hansel, Du kommst mit!“

Dabei packte sie ihn derb am Arme und schleifte ihn mit sich, was dem Hansel ein unendliches Vergnügen bereitete, er jauchzte förmlich darüber.

Das Zimmer für den neuen Gast lag im oberen Stock, und als die ganze Gesellschaft in den Hausflur trat, traf sie mit Sonneck und Ehrwald zusammen, die gerade die Treppe herabkamen. Da gab es nun natürlich ein gegenseitiges Erkennen und Begrüßen. Für Fräulein Ulrike Mallner war Sonneck immer noch der einzige „Mensch“ und folglich der einzige, den sie mit ihrem Wohlwollen beehrte. Sie schüttelte ihm freundschaftlich die Hand und wandte sich dann zu seinem Gefährten mit der liebenswürdigen Bemerkung: „Nun, und Sie sind ja inzwischen auch ein großes Tier geworden, von dem die halbe Welt spricht.“

„Ja, so eine Art Wüstentier!“ versetzte Reinhart, der mit der Ausdrucksweise der Dame noch zu vertraut war, um das übelzunehmen. „Verabscheuen Sie das Wüstenland noch immer so, Fräulein Mallner? Ich denke stets mit Vergnügen an unseren Ausflug nach Karnak, wo ich die Ehre hatte, Sie eine volle Stunde lang unterhalten zu dürfen, allerdings bei erhöhter Temperatur, während wir uns im heißen Sande gegenüber saßen. Und inzwischen benutzte dieser hinterlistige Hofrat die Gelegenheit zu einer Liebeserklärung und Verlobung.“

„Wovon Sie natürlich keine Ahnung hatten,“ warf Ulrike ein, in einem Tone, der verriet, daß sie jetzt über den Zusammenhang im klaren war.

„Nicht die geringste! Aber im Grunde hatte er recht. Sehen Sie sich nur diese drei prächtigen Jungen an!“

Damit hob Reinhart den kleinen Hansel empor, warf ihn in die Luft und fing ihn wieder auf.

„Lassen Sie doch diese gefährliche Spielerei!“ schalt das Fräulein. „Das Kind kann ja fallen.“

„Es fällt nicht, dafür sorge ich schon,“ lachte Ehrwald. „Und übrigens schadet den Bertramschen Jungen auch ein Luftsprung nicht, die sind von guter Rasse.“

Er machte Miene, das Spiel zu wiederholen, das stets ein Hauptvergnügen für den Hansel war, jetzt aber fuhr Ulrike dazwischen und riß ihm den Kleinen förmlich aus den Händen.

„Das haben Sie wohl bei Ihren Wilden gelernt?“ rief sie zornig. „Den kleinen schwarzen Kobolden schadet es freilich nicht, wenn sie auf den dicken Schädel fallen, ich will es aber nicht mit ansehen, wie der Hansel sich hier vor meinen Augen Arme und Beine bricht. Und die Eltern stehen ganz ruhig dabei – das geht ja barbarisch zu in diesem Hause!“ Damit nahm sie den Hansel auf den Arm und steuerte mit ihm eiligst nach der Treppe, als wollte sie ihn in Sicherheit bringen. Während Selma ihr oben im Zimmer die Aussicht zeigte, widmeten die Knaben ihre ganze Aufmerksamkeit dem Gepäck, das man bereits heraufgebracht hatte, und der kleine Hans machte sich zum Sprachrohr der allgemeinen Erwartung, indem er sich vor die Tante hinstellte und angelegentlich fragte: „Tante Ulrike, was hast Du uns eigentlich mitgebracht?“

Fräulein Mallner geriet vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben in Verlegenheit. Sie hatte natürlich nicht daran gedacht, den Kleinen Selmas irgend eine Freude zu machen, aber den drei frohen erwartungsvollen Kindergesichtern gegenüber fühlte sie doch so etwas wie Beschämung. Als jedoch Adolf und Ernst anfingen, die Herrlichkeiten aufzuzählen, die Onkel Ehrwald ihnen mitgebracht hatte, ärgerte sie sich von neuem.

„Dieser unerträgliche Ehrwald!“ grollte sie innerlich. „Ueberall Will er die erste Rolle spielen, sogar bei den Kindern, aber den Spaß werde ich ihm verderben. – Was möchtest Du denn eigentlich, Hansel?“ frug sie den Kleinsten.

„Ein Schaukelpferd!“ rief Hansel mit strahlenden Augen und maß den Koffer der Tante, ob er wohl groß genug sei, um das Gewünschte zu bergen.

[244] „Nun, wir wollen sehen!“ sagte Ulrike verheißungsvoll, und zu Selma gewendet, fügte sie leise hinzu. „Man kann solches Zeug doch hoffentlich hier in Eurem Nest kaufen? – Aber nun macht, daß Ihr hinauskommt, Ihr Jungen, ich will auspacken!“

Die drei Herren waren am Fuße der Treppe zurückgeblieben und Sonneck sagte, zu dem Arzte gewandt: „Wir wollen nach Burgheim, der Professor hat sich ja so ziemlich wieder erholt und ich möchte Reinhart nun endlich meiner Braut vorstellen. Aber ich fürchte, lieber Hofrat, Sie und Ihre Frau haben sich mit dieser Einladung eine arge Rute aufgebunden. Fräulein Mallner scheint noch unliebenswürdiger zu sein als früher.“

„Ja, Bertram, ich bewundere Ihren Mut, diesen Drachen ins Haus zu nehmen,“ fiel Ehrwald ein. „Glauben Sie denn wirklich, daß Sie mit ihm auskommen werden?“

„Das überlasse ich meinen Jungen,“ sagte der Hofrat mit ruhiger Zuversicht. „Die werden mit allem fertig, auch mit der Tante Ulrike, vor allem der Hansel. Geben Sie acht, der macht sie zahm!“




In Burgheim war der alte Bastian im Garten beschäftigt und blickte mit grämlicher Verwunderung auf, als draußen ein Wagen vorfuhr. Sonneck kam gewöhnlich zu Fuß und es war auch nicht der Wagen des Hofrats Bertram, der vor dem Eingang hielt, sondern eine fremde Equipage, mit zwei prachtvollen Pferden bespannt. Vom Bock sprang ein ganz merkwürdiges Menschenkind, in seltsam bunter Tracht, mit tiefbraunem Gesicht, trat an den Schlag, aus dem sich eine Dame beugte, und läutete dann an der Pforte.

Die Fremden begehrten offenbar Einlaß, was Bastian natürlich für eine Unverschämtheit erachtete. Er verwies zwar den mit lautem Gebell herbeistürzenden Wotan, mit Rücksicht auf den kranken Hausherrn, zur Ruhe, aber es fiel ihm nicht ein, das Gitterthor zu öffnen. Er streckte nur die Hand hindurch, um eine Karte in Empfang zu nehmen, die, wie jener braune Bursche ihm in gebrochenem Deutsch erklärte, für Fräulein von Bernried bestimmt war, und trollte damit ab, ließ jedoch weislich den knurrenden Wotan zur Bewachung des Eingangs zurück.

Elsa trat gerade aus dem Schlafzimmer ihres Großvaters, als der Alte erschien und ihr die Karte übergab, auf der sie zu ihrer Ueberraschung den Namen: „Zenaide Marwood“ las. Bastian erhielt zu seinem höchsten Erstaunen und Mißvergnügen die Weisung, das Thor schleunigst zu öffnen und die Dame eintreten zu lassen. Wenige Minuten später schritt Lady Marwood durch den Garten und wurde von dem jungen Mädchen auf den Stufen der Terrasse empfangen.

„Meine Elsa, mein geliebtes Kind, da bin ich!“ begrüßte sie Zenaide. „Da Du Dein Versprechen nicht hältst, mich aufzusuchen, so komme ich zu Dir. Ich mußte Dich endlich wiedersehen!“

Elsa verneigte sich, offenbar in Verlegenheit gesetzt durch die vertrauliche Anrede. Sonneck hatte ihr ja alles Nähere über Lady Marwood mitgeteilt, aber die schöne Frau, die sie jetzt mit so stürmischer Zärtlichkeit in die Arme schloß, war ihr doch eine völlig Fremde.

„Ich war bisher wohl entschuldigt, Mylady,“ entgegnete sie. „Die Erkrankung meines Großvaters –“

„Ich weiß, mein liebes Kind, ich weiß!“ fiel Zenaide ein. „Sonneck hat es mir geschrieben und eben deshalb bin ich hier. Aber es kostete Mühe, bis zu Dir zu dringen, der grimmige alte Pförtner schien mir den Eingang verwehren zu wollen und der prächtige Hund da richtete sich so drohend auf, als wollte er seine junge Herrin auf Tod und Leben verteidigen. Du bist ja bewacht und behütet wie irgend eine verzauberte Prinzessin, und Deine Heimat hat auch etwas von dem Märchenhause im tiefen Wald.“

Sie blickte lächelnd auf den verwilderten Garten und die dichten, düsteren Tannen. Elsa stand noch immer in scheuer Befangenheit vor ihr, sie wußte jetzt freilich von ihrem Aufenthalt im Osmarschen Hause, von der liebevollen Güte, mit der man die kleine Waise dort aufgenommen, und der leidenschaftlichen Neigung, die Zenaide damals für ihren Schützling gefaßt hatte. Sonneck hatte ihr das alles ausführlich erzählt, als er sie auf den Besuch bei Lady Marwood vorbereitete, aber in ihrer Erinnerung antwortete nichts darauf und so fand sie denn auch jetzt keine Antwort, sondern bat ihren Gast nur, einzutreten.

Ueber die Schwelle des alten Hauses war wohl noch nie eine so blendende Erscheinung gerauscht. Zenaide sah in der Frühjahrstoilette von violettem Sammet und dem Hute mit den weißen Straußenfedern wie die verkörperte Vornehmheit und Eleganz aus, aber sie blickte sich betroffen um in den düsteren Räumen mit ihrer einfach nüchternen Einrichtung.

Hier bist Du aufgewachsen?“ fragte sie mitleidig. „Armes Kind, hier atmet es sich ja wie hinter Gefängnismauern –! Jetzt begreife ich es freilich, daß mein süßer, kleiner Trotzkopf so ganz anders geworden ist, so ernst und still, so scheu und fremd. Aber das muß fallen zwischen uns. Erinnerst Du Dich meiner garnicht mehr?“

Elsa blickte stumm aber mit unverhohlener Bewunderung in das schöne Antlitz, das sich so vertraulich zu ihr neigte, doch die Erinnerung wollte auch jetzt nicht aufdämmern. Die glänzende Erscheinung, die blendend und blitzähnlich wie ein Meteor in die stille düstere Häuslichkeit brach, glich freilich nicht mehr der einstigen Zenaide von Osmar. Das junge Mädchen konnte sich offenbar nicht darin finden und entgegnete wie entschuldigend: „Ich war damals noch ein Kind, Mylady, und es ist so lange her –“

„Mylady?“ unterbrach sie diese unwillig. „Sonst nanntest Du mich Tante Zenaide. Die Tante werden wir freilich wohl fallen lassen müssen, aber das Du behalten wir. Sprich es aus, Elsa, ich will es auch von Deinen Lippen hören!“

Das klang halb zärtlich bittend, halb ungeduldig befehlend, allein das junge Mädchen verharrte in der scheuen Zurückhaltung. Dies stürmische Drängen nach Vertraulichkeit schien ihre Verschlossenheit nur noch zu steigern, sie gab eine ausweichende Antwort.

„Sie müssen Nachsicht mit mir haben, Mylady. Ich bin sehr einsam aufgewachsen und verstehe es noch nicht, Freundlichkeiten zu erwidern – lassen Sie mir Zeit dazu.“

„Nun, so lerne es, Du scheues Reh!“ sagte Zenaide lächelnd. „Ich sehe es wohl, daß ich Dir Zeit lassen muß, aber ich werde mir Deine Liebe schon zurückerobern. Den ersten Platz muß ich jetzt freilich einem anderen lassen, Du bist ja Sonnecks Braut. Hat der ernste Mann es wirklich verstanden, Dein Herz zu gewinnen, trotz seiner Jahre? Er scheint Dich grenzenlos zu lieben.“

Elsas Antlitz belebte sich und ihre Stimme gewann zum erstenmal einen warmen Klang, als sie entgegnete: „Lothar ist so unendlich gütig gegen mich. Er hat mir in den Krankheitstagen meines Großvaters so liebevoll, so aufopfernd zur Seite gestanden, daß ich es ihm nie genug danken kann.“

„Ja, er ist ein seltener Mensch,“ stimmte Lady Marwood bei. „Aber was weißt Du achtzehnjährige Einsiedlerin davon! Du kennst ja nur Deinen alten, kranken Großvater und Deinen Verlobten. Wenn Du freilich an seiner Hand in die Welt und in das Leben trittst, dann werden Dir die Menschen nicht wehe thun.“

„Wir werden gar nicht in der großen Welt leben,“ sagte das junge Mädchen ruhig. „Lothars Gesundheit legt ihm Schonung auf und er hat es mir ja gesagt, daß er nur ein stilles, häusliches Glück ersehnt.“

„Ein stilles, häusliches Glück?“ Es war ein halb schmerzlicher, halb spöttischer Ton, mit dem Zenaide die Worte wiederholte. „Nun, Euch beiden ist es vielleicht beschieden. Sonneck hat das Leben hinter sich und Du sollst es gar nicht erst kennenlernen an seiner Seite. O, er hat recht, wenn er Dich davor schützen will, ganz recht! Sehne Dich nie nach dieser Welt, Kind, die von ferne so blendend und berauschend erscheint und doch innerlich so schal und leer ist – schal bis zum Ekel!“

Elsa hörte betroffen zu, sie begriff nicht, wie die schöne, glänzende Frau zu dieser Bitterkeit kam. Sonneck hatte es in seinem Zartgefühl nicht über sich gewonnen, seiner jungen Braut das schwere, unheilbare Zerwürfnis zwischen Marwood und seiner Gemahlin zu entschleiern, er hatte nur angedeutet, daß die Ehe keine glückliche sei. Das junge Mädchen wagte daher nur die halblaute Bemerkung: „Und doch leben Sie in der großen Welt?“

„Ich?“ Zenaide lachte auf, aber es war ein herbes, höhnisches Lachen. „Nun ja, was soll ich denn sonst thun? Mich in die Einsamkeit vergraben? Das halte ich nicht aus, es ist fürchterlich, das Alleinsein, mit seinem Denken und Träumen! Da mache ich lieber die tolle Hetzjagd mit, von einem Vergnügen zum andern. Es ist doch wenigstens Bewegung und Zerstreuung und man kommt leichter hinweg über die endlosen Tage und Wochen. – Was siehst Du mich so fragend an mit Deinen großen Kinderaugen? Das sind Dinge, die Du nicht verstehst. Danke es Deinem künftigen Gatten, wenn er Dich rettet an seinen stillen Herd, da wirst Du nie erwachen aus dem Kindertraum, wirst es nie kennenlernen, das [246] wilde, verzweifelte Sehnen und Ringen nach Liebe und Glück. Ich habe danach gesucht all’ die Jahre lang und Habe es nie gefunden! Ich weiß es ja, daß der Trank vergiftet ist, daß er verzehrt; doch was fragt der Verschmachtende in der Wüste danach, er trinkt sich zu Tode an dem vergifteten Quell!“

Das klang in der That so wild und verzweifelt, daß es den Zuhörer erschrecken konnte; allein hier hatte es die entgegengesetzte Wirkung, Die leidenschaftliche Frau hatte sich wie immer von ihrer Stimmung fortreißen lassen und darüber ganz vergessen, zu wem sie sprach; aber Elsa, die sich der schmeichelnden Zärtlichkeit gegenüber so spröde gezeigt hatte, schien jetzt auf einmal Vertrauen zu fassen, sie sagte leise und bittend: „Zenaide!“

„Ah, endlich!“ rief diese beinahe jubelnd. „Muß man Dir erst Schmerz und Verzweiflung zeigen, wenn man den Weg zu Deinem Herzen finden will? O, habe mich lieb, meine süße Elsa, Du ahnst nicht, wie ich mich danach sehne, wie arm ich an Liebe bin, wie bettelarm!“ Und damit zog sie das junge Mädchen in ihre Arme und küßte es leidenschaftlich.

Da schlug Wotan draußen an, aber diesmal mit freudig winselndem Gebell. Elsa horchte auf.

„Das ist Lothar,“ sagte sie. „Er wollte heute seinen Freund mitbringen.“

„Ah so – Herrn Ehrwald!“ Lady Marwood richtete sich plötzlich auf und ließ das junge Mädchen aus ihren Armen. „Nun, da kann ich ja gleich eine alte Bekanntschaft erneuern. Geh’, mein Kind, empfange Deinen Verlobten!“ Und als Elsa zögerte, drängte sie ungeduldig: „Geh’, Du sollst mich nicht als einen fremden Besuch betrachten! Begrüße Deinen Bräutigam, ich bitte Dich!“

Es schien fast, als wollte sie einige Minuten allein sein, denn als das junge Mädchen nun wirklich ging, sprang sie auf und trat an das Fenster. Dort blieb sie unbeweglich stehen und blickte hinaus, den Kommenden entgegen.

[261] Elsa durchschritt, nachdem sie Lady Marwood verlassen, die Flurhalle und trat auf die Terrasse hinaus; auf einmal zuckte sie leicht zusammen. Die auffallend hohe Gestalt des Mannes, der da an der Seite ihres Verlobten den Gang heraufkam, das dunkel gefärbte Antlitz, die charakteristischen Züge, das alles hatte sie schon gesehen, freilich nur im hellen Mondlicht und auf wenige Minuten, aber sie erkannte den nächtlichen Eindringling, der so verwegen den Weg über die Mauer genommen hatte.

Sonneck gewahrte seine Braut und eilte ihr entgegen. Er küßte sie auf die Stirn – seit seiner Werbung hatte er sich noch keine andere Liebkosung erlaubt – und wandte sich dann, ihre Hand in der seinen haltend, zu seinem Freunde.

[262] „Da bringe ich Dir meinen Reinhart, Elsa!“ sagte er mit vollster Innigkeit. „Laß ihn keinen Fremden für Dich sein, wenn Du Dich auch seiner nicht mehr erinnerst.“

Reinhart verneigte sich mit jener ritterlichen Artigkeit, die er den Frauen gegenüber stets zeigte.

„Ich bin nicht so kühn, einen Platz in Ihrer Erinnerung zu beanspruchen, mein gnädiges Fräulein, die Zeit liegt allzuweit zurück. Aber als Lothars Freund darf ich wohl hoffen, von Ihnen nicht als völlig fremd angesehen zu werden. Wollen Sie mir erlauben, Ihnen meinen Glückwunsch auszusprechen?“

Seine blitzenden Augen streiften dabei mit einem halb fragenden Ausdruck das Antlitz des jungen Mädchens, als erwartete er irgend ein Zeichen des Wiedererkennens, irgend eine Bemerkung über jene nächtliche Begegnung. Aber Elsas Lippen waren fest zusammengepreßt, mit einem eigentümlich herben Ausdruck, und als sie sich endlich öffneten, geschah es nur zu jenen kühlen, förmlichen Worten, mit denen man den Glückwunsch eines Fremden erwidert.

„Ich danke Ihnen, Herr Ehrwald. Es ist wohl selbstverständlich, daß mir Lothars Freund willkommen ist.“

Sonneck sah etwas enttäuscht aus, er kannte ja die Schweigsamkeit und Zurückhaltung seiner jungen Braut andern gegenüber, hier aber hatte er doch eine wärmere Begrüßung erwartet. Elsa wußte es ja, was ihm Reinhart war, er hatte ihr oft genug davon gesprochen.

„Lady Marwood ist bei Dir?“ fragte er. „Wir sahen ihren Wagen und den Hassan draußen. Ich hatte es ihr geschrieben, weshalb wir unseren Besuch vorläufig noch aufschieben mußten. Komm, Reinhart, Du mußt sie doch auch begrüßen!“

Er bot Elsa den Arm und führte sie in das Haus. Reinhart stand noch unten im Garten und blickte auf die alten moosbewachsenen Stufen nieder, auf denen jetzt der helle Sonnenschein lag. Es sah fast aus, als scheute er sich, sie zu betreten, dann aber setzte er plötzlich wie in aufflammendem Trotz den Fuß auf die verwitterten Steine und stieg mit raschen, festen Schritten hinauf.

Lady Marwood begrüßte die Eintretenden oder vielmehr Sonneck mit der gewohnten Vertraulichkeit, denn die Begrüßung galt ihm allein. „Sie sehen, ich habe den Zugang gefunden zu Ihrem verborgenen Schatz, wenn Sie ihn auch hinter Gittern und Mauern verschließen,“ rief sie ihm entgegen. „Ja, lächeln Sie nur, ich kam in der schlimmen Absicht, Ihnen etwas davon zu rauben. Der künftige Herr und Gemahl wird freilich Alleinherrscher sein wollen in seinem Reiche, aber ich beanspruche auch einen Platz darin. Nicht wahr, meine süße Elsa?“

Sie zog das junge Mädchen schmeichelnd neben sich nieder und schien es dabei ganz zu übersehen, daß noch jemand eingetreten war, der hinter Sonneck stand. Dieser lächelte in der That, als er erwiderte: „Ich bin durchaus nicht so tyrannisch angelegt, wie Sie voraussetzen, ich beanspruche nur den ersten Platz bei meiner Elsa. Doch nun gestatten Sie mir, Zenaide, Ihnen einen alten Bekannten zuzuführen, der Sie jetzt auch auf deutschem Boden begrüßen möchte. Sie wußten ja, daß ich ihn erwartete.“

Er sprach im unbefangensten Tone, aber sein Blick ruhte dabei forschend auf den beiden, die sich jetzt zum erstenmal wiedersahen seit jener Trennung in Luksor. Sie waren freilich beide auf dies Wiedersehen vorbereitet.

„Ah, Herr Ehrwald!“ Zenaide streckte mit nachlässiger Grazie die Hand aus. „Das ist ja ein merkwürdiges Zusammentreffen hier in Kronsberg! Ich glaube, wir haben uns sehr lange nicht gesehen.“

Sie sah in der That aus, als entsänne sie sich dieser Zeit kaum mehr. Reinhart kam ihrem Gedächtnis zu Hilfe.

„Volle zehn Jahre, Mylady,“ erwiderte er, seine Lippen auf die dargereichte Hand drückend. „Ich hatte bei meiner öfteren Anwesenheit in Kairo leider nie das Glück, Sie dort wieder zu treffen.“

„Ich bin auch seit drei Jahren nicht dort gewesen. Und Sie haben sich also herbeigelassen, einmal wieder nach Europa zu kommen? Sie hielten es wohl für notwendig, sich leibhaftig inmitten der Civilisation zu zeigen, damit Sie für das Publikum nicht ganz und gar zur Sage werden, zum Märchenhelden aus ‚Tausend und Eine Nacht‘.“

„Sie scherzen, Mylady,“ sagte Ehrwald, den Spott mit ruhiger Artigkeit parierend.

„Nun, was die Zeitungen von Ihnen berichten, grenzt doch oft genug an das Märchenhafte, zumal der letzte Zug, den Sie allein gegen den rebellischen Wüstenstamm unternahmen. Herr Sonneck war ja wohl damals schon in Deutschland.“

„Ja, da war er so recht in seinem Elemente,“ nahm Lothar das Wort. „Keine Verhandlungen und Rücksichten wie sonst, wo man immer erst den gütlichen Weg versuchen muß! Da hieß es, nur vorwärtsgehen und niederwerfen, was sich nicht ergab. Das ist von jeher der Gegensatz zwischen uns beiden gewesen. Ich war immer nur der Forscher, der Entdecker, der die Kämpfe und Gefahren beim Vorwärtsbringen als eine harte Notwendigkeit ansah. Reinhart ist der Eroberer, der alles mit stürmender Hand nehmen möchte und dem das auch meistenteils glückt. Ob es nun gegen feindliche Stämme geht, gegen die Elemente oder die Schrecken der Wüsten und Urwälder, das gilt ihm gleich, wenn er nur kämpfen und siegen kann. Wie oft habe ich ihm den Zügel anlegen müssen und wie ungeduldig hat er das stets ertragen!“

„Aber doch nur im Anfange,“ warf Reinhart ein. „An Deiner Seite habe ich bald genug Ruhe und Besonnenheit gelernt.“

„Mußten Sie das wirklich erst lernen, Herr Ehrwald?“ fragte Zenaide. „Ich glaube, Sie waren immer sehr – besonnen, sobald Sie nur wollten.“

„Sobald ich mußte, Mylady. Es giebt Fälle, wo die Besonnenheit zur Pflicht wird.“

Die Augen der beiden begegneten sich und ruhten einige Sekunden lang ineinander. Sie dachten wohl beide an die Stunde, in der sie sich zum letztenmal gesehen hatten, in den Tempelhallen von Luksor, wo das geisterhafte Licht des Mondes hinflutete über die alte Opferstätte und die steinernen Riesenbilder niederblickten auf die beiden jungen Menschenkinder, die damals voneinander gingen. Der eine hinaus in die Wüste, in die glühende Tropenwelt, die andere wenige Monate später in die kalten Nebel des Nordens! Eine endlose Ferne hatte sich zwischen sie gelegt und jetzt saßen sie sich wieder gegenüber, so nahe und so fremd!

Sonneck mochte wohl die geheime Bedeutung der letzten Worte ahnen, denn er lenkte rasch ab und sprach von anderen Dingen. Das Gespräch wurde allgemein, doch Lady Marwood beherrschte es vollständig. Sie sprühte jetzt wieder von Feuer und Leben und riß die beiden Herren zu der gleichen Lebhaftigkeit fort. Sie schilderte das Leben in Rom, wo sie den Winter zugebracht und, wie es schien, in der Gesellschaft den Ton angegeben hatte; sie spottete über die Verbannung in Schnee und Eis, zu der man sie verurteilte, und über die biederen Kronsberger, die sich bei jeder Gelegenheit auf ihren Weltkurort beriefen und dabei so unendlich spießbürgerlich seien. Sie neckte Elsa wegen ihrer Schweigsamkeit und erklärte lachend, sie werde das „Trappistengesetz“ von Burgheim ein für allemal durchbrechen. Das ging wie in atemloser Hast von einem Gegenstande zum andern, streifte jeden und hielt keinen einzigen fest: ihr Geplauder blitzte nur so von übermütigem Spott und geistreichen Bemerkungen.

Endlich brach sie auf und reichte zum Abschiede Sonneck die Hand. „Nun aber lasse ich keine Entschuldigung mehr gelten. Professor Helmreich ist außer Gefahr, wie ich höre, jetzt verlange ich den versprochenen Besuch.“

„Wir kommen morgen,“ versicherte Lothar, sie lächelte und wandte sich zu Reinhart.

„Und Sie, Herr Ehrwald? Werde ich das Vergnügen haben, auch Sie bei mir zu sehen?“

Er verneigte sich mit vollendeter Artigkeit.

„Sie haben nur zu befehlen, Mylady. Ich werde es als eine Gunst betrachten, wenn Sie mir erlauben, Ihnen meine Aufwartung zu machen.“

„Also auf Wiedersehen, meine Herren!“ Lady Marwood neigte das Haupt gegen beide und ging dann, von Elsa geleitet. Draußen in der Flurhalle aber blieb sie stehen und sah mit einem seltsam dunklen Blick auf die geschlossene Thür des Wohnzimmers.

„Noch ganz der alte!“ sagte sie halblaut. „So ritterlich und so eisig, trotz all’ des Feuers, das da zu flammen scheint. Wie findest Du diesen Ehrwald eigentlich, Elsa? Gefällt er Dir?“

„Nein!“ Das Wort kam ohne jedes Zögern, aber mit so herber Entschiedenheit von den Lippen des jungen Mädchens, daß Zenaide sie betroffen ansah.

„Sieh, wie energisch! Da blitzte endlich wieder etwas auf von meiner kleinen Elsa. Aber nimm Dich in acht, Kind, das wird den ersten Streit mit Deinem Verlobten geben, er vergöttert seinen Freund.“

[263] Elsa blieb die Antwort schuldig, ihre Augen hingen an der schönen Frau, die ihr mit jeder Minute rätselhafter wurde. Sie hatte sich vorhin fast gar nicht an der Unterhaltung beteiligt, aber mit immer größerem Erstaunen zugehört. War das noch dieselbe Frau, die vor einer Viertelstunde neben ihr gesessen hatte, aus deren Innern es hervorbrach wie ein Aufschrei der tiefsten Qual und Verzweiflung und die nun so übermütig lachte und spottete? War denn diese Zenaide ein Doppelwesen? Sie lachte auch jetzt und brach mitten darin ab, um beide Hände gegen die Brust zu pressen, als fehlte ihr auf einmal der Atem. Dabei wurde ihr Gesicht totenbleich und sie lehnte sich wie halb ohnmächtig gegen die Wand.

„Um Gotteswillen – was ist das?“ rief Elsa erschrocken, indem sie beide Arme um die Wankende legte.

„Nichts, nichts!“ murmelte Zenaide. „Aengstige Dich nicht – es geht vorüber!“

Ihr Haupt sank auf die Schulter des jungen Mädchens und ein heißes, halbersticktes Schluchzen rang sich aus ihrer Brust hervor. Elsa fragte nicht und rief nicht um Hilfe, sie fühlte instinktmäßig, daß man da drinnen nichts ahnen durfte von diesem Zufall.

Er dauerte freilich nur wenige Minuten, dann richtete sich Zenaide auf und versuchte zu lächeln, aber ihre Lippen zuckten, als sie abgebrochen sagte: „Ein nervöser Anfall, nichts weiter – ich habe wieder zuviel gesprochen, mich zu sehr erregt – der Hofrat hat mich ja gewarnt davor. Sage den beiden Herren nichts davon, ich bitte Dich darum – und nun leb’ wohl, wir sehen uns ja morgen wieder!“

Das junge Mädchen fühlte noch einen heißen Kuß, dann riß sich Lady Marwood los und eilte, jede fernere Begleitung abwehrend, davon. Hassan stand bereits da und öffnete seiner Herrin den Wagenschlag; sie winkte noch einen Gruß zurück, dann brauste das Gefährt davon und die gläuzende Erscheinung war verschwunden, so schnell und blitzähnlich wie sie gekommen war.

Eine halbe Stunde später schritten die beiden Herren durch den Garten. Sie waren in lebhaftem Gespräche, aber zwischen Ehrwalds Brauen stand eine tiefe Falte und in seiner Stimme klang eine unverkennbare Gereiztheit, als er sagte: „Gieb Dir doch keine Mühe, Lothar, das abzuleugnen! Ich werde nun einmal nicht zu Gnaden angenommen bei Deiner Braut, ich dächte, das hättest Du so gut gesehen wie ich.“

Die Bemerkung mußte wohl Grund haben, denn Sonnecks Antwort verriet einige Verlegenheit.

„Elsa ist eben eine spröde, eigenartige Natur, die langsam gewonnen sein will. Ueberdies hat sie nie mit Menschen verkehrt, da ist es doch am Ende natürlich, daß sie sich scheu und zurückhaltend zeigt.“

„Ob es gerade Scheu ist, was mir Fräulein von Bernried zeigte? Ich habe es für Abneigung gehalten und das sollte mich eigentlich nicht überraschen. Sie duldete ja schon als Kind von mir nicht die geringste Liebkosung, während sie die Deinigen ruhig hinnahm, und als ich das erzwingen wollte, strafte mich die kleine Hand in sehr nachdrücklicher Weise. Ich habe auch jetzt nicht das Glück, ihr zu gefallen, aber Du wirst mir zugeben, daß die Schuld diesmal nicht auf meiner Seite liegt. Ich habe alle Register verbindlicher Artigkeit gezogen, allein umsonst.“

„Und das hast Du verwöhnter Herr natürlich sehr übelgenommen,“ scherzte Lothar. „Ich glaube freilich, es ist das erste Mal, daß Dir dergleichen passiert. Aber im Ernst, Reinhart, Du hast immer noch das trotzige, eigenwillige Kind von einst im Gedächtnis. Die Jahre und die Erziehung haben aus Elsa etwas ganz anderes gemacht, das solltest Du doch sehen.“

„Glaubst Du denn wirklich, daß solche Naturanlagen sich vernichten lassen?“ fragte Ehrwald mit leisem Spott. „Sie können unterdrückt, gebannt werden, vielleicht auf Jahre hinaus, und Deine Elsa steht auch unter solch einem Bann. Dies Starre, Leblose, das in ihrem ganzen Wesen liegt, ist geradezu unheimlich bei einem Mädchen von achtzehn Jahren. Hältst Du das etwa für ihre wirkliche Natur? Laß nur einmal den Sonnenschein hereinbrechen in ihr Leben, gieb ihr nur einmal Glück und Freiheit zu kosten – und sie wird erwachen!“

„Da hört man wieder den alten Phantasten!“ rief Sonneck lachend. „Du hast ja schon damals in Kairo mir und Zenaide vorgeschwärmt von Deinen Bergsagen mit ihren gebannten Zauberwesen, die auf Erlösung harren, und der erlösende Held warst natürlich immer Du in Deinen Jugendträumen. Damals hättest Du den Traum vielleicht verwirklichen können, aber Du wolltest ja den Schatz nicht heben, der Dir so verheißungsvoll entgegenblinkte, und da ist er versunken. Zenaide wäre als Dein Weib eine andere geworden, als sie jetzt ist. Bei meiner Elsa müßte ich nun freilich das erlösende Wort sprechen, aber sie ist Gott sei Dank kein solches Rätselwesen, da ist alles klar und hell.“

Sie standen jetzt am Gitterthor, um Abschied zu nehmen, denn Sonneck wollte bis zum Abend hier bleiben. Vor dem Ausgange lag Wotan, der heute übler Laune war, weil er fortwährend zurückgehalten und zur Ruhe verwiesen wurde. Er wußte, daß er sich still verhalten mußte, wenn die Hausbewohner oder Sonneck mit jemand verkehrten, bei dem Nahen Ehrwalds jedoch erhob er sich, ließ ein zorniges Knurren hören und machte Miene, auf ihn loszugehen.

„Was hast Du denn, Wotan?“ fragte Lothar unwillig. „An den Herrn hier mußt Du Dich gewöhnen, es ist ein Freund.“

Er legte wie zur Bestätigung die Hand auf Reinharts Schulter. Das genügte sonst stets, um Wotan zur ruhigen Duldung eines Fremden zu veranlassen, aber diesmal half es nichts. Der Hund erkannte zweifellos den nächtlichen Eindringling wieder, dessen Hand ihn mit so eisernem Griff an der Kehle gepackt und fast erwürgt hatte. Er murrte dumpf und drohend und ließ sich offenbar nur durch Sonnecks Nähe von einem Angriff abhalten. Ehrwald lachte, aber seine Stimme klang fast schneidend, als er sagte: „Laß doch dem Tier sein Vergnügen! Es folgt ja nur dem Beispiel seiner Herrin, sie zeigen nur beide, wie wenig willkommen ich in Burgheim bin. Leb’ wohl, Lothar!“

Er reichte ihm die Hand, und sich rasch umwendend, schlug er den Weg ein, der in das Thal hinabführte.


Im Hochgebirge hatte der Frühling nun endlich seinen Einzug gehalten. Er war spät gekommen, nun kam er aber auch in seiner ganzen Herrlichkeit. Die Alpenmatten waren wie übersät mit goldenen Himmelsschlüsseln und tiefblauem Enzian, die Wälder standen in voller Lenzespracht, auf allen Höhen, an allen Felswänden grünte und blühte es, und von den Gletschern und Schneefeldern stürzten die Bäche, befreit von den eisigen Fesseln des Winters, mit brausendem Ungestüm zu Thal.

Einige Stunden oberhalb Burgheim lag auf weiter grüner Matte ein einsamer Hof, ein altes, wetterfestes Haus, mit steinbeschwertem Dache, dessen Besitzer eine kleine Bergwirtschaft eingerichtet hatten. Der Ort suchte allerdings an Schönheit seinesgleichen in der ganzen Umgegend. Tief unten lag das Kronsberger Thal, mit der Stadt und der alten Feste, ringsum standen die Berge mit ihren schroffen Wänden und düsteren Schluchten, und darüber hinaus hoben sich die Hochgipfel mit ihren schneegekrönten Häuptern.

Es war ein Blick in die Alpenwelt, der es an Großartigkeit mit den berühmtesten Aussichtspunkten aufnehmen konnte. Dennoch wurde der Ort nicht allzuhäufig besucht. Der Aufstieg war steil und beschwerlich und die Bewirtung sehr einfach. Das war nichts für die verwöhnte Badegesellschaft von Kronsberg, die ihre Ausflüge meist nur zu Wagen oder zu Pferde unternahm und dabei keine der gewohnten Bequemlichkeiten entbehren wollte.

Sonneck hatte im vorigen Sommer auf einer seiner Streifereien den Ort entdeckt und ihn jetzt wieder in Begleitung seiner Braut und seines Freundes aufgesucht. Sie waren am frühen Morgen aufgebrochen und wollten noch vor Abend zurück sein, Helmreichs wegen, der die Teilnahme seiner Enkelin an dem Ausfluge überhaupt nur sehr ungern zugelassen hatte. Am Nachmittage brach jedoch ein heftiges Gewitter aus, das mehrere Stunden anhielt und den an sich schon beschwerlichen Abstieg geradezu gefährlich machte. Es war nicht ratsam, den Weg in der Dunkelheit und in Begleitung einer Dame zurückzulegen. So entschloß man sich denn, oben zu bleiben und mit der sehr bescheidenen Unterkunft bis zum nächsten Morgen vorlieb zu nehmen. Professor Helmreich wußte seine Enkelin ja im Schutze der beiden Herren und erwartete sie gewiß heute abend nicht mehr.

Es war noch in der ersten Morgenfrühe und im Hause regte sich noch nichts, als Elsa aus der Thür trat. Ringsum lagerte dichter Nebel und über die Matte jagten feuchte Dunstwolken hin, das junge Mädchen kannte jedoch die Wetterzeichen hinreichend, um zu wissen, daß gerade dieser dicht verhüllte Nebelmorgen einen Sonnentag verhieß. Sie wandte sich der mächtigen alten [266] Tanne zu, die einige hundert Schritte weit am Abhang stand, mit sturmzerzaustem Wipfel, aber mit frisch grünenden Aesten.

Von dort hatte man den vollen Ausblick über das Thal und die ganze Umgebung.

Elsa hatte sich auf der kunstlos gezimmerten Bank niedergelassen. Sie war in einen dunklen Regenmantel gehüllt, hatte aber auf den kurzen Weg den Hut nicht mitgenommen. Den Kopf an den Stamm des Baumes gelehnt, blickte sie hinaus in das Nebelwogen, das die ganze Landschaft noch in dichte Schleier hüllte.

Seit vier Wochen war sie Sonnecks Verlobte, allein die junge Braut blickte noch immer so kühl und ernst aus den blauen Augen wie sonst und der herbe Zug um die Lippen war nicht gewichen. Es hatte sich ja freilich auch wenig genug geändert in ihrem Leben, nur daß der Großvater sie nicht mehr so rücksichtslos behandelte und mit seinen Launen quälte, weil ihr Lothar schützend zur Seite stand. Aber dieser war doch immer nur auf Stunden in Burgheim und mußte den äußerst reizbaren Kranken schonen, der keinen Widerspruch vertrug. Sonneck hatte längst eingesehen, daß jetzt, wo ihm noch nicht die Autorität des Gatten zu Gebote stand, jedes tiefere Eingreifen nur eine Reihe von peinlichen und nutzlosen Kämpfen mit dem Professor heraufbeschwören würde, aber er hatte es erreicht, daß die Vermählung schon für Anfang Juli festgesetzt war.

Vermählung! Hochzeit! Der Gedanke, der jede Braut mit heimlicher Glückseligkeit durchschauert, hatte für Elsa kaum eine andere Bedeutung als der Eintritt in einen neuen Kreis von Pflichten. Sie blickte noch immer mit scheuer Bewunderung zu ihrem künftigen Gatten auf, konnte es noch immer nicht fassen, daß der Mann, der durch seine kühnen Forschungsreisen sich Weltruhm errungen, den selbst der ewig grollende, mit der ganzen Welt zerfallene Großvater „Einen von den Besten!“ nannte, gerade sie gewählt hatte, die in ihrer Jugend, in ihrer vollsten Unbekanntschaft mit dem Leben ihm so gar nicht ebenbürtig war. Er freilich sah mit froher Zuversicht in die Zukunft. Was er suchte, war ein stilles häusliches Glück, fernab von der Welt, in deren Kampf und Treiben er so lange gestanden! Jetzt wollte er ausruhen davon an der Seite seines jungen Weibes, im Frieden seines Hauses, und da konnte er keine bessere Gefährtin wählen als das ernste, schweigsame Mädchen, das, in vollster Einsamkeit aufgewachsen, die Welt und ein Leben voll Abwechslung gar nicht vermissen würde.

Noch wenige Wochen, dann war sie sein Weib – und dann ging auch Reinhart Ehrwald, der nur noch der Vermählung seines Freundes beiwohnen und dann nach Berlin reisen wollte! Elsa atmete unwillkürlich auf bei dem Gedanken – die Nähe dieses Mannes lag nun einmal auf ihr wie ein Schatten. Er hatte zwar nach jenem ersten Besuche, der so kühl verlief, keinen Versuch gemacht, ihr irgendwie näher zu treten. Lothars Bitten, selbst seine leisen Vorwürfe hatten es nicht erreicht, daß seine Braut die seltsame, fast beleidigende Zurückhaltung aufgab, die der stolze, empfindliche Ehrwald nur zu gut fühlte.

Es war das erste Mal, daß Elsa einem Wunsche ihres Verlobten widerstrebte, aber sie wehrte sich dabei halb unbewußt gegen die quälende Empfindung, die immer wieder aufwachte unter jenem Blick und jener Stimme, gegen die undeutlichen, verworrenen Bilder und Gestalten, welche sein Erscheinen in ihr wachgerufen, die nach Klarheit zu ringen schienen und doch nicht klar werden wollten. Sie waren nicht zur Ruhe gekommen seitdem und lasteten wie ein schwerer Traum auf ihr, den man fühlt und aus dem man doch nicht erwachen kann.

Der Nebel geriet jetzt in eine unruhig wallende Bewegung. Das öde gestaltlose Grau wurde lichter, es ballte sich zusammen in einzelnen Wolkenzügen und wie durch einen Schleier blickte einer der hohen eisumstarrten Gipfel hindurch, nur auf eine Minute, dann flossen Nebel und Wolken wieder darüber hin. Durch die tiefe Morgenstille klang das Tosen des Wildbachs, der, vom Gewitterregen geschwellt, dort drüben in der Schlucht niederstürzte. Man sah ihn nicht, denn die Schlucht war noch dicht verhüllt, aber sein Brausen klang fern und geheimnisvoll herüber.

„Guten Morgen, mein gnädiges Fräulein!“ sagte eine Stimme in unmittelbarer Nähe des jungen Mädchens. „Sie sind schon wach und im Freien? Ich glaubte, der Erste heute morgen zu sein.“

Elsa war leicht zusammengefahren beim Klang dieser Stimme; sie wandte sich um und entgegnete dann ruhig: „Ich wollte den Sonnenaufgang erwarten. Der Nebel fällt gewöhnlich um diese Jahreszeit, sobald die ersten Strahlen durchbrechen. – Schläft Lothar noch?“

„Er erwachte, als ich aufbrach, ich habe ihn aber zu einer längeren Morgenruhe bestimmt. Er soll sich ja noch schonen und der gestrige Aufstieg war schon genug für die Kräfte eines eben erst Genesenen. Der feuchte Nebelmorgen könnte ihm schädlich werden.“

„Das fürchtete ich auch, deshalb verriet ich nichts von meinem Wunsche, sondern ging allein.“

„Ich kam in der gleichen Absicht, der Nebel scheint in der That zu weichen – warten wir es ab!“ Er richtete die Augen forschend in die Höhe.

Elsa schien nicht gerade angenehm berührt von diesem Zusammentreffen. Sie erwiderte nichts, aber in ihrem Gesichte erschien wieder jener Ausdruck verhaltener Ablehnung, und das gerade reizte ihn, zu bleiben. Er machte keinen Versuch, die Unterhaltung fortzusetzen, er ging aber auch nicht, sondern lehnte sich mit verschränkten Armen an den Stamm des Baumes. Dabei senkte er den Blick mit gespanntem Ausdruck auf sie.

Wie konnte Lothar dies Mädchen nur für scheu und willenlos halten! Sah er denn nicht jenen Zug energischer Willenskraft, der sich einst schon in dem Kinde verriet und der jetzt wohl verschleiert, aber nicht verschwunden war? Und war es etwa Scheu gewesen, mit der das junge Mädchen einem Unbekannten standhielt, der um Mitternacht in ihren Garten eindrang, und ihm dann so verächtlich den Weg über die Mauer wies? Dem Verlobten, dem künftigen Gatten war es nicht gelungen, den Bann zu brechen, der wie ein eisiger Hauch über dem ganzen Wesen seiner jungen Braut lag. Sollte es deshalb unmöglich sein? Es kam auf die Probe an!

Elsa hatte sich wieder in ihre gewohnte Schweigsamkeit gehüllt, aber sie mußte wohl den Blick fühlen, der so unverwandt auf ihr ruhte, denn sie wandte jetzt den Kopf und sagte: „Ein solcher Nebelmorgen ist Ihnen wohl etwas sehr Ungewohntes?“

„Ungewohnt – ja, aber nicht unwillkommen,“ entgegnete Reinhart, der in vollen Zügen die feuchte Nebelluft einatmete. „Wie oft habe ich mich unter der glühenden afrikanischen Sonne gesehnt nach Sturm und Wolken, nach Eis und Schnee, gesehnt wie ein Verschmachtender nach dem frischen Trunke. Es gab Stunden, wo ich all die Palmenwälder mit ihrer ganzen tropischen Herrlichkeit hingegeben hätte für eine einzige schneebedeckte Tanne in ihrer herben Pracht!“

Das junge Mädchen streifte ihn mit einem halb verwunderten Blicke bei diesem Ausbruch leidenschaftlicher Empfindung.

„Lothar behauptet doch, Sie hätten das Heimweh nie gekannt.“

„Ja, das glaubt Lothar. Ich habe es auch geglaubt und habe es doch mit mir herumgetragen jahrelang. Das liegt im Blut wie ein schleichendes Fieber, man weiß es nur nicht oder will es nicht wissen, und dann plötzlich bricht es aus, mit wilder verzweifelter Sehnsucht, und quält und martert Tag und Nacht und reißt uns gewaltsam zurück zu den alten Stätten. Heimweh! Man sagt, es giebt Menschen, die daran sterben – ich begreife das. Haben Sie es nie gekannt?“

„Ich? Ich bin ja in Deutschland geboren.“

„Ich weiß, aber Sie haben es doch schon in den ersten Lebensjahren verlassen und Ihre ganze Kindheit in Egypten verlebt. Als Sie so ganz plötzlich in den kalten Norden versetzt wurden, haben Sie da nie Heimweh empfunden nach dem Sonnenlande?“

„Möglich! Ich weiß nichts mehr davon.“

Das klang wieder sehr kühl und abweisend, und doch war das Gesicht des jungen Mädchens nachdenklich und träumerisch geworden, während sie in die feuchten Dunstwolken schaute, die noch immer auf der Matte wallten und jetzt zu zerrinnen und zu zerfließen begannen. Sie hingen sich als schwere Tropfen an die Zweige der Tannen und sanken als leichter weißer Reif zu Boden. Auch die dichte Nebelwand, die dort über dem Thale stand, begann zu weichen. Langsam sank sie tiefer und tiefer, langsam tauchten die Bergeshäupter daraus empor, aber sie standen nicht mehr kalt und weiß im grauen Morgenlicht, es wob sich wie ein rosiger Hauch von Gipfel zu Gipfel – das aufdämmernde Morgenrot.

„Sie hatten damals noch keine Vorstellung von der Alpenwelt,“ hob Reinhart wieder an. „Ich erzählte Ihnen einmal von den hohen Bergen, die bis in den Himmel ragen, und auf deren Häuptern Eis und Schnee liegen, von den dunklen Wäldern, den stürzenden Wassern und den Stürmen, die über Berg und [267] Thal brausen. Das war in Luksor, unter den Palmen des Nils, das war in jener Stunde, wo uns die Fata Morgana erschien.“

„Fata Morgana?“ wiederholte das junge Mädchen leise und hob, wie einem geheimen Zwange folgend, die Augen zu dem Sprechenden empor. Das waren noch die großen blauen Kinderaugen und es dämmerte etwas darin wie erwachende Erinnerung. Ehrwald trat einen Schritt näher, er stand jetzt dicht an ihrer Seite und seine Stimme verschleierte sich, sie hatte einen seltsam weichen und doch leidenschaftlichen Klang, als er fortfuhr:

„Wir waren damals allein wie jetzt, über uns ragten die Palmen und um uns her lag das Schweigen der glühenden Mittagsstunde. Tief unten zogen die Fluten des Nils dahin, drüben am anderen Ufer standen die kahlen gelben Höhenzüge und in der Ferne schimmerte das Sandmeer der Wüste, und das alles flimmerte und brannte in den heißen sengenden Strahlen. Dort über dem Wüstensaum lagerte es wie eine Wolke von glühendem Dunst und da tauchte es empor, da entschleierte sich uns das Zauberreich der alten Wüstensage! Sie waren damals ein Kind, aber solch eine Stunde erlebt man nur einmal und die prägt sich auch der Erinnerung eines Kindes ein – Sie müssen sich besinnen!“

Das klang halb gebieterisch und halb in leidenschaftlicher Bitte. Elsa hörte zu, in atemlosem Lauschen, ihre Augen hingen wie gebannt an jenem heißen dunklen Blick, der den ihrigen festzuhalten schien, und als habe er wirklich die Macht, das längst Versunkene und Vergessene aus der Tiefe heraufzuzwingen, so dämmerte es langsam wieder auf, was das Kind einst geschaut hatte: die Glutwolke über der fernen Wüste, in der es leuchtete und zuckte wie von verborgenen Strahlen, in der die seltsamen Bilder auftauchten und zerflossen. Und es hob sich der Schleier von einer fremden, geheimnisvollen Welt, die hinter jenem glühenden Nebel lag.

Und das alles einte sich so seltsam mit der Wirklichkeit. Auch hier brandete ein weißes Nebelmeer in der Tiefe und seine Wogen schienen sich zu brechen an den Hochgipfeln, die jetzt aufflammten im Lichte der steigenden Sonne. Sie schwebte ohne Strahlen, wie ein roter glühender Ball in dem Gewölk, das den Osten umlagerte, und glutrot stieg auch der Morgen in das Thal nieder. Aus der wogenden, gärenden Nebelflut tauchte Bild an Bild empor, mächtige Felsenhäupter, mit schroffen Wänden und wilden Klüften, dunkle Wäldermassen und grüne Matten, und dazwischen blinkte der weiße Gischt der Wildbäche auf, die sich von der Höhe in das Thal niederstürzten.

Und an das Ohr des jungen Mädchens klang dieselbe Stimme wie damals unter den Palmen, im fernen Sonnenlande:

„Ich habe die Fata Morgana wohl seitdem öfter gesehen, wie die meisten sie erblicken, undeutlich, schleierhaft, ein bloßes Spiel der Wolken. So klar und leuchtend hat sie sich mir nur einmal entschleiert! Sie stand wie ein strahlendes, glückverheißendes Zeichen am Beginn meiner Laufbahn und wie eine Verheißung habe ich es mit mir hinausgenommen in das Leben. Sehen Sie, so dämmerte es auch damals hervor aus Glut und Nebel – will uns das Zeichen zum zweitenmal erscheinen?“

Tief unten im Thale wallten noch die weißen Schleier, schwebten hierhin und dorthin und zerflossen endlich in Duft und Licht. Jetzt tauchte das Schloß auf mit seinen Türmen und Zinnen, jetzt die alte Bergstadt mit ihren Mauern und Giebeln, aber das alles stand so seltsam fremdartig und unirdisch in dem glühenden Morgenlicht, als sei es losgelöst von seinem Boden, als sei es nur ein leuchtender Schemen, der zerrinnen mußte wie die roten Morgenwolken dort oben. Das war nicht mehr Kronsberg, das war eine Märchenstadt, von goldigem Duft umwoben, und zu ihren Füßen brandete es wie Meeresfluten, zu ihren Häupten ragten die Berge, deren Gipfel im schneeigen Glanz verschwammen. Da lag es fern in der Tiefe, nur dem Auge erreichbar, aber geisterhaft schön!

Das Gespräch auf der Matte war verstummt, wortlos standen die beiden nebeneinander. Elsa hatte sich erhoben; weit vorgebeugt, mit verhaltenem Atem blickte sie auf das Bild, das sich dort zu ihren Füßen entschleierte; aber in ihren Augen leuchtete es, als sei mit der Erinnerung auch ein Strahl des Sonnenlandes dort aufgegangen, und das Lächeln, das um die sonst so herb geschlossenen Lippen lag, hatte etwas von dem alten frohen Kinderlachen.

Da kam es endlich, das Erwachen! Reinhart sah es mit einer beinahe wilden Freude, jetzt wollte er den Bann brechen, um jeden Preis, er wollte das schöne trotzige Kind wiedersehen, das „böse, süße, kleine Ding“, das er damals in den Armen gehalten und geküßt hatte, als er das Osmarsche Haus verließ, um es nicht wieder zu betreten.

„Fata Morgana!“ sagte er, seine Stimme hatte noch immer jenen seltsam berückenden Klang, aber sie steigerte sich bis zur vollsten Leidenschaftlichkeit. „Sie kennen sie ja wohl auch, die alte Wüstensage von dem Wunderland, dem Lande voll Glanz und Licht, wo das Glück wohnt in unerreichbarer Ferne. Noch hat keines Sterblichen Fuß es je betreten und alle, die ihm nachjagten, sind verdorben, verschmachtet im glühenden Sande, im Todesschweigen jener furchtbaren Oede. Mich hat das nie geschreckt. Auch die lockende, dämonische Djinn der Wüste neigt sich zuletzt dem einen, der sie erreicht. Ich würde mich nicht bedenken, Leben und Heil einzusetzen – könnte ich es nur einmal in meine Arme schließen, das große, das grenzenlose Glück, von dem ich so oft geträumt – und dann vergehen!“

Das war wieder der alte stürmische Reinhart, der da glaubte, er könnte mit seinem trotzigen Wagemut die ganze Welt erobern, für den es keine Schranken, keine Fesseln gab. So hatte er damals unter den Palmen gestanden, als er der Fata Morgana sein jubelndes „Ich komme!“ zurief, und so stand er jetzt vor dem jungen Mädchen, das stumm, aber mit glühenden Wangen diesen phantastischen, diesen gefährlichen Träumereien lauschte.

Ein großes, ein grenzenloses Glück! Der Gedanke war noch nie in Elsas Leben getreten. In dem Dasein, das sie bisher geführt, war kein Raum dafür gewesen, und was ihr mit Lothars Werbung, mit seiner Liebe nahte, das war doch etwas anderes, etwas ganz anderes. Sie hatte nie dies leidenschaftliche Sehnen und Ringen gekannt, und doch verstand sie es in diesem Augenblick wie durch Offenbarung. Es war, als ob ein Echo antwortete in ihrer Brust.

„Sie wollten ihm ja damals nachjagen und es erreichen, das Wunderland,“ sagte sie leise. „O, ich weiß es noch!“

„Wirklich? Erinnern Sie sich daran?“ rief Reinhart aufflammend. „Ja, ich erzählte dem Kinde ein Märchen. Ich wollte die kleine Elsa vor mich nehmen auf das Roß und mit ihr hineinjagen in die Wüste, Tag und Nacht, ohne Rast und Ruhe, bis wir es erreichten, das Land der Fata Morgana. Das Kind hörte mir gläubig zu und jubelte auf dabei, und da hob ich es empor in meine Arme, hoch empor und küßte es!“

Es klang wie stürmisch ausbrechender Jubel in den Worten. War es dieser Ausbruch oder der heiße versengende Strahl, der aus den dunklen Augen blitzte – Elsa wich plötzlich zurück, als flüchtete sie vor einer Gefahr. Das sonnige Leuchten in ihren Zügen erlosch, und sich hoch aufrichtend, sagte sie kalt und ernst: „Das Kind ist jetzt die Braut Ihres Freundes – das haben Sie wohl vergessen, Herr Ehrwald.“

Er zuckte zusammen. Jawohl, er hatte alles vergessen in den letzten Minuten, alles, sogar den Freund und dessen eben erst geknüpftes Band!

„Ich bitte um Verzeihung, mein gnädiges Fräulein,“ sagte er, sich rasch fassend. „Ich glaube nicht, daß es Lothar beleidigen kann, wenn ich seiner Braut von Erinnerungen spreche, die in ihrer frühesten Kinderzeit liegen.“

Elsa schwieg, es waren ja nicht die Worte, es war der Blick, der Ton gewesen, die sie mit so rätselhafter Angst durchschauerten. Noch verstand sie ihn nicht, es war nur die dunkle Ahnung von etwas Schwerem, Unheilvollem, das da drohte, sie floh instinktmäßig davor.

„Es ist wohl Zeit, daß ich gehe,“ sagte sie gepreßt. „Guten Morgen, Herr Ehrwald!“

Sie neigte leicht das Haupt und wandte sich dem Hause zu. Reinhart stand unbeweglich und sah ihr nach; sein dunkles Antlitz war fahl geworden bei der Erkenntnis, die wie ein Blitz mit blendender, betäubender Gewalt in seinem Innern aufgezuckt war. Sie hatte ihm den Abgrund gezeigt, an dem er stand – mit der Braut seines Freundes!

Das Morgenrot verblaßte und mit ihm schwand auch der goldige Duft, der ganze traumhafte Märchenschimmer. Dort in der Tiefe verschwebten die letzten Nebel, und mit der Sonne, die sich jetzt durch die Wolken kämpfte, erwachte überall das Leben. Hoch über den Bergesgipfeln kreiste ein Adlerpaar und im Thal schossen die Schwalben hin und her. Der Morgenwind, der über die Matte hinstrich, schüttelte die Zweige der Tanne und ein Regen [268] von Tropfen, die noch an den Aesten hingen, ergoß sich über den Mann, der da so einsam und düster am Stamm lehnte. Er fuhr auf und strich mit der Hand über die Stirn.

„Ja, es war Zeit!“ sagte er halblaut. „Und auch für mich ist es hohe Zeit – zum Erwachen.“

Er wandte sich zum Gehen, dabei glitt sein Blick noch einmal über die Landschaft und ein unendlich herbes Lächeln zuckte um seine Lippen.

„Da liegt’s! Und das ist kein Luftgebilde, das ist volle Wirklichkeit, aber sie behält doch recht, die alte Wüstensage. Unnahbar, unerreichbar! Und wer sie umfassen will, dem zerfließt sie in den Armen – die Fata Morgana!“

[277] Es war im Anfange des Juli und in Kronsberg stand die Saison in voller Blüte. Hofrat Bertram hatte recht, wenn er behauptete, diesmal komme alle Welt nach Kronsberg. Der Badeort war überfüllt, keine einzige Wohnung mehr verfügbar und die große Kurpromenade bot ein ungemein glänzendes und belebtes Bild.

Der Hof war schon seit einigen Wochen hier und ihm folgte ein ganzer Schweif von vornehmen und reichen Familien, die Kurliste wies die glänzendsten und bekanntesten Namen auf, kurz Kronsberg machte seinem Range als aufblühender Weltkurort alle Ehre und Lady Marwood hatte keine Veranlassung mehr, über ihre „Verbannung“ zu klagen.

Sie hatte sich denn auch sofort zum Mittelpunkt der tonangebenden Kreise gemacht, in denen die schöne geistvolle Frau eine der ersten Rollen spielte. Man sprach sehr viel von der Gemahlin des englischen Lords, aber nicht immer Günstiges. Die offenkundige Trennung von ihrem Gatten, die rücksichtslose Art, mit der sie sich über jede Form hinwegsetzte, die ihr unbequem war, der Schwarm von Verehrern, der sie stets umgab, das alles gab Anlaß genug zu Klatschereien. Man flüsterte viel über sie, deutete allerlei an und beugte sich trotzdem vor ihr. Eine Frau von ihrem Range und ihrem Reichtum durfte sich eben erlauben, was man einer anderen nicht verziehen hätte, und sie erlaubte sich nahezu alles.

Lady Marwood hatte die blendendsten Toiletten, die schönsten Equipagen, in ihrer Villa fand sich immer eine Schar von Gästen [278] zusammen und der Luxus, den sie entfaltete, war das Gespräch von ganz Kronsberg. Wo sie sich nur mit ihrer orientalischen Dienerschaft zeigte, war sie der Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, und sie zeigte sich überall. Sie stürmte förmlich von einem Vergnügen, einer Zerstreuung in die andere, ohne sich an den Einspruch und die Warnungen ihres Arztes zu kehren.

Bertram lernte jetzt den ganzen Eigenwillen seiner vornehmen Patientin kennen, die sich auch seiner Autorität nicht beugte. Was die erzwungene Ruhe und Einsamkeit in den ersten Wochen ihres Aufenthaltes ihr gewonnen hatte, das ging freilich verloren in dem Strudel dieses Lebens, aber danach fragte Zenaide nicht.

Zerstreuung und Abwechslung gab es jetzt allerdings genug in Kronsberg; der Kurvorstand war vollständig auf der Höhe seiner Aufgabe und fühlte die Verpflichtung, den verwöhnten Gästen der Hauptsaison möglichst viel Unterhaltung zu bieten, und das geschah denn auch. Man führte so ziemlich dasselbe Leben wie im Winter in den Hauptstädten, nur daß es sich hier auf dem mächtigen Hintergrunde der Alpen abspielte.

Augenblicklich stand ein Ereignis im Vordergrunde des allgemeinen Interesses, die Vermählung Sonnecks, die in diesen Tagen stattfinden sollte. Der berühmte Afrikaforscher war gleichfalls eine vielgenannte und vielgesuchte Persönlichkeit, aber er zog sich ganz im Gegensatz zu Lady Marwood so viel als möglich zurück, seine Verlobung und seine noch nicht ganz befestigte Gesundheit gaben ihm den besten Vorwand dazu. Er hatte allerdings vielfache Beziehungen zum Hofe. Der Fürst verkehrte sehr gern mit ihm und hatte ihn erst kürzlich bei diesem Zusammentreffen in Kronsberg durch die Verleihung des Adels ausgezeichnet.

Von Fräulein von Bernried wußte man nicht viel mehr, als daß sie noch sehr jung sei und bei ihrem Großvater, dem alten menschenscheuen Sonderling, da oben in Burgheim lebe; sie hatte sich ja noch nie öffentlich mit ihrem Bräutigam gezeigt. Eigentlich wunderte man sich darüber, daß die Wahl Sonnecks gerade auf dies junge und, wie es hieß, sehr einfach und einsam erzogene Mädchen gefallen war; ihm hätten ganz andere Partien offen gestanden, obwohl er die Mittagshöhe des Lebens längst überschritten hatte. Er war eben Lothar Sonneck, und mehr als eine Dame der Gesellschaft wäre gern bereit gewesen, den berühmten Namen zu tragen. –

Es war ein schöner, sonnenheller Julitag, der für die Vermählung festgesetzt war. Der standesamtliche Akt sollte am Vormittage stattfinden und dann um ein Uhr die kirchliche Trauung folgen, nach katholischem Ritus, da Elsa wie ihre Eltern dieser Kirche angehörten. Sonneck befand sich noch in seiner alten Wohnung in der Bertramschen Villa und wartete auf den Wagen, der ihn nach Burgheim zu seiner Braut bringen sollte. Der Mann sah heute aus, als habe er einen Verjüngungstrank genossen. Seine Haltung war aufrecht, die Bewegungen leicht und elastisch, man sah ihm keine Spur des Leidens mehr an und sein ganzes Wesen war wie verklärt und durchleuchtet von Glück. Er sprach mit Ehrwald, der erst gestern abend aus Berlin eingetroffen war und ihm bei der bevorstehenden Civiltrauung als Zeuge dienen sollte.

„Ich begreife Dich diesmal wirklich nicht, Reinhart,“ sagte er in vorwurfsvollem Tone. „Erst im letzten Augenblick einzutreffen! Ich hätte Dich so gern noch ein paar Tage an meiner Seite gehabt, ehe ich nach Burgheim übersiedle.“

„Ich schrieb es Dir ja, daß die Verhandlungen in Berlin sich endlos in die Länge zogen,“ entgegnete Reinhart. „Ich glaubte schon, es würde mir gar nicht möglich sein, überhaupt zu kommen, aber Du erließest ja einen förmlichen Ukas und beschiedest mich diktatorisch nach Kronsberg zu dem heutigen Tage. Du hättest es mir nie verziehen, wenn ich ausgeblieben wäre.“

„Nein, wahrhaftig nicht, und es wäre auch unverzeihlich gewesen. Ein seltener Zufall fügt es, daß Du gerade jetzt in Europa und in Deutschland bist, und Du solltest mir fehlen an dem glücklichsten Tag meines Lebens? Schäme Dich, Reinhart!“

„Nun, Du siehst es ja, ich bin hier,“ sagte Ehrwald mit einem flüchtigen Lächeln. „Zanke nicht mit mir, Lothar, ich konnte wirklich nicht früher kommen.“

Lothar sah ihn einige Sekunden ernst und prüfend an, dann trat er zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter.

„Reinhart – was fehlt Dir?“

„Mir? Nichts! Was soll mir denn fehlen?“

„Das frage ich eben. Seit wann hast Du Geheimnisse vor mir? Dich hat irgend etwas fortgetrieben! Erst versprichst Du, bis zu meiner Hochzeit hier zu bleiben, und meldest Dich für Juli in Berlin an und dann brichst Du urplötzlich dahin auf und läßt Dich durch keine Bitten halten –“

„Ich sagte Dir ja, daß der Minister wünschte, die Sache beschleunigt zu sehen, daß mir selbst daran lag –“

„Ja, das sagtest Du – also werde ich es wohl glauben müssen.“

Der forschend ernste Blick schien Ehrwald zu peinigen, er wandte sich mit einer ungeduldigen Bewegung ab und trat an das Fenster, während er antwortete: „Nun, Freude habe ich von dem Aufenthalte in Berlin sicher nicht gehabt. Ich habe mehr als einmal die Geduld verloren bei diesen unfruchtbaren und unerquicklichen Verhandlungen. Wenn ich von den Herren am grünen Tisch, die keine Ahnung von afrikanischen Dingen haben, jeden meiner Schritte kontrollieren lassen, jede Maßregel, die ich zu treffen für gut finde, erst ihrer weisen Zustimmung unterbreiten soll, so danke ich für die mir zugedachte Ehre! Ich trage die volle Verantwortlichkeit, also muß ich auch die volle Selbständigkeit haben. Entweder man gesteht mir das zu oder ich werfe ihnen all ihre Anerbietungen vor die Füße – das habe ich ihnen offen herausgesagt, und dahin wird es wahrscheinlich kommen: ich stehe auf dem Punkte, abzubrechen!“

Er sprach in voller Gereiztheit, Sonneck schüttelte mit leiser Mißbilligung den Kopf.

„Mußt Du denn immer ein ‚Entweder – oder‘ stellen! Ich habe es beinahe gefürchtet, daß die Sache daran scheitern wird: Du bist viel zu stürmisch und leidenschaftlich für solche Verhandlungen. Uebrigens hast Du recht, wenn Du Dir nicht die Hände binden lassen willst. Eine Natur wie die Deinige erträgt das am wenigsten und Dir stehen andere Wege genug offen. Du kennst ja meine Beziehungen zum hiesigen Hofe.“

„Gewiß, Du hast ja auch kürzlich den Adel erhalten, ich habe Dir noch nicht einmal meinen Glückwunsch gesagt.“

Lothar zuckte ruhig die Achseln.

„Man hat mir eine Auszeichnung, eine Anerkennung meiner Leistungen gewähren wollen, und da blieb jetzt, wo ich zurücktrete, kaum ein anderer Weg übrig. Auf die Sache selbst lege ich so wenig Gewicht wie Du. Also ich war vorgestern im Schlosse und da war hauptsächlich von Dir die Rede. Der Fürst interessiert sich ungemein für Dich und will Dich auf jeden Fall kennenlernen. Du brauchst nur zu wollen und man kommt Dir hier in jeder Weise entgegen. Ich muß noch ausführlich mit Dir darüber sprechen.“

„Aber doch nicht heute! Du bist sicher nicht in der Stimmung, solche Dinge zu erörtern.“

„Nein, heute nicht,“ sagte Sonneck mit aufleuchtenden Augen. „Da mußt Du es schon ertragen, wenn der Freund hinter den Bräutigam zurücktritt. Wer hätte gedacht, daß ich Dir auf diesem Wege vorangehen würde. Vielleicht folgst Du mir doch, früher oder später.“

„Nein!“

Das Wort klang in so herber Bestimmtheit, daß Lothar einen Moment lang stutzte, dann aber lächelte er. „Du Ehefeind! Nun, einstweilen hast Du bei meiner Hochzeit den Brautführer zu machen. Du hörst ja, daß Helmreich seit dem letzten Anfall seiner Krankheit das Zimmer nicht mehr verläßt, für ihn ist die Fahrt zur Kirche ausgeschlossen, also fällt das Amt Dir zu.“

„Da Du es ausdrücklich wünschest –“

„Gewiß wünsche ich es, Du stehst mir doch von allen am nächsten! Aber was ist das für ein Ton, Reinhart? Gesteh’ es nur, Du bist eifersüchtig.“

„Ich?“ fuhr Reinhart jäh und heftig auf. „Was fällt Dir ein?“

„Jawohl, eifersüchtig, im Grunde hast Du mir meine Verlobung nie verziehen. Du willst eben überall Alleinherrscher sein, auch bei mir, und bist es ja auch so lange gewesen. Jetzt aber wirst Du Dich doch wohl entschließen müssen, zu teilen, die Hälfte des Reiches gehört fortan meiner Elsa, merke Dir das!“

Es lag ein beinahe übermütiger Scherz in den Worten des sonst so ernsten Mannes. Ehrwald verteidigte sich nicht gegen den Vorwurf, er sah den Freund mit einem rätselhaften Ausdruck an und plötzlich warf er sich mit leidenschaftlicher Heftigkeit an seine Brust. „Vergieb, Lothar! Du weißt es ja, daß ich Dir Dein Glück trotzalledem gönne aus vollem Herzen, daß ich Dich lieb habe, grenzenlos lieb.“

„Mein lieber Junge!“ sagte Lothar leise; er gebrauchte unwillkürlich die Anrede, die ihm einst seinem jungen Schützlinge [279] gegenüber geläufig war. „Ja, das weiß ich und da braucht es nicht dieser stürmischen Abbitte. Wenn auch jetzt meine Ehe und später die Trennung zwischen uns tritt, wir bleiben doch, was wir uns stets gewesen sind, in alter Treue.“

„In alter Treue!“ wiederholte Reinhart sich aufrichtend.

„Da fährt der Wagen vor! Komin, Lothar zu Deiner Trauung!“

Und den Arm um die Schulter des Freundes legend, geleitete er ihn hinaus. –

Die alte gotische Pfarrkiche von Kronsberg war in den Mittagsstunden dicht gefüllt. Die Trauung sollte ja in aller Stille und nur vor wenigen Zeugen stattfinden, aber man hatte Tag und Stunde in Erfahrung gebracht und nun war fast die ganze Kurgesellschaft erschienen. Der berühmte Afrikaforscher stand nun einmal im Vordergrunde des allgemeinen Interesses, man wollte ihn als Bräutigam sehen, wollte vor allen Dingen die Braut sehen, die bisher so merkwürdig unsichtbar geblieben war. Ueberdies wußte man, daß Reinhart Ehrwald zur Hochzeit seines Freundes eintreffen werde. Er war wohl im Frühjahr einige Wochen lang hier gewesen, als Kronsberg noch ganz verödet lag, aber von der jetzigen Gesellschaft kannte ihn niemand. Um so mehr hatte man von ihm gehört und Sonneck hatte recht: wenn man in ihm den Forscher ehrte, so umgab seinen jüngeren Gefährten der ganze Nimbus des Afrikahelden. Kurz, die Erwartung der Versammlung, die meist aus sehr weltlichen Gründen in der Kirche erschien, war aufs höchste gespannt, und die Feier, die sich nur im engsten Kreise vollziehen sollte, gestaltete sich auf diese Weise fast zu einem öffentlichen Akt.

Jetzt setzte die Orgel ein, und von einem Adjutanten des Fürsten als dessen Vertreter geleitet, trat der Bräutigam ein. Die Aufmerksamkeit teilte sich zwischen ihm und Lady Marwood, die wie gewöhnlich in blendender Toilette erschien. Auch die wohlbekannte Gestalt des Hofrats Bertram gewahrte man in dem kleinen Kreise, der sich vor dem Altar versammelte, und jetzt richteten sich alle Blicke auf die Sakristei, in deren Thür die weiß umschleierte Gestalt der Braut am Arme Ehrwalds sichtbar wurde.

Ein Flüstern der Ueberraschung ging durch die ganze Versammlung, als das Paar aus dem dämmernden Raum in das helle Sonnenlicht trat, das die Kirche erfüllte. Man hatte erwartet, ein hübsches, einfaches Mädchen zu sehen, schüchtern und befangen, ganz demütige Hingabe an den künftigen Gatten, und jetzt sah man diese Erscheinung!

Elsa von Bernried nahm sich heute im Brautgewande freilich anders aus als in der klösterlich einfachen Tracht, zu welcher der Wille des Großvaters sie bisher verurteilt hatte. Die hohe schlanke Gestalt in dem weißen Atlaskleide, dessen lange Schleppe rauschend nachfolgte, hatte trotz aller mädchenhaften Zartheit etwas Königliches, und aus den duftigen Falten des Schleiers hob sich das Antlitz, zwar sehr ernst, viel zu ernst für eine junge Braut, aber das war ja eine Schönheit, die eben erst aus der Knospe erblühte. Der Kranz lag in den blonden Flechten, auf denen ein leichter rötlicher Schimmer ruhte, und sie gleißten auf wie Gold, als der Sonnenstrahl sie traf. Die Augen waren groß und voll aufgeschlagen, ohne Scheu und Befangenheit, herrliche tiefblaue Augen – ja freilich, da hatte Sonneck recht mit seiner Wahl!

Wenn der Anblick der Braut eine Ueberraschung war für die sämtlichen Zuschauer, so entsprach der Brautführer dagegen ganz dem Bilde, das man sich von ihm gemacht hatte. So mußte der Mann aussehen, der dort auf dem heißen Boden Afrikas Erfolg auf Erfolg errungen, von dessen Energie und Kühnheit man Dinge gehört hatte, die an das Märchenhafte grenzten. Die hohe kraftvolle Erscheinung, das tiefgebräunte Antlitz mit den dunklen blitzenden Augen, das stolze Selbstbewußtsein, das sich in der Haltung ausprägte und ihr etwas Gebieterisches gab, das alles deckte sich völlig mit der Gestalt, die man aus so vielen Berichten und Erzählungen kannte.

Freilich, auch Ehrwalds Züge waren ernst, beinahe finster, sie schienen wie aus Erz gegossen; nicht die leiseste Regung zeigte sich darin, als er die Braut mit ritterlichem Anstande zum Altar führte, aber unwillkürlich drängte sich jedem der Gedanke auf, daß eigentlich dies Paar zusammengehörte in seiner Kraft und Schönheit. Das gab sich deutlich genug in dem Flüstern und den Blicken der Damen kund, und zum erstenmal sah man mit kritischen Augen auf den Mann mit den grauen Haaren, der da am Altar seine junge Braut erwartete.

Elsa sah und hörte von dem allen nichts, ihr Auge und Ohr nahm nur mechanisch die Eindrücke auf, ohne daß sie ihr klar zum Bewußtsein kamen. Die dicht gefüllte Kirche, die hohen gotischen Pfeiler mit ihren dunklen Wölbungen, die breiten goldigen Streifen des Sonnenlichtes, das durch die Fenster hereinflutete, das alles glitt undeutlich, schattenhaft an ihr vorüber, und die Orgeltöne, die so mächtig durch die Hallen brausten, schienen aus weiter Ferne zu kommen. Es lag wie ein Schleier auf ihrer Seele, der das alles so unwirklich erscheinen ließ, sie fühlte nur eins, die dunkle geheimnisvolle Gewalt, die von dem Manne an ihrer Seite ausging, die rätselhafte Angst vor seiner Nähe, und der kurze Weg schien sich endlos auszudehnen.

Jetzt trat Sonneck ihr entgegen und empfing ihre Hand aus der des Freundes; jetzt führte er sie die Stufen zum Altar hinauf und sie knieten nieder. Wie im Traume hörte Elsa die Worte des Priesters, fühlte sie, daß ihre und Lothars Hand zusammengefügt wurden, und dann war das bindende Ja gesprochen und sie waren vereint für das Leben.

„Mein Weib!“ flüsterte Lothar leise, aber mit vollster Innigkeit. Zenaide schloß die junge Frau in die Arme. Der Adjutant und die anderen Herren traten glückwünschend heran – und dann klang die Stimme des Mannes, der als der letzte von allen zu ihr trat: „Gnädige Frau, erlauben Sie auch mir, Ihnen meinen Glückwunsch zu Ihrer Vermählung auszusprechen.“

Die Stimme war kalt und unbewegt wie das Antlitz Ehrwalds. Er beugte sich nieder und drückte seine Lippen auf den Handschuh der jungen Frau, aber als er sich jetzt emporrichtete, traf sein Blick den ihrigen und es war ihr, als flammte plötzlich ein jähes, grelles Licht auf, das sie schmerzte. Nur einen Augenblick lang, dann war es erloschen und nur ein dumpfes Wehegefühl blieb zurück. Dann reichte der Gatte ihr den Arm und führte sie hinaus und der Wagen trug die Neuvermählten nach Burgheim.




Es war am Abend desselben Tages, die Villa, die Lady Marwood bewohnte, strahlte im vollen Lichtglanz, denn es war der wöchentliche große Empfangstag. In Burgheim hatte nach der Trauung nur ein kurzes Frühstück stattgefunden und Zenaide, die natürlich die Zeit bis zum Abend „ausfüllen“ mußte, hatte mit einer größeren Gesellschaft einen Ausflug in die Berge unternommen, dem sich auf ihre Einladung auch Ehrwald anschloß. Von einer ganzen Schar ihrer getreuen Ritter und gewohnten Begleiter umgeben, war sie davongesprengt und erst kurz vor Beginn der Empfangsstunde wieder angelangt, so daß ihr kaum Zeit blieb, das Reitkleid mit der Gesellschaftsrobe zu vertauschen.

Die Gesellschaft war zahlreich und glänzend, es gehörte zum guten Ton, bei Lady Marwood vorgestellt zu sein und dort empfangen zu werden. Was man auch über sie flüstern und klatschen mochte, sie behauptete unbestritten ihre Stellung an der Spitze der tonangebenden Kreise. Was nur von bedeutenden und interessanten Persönlichkeiten in der Kurgesellschaft auftauchte, das war auch hier zu finden und das gab dem Verkehr natürlich einen besonderen Reiz.

Auch heute hatte man das ganz unerwartete Vergnügen, den „Wüstenhelden“, den man in der Kirche nur gesehen hatte, kennenzulernen. Er war, wie man erfuhr, ein alter Bekannter von Mylady und hatte in Kairo viel in ihrem Vaterhause verkehrt. Das war nun wieder etwas Neues und Interessantes, dessen man sich sofort bemächtigte. Ehrwald wurde von allen Seiten umdrängt und ausgezeichnet und bildete neben der schönen Herrin des Hauses den Mittelpunkt der ganzen Gesellschaft.

Man fand ihn sehr liebenswürdig und er schien auch in der That heute in besonders guter Laune zu sein, denn er, der sich sonst einem fremden Kreise gegenüber sehr ablehnend verhielt und durchaus nicht dem ersten besten seine Unterhaltung gönnte, war heute zugänglich für jeden. Er hatte schon am Nachmittag während des Rittes eine beinahe stürmische Heiterkeit gezeigt und jetzt wetteiferte er mit Lady Marwood an sprühender Lebendigkeit.

In einem der Seitengemächer stand Hofrat Bertram im Gespräch mit zwei jungen Herren, die zu dem gewöhnlichen Hofstaat Zenaidens gehörten, vornehme, elegante Müßiggänger, die nach Kronsberg gekommen waren, weil der Ort in der Mode war, und sich nun bemühten, die Zeit hier totzuschlagen. Sie waren natürlich auch heute mittag in der Kirche gewesen und versuchten nun, von dem Arzte noch allerlei Einzelheiten über das neue Ehepaar [280] zu erfahren, um das morgen auf der Brunnenpromenade weitererzählen zu können.

„Ja, wir waren grenzenlos überrascht, alle Welt war es!“ sagte der jüngere, indem er wohlgefällig sein zierliches Schnurrbärtchen drehte. „Diese junge Frau ist ja eine Schönheit, die in der Gesellschaft Sensation machen wird. Wer hätte gedacht, daß der alte Sonderling da oben einen solchen Schatz hütet? Sie haben es freilich gewußt, Herr Hofrat, Sie sind ja Hausarzt dort, aber Sie verrieten schnöderweise nie etwas davon!“

„Dazu hatte ich nicht die mindeste Veranlassung, Herr von Verden,“ war die ruhige Antwort. „Professor Helmreich hütete in der That seine Enkelin eifersüchtig vor fremden Augen und Burgheim war unzugänglich für Besuche.“

„Ja, das haben wir erfahren,“ fiel der andere Herr ein. „Wir gerieten kürzlich ganz zufällig dorthin und wollten durch das Gitterthor nur einen Blick auf das Haus werfen, als ein riesiger Hund mit wütendem Gebell herbeistürzte und eine so drohende Haltung einnahm, daß wir schleunigst den Rückweg antraten.“

Bertram lächelte etwas spöttisch, er wußte sehr gut, daß nur die Neugier die beiden Herren dorthin geführt hatte.

„Ja, Burgheim ist gut bewacht,“ meinte er. „Ich hätte Ihnen auch nicht raten wollen, den Eintritt zu versuchen, Herr Baron. ‚Wotan‘ versteht keinen Spaß in solchen Dingen. Jedenfalls ist der Schatz jetzt gehoben, Sonneck hat ihn sich gesichert.“

„Der Beneidenswerte!“ rief der Baron mit einem Pathos, das mit seiner stutzerhaften Erscheinung nicht recht im Einklang stand. „Nun, hoffentlich verbirgt er ihn nicht vor der Welt wie dieser unvernünftige Großvater. Er wird seine junge Frau doch in die Gesellschaft einführen?“

„Das glaube ich kaum, er hat wenig Neigung für das, was man die große Welt nennt, und für diesen Sommer habe ich ihm überhaupt die Zurückgezogenheit noch zur Pflicht gemacht, damit er sich völlig erholt.“

Der Herr Baron sah sehr enttäuscht aus bei dieser Nachricht, doch Verden sagte tröstend: „Nun, bei Lady Marwood wird man ihn und seine Frau jedenfalls sehen, sie scheinen eng befreundet zu sein. Mylady zieht ja wie ein Magnet alles an, was interessant ist. Dieser Afrikaner, dieser Ehrwald, hat sich noch nirgends gezeigt, aber hier findet man ihn natürlich. Das war eine Ueberraschung, als sich der Wüstenheld urplötzlich als ein Kronsberger Kind zu erkennen gab!“

„Das wissen Sie bereits?“ fragte der Hofrat. „Ich habe es selbst erst heute morgen erfahren, als er sich auf dem Standesamt als Zeuge nennen mußte.“

„Wir wissen alles!“ erklärte der Baron selbstgefällig. „Kronsberg kann sich Glück wünschen zu diesem berühmten Sohne; das habe ich ihm auch bereits gesagt, aber er lachte und meinte, die Kronsberger hätten sich dieser Ehre sehr unwürdig gezeigt, sie hätten ihn früher in Acht und Bann gethan, seiner wilden Streiche wegen.“

„Nun, eine Probe seiner Wildheit haben wir heute nachmittag bei dem Ritt erhalten,“ fiel Verden ein. „Es war ja vorauszusetzen, daß ein Mann wie Ehrwald verwegen reitet, aber die tollkühnen Wagestücke, die er da vollführte, überstiegen doch alle Begriffe. Als er den steilen Abhang in die Schlucht hinabjagte, schrie alles auf vor Schrecken und es sah auch wahrhaftig aus, als wollte er sich den Hals brechen. Aber er lachte und spottete über unser Entsetzen und kam auch glücklich und unversehrt wieder zum Vorschein.“

Bertram schwieg, auch ihm war die so seltsam überreizte Stimmung Ehrwalds während des ganzen Tages aufgefallen. Das Gespräch wurde aber jetzt unterbrochen, da der Gegenstand desselben herantrat. Er suchte offenbar den Hofrat, doch die beiden jungen Herren bemächtigten sich schleunigst seiner. Sie überschütteten ihn mit Komplimenten und wollten den „kühnen Pionier der Kultur in Afrika“ in ein eingehendes Gespräch über diese Kulturmission verwickeln. Ehrwald schien jedoch nicht aufgelegt dazu, um seine Lippen zuckte ein unverhehlter Spott, als er antwortete: „Sie sind sehr liebenswürdig, meine Herren, aber leider muß ich diesmal auf die interessante Unterhaltung verzichten. Lady Marwood bittet Sie nach dem Salon. Es soll musiziert werden, und da scheint man auf Sie zu rechnen.“

Das war etwas anderes – ein Befehl von Mylady! Die beiden Herren stoben förmlich davon; Reinhart zuckte verächtlich die Achseln, als er ihnen nachblickte.

„Und mit solchem Volk muß man nun seine Zeit verlieren!“ sagte er halblaut. „Sie merken es nicht einmal, daß man sich über sie lustig macht. Ich begreife Lady Marwood nicht, daß sie diese faden geschniegelten Burschen um sich duldet, das war doch sonst ihr Geschmack nicht.“

„Er ist es wohl auch jetzt nicht,“ bemerkte Bertram. „Aber sie hat nun einmal das Bedürfnis, sich mit einem möglichst zahlreichen Hofstaat zu umgeben, und da darf man nicht so wählerisch sein. Man kann nicht lauter Berühmtheiten um sich haben wie ‚den kühnen Pionier der Kultur in Afrika‘.“

„Aergern Sie mich auch noch damit!“ fuhr Ehrwald auf. „Dies verwünschte Schlagwort habe ich heute schon mindestens ein Dutzend Mal gehört, man scheint es förmlich auswendig gelernt zu haben. Die Afrikaforschung ist ja jetzt leider Mode geworden und wir sind die Opfer dieser Modenarrheit, wo wir uns nur zeigen.“

„Warum denn so grimmig?“ lachte der Hofrat. „Sonst lachten Sie doch höchstens über solche Dinge und jetzt sind Sie förmlich wütend über die Huldigungen, mit denen man Sie von allen Seiten umgiebt. Sie scheinen heute überhaupt in einer merkwürdigen Stimmung zu sein; Verden hat es mir erzählt, wie Sie die ganze Gesellschaft in Angst und Schrecken gejagt haben mit Ihren tollen Reiterstücken.“

„Ja, die Herren bilden sich ein, reiten zu können, wenn sie stutzerhaft im Sattel sitzen und auf glattem Wege galoppieren,“ spottete Reinhart. „Ich habe ihnen einen anderen Begriff davon beigebracht.“

„Und sich beinahe den Hals dabei gebrochen! Ueber den jähen Abhang in die Schlucht hinunter zu jagen, das ist ja heller Wahnsinn! Wenn Sie nicht Ihr altes unerhörtes Glück vor dem Sturze bewahrt hätte –“

„So hätte auch nicht viel daran gelegen!“ ergänzte Ehrwald, indem er sich in einen Sessel warf und sich das Haar von der erhitzten Stirn strich. „Mir wäre es recht gewesen!“

Der Arzt stutzte und sah ihn forschend an. Das Zimmer war während der letzten Minuten leer geworden, denn drüben erhob sich jetzt die Tenorstimme Verdens, der ein Duett mit einer jungen Dame sang. Das zog die übrigen Gäste gleichfalls nach dem Salon und die beiden Herren blieben allein.

„Ich glaube, Lady Marwood hat Sie angesteckt mit ihrer nervösen Ueberreiztheit,“ hob Bertram wieder an, indem er sich ebenfalls niederließ. „Und Sie haben doch, Gott sei Dank, keine ‚Nerven‘.“

„Nein, wenigstens in Ihrem Sinne nicht. Uebrigens ist die Stimmung von Lady Marwood allem Anschein nach ausgezeichnet, sie strahlt ja von Heiterkeit und Liebenswürdigkeit.“

„Jawohl, das Morphium hat wieder seine Schuldigkeit gethan, sie greift immer wieder dazu, trotz meines strengen Verbotes. Sie weiß, daß es Gift für sie ist, ich habe ihr keinen Zweifel darüber gelassen; aber sie stürmt mit offenen Augen zum Abgrund.“

„Nehmen Sie die Sache so ernst?“ fragte Reinhart, der jetzt aufmerksam wurde. „Sie versprachen sich ja damals bei meiner Abreise den besten Erfolg von Ihrer Behandlung.“

„Weil ich hoffte, sie würde sich meinen Vorschriften fügen, die hauptsächlich auf Ruhe und Zurückgezogenheit hinausliefen, und sie that das ja auch anfangs; aber seit die Hochsaison begonnen hat, stürzt sie sich wieder in den Strudel aller möglichen Zerstreuungen. Was war das heute wieder für ein Tag! Äm Morgen auf der Brunnenpromenade läßt Mylady sich von aller Welt den Hof machen; dann fährt sie stundenlang von einem Besuche zum andern, ist heute mittag bei der Trauung Sonnecks, und als wir von Burgheim aufbrechen, wirft sie sich aufs Pferd und jagt mit einem ganzen Gefolge von Kavalieren in die Berge. Bei der Rückkehr hat sie wieder großen Empfang und nachts ist dann natürlich von Schlaf keine Rede. Da werden die stärksten Betäubungsmittel gebraucht, um nur ein paar Stunden Ruhe zu schaffen – geht das noch ein halbes Jahr lang so fort, dann ist das Ende da, und welches Ende!“

Ehrwald hörte in steigender Betroffenheit zu, er hatte sich auch täuschen lassen durch die strahlende Erscheinung der schönen Frau, die nur Uebermut und Lebenslust zu atmen schien, und hastig fragte er: „Haben Sie denn wirklich keine Macht, da einzugreifen? Ihre ärztliche Autorität –“

„Versagt in diesem Fall ganz. Ich habe ihr rückhaltlos gezeigt, wohin dies Leben führt, ich bin grausam aufrichtig gewesen, aber da hilft weder Warnen noch Drohen. Sie giebt mir ähnliche Antworten wie Sie vorhin! Was liegt daran! Je eher, desto besser! Aber was bei Ihnen eine augenblickliche Verstimmung ist, aus der Ihre energische Natur sich schon in der nächsten Stunde wieder [282] aufrafft, das ist bei ihr bitterer Ernst. Es stirbt sich nur nicht so leicht, wie sie glaubt, und dann droht bei dieser furchtbaren Nervenüberreizung das schlimmste – der Wahnsinn oder der Selbstmord!“

„Um Gotteswillen, Doktor!“ sagte Reinhart erbleichend, „das ist ja eine entsetzliche Prophezeiung!“

„Die sich aber leider erfüllen wird, wenn nicht noch in letzter Stunde eine rettende Hand eingreift. Ich habe Sonneck bestimmt, seinen Einfluß geltend zu machen, und er hat es auch redlich gethan, aber es war umsonst, sie hört auch auf ihn nicht mehr – und da habe ich an Sie gedacht!“

„An mich?“ fuhr Reinhart betreten, beinahe unwillig auf. „Wie kommen Sie darauf?“

Der Arzt rückte seinen Sessel um einen Schritt näher und dämpfte die Stimme, als er fortfuhr: „Nun, ich bin ja damals bei dem Duell mit Marwood Ihr Sekundant gewesen und es ist mir schließlich kein Geheimnis geblieben, was die Veranlassung dazu war. Der Lord sah in Ihnen das größte Hindernis seiner Bewerbung, und wohl mit Recht. Man sprach ja auch bereits in der Gesellschaft von Kairo über die Vorliebe des Fräuleins von Osmar für Sie. Was später dazwischengetreten ist, werden Sie wohl am besten wissen, aber ich bin der Meinung, daß Sie der einzige Mensch sind, der jetzt noch Einfluß auf Lady Marwood hat.“

Ehrwald hatte die Arme verschränkt und sah finster zu Boden, endlich sagte er halblaut: „Sie sind im Irrtum, Bertram – das ist vorbei – längst vorbei!“

„Das käme doch auf die Probe an. Sie sollten die Frau nur einmal sehen, wie ich sie leider öfter sehe, wenn ihr die Maske vom Gesicht fällt, wenn sie erschöpft zusammenbricht und mit all den Leiden kämpft, die bereits der Anfang vom Ende sind. Es ist doch ein Jammer, daß dies schöne, reichbegabte Geschöpf rettungslos dem Untergange verfallen soll. Ehe ich das zulasse, wollte ich wenigstens noch das Letzte versuchen und Sie zur Hilfe aufrufen – jetzt thun Sie, was Sie wollen!“

Reinhart gab keine Antwort, aber auch der Hofrat brach ab und sagte, zu seinem alten jovialen Ton zurückkehrend: „Ja, es ist eine Gottesgabe, wenn man das Talent hat, das Leben leicht zu nehmen. Ich habe es von jeher gehabt und meinen Jungen werde ich das anerziehen. Doch was ist denn das für ein Aufstand da im Salon? Ah so, Mylady geht selbst an den Flügel! Kommen Sie, Ehrwald! Das dürfen wir nicht versäumen. Sie läßt sich nur äußerst selten herab dazu, aber Sonneck sagt, sie spiele meisterhaft.“

Im Salon war in der That alles in Bewegung geraten. Zenaide hatte den stürmischen Bitten nachgegeben und war an den Flügel getreten, und sofort schloß sich ein dichter Kreis um sie. Alles drängte heran, und dann trat atemlose Stille ein.

Lady Marwood spielte allerdings meisterhaft, nicht wie eine Salondame, sondern wie eine Künstlerin, und es war auch nichts Eingelerntes, was sie ihren Zuhörern gab, sondern freie Phantasien. Da wogte ein berauschendes Meer von Tönen auf, aber es war ein sturmbewegtes Meer. Das jagte und stürmte dahin im jähen Wechsel, jetzt schien es zu jubeln und aufzujauchzen in glühender Lust und dann wieder klagte es in düsterer Schwermut, es hielt die Zuhörer wie in einem dämonischen Bann.

In der Nähe des Flügels gab sich eine leichte Bewegung kund. Herr von Verden und der Baron machten artig dem eben herantretenden Ehrwald Platz, er stand jetzt in unmittelbarer Nähe. Zenaide war aufmerksam geworden, ein flüchtiger Blick fiel nach jener Seite hinüber, aber sie spielte weiter.

Wieder brauste es auf unter ihren Händen, voll Glut und Leidenschaft, doch jetzt rang sich etwas daraus empor, das kein Lied, eigentlich auch keine Melodie war, eine seltsame, fremdartige Weise, die unendlich einförmig und unendlich schwermütig immer nur dieselben Töne wiederholte. Erst tauchte sie nur in einzelnen verlorenen Klängen auf und ging wieder unter, dann wurde sie immer klarer, immer deutlicher und endlich herrschte sie allein und wehte hinüber zu den erstaunten Zuhörern wie eine Sprache aus einer ganz anderen Welt.

Nur Zwei gab es, die diese Sprache verstanden, die jene Weise kannten, und als sie jetzt wieder ertönte, nach langer, langer Zeit, da versank den beiden der lichtstrahlende Salon mit all den Menschen, die ihn erfüllten, und statt dessen tauchte ein anderes Bild auf: die schimmernde Flut eines mächtigen Stromes im letzten Abglanz des scheidenden Tages. Drüben am jenseitigen Ufer ragten die Palmen und ein langer Zug von Kamelen schritt langsam dahin, scharf und dunkel sich abhebend von dem lichten Abendhimmel, während auf die ferne Wüste weiche graue Dämmerung niedersank. Und vom Bord des Schiffes, das leise auf jener schimmernden Flut dahinzog, erklang die uralte Weise, einförmig und schwermütig, wie sie schon vor Jahrtausenden hier erklungen war.

Sie wehte herüber in den Palmengarten, wo ein junges glückliches Wesen mit dunklen, sehnsüchtigen Augen das Haupt an die Brust des geliebten Mannes lehnte, und wo dieser Mann sich niederbeugte, um das Wort auszusprechen, das sie einen sollte für das Leben. Leise und fern verklang das Lied, aber aus jener weichen, träumerischen Dämmerung schien es heranzuschweben, wovon die beiden träumten, das große, das grenzenlose Glück, und ihnen zu nahen mit seinen leuchtenden Schwingen.

Die Weise brach plötzlich ab, wie mit einem schneidenden Mißlaut, grelle, wilde Töne fluteten darüber hin, so daß die Zuhörer fast erschraken, und mit einem rauschenden Fortissimo schloß das Spiel.

Lady Marwood erhob sich und man umringte sie von allen Seiten mit lauter Bewunderung. Man fand diese Art zu spielen originell, geistreich, blendend und fand nicht Worte genug, um sein Entzücken und seine Begeisterung auszusprechen. Zenaide lächelte, aber es zuckte dabei wie herber Spott um ihre Lippen. Bildeten sich denn diese Menschen wirklich ein, man habe für sie gespielt? Der Eine, dem es galt, sprach kein Wort der Bewunderung und machte auch keinen Versuch, sich zu nahen, er verharrte noch immer an seinem Platze, aber er fuhr wie aus einem Traum auf, als Hofrat Bertram, der hinter ihm stand, halblaut sagte: „Ihr Spiel ist wie sie selbst nervös und krankhaft überreizt. Was war das wieder für ein jähes Abbrechen und für ein wilder Schluß! So etwas versteht man ja gar nicht!“

„Nein, Sie können es auch nicht verstehen,“ versetzte Reinhart ernst, „aber Sie haben recht“ er brach plötzlich ab, und dem mahnenden Blick des Arztes begegnend, setzte er leise hinzu: „Ich will es versuchen!“

[293] Es war bereits spät geworden und die Gäste der Lady Marwood fingen an aufzubrechen. Einer nach dem andern trat heran, um sich zu verabschieden, es wurde stiller und leerer in den glänzenden Räumen. Zenaide schritt gerade durch den Salon, als auch Ehrwald sich ihr nahte, um Abschied zu nehmen.

„Darf ich mir die Ehre geben, Ihnen morgen mittag meine Aufwartung zu machen, Mylady?“ fragte er in gedämpftem Tone. Sie sah ihn etwas befremdet an.

„Warum denn so förmlich? Es bedarf doch keiner Anmeldung. Sie sind mir immer willkommen.“

„Aber ich darf wohl kaum darauf rechnen, Sie allein zu finden, und diese Gunst möchte ich mir erbitten.“

„Allein? Haben wir uns wirklich noch etwas zu sagen?“ fragte Zenaide mit bitterem Spott.

„Vielleicht doch – darf ich auf die Erfüllung meiner Bitte hoffen?“

„Da Sie es so feierlich verlangen, werde ich wohl die erbetene Audienz bewilligen müssen, aber das kann schon heute geschehen. In einer Viertelstunde werden die Gäste fort sein, dann bin ich allein.“

Reinhart warf einen Blick auf die Uhr, die bereits auf Mitternacht zeigte. „Wäre es nicht besser, Mylady, wenn ich morgen –“

„Nein, wer weiß wann und wie ich dann in Anspruch genommen bin. Heute sind wir ungestört, bleiben Sie, Herr Ehrwald!“

Das war wieder der herrische, übermütige Ton, mit dem Lady Marwood stets über ihre Umgebung verfügte. Reinhart hörte ihn freilich zum erstenmal. Er verneigte sich und trat zurück, aber sein Auge folgte der schönen Frau, die sich nach dem kurz und leise geführten Gespräch wieder zu den anderen Gästen wandte.

Ja, sie war blendend schön, als sie da unter dem Kronleuchter stand. Das Licht der Kerzen spielte in den schweren Falten des mattgelben Atlasgewandes und blitzte in den kostbaren Juwelen, die Hals und Arme schmückten. Der herrliche Kopf mit dem bläulich schwarzen Haar und den dunklen Augen hob sich so stolz und siegesbewußt und die Lippen lächelten, die Augen strahlten, die ganze Erscheinung war wie aus Licht und Glanz gewoben. Aber Reinharts Blick war jetzt geschärft, er sah das nervöse Zucken dieser Lippen, den fieberhaften Glanz dieser Augen, das Unnatürliche, Krampfhafte in dieser sprudelnden Lebhaftigkeit. Jawohl, das Morphium that seine Schuldigkeit – aber wie lange noch?

Eben verabschiedeten sich die letzten Gäste, zu denen Herr von Verden und der Baron gehörten. Sie waren vorhin um die Unterhaltung mit der afrikanischen Berühmtheit gekommen und wollten das nun nachholen.

„Wir gehen wohl zusammen, Herr Ehrwald?“ sagte Verden. „Unser Weg führt an der Villa des Hofrats vorbei, und wenn Sie uns gestatten –“

„Herr Ehrwald bleibt noch hier,“ fiel Zenaide ein. „Nicht wahr? Wir wollten ja noch von alten Erinnerungen plaudern.“

„Ah, dann bitte ich um Entschuldigung,“ versetzte Verden geschmeidig; aber er wechselte dabei einen sehr bedeutsamen Blick mit seinem Freunde. Das schien ja eine merkwürdig intime Bekanntschaft zu sein. Dieser Afrikaner hatte unglaubliches Glück bei Mylady, die sonst ihre ganze Umgebung mit souveräner Gleichgültigkeit behandelte.

Ehrwald sah diesen Blick, der sein Blut in Wallung brachte. Er runzelte die Stirn und sagte, als jene auch gegangen, mit unterdrückter Heftigkeit: „Ich that doch wohl unrecht, zu bleiben, Mylady!“

[294] „Weshalb?“ fragte sie nachlässig, sich in einen Sessel werfend.

„Weil es mißdeutet werden kann. Ich fürchte, da wird eben eine Klatscherei hinausgetragen, die vielleicht morgen die Runde durch ganz Kronsberg macht.“

„Haben Sie wirklich Zeit und Lust, sich um Klatschereien zu kümmern?“ fragte Zenaide mit einem verächtlichen Achselzucken.

„Wenn es Sie betrifft, allerdings.“

„Nun, ich thue es nicht. Was kommt’s darauf an, was solche Nullen denken oder schwatzen!“

„Und doch umgeben Sie sich täglich mit solchen Nullen?“

„Mein Gott, man braucht doch ein Gefolge, wenn man in der Welt auftritt. Zu Schleppenträgern sind diese Menschen gut genug. Wenn sie lästig werden, verabschiedet man sie einfach.“

„Und dann rächen sie sich durch die giftigsten Verleumdungen. Sie sollten doch nicht so gleichgültig sein gegen das Urteil der Welt, Mylady.“

„Das Urteil der Welt?“ Zenaide lachte laut auf, aber es war ein hartes, höhnisches Lachen. „Haben Sie etwa noch Respekt davor? Ich bin längst fertig damit. Ich kenne sie zur Genüge, die große Komödie, die wir uns da Tag für Tag vorspielen, und die im Grunde so kleinlich und erbärmlich ist. Wer es nur versteht, zu heucheln und sich hinter die sogenannten Anstandsregeln zu verschanzen, der darf sich alles erlauben, alles, und wird geehrt und gepriesen. Wer es wagt, sich frei und offen zu geben, wie er ist, der wird verhöhnt und verlästert, wird gehetzt und gequält. Da giebt es mir ein Mittel, man muß dieser Gesellschaft den Fuß auf den Nacken setzen und ihr zeigen, wie tief man sie verachtet – dann beugt sie sich!“

Es war ein Ausbruch furchtbarer Bitterkeit, den Ehrwald nur zu gut verstand. Er wußte ja, wie man in der englischen Gesellschaft über Lady Marwood urteilte, wußte, daß sie nahezu ausgestoßen war aus den Kreisen ihres Gemahls. Jetzt ließ sie auch ihm gegenüber die Maske fallen, die sie vor der Welt trug; aber was war aus dem zarten sanften Mädchen mit den großen sehnsüchtigen Augen geworden! Es traf ihn wie ein Vorwurf.

„Und doch leben Sie freiwillig in dieser Welt, die Sie so tief verachten?“ fragte er endlich. „Doch verzehren Sie sich darin! Bertram hat mir erst vorhin diese Befürchtung ausgesprochen.“

„Ah, mein Tyrann, der Doktor! Hat er mich auch bei Ihnen verklagt, wie bei Sonneck? Ja, dieser liebenswürdige, lustige Hofrat kann verzweifelt ernst sein, wenn er den Arzt herauskehrt. Er ängstigt mich oft grausam mit seinen düsteren Prophezeiungen.“

„Und erreicht trotzdem nichts damit, Sie folgen seinem Rate nie.“

„Ich kann nicht!“

„Mylady!“

„Ich kann nicht!“ wiederholte Zenaide mit voller Heftigkeit, indem sie aufsprang. „Er will mich zu einem Trappistendasein verdammen und das halte ich nicht aus. Ich habe es ja versucht, wochenlang, aber ich bin fast wahnsinnig dabei geworden! Kommen Sie binaus auf die Veranda! Es ist erstickend schwül hier, ich muß einmal im Freien aufatmen!“

Sie schritt nach der Balkonthür, die auf eine mit wildem Wein umrankte Veranda führte, es war in der That noch sehr heiß im Salon, trotz der weit geöffneten Fenster. Draußen umfing die Beiden die kühle weiche Nachtluft in ihrer köstlichen Frische, auch Reinhart atmete auf, als er ins Freie trat.

Kronsberg lag bereits still und finster da, nur hier und dort schimmerte noch Licht in einzelnen Fenstern, aber über der dunklen Erde leuchtete der Sternenhimmel in seiner funkelnden Pracht. Es war so ganz anders als damals auf der Terrasse des Osmarschen Hauses, wo die berauschenden Düfte aus dem Palmengarten emporstiegen und fernher der Straßenlärm Kairos brauste. Hier war alles so still, so ernst und feierlich. Dunkel und mächtig blickten die Riesengestalten der Berge in das Thal nieder, und im matten Sternenglanz schimmerten die Schneefelder dort oben. Es war eine nordische Sommernacht in ihrer ganzen ruhigen Schönheit.

Lady Marwood war an die Brüstung getreten, und Ehrwald stand einige Schritte entfernt; aber in dem gedämpften Lichtschein, der durch die Glasthür auf die Veranda fiel, erschien die helle Gestalt in dem Atlasgewande, mit den Juwelen und Spitzen fast noch schöner als vorhin im blendenden Glanze des Kronleuchters. Sie stand zur Hälfte abgewendet und es vergingen Minuten, ohne daß ein Wort gesprochen wurde, endlich sagte Reinhart halblaut: „Zenaide – warum spielten Sie heute gerade diese Weise?“

War es ihr Name auf diesen Lippen oder der Ton, mit dem er ausgesprochen wurde, Zenaide zuckte leicht zusammen, sie wandte sich langsam um, aber ihre Antwort klang in bitterem Spott: „Kennen Sie die Melodie wirklich noch? Ich glaubte, Sie hätten sie längst vergessen.“

Er kam einige Schritte näher und stand jetzt neben ihr, sein Auge suchte das ihrige, als er, ohne auf den Spott zu achten, fortfuhr: „Zenaide – ich habe Ihnen damals wehe gethan –“

„Ja!“ sagte sie mit herber Aufrichtigkeit und es lag etwas wie verhaltener Groll in dem Worte.

„War das meine Schuld allein? Sie wissen es ja, was zwischen uns trat. Ihr Vater –“

„Mein Vater war zu gewinnen und ich war zu jedem Kampfe bereit, aber Sie wollten ja nicht um mich kämpfen, Reinhart. Sie wollten nur hinaus in die Freiheit, in die Weite und sich das Glück erjagen. Haben Sie es denn nun gefunden, dies unermeßliche Glück, Ihre lockende winkende Fata Morgana?“

„Nein!“ sagte Ehrwald schwer und dumpf.

„Also auch dort nicht, in Wüsten und Urwäldern! Ich habe es gesucht in der Welt, unter den Menschen, aber da ist’s auch nicht. Trösten Sie sich, wir teilen das gleiche Los.“

„Und Sie hatten längst schon das Los über Ihr Schicksal geworfen. Zenaide – wie konnten Sie sich einem Marwood zu eigen geben!“

Sie sah ihn nur an, aber in diesen großen düsteren Augen lag die Antwort, lag ein so schwerer Vorwurf, daß er wie ein Schuldbewußter das Haupt senkte.

Wieder trat eine lange Pause ein, dann richtete sich Lady Marwood empor, mit einer so heftigen, jähen Bewegung, als wollte sie irgend etwas von sich werfen.

„Da sind wir wieder mitten in den alten Erinnerungen und in der alten Sentimentalität!“ sagte sie mit jenem harten Lachen, das dem Ohre wehe that. „Und wir beide sollten doch längst darüber hinaus sein. Wir sind ja alt und vernünftig geworden, o, so sehr vernünftig! Und übrigens haben Sie mir immer noch nicht gesagt, weshalb Sie diese Unterredung wünschten. Wollten Sie mir etwas mitteilen?“

„Nein, ich wollte nur eine Bitte an Sie richten – Zenaide, um Gottes willen, was haben Sie, was ist Ihnen?“

Zenaide hatte plötzlich mit beiden Armen die Brüstung umklammert, als wollte sie sich daran festhalten. Sie schwankte und wäre zu Boden gesunken, wenn Reinhart sie nicht rasch umfaßt hätte. Halb bewußtlos, mit geschlossenen Augen lag sie in seinen Armen, ihr Antlitz war zur Totenfarbe erblaßt, die Brust rang schwer und angstvoll nach Atem und das Herz pochte in so wilden unregelmäßigen Schlägen, als wollte es jeden Augenblick stille stehen.

Das dauerte freilich nur Minuten. Als Ehrwald sie zu einem Sessel trug und darin niedergleiten ließ, schlug sie bereits wieder die Augen auf und ihr Blick traf den des Mannes, der sich angstvoll über sie beugte.

„Ich will Hilfe rufen,“ sagte er hastig. „Ich werde die Kammerfrau –“

Zenaide schüttelte den Kopf, und eine matte Bewegung ihrer Hand verbot ihm das Forteilen.

„Nein – niemand! Es geht vorüber – ich weiß es!“

Es ging in der That vorüber, der Anfall schwand fast so schnell, wie er gekommen war. Die Farbe kehrte in ihr Antlitz zurück und der Atem wurde ruhig. Ehrwald stand stumm und finster neben ihr. Wenn er wirklich noch an den Worten des Arztes gezweifelt hätte, hier sah er den Beweis.

„Habe ich Sie erschreckt?“ fragte Zenaide, jetzt wieder mit voller Selbstbeherrschung. „Es ist nicht von Bedeutung, ich mache solche Anfälle oft genug durch.“

„Und ein solcher Anfall wird Sie schließlich töten!“ fiel er stürmisch ein. „Sie vernichten sich ja mit diesem Leben, das Sie Tag für Tag führen, Sie hören auf keinen Rat, keine Warnung und machen es Ihrem Arzte unmöglich, Sie zu retten. Zenaide! Können Sie sich denn nicht schonen?“

„Für wen?“ fragte sie herb. „Vielleicht für Lord Marwood? Ich habe den Mann, der mein Gatte heißt, hassen gelernt, denn er hat mich nur gequält und gemartert. Mein Kind ist mir genommen, es kennt die Mutter nicht einmal mehr, mein Vater ist tot und die Menschen, die mich täglich umgeben, möchte ich am liebsten mit dem Fuße von mir stoßen. Einen Freund habe ich [295] noch, einen einzigen, aber Sonneck hat ja jetzt sein junges Weib, sein neues Glück, da bleibt für mich höchstens das Mitleid übrig, und ich will kein Mitleid. Ich will auch das Leben nicht, das sich so öde, so endlos vor mir ausdehnt wie eine Wüste, ich weiß es ja, daß ich endlich darin verschmachten und verderben muß! Es lohnt auch gerade der Mühe, sich dafür zu schonen!“

„Nun denn, so thun Sie es um – – meinetwillen!“

Es ging wie ein Beben durch die Gestalt der furchtbar erregten Frau, ihr Auge heftete sich groß und fragend auf Ehrwald, der sich jetzt zu ihr niederbeugte und leise wiederholte: „Um meinetwillen, Zenaide! Ich bitte Sie darum.“

Da fuhr sie auf und aus ihrer Brust rang es sich empor wie ein Weheruf. „Reinhart – warum hast Du mich damals verlassen?“

„Weil ich ein Thor war,“ sagte er dumpf. „Ein Thor, der einem Phantom nachjagte und darüber das Glück nicht sah, das an seiner Seite stand. Zenaide, ich fühle es jetzt erst, was ich Dir gethan habe, aber laß mir nicht diesen Vorwurf auf der Seele! Versprich mir, dem Arzte zu folgen! Versprich mir, dies unselige Mittel von Dir zu werfen, mit dem Du Dich elend machst und das Dir noch den Tod giebt! Du sollst nicht untergehen, Du mußt leben. Ich fordere es von Dir!“

Es sprach heiße Angst aus den Worten. Zenaide antwortete nicht, regte sich nicht, nur ein paar schwere Thränen rollten über ihre Wangen, auf welchen ein leises, glückliches Lächeln dämmerte.

„Das Versprechen!“ wiederholte Reinhart, ihre Hand fest in die seine schließend. „Du giebst es mir?“

„Ja!“ flüsterte sie kaum hörbar.

Er beugte sich nieder und drückte seine Lippen auf die Hand.

„Dank! Ich baue darauf – gute Nacht, Zenaide!“

Er ging, Zenaide blieb allein. Sie preßte das Antlitz in die Polster des Sessels und weinte; aber das war nicht jenes wilde Schluchzen, das sich bei ihr sonst wie in einem Krampfe Luft machte, das waren erlösende Thränen, die Ruhe und Schlaf brachten, Thränen, die sie seit Jahren nicht geweint.




Fast zwei Monate waren vergangen, der Hochsommer ging zu Ende und in Kronsberg begann es stiller zu werden, wenn es auch immer noch eine stattliche Zahl von Gästen aufweisen konnte.

Es war an einem schönen Augusttage, in den Nachmittagsstunden, als Fräulein Ulrike Mallner durch die Straßen des Kurortes schritt, in der Rechten ihren unzertrennlichen Begleiter, den großen Sonnenschirm, in der Linken eine Tasche von gleichfalls ziemlich bedeutendem Umfang. An ihrer Seite ging ein kleiner Herr, im grauen Touristenanzuge, mit einem sehr gutmütigen und freundlichen Gesicht. Er hatte ein großes Fernglas umgeschnallt und trug einen Schleierhut, der sich hier in dem nordischen Bergorte etwas komisch ausnahm. Aufmerksam hörte er der Dame zu, die eben sagte: „Ich glaube, es giebt nachgerade keinen Menschen, der nicht in Kronsberg gewesen ist. Wir haben im Sommer alle möglichen Sorten hier gehabt, Potentaten und Minister, Millionäre und Künstler, Engländer und Afrikaner – nun sind Sie auch noch da, Herr Ellrich, aber doch wohl nicht als Kurgast?“

„Nein, ich befinde mich Gott sei Dank ganz wohl,“ versetzte Herr Ellrich, der sich in den zehn Jahren kaum verändert hatte, nur sein Haar war grau geworden. „Ich habe eine Reise ins Gebirge gemacht und da wollte ich mir das jetzt so vielgenannte Kronsberg doch auch ansehen, um so mehr, als Hofrat Bertram hier Badearzt ist. Ich habe ihn in all den Jahren nicht gesehen, aber öfter von ihm gehört; es heißt ja, daß der Badeort vor allen ihm diesen schnellen Aufschwung verdankt.“

„Ja, er ist ein ‚großes Tier‘ geworden und spielt hier die erste Geige,“ bemerkte Ulrike trocken. „Die reichen und vornehmen Patienten laufen ihm nur so zu und der Hof hat vollends einen Narren an ihm gefressen. Kürzlich bekam er schon wieder einen Orden – der Mensch hat von jeher mehr Glück als Verstand gehabt!“

„Ich glaube, Doktor Bertram hatte stets Glück und Verstand,“ erlaubte sich der kleine Herr zu erwidern. „Er hat bereits einen Namen in der Wissenschaft und wird zweifellos später eine Berühmtheit werden.“

„Sind Sie noch immer so versessen auf die Berühmtheiten?“ fragte Fräulein Mallner, ärgerlich über das Lob, das ihrem alten Widersacher erteilt wurde. „Die wimmeln förmlich bei uns in Kronsberg! Sonneck ist hier, Ehrwald ist hier und die beiden können Sie gleich heute nachmittag anschwärmen, denn Ehrwald wohnt bei uns und Sonneck wollte mit seiner jungen Frau kommen. Sie wissen doch, daß er vor sechs Wochen geheiratet hat?“

„Ich weiß, es hat ja in allen Zeitungen gestanden, und er hat eine junge schöne Frau – der Glückliche!“

„Ja, das ist er!“ bestätigte Ulrike. „Man braucht ihn nur anzusehen, der Mann geht umher wie verklärt und thut, als ob er mitten im Paradiese säße. Nun, dem gönne ich es, dem allein auf der ganzen Welt, denn er verdient es!“

„Nun, Sie werden doch auch Ihrer Frau Schwägerin das Glück gönnen,“ warf Ellrich ein. „Nach allem, was ich hörte, ist die Ehe sehr glücklich und es sind auch drei liebe Kinderchen da.“

„Drei liebe Kinderchen?“ wiederholte das Fräulein höhnisch. „Jawohl, drei Kinder sind da – die gottlosesten, ungezogensten Rangen auf der weiten Welt! Natürlich, sie sind nach ihrem Vater geraten und bei dem ist von Erziehung keine Rede, der läßt sie aufwachsen wie die Wilden. In dem Hause wird überhaupt nur gelacht und die Lustigkeit reißt gar nicht ab vom Morgen bis zum Abend. Und Selma ist immer mitten darunter und prügelt ihre Jungen, daß es nur so eine Art hat.“

„Die Frau Hofrätin – prügelt?“ fragte Herr Ellrich ganz bestürzt. Er hatte immer noch die blasse kleine Frau im Sinne, die vor Schüchternheit gar nicht wagte, die Augen aufzuschlagen.

„Ja, das hat sie gelernt und es thut auch not,“ sagte Ulrike mit Anerkennung. „Aber helfen thut es nichts, diese wilde Berserkerbande tobt durch Haus und Garten, daß einem Hören und Sehen vergeht. Aber jetzt habe ich sie unter die Fuchtel genommen und das gründlich. Ich weiß schon, wie ich ihnen den Mund stopfe, ganz genau weiß ich das!“

Sie sah unendlich grimmig aus bei der Erklärung und schwenkte triumphierend ihre große Tasche. Der kleine Herr schielte ängstlich darauf hin; diese Tasche barg zweifellos verschiedene Strafinstrumente für die armen Kleinen, die vielleicht etwas ausgelassen waren. Er begriff nur nicht, wie der Hofrat es dulden konnte, daß seine Kinder so behandelt wurden, er hatte sich doch bei seiner Verlobung so energisch gezeigt der herrschsüchtigen Dame gegenüber und nun schien sie ihn und sein ganzes Haus unter der Fuchtel zu haben. Jedenfalls war sie in einer gefährlichen Stimmung und Herr Ellrich kannte das noch von früher her, wo seine verehrte Landsmännin wochenlang einem Pulverfaß mit brennender Lunte glich. Er versuchte deshalb vorsichtig abzulenken.

„Es war doch eine schöne Zeit damals in Aegypten,“ hob er wieder an. „Diese Palmenlandschaften, diese Tempel und Pyramiden, dieses Volk in seiner malerischen Ursprünglichkeit –“

„Nun, diese malerische Ursprünglichkeit können Sie auch hier genießen,“ unterbrach ihn Ulrike. „Wir haben das schwarze Ungetüm, den Achmet, im Hause, und drüben in der Villa der Lady Marwood sitzen auch ein paar von den braunen Affengesichtern. Sie hat sich einen ganzen orientalischen Hofstaat mitgebracht! Es fehlen nur noch die Kamele, dann haben wir das Wüstenland leibhaftig hier in Kronsberg.“

„O, das ist ja höchst interessant!“ rief Ellrich erfreut. „Da werde ich meinen Aufenthalt doch verlängern. Ich komme immer noch früh genug in mein einsames Heim. Ich trage mich freilich mit gewissen Zukunftsplänen –“

„So? Wollen Sie wieder nach Aegypten?“

„Das nicht, ich bin so viel gereist und fange nun an, mich nach Ruhe zu sehnen, aber was mir fehlt, ist eine Häuslichkeit, ist –“ Herr Ellrich seufzte und blickte verschämt zu Boden, als er leise hinzufügte: „eine Lebensgefährtin.“

„Sie sind wohl nicht bei Troste!“ fuhr ihn Ulrike an. „Sie haben reichlich Ihre fünfzig Jahre auf dem Rücken, haben schon graue Haare und wollen noch einen solchen Unsinn begehen!“

„Herr Sonneck hat ihn doch auch begangen,“ versetzte der kleine Herr empfindlich, „und er ist zwei Jahre älter als ich.“

„Herr Sonneck ist eben Herr Sonneck!“ erklärte Fräulein Mallner mit Nachdruck. „Der kann sich das erlauben. Sind Sie ein berühmter Afrikaforscher? Haben Sie die Nilquellen entdeckt?“

„Nein, aber eine Inschrift habe ich in Theben entdeckt, damals, als ich dem seligen Professor Leutold bei seinen Forschungen half. Ich fand sie zuerst und der Professor entzifferte sie dann. Sie gab uns sehr wertvolle Aufschlüsse über Ramses und Seti und über die Dynastien von –“

[296] Es half dem armen Ellrich gar nichts, daß er mit seiner von dem Professor Leutold aufgeschnappten Wissenschaft seiner Begleiterin zu imponieren versuchte. Fräulein Mallner ließ sich nun einmal nicht imponieren, sie fiel ihm ärgerlich ins Wort.

„Bleiben Sie mir mit den vertrackten Namen vom Leibe, Sie wissen, ich kann die alten Mumien nicht leiden! Also heiraten wollen Sie noch auf Ihre alten Tage? Mein seliger Martin hat es freilich auch so gemacht, aber dafür mußte er es noch im Grabe erleben, daß seine Witwe wieder heiratete und jetzt drei Jungen hat, die sich den ganzen Tag prügeln. Das hatte er davon! Aber wenn sich die Männer einmal eine Dummheit in den Kopf setzen, dann hilft es nichts, wenn man ihnen Vernunft predigt – die Dummheit wird gemacht!“

Herr Ellrich schwieg tiefgekränkt, er wurde schon wieder schlecht behandelt von der rücksichtslosen Dame, die in den zehn Jahren nicht das Geringste von ihrer Grobheit eingebüßt hatte, eher schien sie Fortschritte darin gemacht zu haben. Aber er war doch bedenklich geworden: das Schicksal des seligen Martin, „der im Grabe noch so etwas erlebte“, schien ihm nicht gerade beneidenswert.

Man war inzwischen bei der Bertramschen Villa angelangt, aus deren Garten lauter fröhlicher Lärm ertönte. Die drei Jungen spielten natürlich wieder „Wilde“ und hatten sich dazu mit dem nötigen afrikanischen Beiwerk ausgestattet. Sogar der kleine Hans trug einen Büschel von alten Hahnenfedern auf dem Kopfe und bemühte sich, die allerentsetzlichsten Grimassen zu schneiden, während er eine kleine Gartenspritze als Mordinstrument schwang. Bei dem Anblick des Fräulein Mallner jedoch wurde das Spiel unterbrochen und die ganze Gesellschaft stürzte mit lautem Hallo der Tante entgegen, umringte sie und begann eine Art Kriegstanz um sie herum aufzuführen. Ulrike drohte ihnen scheltend mit dem Sonnenschirm und versuchte, ihre Tasche in Sicherheit zu bringen, aber gerade darauf hatte es die wilde kleine Bande abgesehen, sie mochte wohl schon ihre Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht haben.

„Tante ist die Karawane,“ kommandierte der Aelteste. „Die überfallen und plündern wir. Eins – zwei – drei – Hurra!“

„Hurra!“ schrieen auch die beiden anderen und dann stürzten sie sich gemeinsam auf die Karawane, die in aller Form geplündert wurde und das Gepäck hergeben mußte. Es wurde allerdings nicht ernstlich verteidigt und die Sieger fielen schleunigst über die eroberte Beute her.

Herr Ellrich traute seinen Augen nicht, als aus der Tasche, die ihm so gefährlich erschienen war, allerhand gute Dinge zum Vorschein kamen. Ein großes Paket Chokolade, verschiedene Tüten mit Kuchen, ein Körbchen mit überzuckerten Früchten und zuletzt ein Bilderbuch. Jeder einzelne Gegenstand wurde mit lautem Freudengeschrei begrüßt und Fräulein Ulrike stand dabei, sah mit grimmigem Behagen zu und fragte dann, zu ihrem Begleiter gewendet: „Nun, habe ich nicht recht? Sind es nicht gottlose ungezogene Rangen?“

„Die Kinder scheinen nicht gerade Furcht vor Ihnen zu hegen,“ meinte Herr Ellrich, der maßlos erstaunt war.

„Diese heillose Bande hat vor niemand Furcht, und wenn der Gottseibeiuns in eigener Person käme, sie würde ihn auslachen,“ sagte das Fräulein entrüstet. „Jetzt teilt Euch in den Kuchen, das übrige wird bis morgen aufgehoben und das Bilderbuch gehört dem Hansel, verstanden?“

Damit marschierte sie nach dem Hause und winkte ihrem Begleiter, zu folgen. In der Veranda fanden sie denn auch Bertram und seine Frau, die beim Kaffee saßen und mit freudiger Ueberraschung den alten Bekannten begrüßten.

„Herr Ellrich!“ rief der Hofrat, ihm die Hand hinstreckend.

„Das ist brav, daß Sie Wort halten und uns einmal in Kronsbcrg besuchen. Wie ist es Ihnen denn ergangen?“

Herr Ellrich hatte seine Höflichkeit ebenso unverändert bewahrt wie Fräulein Mallner ihre Grobheit. Er sprach in wohlgesetzten Worten seine Freude über das Wiedersehen aus, war entzückt über das blühende Aussehen der Frau Hofrätin, gratulierte zu den drei Jungen, deren Bekanntschaft er soeben gemacht habe, und nahm dann den angebotenen Platz ein.

„Ja, ich habe ihn unterwegs aufgefischt,“ sagte Ulrike. „Ich kam gerade von Birkenfelde. Uebrigens ist die Sache dort abgemacht, wir sind handelseins geworden.“

„Bravo!“ rief Bertram, „Sie werden mit dem Kaufe zufrieden sein,“ und zu Ellrich gewendet, fügte er erläuternd hinzu: „Fräulein Mallner ist im Begriff, sich hier anzukaufen und unsere hochverehrte Mitbürgerin zu werden – sie kann nämlich nicht leben ohne meine Jungen, und nur um in ihrer Nähe zu bleiben, kauft sie Birkenfelde.“

„Dergleichen Scherze verbitte ich mir!“ fuhr Ulrike zornig auf. „Sie wissen doch am besten, daß ich nur fortgehe, um Ruhe im Hause zu haben. Hier macht Ihre Berserkergesellschaft ja einen Lärm, daß man aus der Haut fahren möchte. Aber in Birkenfelde bin ich Herr und Meister, da sollen mir die Jungen nur kommen, ich werde ihnen die Wege weisen!“

Sie nickte dräuend mit dem Kopfe, unterbrach sich aber plötzlich und horchte auf, denn draußen im Garten gab es in der That schon wieder Lärm, die drei hoffnungsvollen Sprößlinge waren einander in die Haare geraten. Hansel hatte sich in aller Bescheidenheit die allergrößte Portion Kuchen zugeeignet, und als seine Brüder ihm dieselbe wieder abnehmen wollten, wehrte er sich und schrie aus vollem Halse: „Tante Ulrike! Tante Ulrike!“

Diese säumte denn auch nicht, ihrem Liebling zu Hilfe zu kommen, sie ließ ihren Kaffee im Stich und schoß wie ein Stoßvogel davon und mitten hinein in die streitende Gruppe. Sie hatte sich längst den praktischen Griff angewöhnt, mit dem Frau Selma bei ihren Jungen Ruhe zu stiften pflegte, und so faßte sie denn auch jetzt den Adolf mit der Rechten und den Ernst mit der Linken und schüttelte sie, daß ihnen Hören und Sehen verging. Dann nahm sie den triumphierenden Hansel samt seinem Kuchen auf den Arm und trug ihn nach der Veranda.

„Fräulein Mallner scheint sich ja ganz merkwürdig verändert zu haben,“ sagte Herr Ellrich, der sich noch immer nicht von seinem Erstaunen erholen konnte. Bertram lachte.

„Ja, sie stellt sich noch grimmig genug an, allein sie ist ganz unschädlich geworden, und das haben unsere Jungen zustande gebracht. Sie zankt zwar den ganzen Tag mit ihnen, aber dabei verzieht und verwöhnt sie sie in der unglaublichsten Weise und der Hansel hat sie nun vollends zu seiner Sklavin gemacht.“

Die beiden ältesten Knaben schienen sich in der That nicht viel aus der empfangenen handgreiflichen Zurechtweisung zu machen, denn sie hingen wie die Kletten an der Tante, als diese mit hochrotem Gesichte wieder erschien und dem Hofrat erklärte, er könne es vor Gott und den Menschen nicht verantworten, daß er der Welt eine so heillose Bande erziehe.

„Ja, das sind auch meine Jungen – das ist das Gesetz der Vererbung!“ sagte Bertram, ihr freundschaftlich zunickend, während Selma drängte: „So erzähle uns doch von Birkenfelde, Du liefst ja mitten in dem Berichte davon.“

„Nun, da ist nicht viel zu erzählen, die Sache ist in Ordnung,“ erklärte Ulrike. „Dein Mann hatte ganz recht, mir den Kauf anzuraten, die Besitzung ist sehr preiswert, das Haus hübsch und geräumig und gerade so viel Landwirtschaft dabei, um nicht aus der Uebung zu kommen. Morgen wird der Kaufvertrag unterzeichnet und in vier Wochen ziehe ich hinaus. – Ja, ja, Ihr Jungen, dann gehe ich fort und komme nicht wieder.“

Die Jungen machten große Augen bei dieser Ankündigung und die beiden älteren erhoben sofort leidenschaftlichen Wiederspruch. Hansel aber, der noch auf dem Schoße der Tante saß, nahm die Sache sehr gemütsruhig und erklärte mit großer Entschiedenheit: „Ich gehe mit!“

„Das wirst Du bleiben lassen,“ sagte der Vater strafend. „Die Tante geht überhaupt nur fort, weil sie Euren Lärm und Eure Ungezogenheiten nicht mehr aushalten kann. Wenn Ihr Euch in Birkenfelde sehen laßt, wirft sie Euch zur Thür hinaus.“

„Das geht Sie gar nichts an, was ich in Birkenfelde mache,“ rief Fräulein Mallner, ihm einen wütenden Blick zuwerfend. „Sie gönnen Ihren Kindern wohl nicht das bißchen Vergnügen? Nun gerade sollen sie mich besuchen und den Hansel nehme ich überhaupt gleich mit auf acht Tage. Dann bekommt er auch einen kleinen Wagen mit zwei Ziegen, wie er ihn sich längst schon gewünscht hat, aber Sie erfüllen ihm natürlich den Wunsch nicht, da kann er lange bitten.“

Hansel jauchzte laut auf bei dieser Verheißung und strampelte vor Vergnügen, die andern beiden aber benutzten schleunigst die Gelegenheit, um der Tante nun auch verschiedene Wünsche ans Herz zu legen. Diese hielt sich die Ohren zu, der Hofrat aber sagte mit ernster Miene: „Tante Ulrike, Sie können es vor Gott und den Menschen nicht verantworten, wie Sie meine Jungen verziehen. Ich lege als Vater feierlichst Verwahrung dagegen ein.“

[310] In Burgheim hatte die Vermählung Elsas äußerlich nur wenig geändert. Im oberen Stock des Hauses, der für gewöhnlich nicht benutzt wurde, hatte man, da es sich ja nur um einen vorübergehenden Aufenthalt für den Sommer handelte, einige Zimmer für das neue Ehepaar eingerichtet, und zur persönlichen Bedienung des Professors Helmreich war eine erprobte Pflegerin angenommen worden. Der Professor war freilich durchaus nicht einverstanden damit. Er hatte in seinem grenzenlosen Egoismus geglaubt, daß er nach wie vor unbeschränkt über seine Enkelin verfügen werde und sie rücksichtslos wie bisher mit seinen Launen quälen könne, aber Sonneck machte jetzt ebenso ruhig als entschieden die Rechte des Gatten geltend. Er hatte Elsa ein für allemal von der Pflege befreit, die unter diesen Umständen eine doppelt schwere war, sie durfte hinfort nur auf Stunden bei dem Großvater sein und dann war Lothar gewöhnlich zugegen und hielt die Rücksichtslosigkeit Helmreichs in Schranken. Mehr als einmal hatte er bei dessen gewohnten Ausfällen seiner Frau den Arm geboten und sie aus dem Zimmer geführt. Der Professor war im höchsten Grade beleidigt und erbittert darüber, er murrte und grollte den ganzen Tag und machte seiner Umgebung das Leben unendlich schwer; aber wo es sich um seine junge Gattin handelte, blieb Sonneck unbeugsam, wenn er auch sonst die weitestgehende Schonung gegen den Kranken übte. Er wußte ja so gut wie Elsa, daß es zu Ende ging. Helmreich war längst schon an den Lehnstuhl gebannt und seine Kräfte sanken rasch. Nach dem Ausspruche Bertrams handelte es sich nur noch um Wochen, wenn nicht irgend ein Zufall, eine heftige Erregung, die bei der ungemeinen Reizbarkeit des Professors oft aus einem Nichts entstand, das Ende schon früher herbeiführte.

Unter diesen Umständen fand man in Kronsberg, wo das hinreichend bekannt war, die Zurückgezogenheit des Herrn und der Frau von Sonneck begreiflich und geboten. Wenn Lothar seinen vielfachen Beziehungen auch nicht ganz fern bleiben konnte, so fand ein näherer Verkehr doch nur mit Lady Marwood und mit der Bertramschen Familie statt, selbstverständlich auch mit Ehrwald, der noch in Kronsberg zurückgehalten wurde. Es war jetzt entschieden, daß er vorläufig nicht in den Kolonialdienst treten, sondern sich an die Spitze einer neuen Expedition stellen sollte, um tief im Innern Afrikas neue und bisher noch unbekannte Gebiete zu erschließen, aber die Vorbereitungen dazu und die Verhandlungen darüber forderten einstweilen noch seine Gegenwart in Deutschland.

Die Strahlen der späten Nachmittagssonne fielen in den Garten von Burgheim, der trotz seiner Düsterheit heute ganz durchleuchtet war von dem goldigen Schein. Unter einer der hohen Tannen stand ein Tisch, der mit Tagebüchern, Notizen und Skizzen bedeckt war, und daneben lag ein angefangenes Manuskript. Sonneck hatte bereits die Vorarbeiten zu dem geplanten großen Werke begonnen, in dem er all seine Erfahrungen und Erlebnisse auf afrikanischem Boden niederlegen wollte.

Für den Augenblick aber ruhte die Arbeit, Lothar saß in einen Gartenstuhl zurückgelehnt, eines der Tagebücher in der Hand, aus dem er seiner jungen Frau vorgelesen hatte, und knüpfte nun eine längere Erzählung daran. Er war ein ruhiger aber vortrefflicher Erzähler, wenn er auch nicht die feurige hinreißende Art seines Freundes Ehrwald hatte, der seine Zuhörer das alles miterleben ließ und sie wie in atemlosem Bann hielt, so lange er sprach. Sonneck dagegen zeichnete in klaren, festen Zügen Bild auf Bild, indem er kein Auge von Elsa verwandte, die auf einem niedrigen Schemelchen an seiner Seite, fast zu seinen Füßen saß. Es war ein anmutiges Bild, aber ein Fremder würde geglaubt haben, Vater und Tochter zu sehen, für ein Ehepaar hätte er die beiden schwerlich gehalten.

Die junge Frau in dem hellen luftigen Sommerkleide war freilich eine ganz andere Erscheinung als das stille ernste Mädchen, um das Sonneck geworben hatte. Wie eine Knospe, die, noch gefangen in ihrer grünen Hülle, die einstige Schönheit nur ahnen läßt und sich dann über Nacht zur duftenden Rose erschließt, so war Elsa von Sonneck in den wenigen Monaten aufgeblüht. Die Züge hatten Leben gewonnen, die Augen schimmerten in tiefem, feuchtem Glanz, als habe ein Sonnenstrahl das ganze Wesen des jungen Weibes durchleuchtet und es geweckt aus einem langen Traum. Als sie so dasaß, die Hände um die Knie geschlungen, im gespannten Lauschen zu dem Gatten aufblickend, da hatte sie wieder ganz den Ausdruck, wie er in jenem Kinderköpfchen lag, das Lothar einst gezeichnet und das nun auf seinem Schreibtische drinnen stand.

„Nun aber genug für heute!“ schloß er seine Erzählung. „Wirst Du denn nie müde zuzuhören? Einst lag Dir das alles so fern und fremd, daß ich fast daran verzweifelte, Dein Interesse dafür zu erwecken, und jetzt habe ich in meiner kleinen Frau das erste und dankbarste Publikum für meine Lebenserinnerungen.“

„O, Du hast so viel, so unendlich viel erlebt!“ sagte Elsa mit kindlicher Bewunderung. „Ich könnte Tag und Nacht zuhören, wenn Du mir von dem Sonnenlande da drüben erzählst.“

„Nun, Du bist doch auch ‚da drüben‘ gewesen,“ scherzte Lothar. „Du hast das freilich alles nur mit den Augen eines Kindes geschaut und jahrelang war es Dir ganz entschwunden, bis ich die Erinnerung wieder weckte. Aber ich bereue das beinahe, denn jetzt träumst Du unaufhörlich davon und Deine Gedanken, die von Rechts wegen bei mir sein sollten, fliegen immer nur hinaus in die Weite.“

„In die Weite!“ wiederholte die junge Frau leise, während sich ihre Augen träumerisch in die Ferne verloren. „Ja, sie muß schön sein, die weite große Welt, und wenn Du davon sprichst, dann ist es mir immer, als müßte ich hinausfliegen über all die Berggipfel, über das Meer, immer weiter in die endlose Ferne. Als müßte ich dort etwas suchen und finden. Was – das weiß ich nicht, irgend etwas Großes, Herrliches –“

„Wie es im Märchen steht!“ ergänzte Sonneck lächelnd. „Gerade wie Reinhart! Der schwärmte auch so, als er das erste Mal mit mir den afrikanischen Boden betrat, der wollte es sich erjagen, sein großes, grenzenloses Glück. Erreicht hat er es nicht, aber er ist trotz all der Phantastereien doch ein echter Mann der Wirklichkeit geworden, mit einem eisernen Willen. Nein, mein Kind, da in der Ferne liegt das Glück nicht, aber ich kenne einen, der es gefunden hat – hier in der Heimat.“

„Lothar!“

„Willst Du das nicht hören? Und Du kennst doch den einen so genau wie ich. Als ich damals nach Europa zurückkehrte, krank, allein, mit dem vernichtenden Bewußtsein, daß es mit meinem Wirken zu Ende sei, da glaubte ich, die Heimat würde nur noch ein Grab für mich übrig haben, und sie gab mir das höchste Glück, gab mir Dich, meine Elsa. Sie sei tausendfach dafür gesegnet!“ Es wehte eine unendliche Zärtlichkeit aus den Worten, die junge Frau antwortete nicht, aber sie beugte sich nieder und drückte ihre Lippen auf die Hand ihres Mannes, doch er entzog sie ihr mit einer raschen, beinahe unwilligen Bewegung.

„Elsa, ich bitte Dich!“

„Darf ich das nicht?“ fragte sie unbefangen. „Ich thue es doch so gern.“

„Aber mich beschämt es. Einem Vater küßt man die Hand, dem Gatten nicht. Du thust mir weh mit dieser kindlichen Ehrfurcht, die mich immer wieder an das erinnert, was ich so gern vergessen möchte, daß beinahe vierzig Jahre zwischen uns liegen, daß Du Deine Jugend einem Manne gegeben hast, der an der Schwelle des Alters steht. Kann er Dich denn glücklich machen?“

„Du bist so gut!“ sagte Elsa in überströmender Dankbarkeit, „so unendlich gütig und liebevoll, und ich habe nie Liebe erfahren seit mein armer Vater starb. Du weißt ja, der Großvater – doch ich muß jetzt wohl zu ihm, es ist Zeit.“

„Noch nicht,“ widersprach Lothar. „Willst Du mir nicht einmal eine halbe Stunde gönnen?“

„Wir sitzen ja bereits seit zwei Stunden hier.“

Sonneck zog die Uhr hervor und warf einen höchst erstaunten Blick darauf. „Wahrhaftig! Nun dann noch ein paar Minuten!“

„Ich fürchte nur, der Großvater erwartet mich um diese Stunde,“ sagte die junge Frau zögernd. „Er ist heut’ noch viel reizbarer und erregter als sonst. Wir müssen es beide büßen, wenn ich nicht pünktlich bin.“

[311] Lothars Stirn umwölkte sich und er unterdrückte einen Seufzer.

„Jawohl und vor allem Du, mein armes Lieb! Es scheint oft, als wolle er sich förmlich dafür rächen, daß ich Dich größtenteils seiner Macht entziehe. Es ist ja eine schwere Pflicht, die Du noch zu leisten hast, und ich kann sie Dir nicht abnehmen; aber wenn die müden Augen da drinnen sich geschlossen haben, ihm und uns zur Erlösung, dann führe ich Dich in unser eigenes Heim und dann soll meine Liebe Dich für alles entschädigen, was Du jetzt noch zu tragen hast, meine Elsa, mein süßes, geliebtes Weib!“

Er zog sie an sich und drückte einen Kuß auf ihre Stirn; es lag etwas so unendlich Zartes in seiner Zärtlichkeit und seinen Liebkosungen, daß es selbst die scheue Zurückhaltung der jungen Frau überwand. Sie lehnte leise das Haupt an seine Schulter, doch plötzlich ging es wie ein Beben durch ihren ganzen Körper, und mit einer fast angstvollen Bewegung schmiegte sie sich fester an den Gatten, der sie befremdet ansah.

„Was hast Du? Was ist Dir?“

„O nichts! Ich meine nur – ich muß doch jetzt zum Großvater.“

„Freilich – nun so geh!“ sagte Lothar, indem er sie aus den Armen ließ und sich erhob. Dabei sah er auf und ließ dann einen Ausruf der Ueberraschung hören.

„Reinhart, Du bist da? Was stehst Du denn so fern und stumm wie ein Fremder?“

Es war in der That Ehrwald, der drüben aus den Tannen hervorgetreten war und wohl schon einige Minuten lang dort gestanden haben mochte, jetzt kam er langsam näher.

„Ich wollte nicht stören. Guten Tag, Lothar – ich habe Ihnen einige Zeilen von Lady Marwood zu bringen, gnädige Frau. Ich komme eben von ihr.“ Er reichte dem Freunde die Hand und übergab der jungen Frau ein Briefchen, sie nahm es mit einigen Dankesworten, sagte aber dann mit einer gewissen Hast: „Sie müssen mich entschuldigen, Herr Ehrwald, ich wollte eben zu meinem Großvater, er ist heut’ besonders angegriffen und da darf ich ihn nicht warten lassen.“

Damit wandte sie sich nach dem Hause, Sonnecks Augen folgten ihr mit einem leuchtenden glücklichen Ausdruck, während Reinhart halblaut fragte: „Steht es schlimmer mit dem Professor?“

„Nein, der Zustand ist so ziemlich unverändert, aber die Kräfte sinken immer mehr und seine Stimmung ist meist unerträglich für die Umgebung. – Doch was bringst Du mir?“

„Nicht viel, ich habe Nachrichten aus Berlin erhalten. Jetzt möchte man wieder anknüpfen und mir nachträglich die geforderte Selbständigkeit zugestehen, jetzt, wo es zu spät ist und ich mich hier gebunden habe.“

„Sie sehen also ein, was sie an Dir verlieren,“ meinte Lothar. „Ich riet Dir ja zum Abwarten, aber Du warst gleich Feuer und Flamme, als der Fürst hier den Plan faßte, die Expedition auszurüsten, und sagtest ihm sofort die Führerschaft zu.“

„Und ich bereue das keinen Augenblick. Ich tauge nicht für den Kolonialdienst, wenigstens jetzt noch nicht. Ich muß noch einmal die Freiheit kosten und mich als Herr und Herrscher fühlen bei meiner Truppe, wo ich niemand zu gehorchen habe. Ich muß wieder hinaus in Kampf und Gefahr und mich mit all den feindlichen Mächten herumschlagen, die ich so oft schon gezwungen habe. Ich muß, Lothar! Du ahnst nicht, wie notwendig mir das gerade jetzt ist.“

„Hast Du immer noch nicht ausgestürmt?“ fragte Sonneck mit leisem Kopfschütteln. „Gleichviel, für die nächsten Jahre ist die Entscheidung nun gefallen und der Kolonialdienst bleibt Dir immer noch für die Zukunft. Wann reisest Du?“

„In vier Wochen, eher wird es nicht möglich sein. Ich ginge freilich lieber heut’ als morgen.“

Die Worte klangen in äußerster Ungeduld, und mit einer beinahe ungestümen Bewegung warf sich Reinhart in einen der Gartenstühle und musterte flüchtig den Tisch mit den Papieren.

„Da liegt ja ein angefangenes Manuskript. Bist Du schon bei der Arbeit?“

„Es ist nur die Einleitung, die Arbeit selbst werde ich wohl erst im Winter beginnen können. Ich habe das ganze überreiche Material noch zu sichten und zu ordnen und das kann Monate dauern.“

„Eine mühevolle Arbeit! Ich hätte kaum die Geduld dazu.“

„Für mich ist sie nicht mühevoll,“ sagte Lothar lächelnd. „Elsa hat sich zu meinem Sekretär gemacht und zeigt dabei einen Eifer und ein Interesse, wie ich es nicht für möglich gehalten habe. Ja, Reinhart, diesmal hast Du doch schärfer und tiefer gesehen als ich: Du behauptetest ja schon vor Monaten, ihr ganzes Wesen läge wie in einem Bann, aus dem man sie erwecken müsse. Du hattest recht! Und es war so süß, dies Erwachen, dies Sichlosringen von den Fesseln einer tyrannischen Erziehung, dies Aufblühen zu einem neuen Dasein – ich staune es oft wie ein Wunder an.“

Ehrwald hatte eins der Tagebücher ergriffen, die auf dem Tische lagen, und blätterte darin. Er sah nicht auf, als er jetzt langsam fragte: „Du bist sehr glücklich, Lothar?“

„Fragst Du das im Ernst?“ Lothars tiefe Augen leuchteten wieder wie vorhin in jener innigen Glückseligkeit. „Manchmal ist es mir, als müsse ich dem Schatten dankbar sein, den die Krankheit und die Verbitterung Helmreichs über uns wirft. Ich kenne ja den alten Spruch und fürchte die Götter, wenn sie allzu günstig sind, und mir haben sie fast zu viel, mir haben sie alles gegeben!“

„So preise sie dafür!“ sagte Ehrwald beinahe herb, indem er das Buch auf den Tisch warf und aufstand. Er lehnte sich mit verschränkten Armen an den Baum und merkte es gar nicht, daß eine minutenlange Pause eintrat und Sonneck ihn schweigend und forschend beobachtete, er sah stumm und düster in die Ferne hinaus.

„Reinhart!“

Der Gerufene schreckte empor wie aus einem Traume.

„Was sagtest Du? Verzeih’, ich habe es nicht gehört.“

„Ich sagte nichts, aber ich dachte soeben, daß es sehr egoistisch von mir ist, Dir hier von meinem Glücke vorzuschwärmen, während Du armer Junge, ich weiß ja längst, wie es um Dich steht!“

„Du weißt –?“ fuhr Reinhart auf, es lag etwas wie Entsetzen in dem Blick, mit dem er den Freund anschaute.

„Hast Du wirklich geglaubt, mir das verbergen zu können, mir, der Dich so genau kennt wie niemand auf der Welt? Ich habe es gesehen, wie es in Dir wühlt und kämpft. Leugne nicht, Reinhart, Du bist ein anderer geworden, seit Du in Kronsberg bist.“

Ehrwald machte keinen Versuch, zu leugnen, aber er war totenbleich geworden und seine Hand krampfte sich um die Lehne des Sessels, als wollte er sie zerbrechen. Wie ein Schuldbewußter stand er da, während Sonneck fortfuhr: „Ich wollte mich nicht in Dein Vertrauen drängen, aber es that mir wehe, daß Du es mir versagtest – zum erstenmal! Sind wir denn nicht mehr die alten Freunde?“

„Ja, wir sind es!“ sagte Reinhart tonlos aber fest.

„Nun denn, so fordere ich mein Freundesrecht. Sei endlich offen gegen mich – wie stehst Du mit Zenaide?“

„Mit – Zenaide?“ Es rang sich wie ein befreiender Atemzug aus der Brust des Mannes empor. „So – das meintest Du?“

„Was denn sonst? Du hast sie einst geliebt. Damals freilich standen Dein glühender Freiheitsdrang, Dein Ehrgeiz im Vordergrunde, und als nun vollends Dein Stolz ins Spiel kam, gabst Du sie auf. Jetzt ist das wieder aufgeflammt, jetzt bist Du ganz beherrscht von dieser Leidenschaft, die Dich förmlich verzehrt. Dies Wiedersehen ist verhängnisvoll geworden für Dich und auch für sie. Denkst Du, ich weiß es nicht, welche Macht Bertram zu Hilfe gerufen hat? Womit er es erreichte, daß Zenaide sich so vollständig aus der Gesellschaft zurückzog, daß sie jetzt mit einer beinahe rührenden Fügsamkeit jeder Verordnung folgt? Du bist eben allmächtig bei ihr, aber – was soll daraus werden?“

„Ich weiß nicht! Quäle mich nicht, Lothar!“ stieß Reinhart plötzlich mit wilder Heftigkeit hervor. „Laß dies Gespräch – frage mich nicht – ich kann Dir nichts sagen!“

Er sah in der That aus, als ob er eine Folter ausstehe, Sonneck legte beschwichtigend die Hand auf seinen Arm.

„Nun, so höre wenigstens, was ich Dir zu sagen habe, es geht Dich und Zenaide gleich nahe an. – Ihr Gemahl ist hier, nur wenige Stunden entfernt.“

„Lord Marwood?“

„Ja, mit seinem Sohne. Ich erfuhr es heute morgen, wo ich einen überraschenden Besuch erhielt. Du erinnerst Dich wohl noch des Lieutenants Hartley, der im Osmarschen Hause verkehrte?“

„Marwoods nächster Freund – gewiß!“

„Er nahm später den Abschied, kehrte nach England zurück und vermählte sich. Seine Frau stammt aus Deutschland und sie bringen gewöhnlich den Sommer in Malsburg zu, das Mistreß Hartley von ihrem Vater erbte. Dort ist jetzt auch Marwood als [314] Gast seines Freundes und dieser kam jedenfalls in seinem Auftrage, wenn er auch nur einen Besuch vorschützte. Es sollte vermutlich sondiert werden.“

„Und zu welchem Zwecke? Eine Versöhnung vielleicht?“

„Nein, im Gegenteil, Marwood will die Scheidung, die unter diesen Umständen freilich nur noch eine gesetzliche Form ist. Zenaide trägt noch den Namen ihres Gemahls, getrennt haben sie sich ja längst und ihr vom Vater ererbter Reichtum macht sie völlig unabhängig. Für sie wäre es ein Glück, wenn die Kette vollends gebrochen würde, aber Marwood stellt eine grausame Bedingung: sie soll jedem Anspruch auf das Kind entsagen, auch für die Zukunft – das ist der Preis ihrer Freiheit!“

„Und das wagt er, einer Mutter zuzumuten?“ rief Ehrwald empört.

„Er glaubt eben, ihr jetzt die Wahl stellen zu können,“ sagte Sonneck bedeutsam. „Ich fürchte, es hat drüben in Malsburg etwas von den Klatschereien verlautet, die hier im Umlauf sind. Zenaide ist sehr unvorsichtig der Welt gegenüber. Als sie sich aus dem Strudel des Gesellschaftslebens zurückzog, erfuhr man freilich, daß es auf strengen ärztlichen Befehl geschah. Bertram sorgte dafür; aber Du wurdest nach wie vor empfangen, wo man allen anderen die Thür verschloß, und das ist natürlich sehr bemerkt worden. Man spricht über Euch beide nur zu viel und ich hätte Dir schon längst einen Wink gegeben, wenn nicht – doch da kommt Elsa zurück! – Schon jetzt?“

Er hatte allerdings Grund zur Verwunderung. Helmreich pflegte sonst die junge Frau nicht so rasch freizugeben, diesmal aber kam sie mit einem Auftrage von ihm. Er wollte Lothar sprechen, es sei ein Brief von seinem Verleger gekommen, der erledigt werden müsse. Es lag ganz in der rücksichtslosen Art des Professors, auch über den Gatten seiner Enkelin ohne weiteres zu verfügen, obgleich er von Elsa erfahren, daß Lothar Besuch von seinem Freunde hatte. Aber man war es in Burgheim gewohnt, dem Leidenden in solchen Dingen stets nachzugeben, und Sonneck erhob sich sofort. „Es handelt sich um das letzte große Werk Helmreichs, das eben abgeschlossen ist,“ sagte er erklärend zu Ehrwald. „Das Schreiben ist ihm kaum mehr möglich, und da habe ich die Korrespondenz mit dem Verleger übernommen. – Nein, Reinhart, Du darfst noch nicht aufbrechen, Elsa bleibt ja hier und ich komme gewiß bald zurück.“

Ehrwald hatte in der That Miene gemacht, aufzubrechen, und fügte sich mit einigem Zögern der Bitte; er nahm seinen Platz wieder ein, während Lothar zu dem Professor ging. Elsa machte sich mit dem Ordnen der Bücher und Papiere zu schaffen und einige Minuten lang herrschte völliges Schweigen. Dann fragte die junge Frau: „Also Sie wollen uns nun doch bald verlassen?“

„In vier Wochen, gnädige Frau,“ lautete die einsilbige Antwort.

„Lothar wird Sie sehr vermissen. Ich sehe es schon jetzt, wie unendlich schwer ihm die Trennung wird.“

„Doch wohl nicht so schwer wie mir. Lothar hat vollen Ersatz, ich – ziehe allein hinaus in die Weite. Nun, ich habe sie ja jetzt wiedergesehen, die alte Heimat. Da wird mich das Heimweh wohl künftig in Ruhe lassen!“

„Die Heimat ist sehr stolz auf ihren berühmten Sohn,“ warf Elsa hin. „Sie erhalten oft genug Beweise davon!“

„O ja!“ Um Ehrwalds Lippen zuckte ein Ausdruck herber Verachtung. „Die guten Kronsberger geben mir meine Berühmtheit Tag für Tag zu kosten. Sie haben mir eine Deputation über den Hals geschickt, eine Adresse votiert, es fehlt nur noch, daß sie mir bei Lebzeiten ein Denkmal setzen. Einst galt ich ihnen als der ausgemachteste Taugenichts auf Gottes weitem Erdboden – so ändern sich die Zeiten!“

Die Worte sollten scherzhaft klingen, allein es lag eine tiefe Bitterkeit darin. Die Augen der jungen Frau streiften wie mit einer Frage sein Antlitz.

„Sie verschwiegen es so lange, daß Burgheim Ihre Heimat ist,“ sagte sie. „Ich hatte keine Ahnung davon –“

„Als ich jenen nächtlichen Einbruch unternahm,“ ergänzte Reinhart, da sie innehielt. „Ich wurde freilich dabei ertappt, Wotan empfing mich äußerst grimmig und seine Herrin – o bitte, gnädige Frau, keine Entschuldigung! Sie waren nur in Ihrem Recht. Wer nachts wie ein Dieb über die Mauern in fremde Gärten steigt, darf sich nicht wundern, wenn er als Verdächtiger behandelt wird. Aber Sie wissen ja jetzt, was mich herzog. Es war doch immer mein Vaterhaus, von dem ich mich freilich losgerissen hatte. Lothar wird Ihnen das wohl längst erzählt haben.“

„Lothar hat mir nur einiges angedeutet, er glaubte wohl, zum Schweigen verpflichtet zu sein.“

„Da giebt es nicht viel zu verschweigen,“ sagte Ehrwald mit einem Achselzucken, „die Sache war ja Stadtgespräch. Sie haben nie viel in Kronsberg verkehrt, gnädige Frau, sonst hätten Sie wohl früher schon verschiedene Schauergeschichten von dem ‚tollen Reinhart‘ gehört. Ich galt meinen lieben Landsleuten, wenn nicht für den Satan selbst, so doch für seinen nahen Verwandten und sie ließen mich das entgelten. Sie haben mich so lange gehetzt und gequält, verleumdet und verlästert, bis ich schließlich auf und davon ging. Doch das wird Sie schwerlich interessieren.“

„Doch, es interessiert mich.“

„Wirklich?“ Sein Auge traf aufflammend das ihrige, das sich senkte vor diesem Blick, während sie leise hinzufügte: „Sie sind ja Lothars nächster Freund.“

„Ja so, um Lothars willen!“ Er fiel wieder in den kühlen, beinahe spöttischen Ton zurück, in dem er bisher gesprochen. „Nun, die Geschichte ist bald erzählt, sie handelt von einem wilden, unbändigen Knaben, der keinem Zügel gehorchen wollte. Wenn man in voller Freiheit aufwächst, bei einem Vater, der den einzigen Jungen vergöttert, bei einer schwachen, zärtlichen Mutter, da wird man nicht zahm und ich hatte überhaupt nie Anlage dazu, aber glücklich bin ich gewesen in jener goldenen Knabenzeit! Doch die Herrlichkeit nahm bald ein Ende! Als ich zwölf Jahr alt war, starb mein Vater und ich kam unter die Zuchtrute meines Herrn Vormundes, eines Verwandten, der in Kronsberg lebte, und dem bald noch eine andere Autorität zur Seite stand. Meine Mutter reichte ihm die Hand und so wurde er mein Stiefvater. Er hatte es sich nun leider in den Kopf gesetzt, mich zu ‚bändigen‘, und da gab es denn natürlich Kämpfe ohne Ende.“

Elsa hatte den Kopf in die Hand gestützt und hörte schweigend zu, das klang so seltsam an ihre eigenen Kindheitserinnerungen an. Auch sie war ja im Sonnenschein der Liebe aufgewachsen und dann unter die ‚Zuchtrute‘ des alten Mannes geraten, der ihre ganze Jugend vernichtet hatte mit seiner lieblosen Strenge und Härte. Das hatte also schon einmal hier in Burgheim gespielt, freilich mit anderem Ausgange!

„Zwischen mir und meinem Stiefvater war von Anfang an offener Krieg,“ fuhr Ehrwald fort. „Waffenstillstand gab es nur, wenn ich fern vom Hause war, denn ich ließ mich eben nicht bändigen. Meine Mutter hatte nie einen eigenen Willen gehabt und stand gänzlich unter dem Einfluß ihres zweiten Gatten; sie hielt mich auch nur für den Zügellosen, den schon halb Verlornen. Der Mann, der die Stelle meines Vaters eingenommen, hatte mir auch ihre Liebe geraubt. Als ich von der Universität zurückkehrte, kam die Katastrophe. Ich hatte eingesehen, daß ich für den Aktenstaub der Juristenlaufbahn nicht tauge, und erklärte, ich wolle zur See gehen, nur um hinauszukommen in die weite Welt, die mich nun einmal unwiderstehlich lockte; und da gab es eine Scene auf Leben und Tod. Ich war einundzwanzig Jahre alt und wurde behandelt wie ein ungezogener Schulbube, wurde gescholten, bedroht, und schließlich vergaß sich mein Stiefvater so weit, die Hand gegen mich zu erheben. Da war es aus – ich schlug ihn zu Boden! Wie es eigentlich geschah, das weiß ich nicht, ich sah nur, daß er blutend dalag, daß meine Mutter sich über ihn warf und mir das Wort zuschleuderte, ich sei das Unglück und das Unheil ihres Lebens. Mit dem Segenswunsch ging ich hinaus in die Welt, und als ich die alten Stufen dort damals hinabschritt, da wußte ich, wie einem Mörder zu Mute war!“

„War er – tot?“ fragte Elsa mit stockendem Atem.

„Nein, das hat mir das Schicksal gnädig erspart. Er kam mit einer mehrwöchigen Krankheit davon. Ich hatte mir auf Umwegen Nachricht verschafft, und als ich erst wußte, daß er lebte, da fühlte ich mich auch wieder im Recht, da hatte ich auch wieder die alte Kraft und den alten Mut; sie waren freilich das Einzige, was ich jetzt besaß, aber es war genug.“

Die junge Frau blickte in das dunkle, energische Antlitz des Mannes, wo jeder Zug eiserne Willenskraft verriet.

„Dann folgten ein paar schlimme Jahre,“ hob er wieder an. „Ich mußte den Kampf ums Dasein aufnehmen, und ich habe ihn ja auch durchgefochten, aber ich fühlte doch, daß ich mehr und mehr den festen Boden unter den Füßen verlor bei diesem wilden, [315] unsteten Leben; daß der Strudel mich immer mehr ergriff und mich hinabzuziehen drohte. Vielleicht wäre ich zu Grunde gegangen darin, da führte mir das Schicksal Lothar entgegen. Er reichte mir die Hand, er entriß mich jenem Leben und stellte mich an seine Seite. In den ersten Jahren ist er mir Freund, Vater, Lehrer – ist er mir alles gewesen. Was ich geworden bin, was ich erreicht und errungen habe – ich danke es ihm allein!“

Es sprach eine leidenschaftliche Empfindung aus den Worten und sie hatten den Ton der vollen echten Wahrheit, aber die Stirn Reinharts war so finster dabei, und es war ein seltsam düsterer Blick, mit dem er die junge Gattin seines Freundes streifte. Er erhob sich und trat dicht an ihre Seite.

„Und Sie sind jetzt sein Weib!“ sagte er mit einer Stimme, deren Beben er doch nicht ganz zu beherrschen vermochte. „Machen Sie ihn glücklich. Er verdient es und er liebt Sie über alles!“

„Ich weiß es –“ Elsa verstummte mitten in der Antwort, sie begegnete wieder jenem rätselvollen Blick, der den ihrigen wie mit geheimnisvoll zwingender Gewalt festzuhalten schien, unter dem sie zuerst erwacht war aus dem langen Traum. Ihr Gatte wußte es freilich nicht, wann dies Erwachen gekommen war – damals auf der einsamen Hochgebirgsmatte, als ringsum das graue Nebelmeer wogte, aus dem dann die sonnig leuchtende Welt emporstieg, als die Fata Morgana aufdämmerte, das Märchenreich, mit der Verheißung von dem großen, dem grenzenlosen Glück.

„Elsa!“ tönte plötzlich eine scharfe, heisere Stimme. Die junge Frau zuckte zusammen und Reinhart richtete sich mit einer jähen Bewegung auf. Der schrille Klang kam aus dem Zimmer Helmreichs, das im Erdgeschoß lag. Man hatte seinen Lehnstuhl dicht an das offene Fenster gerollt, um ihm den Genuß der milden Sommerluft und den Einblick in den Garten zu ermöglichen. Dort saß er jetzt und blickte unverwandt zu den beiden unter der Tanne hinüber. „Elsa!“ rief er noch einmal, beinahe drohend.

„Verzeihen Sie, der Großvater ruft mich – ich muß zu ihm,“ sagte Elsa gepreßt und hastig, und mit derselben Hast eilte sie dem Hause zu. Ehrwald preßte die geballte Hand gegen die Schläfe und es klang fast wie ein Stöhnen, als er murmelte: „Und das soll ich noch vier Wochen aushalten. Tag für Tag! Ich bin bald zu Ende mit meiner Kraft und dazu Lothars Ahnungslosigkeit – es ist zum Wahnsinnigwerden!“

Nach einigen Minuten wandte er sich gleichfalls dem Hause zu, er wollte sich sofort von Lothar verabschieden, gleichviel unter welchem Vorwande, aber für heute wenigstens mußte die Folter ein Ende nehmen. Ehrwald hatte den Professor nicht allzuhäufig gesehen, aber er war doch bekannt genug mit ihm, um sich den Eintritt in sein Zimmer zu erlauben, wenn Sonneck dort war. Er schritt rasch über die Terrasse in den Hausflur und wollte die nur angelehnte Thür öffnen, als sein eigener Name, im scharfen hohnvollen Tone ausgesprochen, an sein Ohr schlug. Betroffen blieb er stehen, Elsa schien allein zu sein mit dem Großvater und dieser sprach von ihm. So wenig es sonst Reinharts Art war, zu lauschen, hier fing er doch etwas von dem Gespräche auf und es ging ihn nahe genug an. –

[325] Helmreichs Leiden hatte in der letzten Zeit rasende Fortschritte gemacht. Der Kranke lag gebrochen im Lehnstuhl, von Kissen gestützt. Er hatte sich sehr verändert in den letzten beiden Monaten und der gänzliche Verfall seiner Züge deutete auf das nahe Ende hin. Nur die Augen allein hatten ihre alte durchdringende Schärfe behalten, es war, als drängte sich die ganze schwindende Lebenskraft nur noch in dem Blick zusammen.

„Du bist allein, Großpapa?“ fragte Elsa überrascht, als sie jetzt, noch sichtlich erregt von dem Zusammentreffen mit Reinhart, ins Zimmer trat. „Ich glaubte, Lothar sei bei Dir. Wo ist er denn?“

„In seiner Wohnung, er schreibt die Antwort auf den Brief, die noch mit der heutigen Post fort muß. Du kümmertest Dich natürlich nicht um mich, hattest ja so angelegentlich zu reden mit dem da draußen!“

„Du hast mich ja selbst fortgeschickt, und Lothar bat mich ausdrücklich, seinem Freunde Gesellschaft zu leisten.“

„Seinem Freunde!“ wiederholte Helmreich mit höhnischer Bitterkeit. „Freilich, er kann ja nicht leben, wenn er den nicht täglich sieht. Er hat schon einmal Unglück gehabt mit einem Busenfreunde und sollte sich diesmal besser vorsehen.“

„Mit welchem Freunde? Wen meinst Du?“

„Deinen Vater meine ich, dem er auch so blind vertraute und der ihn dann hinterging, ihm Wort und Treue brach –“

„Großpapa, laß das!“ fiel die junge Frau erregt ein. „Du [326] weißt, ich ertrage von Dir jede Härte, jede Bitterkeit, aber meinen Vater laß ruhen in seinem Grabe. Sprich nicht in diesem Tone von ihm, ich kann und will das nicht hören.“

„Sieh, wie energisch!“ höhnte der Professor. „Du willst nicht? Hast ja viel Selbständigkeit gelernt bei Deinem Manne. Sonst kanntest Du überhaupt keinen eigenen Willen; aber freilich, wenn man den ganzen Tag lang angebetet wird, dann wird man übermütig. Ich hätte Lothar für vernünftiger gehalten. Ich glaubte Dich einem ernsten Manne zu geben, der über solche Narrheiten längst hinaus ist, und nun verliebt er sich in Dich und treibt eine förmliche Abgötterei mit Dir. Es ist lächerlich!“

Elsa antwortete nicht, sie beugte sich ruhig nieder, um die Decke aufzuheben, die herabgeglitten war, und breitete sie sorgfältig wieder über die Kniee des Kranken; aber gerade ihr Schweigen schien diesen noch mehr zu reizen, er führ in dem gleichen Tone fort: „Der gute Lothar! Da freut er sich über Dein sogenanntes ‚Erwachen‘ und staunt es wie ein Wunder an – fürchten sollte er es! Da erzählt er Dir den ganzen Tag lang von seinen Zügen und Fahrten, rollt die ganze Welt vor Dir auf und weckt die alte unbändige Sehnsucht, die mir in Deinen Kinderjahren schon so viel zu schaffen machte. Ist der Mann denn mit Blindheit geschlagen? Die Elsa, die er aus meiner Hand empfing, hätte er behalten, denn die wußte, was Pflicht und Gehorsam heißt, aber sein ‚angebetetes Weib‘, das er nicht schnell genug freimachen konnte von den Fesseln meiner ‚Tyrannei‘, das wird er verlieren, hat er vielleicht schon verloren und er merkt es nicht einmal!“

„Du bist ungerecht gegen Lothar und mich,“ sagte Elsa ruhig. „Aber Du bist krank, Großpapa –“

„Und deshalb verzeihst Du mir großmütig, nicht wahr? Nimm Dich in acht, die Augen des Kranken sehen schärfer als die der Gesunden, sehen mehr als Dir lieb ist!“ Er faßte plötzlich mit hartem Druck ihre Hand, die sich noch an der Decke zu schaffen machte. „Was hast Du gesprochen mit diesem Ehrwald, vorhin, als er so dicht an Deine Seite trat? Antworte, ich will es wissen!“

„Wir haben von Lothar gesprochen.“

Der Professor ließ ein heiseres Lachen hören. „Wirklich? Spielt er Dir noch Komödie vor? Ich habe ihn von Anfang an nicht leiden können, den Burschen mit den schwarzen Feueraugen, der immer so stolz und gebieterisch dreinschaut, als hätte er der ganzen Welt zu befehlen, aber Dir gefällt er wohl um so besser?“

„Großpapa, laß mich,“ bat die junge Frau beklommen und versuchte sich loszumachen, aber die Hand des Großvaters lag feucht und eiskalt auf der ihrigen und hielt sie gewaltsam fest, während er ihr in drohenden: Tone zuraunte: „Hast Du es noch nicht begriffen oder willst Du es nicht begreifen? Verliebt ist er in Dich! In das Weib seines Freundes!“

Elsa bebte zusammen bei den Worten, die so jäh und erbarmungslos den Schleier von einem Unheil rissen, dessen Nahen sie wohl dunkel und angstvoll gefühlt hatte, das ihr aber nie zum klaren Bewußtsein gekommen war. Entsetzt, keines Wortes mächtig, blickte sie den alten Mann an, dessen unheimlich glühende Augen sich förmlich einbohrten in ihr Antlitz.

„Was wirst Du denn auf einmal so totenbleich?“ fragte er. „Brauchst Dich ja nicht darum zu kümmern, wenn Du weißt, was Ehre und Pflicht heißt. Oder kümmerst Du Dich vielleicht doch darum? Denkst Du, ich habe es nicht gesehen, wie Ihr nebeneinander standet, als ob die ganze Welt um euch versunken wäre, wie er Dir minutenlang ins Auge sah und Du ihm nicht wehrtest? Freilich, wo wäre auch Ehre und Treue zu finden bei dem Bernriedschen Geschlecht! Lothar hat schon einmal das Unheil über meine Schwelle geführt, ohne es zu ahnen, jetzt führt er es in sein eigenes Haus mit dem vielgeliebten Freunde. Damals war es Ludwig Bernried, dieser Schurke, und heut’ –“

Ein Aufschrei der jungen Frau unterbrach ihn, sie riß ihre Hand aus der seinigen und trat mit einer stürmischen Bewegung zurück. „Sage das nicht noch einmal! Nenne meinen Vater nicht mit solchem Namen – oder ich vergesse, daß Du krank bist, daß ich Dich schonen muß – vergesse alles! Ich ertrage das nicht!“

„Willst Du es mir vielleicht verbieten?“ rief Helmreich, aufs äußerste gereizt durch den Widerspruch. „Du weißt ja jetzt vieles, nahezu alles von Deinem Vater – Lothar hat es Dir erzählt – hast auch gerade Ursache, stolz auf ihn zu sein! Nachdem er sich und sein Weib zu Grunde gerichtet hatte, überließ er Dich meiner Barmherzigkeit. Ich, den er bis auf den Tod beleidigt hatte, mußte sein Kind erziehen. Nichts hat er auf Dich vererbt als dies leidenschaftliche Wesen, das sich so rebellisch aufbäumt gegen alles, was Pflicht und Gehorsam heißt. Ich habe es ausrotten wollen bei dem Kinde und habe es doch nur unterdrücken können. Sobald ich die Hand von Dir lasse, bricht es wieder hervor. Es wird noch das Unglück Deines Lebens werden!“

Weder er noch Elsa bemerkten es in der Erregung, daß die Thür sich öffnete, daß Ehrwald auf der Schwelle stand, bereit zum Schutze der jungen Frau; allein sie bedurfte keines Schutzes mehr. Als würfe sie eine lange getragene Last ab, so richtete sie sich jetzt empor und brach mit vollster Heftigkeit aus: „Das Unglück meines Lebens bist Du gewesen – ja Du, Großvater, mit Deiner erbarmungslosen Härte! Als ich zu Dir kam, eine kleine, verlassene Waise, die nichts auf der Welt hatte als Dich allein, da hätte ein jeder andere verziehen und das Kind an sein Herz genommen, wenn er auch die Eltern verstieß – Du hast mich gehaßt um meines Vaters Willen, jawohl, gehaßt! Ich habe es gefühlt vom ersten Augenblicke an, wenn ich es auch erst viel später erkennen lernte. Es hat Dir Freude gemacht, mich zu quälen und alles, was von Kraft und Leben in mir war, zu brechen. Du hättest mich am liebsten zum geistigen Tode verdammt. Ich bin schon einmal hinaus gelaufen in Nacht und Schnee, beinahe in den Tod, nur um Dir zu entfliehen, und jetzt möchte ich Lothar auf den Knieen danken, daß er mich Deiner Macht entrissen hat. Mein armer Vater hat eine Jugendsünde, zu der ihn doch nur die Liebe trieb, so schwer büßen müssen, aber Du hast zehnfach mehr gesündigt an ihm und an mir, Du, der keine Liebe und kein Verzeihen kennt. Und Du willst ihn jetzt noch im Tod beschimpfen, vor seinem Kinde beschimpfen? Versuche das nicht noch einmal, oder ich gehe von Dir und lasse Dich allein in Deiner Sterbestunde!“

Sie stand vor ihm, in glühender, leidenschaftlicher Empörung, und schleuderte ihm drohend all die Anklagen ins Antlitz, und der alte Mann, der seiner ganzen Umgebung ein Tyrann ohnegleichen war, der nicht den geringsten Widerspruch ertrug, er verstummte vor diesem jähen Ausbruch und sank scheu davor zusammen. Er hatte Furcht vor seiner Enkelin, vielleicht auch vor ihrer Aehnlichkeit mit dem toten Vater, die in diesem Augenblick in fast erschreckender Weise hervortrat.

Aber noch einem anderen drängte sich diese Aehnlichkeit auf. So hatten Ludwig Bernrieds Augen geflammt bei jenem Todesritte, als er den Gegner maß, der ihm den Sieg entriß. Ehrwald hatte eintreten wollen, aber er stand wie festgewurzelt an der Schwelle und sein Auge hing mit dem Ausdruck leidenschaftlicher Bewunderung an der jungen Frau. Da hatte eine grausame Erziehung nichts vernichten, sie hatte nur fesseln können und jetzt wurde die letzte Fessel abgeworfen! Das war wieder das schöne wilde Kind, das so lieblich schmeicheln, so maßlos trotzen konnte und es gerade mit diesem Trotz dem jungen Landsmanne angethan hatte, als er es emporhob in seine Arme und den versagten Kuß erzwang!

Das starre, entsetzte Staunen Helmreichs dauerte freilich nur Sekunden, dann kam ihm mit dem Zorn auch die Sprache zurück. Er lachte auf, so heiser und höhnisch wie vorhin.

„Und Du willst Lothars Frau sein? Dich hat der Mann gewählt, der sich nur nach Ruhe sehnt, den Du pflegen sollst in seinem stillen Heim? Wenn er Dich jetzt sähe, es würde ihm klarwerden, was er gethan hat. Zu dem anderen gehörst Du, dem das Feuer auch so aus den Augen sprüht wie Dir jetzt. Der ist Deinesgleichen, er wird Dich an sich ketten mit jener dämonischen Gewalt, die auch Dein Vater hatte, und Du – Du wirst früher oder später thun, was Deine Mutter that, als sie aus meinem Hause floh. Aber ehe es dahin kommt, ehe ich das zum zweitenmal erlebe, eher mochte ich Dich mit eigener Hand –“

Er vollendete nicht, aber seine zuckende Hand griff nach dem schweren Leuchter, der neben ihm auf dem Tische stand, und mit dem letzten fieberhaften Aufflammen der Lebenskraft schleuderte er ihn nach der jungen Frau. Doch in demselben Augenblick stand auch schon Ehrwald da und riß sie zurück. Der Leuchter fiel schmetternd zu Boden, gerade da, wo sie gestanden hatte.

„Sie sind von Sinnen, Herr Professor!“ sagte Reinhart in jenem strengen, gebieterischen Tone, in dem man zu einem Wahnsinnigen spricht, der gebändigt werden soll. „Sie hätten Ihre Enkelin getötet ohne mein Dazwischentreten!“

Dies Dazwischentreten war das Schlimmste, was geschehen konnte, es erregte den Kranken aufs äußerste. In seinen Augen [327] funkelte maßloser Haß, als er kaum verständlich hervorstieß: „Sie – Sie sind es? Fort, hinaus! Was wollen Sie hier?“

„Frau von Sonneck schützen, bis ihr Gatte zur Stelle ist. Kommen Sie, gnädige Frau! Sie sehen es ja, Ihr Großvater ist unzurechnungsfähig.“ Er wollte sie fortführen, aber Elsa machte sich los und eilte mit einem Schreckensrufe zu dem Professor, der plötzlich zurückgesunken war. Sein ganzer Körper wurde von einem Krampfanfall geschüttelt, aber er stieß die Hand seiner Enkelin zurück, als sie ihm Hilfe leisten wollte.

„Fort von mir! Lothar soll kommen. Lothar!“

In diesem Augenblick erschien Sonneck wirklich, die immer lauter werdenden Stimmen hatten ihn herbeigezogen. Er eilte gleichfalls zu Helmreich. „Was ist geschehen? Kam der Anfall so plötzlich? Gieb ihm die Tropfen, Elsa, vielleicht geht es wieder vorüber.“

Aber es ging diesmal nicht vorüber. Der Kranke wurde zwar schon nach wenigen Minuten ruhiger und lag fast regungslos, allein seine Brust hob sich schwer und röchelnd und seine Lippen bewegten sich, als ob er sprechen wollte. Sonneck beugte sich tief zu ihm nieder.

„Wir sind bei Ihnen,“ sagte er beruhigend. „Ich bin’s, Lothar, ich und meine Elsa.“

Da flammte es noch einmal auf wie Hohn und Haß in den Augen des Sterbenden. Seine Stimme hatte keinen Klang mehr, ein hohles, geisterhaftes Geflüster streifte, nur Sonneck vernehmbar, an dessen Ohr hin: „Deine Elsa? Du armer Thor! Hüte Dich vor dem da – vor dem da! Und hüte sie vor ihm – wenn es nicht schon zu spät ist!“

Seine zuckende Hand hob sich und wollte auf Ehrwald weisen, aber sie fiel kraftlos nieder, es war das letzte Aufflackern des Bewußtseins, das jetzt zu erlöschen schien.

„Was sagte er Dir? Hast Du ihn verstanden?“ fragte Elsa angstvoll.

„Nichts, Phantasien eines Sterbenden,“ entgegnete Sonneck halblaut, aber er war bleich geworden bis in die Lippen.

Helmreich sah und fühlte offenbar nicht mehr, daß man sich mit allen möglichen Hilfeleistungen um ihn bemühte. Noch ein kurzer schwerer Kampf, dann erstarrte alles in der eisigen Ruhe des Todes, es war zu Ende.

„Er hat ausgelitten. Wir wollen ihm den Frieden gönnen,“ sagte Lothar, indem er sich emporrichtete; seine Stimme war klanglos und ein eigentümlich schwerer und fragender Blick streifte den Freund und die junge Frau, die stumm und thränenlos vor der Leiche des Großvaters kniete. Es folgte eine lange Pause. Niemand sprach, die unheimliche Stille des Todes herrschte in dem Gemach, endlich trat Reinhart zu seinem Freunde und bot ihm die Haud. „Es ist wohl besser, ich lasse Dich jetzt allein mit Deiner Frau. Auf morgen, Lothar!“

Er neigte sich schweigend vor Elsa und ging. Lothar sah ihm nach, wieder mit jenem seltsam fragenden Blick, dann wandte er sich zu seiner Gattin und hob sie empor.

„Komm, mein armes Kind, weine Dich hier aus!“ sagte er tiefernst und schloß sie in die Arme, während die junge Frau in ein lautes, leidenschaftliches Schluchzen ausbrach.




Jenseit der Bergeskette, die das Kronsberger Thal von allen Seiten einschloß, lag der mächtige Alpensee, dessen Ufer zum Teil die Grenze des Landes bildeten. Man hatte nur vier bis fünf Stunden bis dahin, aber die Landschaft trug einen durchaus anderen Charakter. Weithin dehnte sich die schimmernde Fläche des Sees, dessen jenseitige Ufer kaum sichtbar waren, die Berge traten überall zurück und die freundlichen Ortschaften zu ihren Füßen lagen inmitten von blühenden Wiesen und prächtigen Baumgruppen wie in einem großen Garten da.

Die heitere Schönheit der Landschaft hatte auch viel Freunde gefunden, das zeigten die zahlreichen Ansiedlungen, die sich überall an den Ufern erhoben, bescheidene Landhäuser, von dichtem Grün umrankt, und schloßartige Villen, von Parkanlagen umgeben, und dazwischen all die großen Hotels, die zur Sommerszeit dem auf- und abflutenden Strome der Reisenden Aufnahme gewährten.

Auf der Terrasse eines dieser Hotels saß Lothar Sonneck und blickte hinaus in die Landschaft, die heute im hellen Sonnenglanz ein ungemein reizvolles Bild zeigte; aber er sah offenbar nichts davon, sondern schien ganz in düstere Träumerei verloren. Sein Antlitz war wohl immer ernst gewesen, doch jetzt stand ein grübelnder Zug darin und die Augen hatten jenes Aufleuchten verlernt, das noch vor wenigen Wochen von so viel heimlichem Glücke sprach. Der alte verbitterte Mann, der nun schon seit drei Wochen im Grabe ruhte, hatte noch mit dem letzten Atemzüge Unheil über drei Menschen gebracht.

Da nahte ein leichter Schritt, Sonneck blickte auf und lächelte; seine junge Frau, die jetzt herantrat, bekam nichts von der Düsterheit zu sehen, die eben noch sein Antlitz so schwer beschattete. Elsa trug Trauer um den Großvater und das tiefe Schwarz hob die rosige Frische ihrer Erscheinung nur um so mehr. Sie nahm ihrem Gatten gegenüber Platz und sagte mit einem halbunterdrückten Seufzen: „Ich komme allein – Zenaide ist soeben nach Malsburg gefahren.“

„Also doch! Du hast sie nicht zurückhalten können?“

„Nein, sie hört weder auf Bitten noch auf Vorstellungen und will ein Wiedersehen mit ihrem Kinde erzwingen.“

„Das wird eine schlimme Scene geben!“ sagte Lothar sorgenvoll. „Zenaide ist maßlos leidenschaftlich und unbesonnen. Was für unsinnige Pläne habe ich schon verhindern müssen, seit sie weiß, daß das Kind in ihrer Nähe ist, und sie gab doch immer mir für den Augenblick nach, wenn ich ihr die Unmöglichkeit der Ausführung klar machte.“

„Konntest Du sie nicht wenigstens begleiten?“ warf Elsa ein.

„Das wäre nutzlos gewesen. Marwood hätte es zweifellos als ein unberechtigtes Eindrängen zurückgewiesen, und Zenaide wünschte es ja nicht einmal.“

„Der Lord hat sie aber auch aufs äußerste getrieben,“ sagte die junge Frau erregt. „Zweimal hat sie ihm geschrieben und verlangt, daß er ihr ihren Sohn nur auf einen Tag nach Kronsberg sende – er verweigerte es. Mein Gott, eine Mutter wird doch das Recht haben, ihr Kind zu sehen!“

„Gewiß, aber wenn es einmal so weit gekommen ist wie zwischen den beiden, wer fragt da noch nach dem Rechte! Uebrigens begreife ich Marwoods Weigerung. Er fürchtet, daß, wenn seine Frau das Kind erst einmal in Händen hat, sie es freiwillig nicht wieder zurückgiebt und es auf gewaltsame Maßregeln ankommen läßt. Das fürchte ich auch und deshalb allein entschloß ich mich zu der Reise mit Dir. Ich versuchte durch Hartley das Zugeständnis zu erlangen, daß der Kleine für einige Stunden hierher in das Hotel zu seiner Mutter gesandt würde, wenn ich die Bürgschaft für seine Rückkehr übernähme. Ich ließ Marwood melden, daß Zenaide in unserer Begleitung ist; vergebens, er beharrt auf seiner Weigerung, Hartley selbst brachte mir heute morgen die Nachricht. Da können wir nichts thun als der Sache ihren Lauf lassen – Gott allein weiß, wie sie endigt!“

Es trat eine Pause ein, sie schwiegen beide und blickten auf den sonnenbeglänzten See hinaus. Soeben legte der Dampfer, der vom jenseitigen Ufer kam, in der Nähe des Hotels an und ein Teil der Reisenden stieg ans Land. Die junge Frau war an die Brüstung getreten und schaute gleichgültig auf das Gewühl; auf einmal aber erbleichte sie und ihre Augen richteten sich groß und starr auf einen Punkt. In der nächsten Minute jedoch wandte sie sich zu ihrem Mann und sagte anscheinend ruhig: „Ich habe vergessen zu sagen, daß wir heute allein speisen wollen. Ich werde es wohl bestellen müssen.“

Es war noch eine volle Stunde bis zur Mittagszeit, aber Sonneck machte keinen Versuch, seine Frau zurückzuhalten, wie sonst in Burgheim, wo er jede Minute zählte, die sie fern von ihm war. Er sah ihr nur mit einem langen düsteren Blicke nach, bis sie verschwunden war. Dann stand er rasch auf, als wollte er sich seinen Gedanken entreißen, und musterte zerstreut die Fremden, die der Dampfer gelandet hatte und die eben durch den Garten kamen. Auf einmal aber stutzte er und ließ einen Ausruf der Ueberraschung hören. Was war das? Wie kam Reinhart hierher? Er war ja in der Residenz, um dort persönlich die letzte Rücksprache wegen seiner Expedition zu nehmen, und wollte erst in acht Tagen nach Kronsberg zurückkehren, um Lebewohl zu sagen. Und doch war es seine hohe Gestalt, die all die anderen überragte. Er kam gerade auf das Hotel zu, jetzt bemerkte er auch den Freund auf der Terrasse und eilte mit allen Zeichen der Ueberraschung die Stufen hinauf. „Du bist es Lothar! Ich glaubte Dich in Burgheim. Wie kommst Du hierher?“

„Die Frage gebe ich Dir zurück,“ entgegnete Sonneck ebenso erstaunt. „Was thust Du hier? Ich denke, Du bist in der Residenz.“

[330] „Ich bin heute morgen von dort abgereist und es hat Mühe genug gekostet, mich jetzt schon frei zu machen, aber“ – er brach plötzlich ab und setzte rasch hinzu: „Hast Du Zenaide hierher begleitet?“

„Allerdings. Du weißt es, daß sie hier ist?“

„Ich kam auf ihren Ruf, sie schrieb mir vor einigen Tagen.“

„Um Gotteswillen, welche neue Unvorsichtigkeit!“ rief Lothar erschrocken. „Will sie denn Marwood immer mehr Waffen gegen sich in die Hand geben? Du warst der letzte, an den sie sich wenden durfte, und Du hättest auch nicht kommen dürfen, Reinhart, unter keiner Bedingung!“

Statt aller Antwort zog Reinhart seine Brieftasche hervor und entnahm ihr einen Brief, den er seinem Freunde hinreichte.

„Lies! Und dann sage mir, ob ich da ausweichen oder mit einer Weigerung antworten konnte.“

Sonneck durchflog den Brief und gab ihn dann mit einem Seufzer zurück. „Also deshalb wollte sie anfangs meine Begleitung nicht annehmen, ich mußte sie ihr förmlich aufdrängen! Der Brief klingt allerdings verzweiflungsvoll. Sie ruft Dich, ihren ‚einzigen Freund‘, zu Hilfe? Ich bin es ihr nicht mehr, seit ich mich den Unmöglichkeiten widersetzte, die sie versuchen wollte. Ist Dir bekannt, was sie von Dir fordern wird?“

„Ich errate es nur zu gut, denn sie machte mir schon damals Andeutungen, als ich mich von ihr verabschiedete. Sie will sich um jeden Preis in den Besitz ihres Kindes setzen, es nötigenfalls entführen –“

„Wozu Du doch nimmermehr die Hand bieten wirst?“ fiel Sonneck heftig ein.

„Nein, denn die Folgen würden mit ihrer ganzen Schwere auf Zenaide selbst zurückfallen. Ihr Gemahl hat ja das Gesetz zur Seite und wird es schonungslos brauchen. – Der abenteuerliche Plan konnte nur in dem Kopfe einer Frau entstehen, die fast bis zum Wahnsinn gebracht ist, und das ist Marwoods Werk! Ihr sogar den Anblick des Kindes zu versagen – es ist eine schändliche Grausamkeit!“

„Ich fürchte, es ist eine planmäßige Berechnung. Er will sie zu einem Gewaltschritte treiben, der sie ihm gegenüber in das vollste Unrecht setzt, um dann seinerseits die Bedingungen der Scheidung zu diktiren und sich seinen Sohn zu sichern. Und er wird seinen Zweck erreichen! Schon Deine Nähe kann da ausgebeutet werden; Du weißt es ja, was für Klatschereien über Dich und Zenaide im Umlauf sind.“

„Ja, ich weiß es,“ sagte Ehrwald einsilbig.

Sonnecks Blick ruhte auf ihm, mit einem geheimen, angstvollen Forschen; er hätte alles darum gegeben, wenn Reinhart sich jetzt das Geständnis seiner Liebe zu Zenaide hätte entreißen lassen und ihm die Gewißheit gegeben hätte, daß jene letzten Worte Helmreichs nur eine aberwitzige Einbildung gewesen seien; aber Reinharts Züge blieben unbewegt, es ließ sich nichts darin lesen.

„Es ist nur ein Glück, daß ich hier bin mit Elsa,“ hob Lothar wieder an, er sprach den Namen ganz unvermittelt aus.

„So? Deine Frau hat Dich begleitet?“ fragte Reinhart kühl.

„Ja, und unser Hiersein kann wenigstens den Vorwand für Dein Erscheinen hier geben. Du hast natürlich uns aufgesucht, und wir haben gemeinschaftlich dies Zusammentreffen verabredet! Uebrigens müssen die nächsten Stunden schon irgend eine Entscheidung bringen, denn Zenaide ist trotz aller Abmahnungen nach Malsburg gefahren und man kann sie doch nicht von der Schwelle weisen. – Doch jetzt komm, Reinhart, wir müssen daran denken, Dir ein Zimmer zu sichern, das Hotel ist sehr besetzt.“

Sie schritten dem Hause zu, ernst und schweigend, von der hellen Freude, mit der sie sonst beide jedes Wiedersehen begrüßten, war keine Spur mehr geblieben. Ehrwald ahnte ja nichts von jenem unseligen Argwohn, der in die Seele seines Freundes geworfen war und nun verzehrend fortglimmte; aber es lag zwischen ihnen wie ein kalter Schatten. –000

[341] Während Ehrwald und Sonneck in dem Hotel des Villenorts am See zusammentrafen, rollte der Wagen, in dem sich Lady Marwood befand, am Seeufer dahin. Man war bereits im September, aber es war ein glühend heißer Tag, wie mitten im Hochsommer. Die Sonne brannte und blitzte auf der weiten Wasserfläche, und drüben an den Bergen sammelte sich dunkles Gewölk, das auf ein Spätgewitter hinzudeuten schien.

Malsburg, die Hartleysche Besitzung, lag nur eine halbe Stunde entfernt. Es war eine große Villa, inmitten eines weiten schattigen Parkes, alles im vornehmsten Stil gehalten. Zenaide übergab dem Diener, der bei der Anfahrt des Wagens herbeieilte, ihre Karte und ließ sich bei dem Herrn des Hauses melden. Nach einigen Minuten erschien denn auch der ehemalige Lieutenant Hartley, jetzt ein stattlicher, ernster Mann, und begrüßte die Dame, zwar mit vollster Artigkeit, aber doch mit kaum verhehlter Verlegenheit und Bestürzung.

„Ah, Mylady, Sie selbst? Wir sind sehr erfreut – leider befindet sich Mistreß Hartley nicht wohl und ist außer Stande –“

„Ich bedauere!“ schnitt ihm Zenaide das Wort ab. „Ich will durchaus nicht stören, Mister Hartley; mein Besuch gilt nur meinem Sohne, der sich in Ihrem Hause befindet und den ich zu sehen wünsche.“

„Mylady, ich weiß nicht –“

„Den ich zu sehen wünsche!“ wiederholte sie mit vollem Nachdruck. „Ich bitte, mich zu ihm zu führen.“

Hartley sah in das Antlitz der schönen Frau, der auch er einst gehuldigt hatte. Ja, sie war noch blendend schön, aber eine andere war sie geworden, und jetzt stand in ihrem Antlitz ein Zug verzweiflungsvoller Entschlossenheit, der ihm zeigte, daß hier jede Ausflucht umsonst sei.

„Percy ist in der Obhut seines Vaters,“ entgegnete er, „und Sie wissen ja, welchen Standpunkt Francis einnimmt. Ich fürchte, Sie haben sich umsonst bemüht, Mylady. Ich selbst bin leider außer Stande –“

„Soll das etwa heißen, daß Sie mir den Eintritt in Ihr Haus versagen?“ fuhr Zenaide auf.

„Mylady, ich bitte Sie –“ Die Stimme des Hausherrn klang in peinlichster Verlegenheit. „Wie können Sie meine Worte so auffassen! Ich glaube doch Herrn Sonneck bewiesen zu haben, wie gern ich bereit bin, Ihnen meine Dienste anzubieten, aber ich habe wirklich nicht das Recht, hier eigenmächtig zu handeln, gegen den Willen Ihres Gemahls. Sie werden sich an ihn selbst wenden müssen.“

„Gut, so benachrichtigen Sie ihn von meiner Ankunft! Ich war gefaßt auf diese Begegnung, als ich hierher kam.“

Hartleys Miene verriet, daß er diese Begegnung fürchtete; doch es blieb ihm nichts übrig, als sich der mit so großer [342] Bestimmtheit ausgesprochenen Forderung zu fügen. Er verneigte sich daher und bot der Dame den Arm, um sie in das Haus zu führen. Hier geleitete er sie in einen Salon und ging dann unverzüglich zu seinem Freunde.

Zenaide hatte sich niedergelassen, aber schon in der nächsten Minute sprang sie auf und trat an das Fenster, um es gleich darauf wieder zu verlassen. Die lächelnde, sonnige Schönheit der Landschaft da draußen erschien ihr wie ein Hohn. In fieberhafter Unruhe begann sie in dem Gemach auf und nieder zu schreiten, man sah es, daß sie zum Aeußersten entschlossen war. Sie hatte es ja gewußt, daß sie sich das Wiedersehen mit ihrem Kinde erst werde erkämpfen müssen – nun gut, sie war zum Kampfe bereit!

Da öffnete sich die Thür und Lord Marwood erschien auf der Schwelle. Er war noch immer ein schöner Mann, fast unverändert in seiner äußeren Erscheinung, vornehm, kalt, hochmütig wie sonst, nur daß sich diese Kälte und dieser Hochmut noch schärfer ausprägten als früher, und jetzt vollends lag in seiner Haltung eine eisige Unnahbarkeit.

Er machte seiner Gemahlin eine Verbeugung, so förmlich und abgemessen, als stünde er einer völlig fremden Dame gegenüber. Sie erwiderte den Gruß nicht und sprach auch nicht, nur ihre Augen waren voll und finster auf den Mann gerichtet, der noch ihr Gatte hieß und der Vater ihres Kindes war. Er nahm zuerst das Wort.

„Sie wünschen mich zu sprechen, Mylady, wie ich von Hartley höre. Darf ich fragen, was mir die Ehre dieses unerwarteten Besuches verschafft?“

„Wollen wir uns die Komödie nicht lieber ersparen?“ fragte Zenaide herb. „Sie haben mir keine Wahl gelassen und mich gezwungen, meinen Sohn hier bei Ihnen aufzusuchen, haben mich zu dieser Begegnung gezwungen, von der ich befreit zu sein hoffte für alle Zeit. Sie erraten wohl, was mich das kostet – gleichviel, ich bin hier und will meinen Percy sehen! Ich fordere mein Recht, das Recht der Mutter, das Sie mir bisher in so unerhörter Weise versagt haben und das kein Gesetz mir abstreiten kann!“

„Das wäre doch noch die Frage,“ entgegnete Marwood kalt. „Als Sie England verließen, freiwillig verließen, da leisteten Sie Verzicht auf Ihre Rechte als Gattin und Mutter und es steht bei mir, ob ich sie noch anerkennen will.“

„Und das sagen Sie mir!“ rief Zenaide mit sprühenden Augen. „Sie, der mich zu diesem Schritte getrieben hat? Ja, ich bin einem Leben entflohen, das für mich zur Hölle geworden war – durch Sie! Ich habe die Fesseln zerrissen, mit denen Sie mich an die Welt ketteten, der Sie angehören, wo jede warme Regung, jedes Gefühl erstickt wird in kalten lügenhaften Formen. Hätte ich ahnen können, daß Sie das benutzen würden, um mir mein Kind zu nehmen, vielleicht hätte ich trotz alledem diese Hölle ertragen.“

Marwoods Antlitz blieb völlig unbewegt bei diesem leidenschaftlichen Ausfall und auch seine Stimme verriet nicht die mindeste Erregung, als er erwiderte: „Sie sind sehr aufrichtig, Mylady, aber Sie lieben es nun einmal, sich in excentrischen Ausdrücken zu ergehen. Jedenfalls haben Sie kein Recht, sich über diese ‚kalten lügenhaften Formen‘ zu beklagen, denn Sie haben sich von jeher in einer Weise darüber hinweggesetzt, die der Gesellschaft immer wieder von neuem Veranlassung gab, mich wegen meiner Wahl – zu bedauern.“

„Die Gesellschaft, jawohl!“ Zenaide lachte bitter auf. „Das ist für Sie das einzig Maßgebende in der Welt, und daß ich diese hochmütige englische Gesellschaft stets verachtet habe, das verzeihen Sie mir nicht! Weshalb warben Sie um mich mit solcher Beharrlichkeit? Sie wußten es ja, daß ich Sie nicht liebte, ich habe Ihnen nie ein Hehl daraus gemacht, und doch setzten Sie alles daran, mich zu gewinnen. Sie haben mich auch nie geliebt, Francis, jetzt hassen Sie mich und ich gebe Ihnen den Haß zurück aus vollster glühender Seele, denn Sie haben mich jahrelang gepeinigt und gemartert mit diesem kalten Hohn, der darauf berechnet war, mich zur Verzweiflung zu treiben! Sie haben es dahin gebracht, daß ich dem Tage fluchte, wo ich meine Hand in die Ihrige legte, daß ich diese unselige Ehe –“

„Mylady, ich bitte Sie, keine Scenen!“ unterbrach sie der Lord. „Das ist allerdings Ihre stärkste Seite, aber ich verabscheue sie nun einmal. Wozu denn überhaupt diese Vorwürfe? Wir sind ja vollkommen einig in dem Wunsche, unsere längst getrennte Ehe nun auch gesetzlich aufzuheben, und ich komme Ihnen darin durchaus entgegen. Sie wissen, ich stelle nur eine einzige Bedingung.“

Aus seinen Worten und seiner ganzen Haltung sprach in der That der „kalte Hohn“, gegen den seine Gemahlin sich so aufbäumte. Man begriff es nur zu sehr, daß dieser Mann die leidenschaftliche Frau zu einem Verzweiflungsschritte getrieben hatte. Sie brach auch jetzt mit furchtbarer Heftigkeit aus:

„Sprechen Sie mir nicht von dieser unmöglichen, dieser schmachvollen Bedingung! Ich soll jedem Anspruch auf meinen Sohn entsagen? Bin ich eine Verbrecherin, die das Recht verwirkt hat, ihn in die Arme zu schließen? Ich gäbe sonst alles darum, frei zu werden von der Kette, die mir noch am Fuße klirrt, aber um diesen Preis – nimmermehr!“

„Ueberlegen Sie sich die Sache, Mylady,“ sagte Marwood eisig. „Jetzt stelle ich Ihnen noch die Wahl, und wenn Sie nachgeben, vollzieht sich unsere Scheidung mit gegenseitiger Einwilligung, ohne peinliche Zwischenfälle. Im anderen Falle würde ich diese Bedingung gerichtlich stellen und mich auf das Gesetz berufen müssen. Sie haben mein Haus verlassen, gegen meinen Willen, und sind jahrelang fern geblieben, und die Art, wie Sie diese eigenmächtig genommene Freiheit brauchten, wird nicht gerade zu Ihren Gunsten sprechen in dem Scheidungsprozeß. Ich bin sehr genau unterrichtet darüber.“

„Haben Sie mich vielleicht mit Spionen umgeben?“ fragte Zenaide verächtlich. „Es scheint beinahe so. Ich weiß, daß man allerlei Klatschereien und Verleumdungen über mich ausgestreut hat – man hat gelogen!“

„Das wäre doch erst noch zu beweisen.“

„Glauben Sie Ihren Spionen mehr als den Worten Ihrer Gemahlin? Ich sage Ihnen, man hat gelogen!“

Der Lord zuckte statt aller Antwort die Achseln. „Wir wollen jetzt nicht darüber streiten, kommen wir auf die Hauptsache zurück! Sie haben doch wohl nie daran gezweifelt, daß ich meinen Sohn und Erben, den Stammhalter meines Hauses, selbst zu erziehen und ihn nicht von meiner Seite zu lassen gedenke. Sie haben Percy seit Jahren nicht gesehen und es dürfte Ihnen auch jetzt nicht schwer werden, darauf zu verzichten – Sie haben ja vollen Ersatz.“

„Ersatz? Wofür? Was meinen Sie?“

Um Marwoods Lippen spielte ein unglaublich verletzendes Lächeln. „Ich sagte Ihnen ja schon, daß ich genau unterrichtet bin. Ich meine den Helden Ihrer romantischen Jugendliebe, der jetzt wieder aufgetaucht ist. Beruhigen Sie sich, ich bin nicht eifersüchtig, bin es eigentlich nie gewesen; ich fand es nur vermessen, daß der kecke junge Glücksritter seine Augen so hoch erhob. Nun er hat ja wirklich Glück gehabt in der Welt, er ist zu einer Berühmtheit geworden, und Sie sind frei, sobald Sie es wollen. Ich glaube, es kostet Ihnen nicht viel Ueberwindung, den Namen und Rang einer Lady Marwood mit dem einer – Frau Ehrwald zu vertauschen. Sie waren nie aristokratisch angelegt.“

Zenaide erwiderte keine Silbe, nur ihre Augen flammten drohend dem Manne entgegen, der sie mit jedem Worte, jedem Blicke verletzte. Sie raffte den letzten Rest ihrer Selbstbeherrschung zusammen.

„Genug! Machen wir ein Ende mit dieser Unterredung. Ich kam nicht, um mit Ihnen zu streiten, meinen Sohn will ich sehen – hören Sie, ich will! Und wenn Sie es mir jetzt noch verweigern, dann dringe ich gewaltsam in sein Zimmer und will doch sehen, ob man es wagen wird, die Mutter von seiner Schwelle fortzuweisen.“

Es lag eine so wilde Energie in den Worten, daß der Lord einsah, er könnte seine Weigerung nicht aufrecht erhalten, wenn er nicht eine peinliche Scene heraufbeschwören wollte, und er verabscheute ja die Scenen, zumal hier in dem fremden Hause, wo er nur Gast war. Er gab nach, aber um seine Lippen spielte ein kaltes, grausames Lächeln, das nichts Gutes verhieß.

„Es sei, da Sie darauf bestehen! Ich hole Percy.“

Er ging, Zenaide preßte beide Hände gegen die Brust und atmete tief auf. Nun war es endlich erzwungen, sie sollte ihr Kind, das sie jahrelang entbehrt hatte, wieder in die Arme schließen. Und dann? Sie dachte nicht über dies „dann“ nach, für sie drängte sich alles zusammen in dem einen Gedanken des Wiedersehens.

Nach etwa zehn Minuten kehrte Marwood zurück, den kleinen Percy an der Hand. Der siebenjährige Knabe war ein schönes [343] Kind, hatte indessen auch nicht einen einzigen Zug von seinem Vater. Das tiefschwarze Haar und die großen dunklen Augen gehörten nicht dem blonden, helläugigen Geschlechte der Marwoods an, und so kindlich das Gesicht auch noch war, es verriet doch schon eine unverkennbare Aehnlichkeit mit dem der Mutter. Man hatte es dem Kleinen wohl gesagt, daß man ihn zu seiner Mutter führe, aber er schien keine Erinnerung mehr an sie zu haben, denn er blickte scheu und fremd zu ihr hinüber und schmiegte sich fest an den Vater.

Zeuaide aber vergaß beim Anblick ihres Sohnes alles andere. Mit dem Aufschrei: „Percy, mein Percy!“ stürzte sie auf ihn zu, riß ihn in ihre Arme und bedeckte ihn mit heißen Küssen. Der Knabe, überrascht und bestürzt, duldete das im ersten Augenblick, dann aber sträubte er sich gegen die Liebkosungen.

„Laß mich!“ rief er und versuchte sich loszumachen. „Laß mich los! Du sollst mich nicht küssen, ich leide es nicht!“

Zenaide zuckte schmerzvoll zusammen bei diesem Tone und dieser Abwehr; aber freilich, das Kind hatte sie ja so lange nicht gesehen, die Mutter war ihm fremd geworden!

„Percy, kennst Du mich denn nicht mehr?“ schmeichelte sie mit stürmischer Zärtlichkeit. „Ich bin’s ja, Deine Mama, die Dich so grenzenlos lieb hat. O, das sind noch Deine großen Augen, das ist Dein süßes, süßes Gesichtchen! Mein Kind, mein Alles, endlich habe ich Dich wieder! Willst Du Deine Mama nicht lieb haben?“

Sie schloß ihn von neuem in die Arme und überströmte ihn mit leidenschaftlichen Liebkosungen. Die zärtlichen Schmeichellaute schienen in der That in dem Kinde eine Erinnerung an frühere Zeiten zu erwecken, wo die Mutter noch bei ihm weilte, es schaute sie groß an und wandte dann den Kopf fragend nach dem Vater zurück.

Lord Marwood stand einige Schritte entfernt, ohne das Wiedersehen zu stören, und jetzt sagte er, wie zur Antwort auf die stumme Frage: „Gewiß, Percy, es ist Deine Mama. Du weißt es ja, daß sie so lange fort gewesen ist.“

Die Worte klangen schneidend scharf und sie mußten wohl eine Bedeutung für den Knaben haben, denn er riß sich plötzlich ungestüm los.

„Nein, ich will Dich nicht lieb haben!“ rief er zornig. „Du hast mich auch nicht lieb. Du hast mich und den Papa allein gelassen und bist fortgegangen, weit fort. Du bist so bös! Ich will bei meinem Papa bleiben; geh wieder fort, ich mag Dich nicht!“

Zenaide war totenbleich geworden, ihr Auge suchte ihren Gatten, der scheinbar ganz unbewegt dastand, aber sie sah den Triumph in seinen Zügen und mit halb erstickter Stimme stieß sie hervor: „Das ist Ihr Werk!“

„Was, Mylady?“ gab er eisig zurück. „Daß Percy seinen Vater liebt, der ihn erzog, und nicht die Mutter, die ihn verließ? Ich meine, das ist nur natürlich.“

„Percy, komm zu mir!“ rief Zenaide außer sich. „Du sollst zu mir kommen, Du mußt mich lieben! Percy, hörst Du nicht?“

Es lag eine Todesangst in dem verzweifelten Ausruf, aber der Knabe hörte nur das Gebieterische darin und jetzt flammte sein ganzer Trotz auf.

„Nein – nein!“ schrie er mit einer Leidenschaftlichkeit, die nur zu sehr an die Mutter erinnerte, „ich will nicht zu Dir! Komm mir nicht nahe!“ Und als sie trotzdem versuchte, sich ihm zu nahen, schlug er nach ihr und floh zu seinem Vater, an den er sich anklammerte.

Marwood legte den Arm um seinen „Sohn und Erben“ und um seine Lippen spielte wieder dasselbe grausame Lächeln wie vorhin, als er ging, ihn zu holen. Er hatte ja den Verlauf der Sache vorausgewußt.

„Ich glaube, das erledigt unsern Streitpunkt,“ sagte er. „Sie werden schwerlich wünschen, daß sich derartige Begegnungen wiederholen. Es muß ja peinlich sein für Sie, und Percy leidet auch darunter. Ich bin überzeugt, jetzt werden Sie auf meine Bedingung eingehen, und dann – ich wiederhole es Ihnen – sind Sie frei und können ganz Ihren Neigungen leben!“

Er hatte kein Erbarmen mit der gequälten Frau und ersparte ihr selbst in diesem Augenblick nicht den hämischen Spott; aber das wurde nicht mehr gefühlt. Zenaide war verstummt, seit sich die kleine Hand dort gegen sie gehoben hatte. Nur ein Blick voll Todesqual fiel noch auf das Kind, dann brach sie zusammen und die furchtbare Erregung machte sich in einem Weinkrampf Luft.

War es jener Blick oder das verzweiflungsvolle Weinen, Percy schien jetzt erst zu fühlen, daß er der Mutter wehegethan hatte. Er blickte erst zu dem Vater empor, dann zu ihr hinüber und sagte endlich scheu und leise: „Mama weint!“

Der Lord runzelte die Stirn; Krämpfe und vielleicht gar Ohnmachten, das fehlte nur noch! Wollten die Scenen denn gar kein Ende nehmen? Er trat zu seiner Gemahlin.

„Ich bedaure, Mylady. Ich hatte gewünscht, Ihnen diesen Auftritt zu ersparen, aber Sie haben ihn erzwungen. Ich fürchte, daß meine Nähe Ihnen jetzt peinlich ist, und will Sie davon befreien. Komm, Percy!“

Er nahm die Hand seines Sohnes und wollte ihn hinausführen, aber Percy zögerte. Er blickte noch immer zu der Mutter hinüber und wiederholte fast bittend: „Mama weint so sehr!“

Die Falte auf der Stirn Marwoods vertiefte sich, er zuckte die Achseln.

„Mama ist unwohl, wir werden ihr Hilfe senden,“ sagte er kurz und zog den Knaben mit sich fort; dieser folgte auch, aber auf der Schwelle wandte er sich noch einmal um und sah zurück. Es war, als habe das Kind eine Ahnung von der Grausamkeit, die bis auf den Tod verwundete Frau jetzt allein zu lassen. –

Es war Nachmittag geworden. In Malsburg war man soeben vom Tische aufgestanden, Mistreß Hartley hatte sich zurückgezogen und die beiden Herren gingen auf der Terrasse auf und nieder, während Percy mit dem großen Bernhardiner spielte. Bei Lord Marwood hatte die erregte Scene, die vor einigen Stunden hier stattgefunden, anscheinend gar keinen Eindruck hinterlassen, er gab sich mit voller Behaglichkeit dem Genuß seiner Cigarre hin. Hartley dagegen war ernst und nachdenklich und es lag ein Vorwurf in semer Stimme, als er jetzt sagte: „Ich fürchte, Du bist sehr hart gewesen, Francis. Lady Marwood sah furchtbar aus, als ich sie zum Wagen geleitete.“

„Ich bin nur fest geblieben und das ist solchen excentrischen Naturen gegenüber eine unbedingte Notwendigkeit,“ erklärte Francis gelassen. „Diesem ewigen Stürmen und Drängen nach dem Kinde mußte endlich einmal ein Ende gemacht werden.“

Hartleys Miene verriet, daß er mit seinem Freunde nicht einverstanden war, aber er schwieg und hob erst nach einem kurzen Stillschweigen wieder an: „Du willst also die Scheidung jetzt unverzüglich einleiten?“

„Gewiß, sobald ich nach England zurückgekehrt bin. Jetzt brauche ich mir den Alleinbesitz Percys nicht erst gerichtlich zu erstreiten und die Scheidung vollzieht sich ohne jeden Skandal – das ist die Hauptsache.“

Für Lord Marwood schien dies wirklich die Hauptsache zu sein. Er sah ungemein befriedigt aus, als er die blauen Wölkchen seiner Cigarre in die Luft blies, und ruhig zu einem anderen Thema übergehend, fuhr er fort: „Wie steht es denn mit unserer Bootsfahrt? Es wird nun wohl Zeit dazu, die Hitze hat ja nachgelassen und jetzt macht sich der Wind auf, gerade recht zum Segeln.“

Hartley blickte nach den Bergen hinüber, die sich immer mehr verschleierten, dann entgegnete er etwas bedenklich: „Da drüben scheint sich ein Wetter zusammenzubrauen, und wenn der Wind umspringt, faßt es uns gerade auf dem See.“

„Thorheit! Das Wetter droht schon den ganzen Tag und hier auf dem friedlichen Alpensee hat es doch überhaupt keine Gefahr.“

„Unser See ist nicht so harmlos wie Du glaubst. Du hast ihn noch nicht im Sturme gesehen; dann ist er so tückisch und gefährlich wie das Meer. Indessen, wenn Du Lust hast, ich bin bereit; aber ich denke, wir lassen Percy diesmal zu Hause.“

„Weshalb? Er freut sich immer so auf die Bootsfahrt.“

„Aber wenn sie stürmisch wird –“

„Nun, dann lernt er das eben kennen. Ich will keinen Weichling aus meinem Sohn machen, er hat ohnehin Anlage dazu, von der Mutter her.“

„Es wird auch nichts zu sagen haben,“ meinte Hartley, mit einem nochmaligen prüfenden Blick auf das Gewölk, „und im Notfall können wir anderswo anlegen.“

„Ich werde nach dem Boote sehen,“ sagte Marwood. „Geh hinauf, Percy, und laß Dich fertig machen, wir fahren bald.“

Er schritt die Stufen hinunter und ging nach dem Strande, wo das Boot lag. Hartley folgte ihm, blieb aber noch einen Augenblick bei dem kleinen Percy stehen, der heut’ ungewöhnlich still war. [344] Er jagte sich nicht wie sonst lustig mit dem Hunde umher, sondern streichelte ihn nur, und dabei waren seine Augen mit einem träumerischen Ausdruck auf den Weg gerichtet, der am Ufer hinführte.

„Nun, Percy, jetzt geht es auf den See hinaus, Du liebst das ja so sehr,“ sagte Hartley. Der Knabe pflegte das sonst stets mit hellem Jubel zu begrüßen, diesmal aber nickte er nur stumm, zur Verwunderung des Hausherrn, der befremdet fragte: „Was hast Du denn heute, mein Junge?“

„Papa hat mich gescholten, weil ich von Mama sprach,“ sagte Percy halblaut, und plötzlich drängte er sich dicht an Hartley und fragte dringend: „Ist es wahr, daß Mama so böse ist, daß sie mich gar nicht lieb hat? Sie hat doch so sehr geweint.“

Hartleys Stirn verfinsterte sich, er strich über das Haar des Knaben und sagte begütigend: „Frage nicht, Percy, das sind Dinge, die Du noch nicht verstehst. Geh jetzt hinauf und hole Dir Dein Matrosenhütchen und wenn ich neben Dir sitze, darfst Du auch das Steuer halten.“

Darüber pflegte Percy sonst entzückt zu sein. Er war ungemein stolz, wenn er die Hand am Steuer haben und sich einbilden konnte, das Schiff zu lenken; aber heute verfing auch das nicht. Die großen Augen des Kindes blickten wieder träumerisch in die Ferne und leise und traurig wiederholte es: „Mama hat so sehr geweint!“




Das Wetter war heraufgekommen, ein Spätgewitter, das von den Bergen heranzog und jetzt gerade über dem See stand, wo es sich mit voller Macht entlud. Dabei hatte sich ein Sturm aufgemacht, der in seiner Heftigkeit schon der Vorbote des nahenden Herbstes zu sein schien, und die vor wenig Stunden noch so lachende, sonnige Landschaft lag jetzt dicht verschleiert im Regensturm.

Der sonst so friedliche See war in der That tückisch und gefährlich bei solchem Wetter, das wußten alle, die mit ihm vertraut waren, und die zahlreichen Boote, die sich auf der weiten Wasserfläche befanden, flohen denn auch beim ersten Anzeichen der Gefahr mit vollen Segeln den Ufern zu. Es war nicht leicht, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, denn der Sturm brach fast plötzlich los und der große Dampfer, der in der Nähe des Hotels seine Haltestation hatte, kam erst nach einem heftigen Kampfe mit den Wogen und mit genauer Not an das Ufer. Dort landete er die geängstigten Passagiere, aber die nächste Fahrt mußte unterbleiben, das Schiff blieb einstweilen liegen. Auch im Hotel war alles von der Terrasse in das Haus geflüchtet und die Gäste blickten von den Fenstern auf den See, der in seinem wilden Toben ein schauerlich schönes Bild bot.

Nur in einem Zimmer sah und hörte man nichts davon. Lady Marwood hatte sich seit ihrer Rückkehr von Malsburg eingeschlossen und war den ganzen Nachmittag hindurch unsichtbar geblieben. Sonneck und Ehrwald, die sie bei der Ankunft empfingen, erschraken bei ihrem Anblick; aber sie wehrte jede Frage ab und nicht einmal Elsa durfte bei ihr bleiben, sie wollte allein sein.

Erst gegen Abend hatte sie Reinhart zu sich rufen lassen. Er stand jetzt vor der Frau, die wie gebrochen in einem Sessel lag und matt und tonlos sagte: „Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, aber es bedarf dessen nicht mehr. Ich wußte mir keinen Rat in meiner Verzweiflung und der kluge, weise Sonneck bewies mir ja immer wieder von neuem, daß alle meine Pläne unsinnig, unmöglich, unausführbar seien. Sie wären nicht davor zurückgeschreckt, ich weiß es, Sie hätten mir geholfen – das ist jetzt zu Ende!“

„Sie haben eine Begegnung mit Lord Marwood gehabt?“ fragte Reinhart.

„Ja!“

„Und Sie haben Ihr Kind gesehen?“

„Ja, mein Kind, das man gelehrt hat, seine Mutter zu hassen! Es wandte sich von mir, weil ich ‚so bös bin‘, es riß sich aus meinen Armen und schlug nach mir – o mein Gott, womit habe ich das verdient!“

In dem Ausruf lag ein so grenzenloses Weh, daß Reinhart unwillkürlich die Hand ballte. „Der Elende!“ murmelte er.

„Nicht wahr, das haben Sie auch nicht geglaubt?“ fragte Zenaide mit zuckenden Lippen. „Er – Marwood – forderte meinen Verzicht auf Percy als Preis meiner Freiheit. Ich bäumte mich auf dagegen und erklärte, nun und nimmermehr einzuwilligen – er hat trotzdem gesiegt. Ich werde den Preis zahlen, mein Kind ist mir ja doch verloren!“

Sie barg das Gesicht in den Händen und brach in ein wildes thränenloses Schluchzen aus; es schien, als wollte der Weinkrampf sich wiederholen. Ehrwald trat rasch zu ihr und beugte sich über sie.

„Zenaide, Fassung, Ruhe! Sie töten sich ja mit diesen endlosen Aufregungen! Ich habe es gefürchtet, daß diese Begegnung so endigen würde, ich eilte hierher, um Sie zurückzuhalten, und kam zu spät. Zenaide, hören Sie mich nicht?“

Seine Stimme und seine Nähe übten die alte Macht über sie aus, ihr krampfhaftes Schluchzen wurde zu einem leisen Weinen und willenlos überließ sie ihm ihre Hand, die er ergriffen hatte und fest in die seinige schloß, während er fortfuhr: „Sie hätten es ahnen können, daß Marwoods Feindseligkeit Ihnen nicht einmal die Liebe Ihres Kindes lassen würde – nun aber reißen Sie sich auch los von diesem Manne, um jeden Preis! Retten Sie sich Ihre Freiheit und wenn Sie sie todeswund erringen! In den Ketten stirbt man an der Wunde – in der Freiheit kann man davon genesen.“

Er sprach mit leidenschaftlicher, glühender Teilnahme. Er maß sich ja die Schuld bei an dem Unglück der Frau, die, als sie ihm entsagen mußte, den Verzweiflungsschritt that und diese Ehe schloß. Aus jedem Worte sprach die Angst um sie, das stürmische Verlangen, sie von der selbstgeschmiedeten Kette zu lösen. Zenaide sah und fühlte das und mitten durch Weh und Schmerz dämmerte es ihr auf wie die Verheißung eines fernen Glückes.

„Genesen?“ wiederholte sie. „Können Sie mir dazu helfen, Reinhart?“

„Wenn ich es könnte! Aber, Sie wissen es ja, ich muß fort, schon in den nächsten Wochen verlasse ich Europa.“

„Und ich mit Ihnen! Ich bleibe nicht länger auf diesem Boden.“

Sie schien sich plötzlich zu diesem Entschluß aufzuraffen. Ehrwald hatte ihre Hand losgelassen und sah sie betroffen und fragend an.

„Sie wollten zurückkehren –?“

„Nach Kairo, ja! Was glauben Sie denn, das mich festgehalten hat in diesem kalten, rauhen Norden? Ich wollte nicht eine so endlose Weite zwischen mich und Percy legen, ich wollte mir die Möglichkeit wahren, ihn wiederzusehen. Was soll ich jetzt noch hier? Ich kehre zurück in meine Heimat, in mein Sonnenland – unser Weg ist der gleiche.“

„Ich gehe in das Innere Afrikas, Zenaide,“ sagte Reinhart ernst. „Es kann Jahre dauern, ehe ich wieder nach der Küste zurückkehre.“

„Ich weiß,“ entgegnete sie leise. „Ich werde lange, lange allein sein und ich muß ja auch erst losgesprochen werden von jenem Band. Aber ich will geduldig harren, auf meine Freiheit und – auf Dich!“

Ehrwald erbleichte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Sie sah es nicht, denn in ihren Augen standen noch die heißen Thränen, als sie weiter sprach: „Du hast es ja nicht ausgesprochen, nicht aussprechen wollen, was wir doch beide wußten, und ich habe Dir oft gezürnt deswegen. Doch Du hattest recht – nun können wir uns ohne Vorwurf in die Augen sehen. Jetzt aber, wo wieder eine Trennung über uns verhängt wird, wo Du wieder hinausziehst in Kampf und Gefahr, jetzt muß es doch gesagt werden!“

Draußen jagten die schwarzen Gewitterwolken an den Fenstern vorüber, sie hüllten das Gemach in halbe Dämmerung und warfen ihren düsteren Schatten auf das Antlitz des Mannes, in dem es zuckte wie innerer Kampf und mühsam verhaltene Qual. Nun sollte er sprechen und der Frau, die so fest an seine Liebe glaubte, die sich daran klammerte wie an einen Rettungsanker, den Todesstoß geben! Sie war in diesem Augenblick so ganz wieder die Zenaide von einst, das holde Geschöpf, das noch unberührt von all den Stürmen, welche die Zukunft barg, mit so sehnsüchtigen Augen in das Leben hinausblickte und auf das Glück wartete. Es lag eine unendlich weiche, rührende Hingebung in ihrem ganzen Wesen, als sie, ohne sein seltsames Verstummen zu bemerken, sich erhob und zu ihm trat.

„Du hast mich geliebt, Reinhart, Du hast um mich geworben, aber Dein harter, böser Stolz wollte sich nicht beugen, und das haben wir beide so schwer büßen müssen. Nun stehst Du ja auf der einst erträumten Höhe und kannst Deiner Zenaide die Hand [346] bieten, die sie schon damals so gern, ach, so gern genommen hätte, als der junge, unbekannte Fremdling sie ihr bot. Diese Erinnerung allein hat mich ja festgehalten im Leben, in jener furchtbaren Zeit, wo ich an allem verzweifelte, sie allein hat mich bewahrt vor der Versuchung, wenn ich sah, daß so viele mir zu Füßen lagen, und ich war so grenzenlos allein. Du glaubst der Verleumdung nicht, Reinhart, ich weiß es, Du glaubst mir, wenn ich Dir sage, daß ich es wert bin, Dein Weib zu heißen! Nun, so nimm mich hin! Ich habe ja nichts mehr auf der Welt als Dich allein – Dich und Deine Liebe!“

Durch das Zimmer zuckte ein greller Blitz und ein lang’ anhaltender Donner rollte über den See hin. Reinhart hatte sich emporgerichtet, noch ein tiefer, qualvoller Atemzug rang sich aus seiner Brust empor, dann sagte er fest: „Zenaide – ich kann nicht lügen!“

Was war das für eine seltsame Antwort? Zenaide bebte zusammen und sah ihn groß und fragend an. Er zögerte noch eine Sekunde lang, dann kam das Geständnis dumpf und leise von seinen Lippen:

„Ich weiß es, was Du mir mit Deiner Hand bietest, weiß, was ich zum zweitenmal verliere. Vielleicht sollte ich es trotz alledem an mich reißen und Dich in Deinem Wahn lassen, aber ich will Dich nicht mit einer Lüge erkaufen. Du forderst von Deinem künftigen Gatten die volle, heiße Liebe, und die kann ich Dir nicht geben – ich liebe eine andere!“

Nun war es ausgesprochen … Es folgte eine lange, schwere Pause, draußen zuckten die Blitze unaufhörlich und um das Haus tobte der Gewittersturm. Hier drinnen aber war es totenstill geworden. Zenaide fuhr nicht auf, regte sich nicht, sie stand da, als habe eine Eiseshand sie berührt und alles, was von Leben in ihr war, erstarren lassen.

„Nun weißt Du es,“ hob Ehrwald endlich wieder an. „Ich war Dir die volle Wahrheit schuldig, und wenn sie grausam ist Zenaide, hörst Du mich nicht?“

Sie strich langsam mit der Hand über die Stirn, als wollte sie die Gedanken zurückrufen, und wiederholte mechanisch, mit völlig ausdrucksloser Stimme: „Ja, ich höre – Du liebst eine andere – wer ist es?“

„Erlaß mir das, ich bitte Dich! Ich werde sie nie besitzen, sie ist unnahbar, unerreichbar für mich, und wenn ich jetzt hinausziehe in die Ferne, sehe ich sie niemals wieder. Verzeih’ mir dies Geständnis – ein Glück hast Du mir nicht zu verzeihen, es ist mir verloren wie Dir.“

Zenaide stand noch immer da und sah ihn an, als wollte sie in seinem Gesichte den Namen lesen, den er ihr verschwieg, auf einmal aber zuckte die Wahrheit vor ihr auf.

„Elsa!“ schrie sie auf. „Sie ist es!“

Er schwieg und senkte den Blick zu Boden.

„Sprich, ich will es wissen! Du liebst Elsa?“

„Ja – das Weib meines Freundes! Und schon der Traum von Glück ist Verrat an ihm. Ich muß fort, für immer.“

Zenaide raffte ihre ganze Kraft zusammen, sie wollte nicht zusammenbrechen vor seinen Augen.

„Geh!“ sagte sie kaum hörbar. „Laß mich allein!“

Er trat wie in aufflammender Reue einen Schritt näher.

„Hätte ich schweigen sollen? Bin ich denn dazu verdammt, Dir immer nur Weh und Schmerz zu bringen – es ist wie ein Verhängnis zwischen uns!“

„Geh!“ wiederholte Zenaide mit plötzlich ausbrechender Heftigkeit. „Verlaß mich! Ich kann nicht mehr! Sei barmherzig und laß mich allein!“

Reinhart sah es in der That, daß er ihr jetzt nicht nahen durfte. Gehorchen war die einzige Schonung, die er üben konnte; er wandte sich zum Gehen.

„Vergieb – ich konnte nicht anders – lebe wohl!“

Die Thür schloß sich hinter ihm, Zenaide war allein. Aber diesmal folgte kein leidenschaftlicher Ausbruch, dieser letzte, schwerste Schlag hatte zerschmettert, was noch von Kraft in ihr war.

Diese nie vergessene, nie überwundene Jugendliebe hatte sie wie ein Heiligtum in ihrem Innern gehütet, und so bitter sie auch Reinharts Stolz anklagte, der die Trennung verschuldet hatte, an seiner Liebe hatte sie nie gezweifelt, daran hatte sie fest und unverbrüchlich geglaubt. Nun lag auch das in Trümmern – sie fühlte es in diesem Augenblick, er hatte sie nie geliebt!

Also Elsa! Sie hatte ihn die Leidenschaft kennen gelehrt. Freilich, er hatte ja schon unbewußt das schöne wilde Kind geliebt, weil es ihm widerstand, weil es ihm trotzte, und jetzt liebte er die schöne herbe Gattin seines Freundes, die ihm so eisig kalt gegenüberstand. Sie war ihm verloren, aber er opferte ihr doch die Frau, die ihm mit so grenzenloser Hingebung ihr ganzes Dasein bot, er wollte kein anderes Glück.

Der Sturm riß plötzlich das nicht fest geschlossene Fenster anf, die Flügel schlugen klirrend auseinander und der Regen sprühte herein. Zenaide blickte auf, sie erhob sich langsam und schritt dorthin. Ihre großen, dunklen Augen leuchteten geisterhaft aus dem totenblassen Antlitz, als sie sich an das Fenster lehnte und hinausblickte auf den stürmenden See … Wie wild die Wogen brausten und schäumten! … Aber unter ihnen war die Tiefe – die Ruhe!

Es war nicht das erste Mal, daß Zenaide Marwood diesen zugleich lockenden und drohenden Stimmen Gehör gab. Sie raunten in ihr oft genug und suchten sie in einen Bannkreis zu ziehen, aus dem es kein Entrinnen mehr gab, aber sie verstummten immer wieder vor einer Erinnerung, die nie erloschen war. Das junge Mädchen hatte auch einst geträumt von einem großen, endlosen Glück, und es war ja auch erschienen, wie eine leuchtende Fata Morgana – und wieder entschwebt. Aber die Sehnsucht danach war geblieben und flüsterte immer wieder, daß es noch nicht zu Ende sei, daß das Glück wiederkehren werde mit dem, der es mit sich genommen hatte in weite Ferne. Nun war der Mann ihrer Liebe zurückgekehrt und mitten aus Weh und Schmerz tauchte das Traumbild wieder auf, goldig und verklärend. Sie streckte die Arme danach aus, sie wollte sich daran klammern – da zerfloß höhnend das Truggesicht und sie war allein, allein in der pfadlosen Wüste!

Zenaide richtete sich empor mit der Ruhe eines unabänderlichen Entschlusses. Sie fühlte in diesem Augenblick nichts mehr von der Qual der letzten Stunden, in ihr war alles leer und tot. Nur einmal noch zuckte ein dumpfes Weh auf, als sie nach Malsburg hinüberblickte, wo ihr Kind sich so ungestüm aus ihren Armen gerissen, wo seine Hand sich zum Schlage gegen sie erhoben hatte. Nun, Percy sollte seine Mutter nicht mehr hassen, man würde es ihm ja bald sagen, daß sie tot sei!

Sie holte aus dem Nebenzimmer ihren dunklen Reisemantel, hüllte sich darein, zog die Kapuze fest über den Kopf, um möglichst unerkannt zu bleiben, und trat dann den letzten Gang an.

[357] In der Veranda des Seehotels, die sich an die Terrasse anschloß, standen Sonneck und Elsa im Gespräch mit einem Manne in Schiffertracht. Es mußte wohl irgend etwas Besonderes sein, was sie hier draußen in der halboffenen Halle festhielt, wo Wind und Regen hereinschlugen. Die junge Frau hatte zum Schutze dagegen ihr Plaid umgeworfen und sie blieb an der Seite ihres Gatten, der mit besorgter Miene unverwandt durch das Fernglas blickte.

Der See bot jetzt ein Bild entfesselter Wildheit, der Sturm wühlte ihn auf in all seinen Tiefen. Die Bergeskette drüben war völlig unsichtbar geworden, und die nahen Villen und Ortschaften lagen kaum erkennbar im Regenschleier. Unaufhörlich stürmten die Wogen gegen die hochgelegene Terrasse, schlugen über die Brüstung und zerrannen zischend auf den Steinfliesen.

„Sie müssen die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt haben,“ sagte Sonneck soeben, „oder sie hofften, die Rückfahrt noch erzwingen zu können. Glauben Sie wirklich, daß es das Boot des Mister Hartley ist?“

Der Mann, an den die letzten Worte gerichtet waren, nickte bestätigend. Es war der Schiffsmeister, der die Aufsicht über die Boote führte, die an der Landungsstelle für die Ausflüge der Fremden bereit lagen.

„Es ist das Boot von Malsburg, ich kenn’ es gut. Vor zwei Stunden erst ist es hier vorbeigesegelt, ehe das Wetter heraufkam.“

„Er hat recht,“ sagte Lothar, indem er seiner Frau das Fernglas reichte. „Ich sehe die englische Flagge am Mast. Das Schiff kämpft furchtbar mit den Wellen, es versucht, ans Land zu kommen, wird aber immer wieder zurückgeworfen.“

„Die kommen überhaupt nicht mehr an Land, die sind zu weit draußen,“ erklärte der Schiffer mit voller Bestimmtheit. „Das Steuer muß ihnen gebrochen sein, denn sie halten ja gar keine Richtung mehr ein.“

„Aber läßt sich denn da keine Hilfe bringen?“ fragte Elsa, der das Fernglas jetzt auch die Gefahr des Schiffes zeigte. „Es muß doch möglich sein!“

„Nein, gnädige Frau, das ist nicht möglich. Sie sehen es ja, nicht einmal der Dampfer wagt sich hinaus. Der liegt fest am Ufer und rührt sich nicht, und ein kleines Boot – ich möchte den sehen, der sein Leben damit wagte, ich thät’ es nicht.“

„Es würde auch nichts nützen,“ meinte Sonneck kopfschüttelnd. „Das englische Boot ist jedenfalls fester gebaut und hält mehr aus als die kleinen Fahrzeuge da unten. Sie haben es vorhin gesehen, als es vorübersegelte? Wer war darin?“

„Der Besitzer von Malsburg war es und der englische Lord, der jetzt bei ihm ist. Ich kenne sie alle beide, sie sind ja täglich auf dem See, sind auch tüchtige Segler, aber das hilft ihnen nichts bei solchem Wetter.“

[358] Das Wetter wurde in der That immer schlimmer, aber die Not des Schiffes, des einzigen, das sich jetzt noch auf dem See befand, war nicht unbemerkt geblieben. Der Kapitän des Dampfers stand mit der ganzen Bemannung auf Deck und am Ufer drängte sich, trotz des strömenden Regens, eine Menge von Leuten zusammen, meist Schiffer, die die Fahrzeuge, welche sonst unten am Strande lagen, höher hinaufgezogen und vor der anstürmenden Flut geborgen hatten. Man rief und schrie einander zu und aller Augen waren auf das gefährdete Boot gerichtet; aber niemand traf Anstalt zu einer Hilfe, die nicht möglich zu sein schien.

Da trat Ehrwald ein, der seinen Freund in dessen Zimmer gesucht hatte und offenbar überrascht war, ihn hier zu finden, wo man kaum vor dem Wetter geschützt war. Sonneck wandte sich rasch zu ihm.

„Du kommst von Zenaide? Sie ließ Dich ja rufen; hast Du endlich erfahren, was in Malsburg vorgefallen ist?“

„Ja, ich werde es Dir später erzählen,“ entgegnete Reinhart ausweichend, während er langsam näher trat.

„Und wie geht es Zenaide?“ fragte Elsa besorgt. „Jetzt endlich darf ich doch zu ihr? Ich will sofort –“

„Bleiben Sie, gnädige Frau, ich bitte darum,“ unterbrach sie Reinhart. „Lady Marwood ist sehr angegriffen und ich glaube, in ihrer jetzigen Stimmung ist das Alleinsein eine Notwendigkeit für sie.“

Er dachte an das Geständnis, das er vorhin ausgesprochen und wie Zenaide es aufgenommen hatte; jetzt wenigstens mußte ihr der Anblick Elsas erspart bleiben! Die junge Frau sah betroffen und enttäuscht aus, aber ihr Gatte hielt sie gleichfalls zurück.

„Bleib’, Elsa, wir müssen erst abwarten, was die nächste Stunde bringt, sie kann alles ändern. Siehst Du das Boot da draußen, Reinhart?“

„Ein Boot auf dem See, bei diesem Sturme? Nun, dem gnade Gott!“ rief Ehrwald. „Ganz recht, ich sehe es deutlich, es scheint in der äußersten Gefahr zu sein.“

„Jawohl, es ist das Malsburger Schiff und Marwood und Hartley sind darin, da ist kein Zweifel mehr.“

In äußerster Betroffenheit nahm Ehrwald das Fernglas, das der Freund ihm reichte, und gab es nach einigen Minuten schweigend zurück. Die Blicke der beiden Männer begegneten sich und in ihren Zügen stand der gleiche Gedanke. Das konnte freilich alles ändern, das Schicksal selbst schien hier einzugreifen; aber so sehr die beiden auch gegen Marwood eingenommen waren, in diesem Augenblick war er ihnen doch nur ein Mensch, der da draußen mit den Wogen um sein Leben kämpfte. Elsa blickte stumm und angstvoll hinaus, während die beiden Herren halblaute Bemerkungen austauschten und der Schiffsmeister hin und wieder eine Erläuterung dazu gab.

„Das Wetter muß doch endlich ein Ende nehmen,“ sagte Sonneck, „vielleicht halten sie es so lange aus.“

„Vielleicht! Ich glaub’s nicht,“ brummte der Schiffer. „Es ist ja ein Unwetter, wie wir es seit Jahren nicht erlebt haben, und was der See da hat, das giebt er nicht wieder her.“

„Hoffentlich sind die beiden Engländer als Sportsleute auch gute Schwimmer,“ warf Ehrwald hin. „Das bleibt ihre einzige Rettung, wenn das Boot kentert, und das steht jeden Augenblick zu befürchten.“

Der Schiffsmeister zuckte die Achseln.

„Nun, viel hilft ihnen das auch nicht bei dem Wellengang, wenn keine Hilfe in der Nähe ist, und dann haben sie ja auch das Kind bei sich.“

Die drei Zuhörer wandten sich gleichzeitig mit einem Ausruf des Schreckens um.

„Das Kind? – Um Gotteswillen! Der Knabe ist mit im Boote?“

„Jawohl, der kleine Lord. Ich sah ihn deutlich, als sie hier vorüberkamen, er saß neben seinem Vater am Steuer.“ Der Schiffer unterbrach sich plötzlich, legte die Hand über die Angen und lugte scharf hinaus.

„Da bricht der Mast und reißt das ganze Takelwerk mit herunter! Wenn’s nur wenigstens über Bord geht! Sonst legt sich das Schiff auf die Seite und dann ist’s aus.“

Die Herren überzeugten sich bald genug, daß der Mann recht hatte. Elsa blickte zu den Fenstern empor.

„Wenn Zenaide das wüßte! Sie hat keine Ahnung von der Gefahr, in der ihr Kind schwebt.“

„Sie darf auch nichts davon erfahren,“ fiel Sonneck ein.

„Die Angst wenigstens muß ihr erspart bleiben. Zum Glück ist sie in ihrem Zimmer eingeschlossen und sieht und hört nichts von dem, was draußen vorgeht. Komm, Elsa, Du wirst hier ja ganz durchnäßt, der Wind treibt den Regen gerade herein. Drüben ist es trocken und Du hast auch dort den ganzen Ueberblick.“

Er führte sie nach der anderen Seite der Veranda, die allerdings geschützter war, und kehrte nach Verlauf von einigen Minuten zu Ehrwald zurück. Dieser hatte vorhin keine Silbe gesprochen und verhandelte jetzt leise und angelegentlich mit dem Schiffsmeister, der sah ihn jedoch mit dem Ausdruck des vollsten Entsetzens an und sagte halblaut: „Nein, Herr! Bieten Sie mir, was Sie wollen, aber das thu’ ich nicht. Das heißt ja Gott versuchen!“

„Was giebt es? Was hast Du vor?“ fragte Lothar, der eben herantrat und die Worte hörte.

„Ich will hinaus!“ sagte Reinhart kurz, indem er auf den See wies.

„Bei diesem Sturme? Ich bitte Dich, das ist ja heller Wahnsinn!“

„Das habe ich dem Herrn auch gesagt,“ fiel der Schiffer ein, „aber der Herr will ja nicht hören, er will mitten hinein in das Höllemwetter.“

„Nimm Vernunft an, Reinhart,“ mahnte Sonneck. „Es geht nicht. Wenn das große feste Boot es nicht aushält, werden die kleinen Nußschalen da unten zerschmettert von den Wellen, und Dein Leben ist denn doch mehr wert als das eines Marwood.“

„Marwood mag sich selbst helfen, wenn er kann, aber Du hörst es ja, das Kind ist im Boote, Zenaidens einziger Sohn, und der muß ihr gerettet werden, es muß wenigstens versucht werden. – Sie wollen also nicht mit?“ wandte er sich an den Schiffer. „Nun, so schaffen Sie mir einen Ihrer Kameraden her! Er soll fordern, was er will, ich zahle es ihm.“

Der Mann sah ihn noch immer an, als zweifelte er an seinem gesunden Verstande.

„Das glaube ich schon,“ entgegnete er endlich, „aber Sie finden doch keinen, da ist das Fragen ganz umsonst! Und wenn Sie den Leuten eine Tonne Goldes böten, ihr Leben ist ihnen doch lieber und das ist hin, wenn sie jetzt hinausfahren, wir kennen unsern See.“

Ehrwald stampfte in aufbrechender Heftigkeit mit dem Fuße.

„Nun denn, so fahre ich allein! Lassen Sie ein Boot fertig machen, das beste und stärkste von denen da unten, aber schnell, schnell! Es ist die höchste Zeit!“

Der Schiffer schüttelte den Kopf, aber er gehorchte und ging zu den Booten hinunter.

„Du siehst, es findet sich keiner,“ sagte Lothar ernst, „und man kann es den Leuten nicht verdenken, denn es geht um das Leben bei solcher Fahrt. Bleib, Reinhart! Du allein hältst das Boot nicht bei dem Sturme, kannst es nicht halten, das geht über Menschenkräfte. Willst Du Dich denn nutzlos aufopfern?“

Reinhart machte eine Bewegung der äußersten Ungeduld.

„Predige mir jetzt nicht Vernunft, ich kann nicht darauf hören! Ich habe ja so oft schon erzwungen, was anderen unmöglich schien, vielleicht glückt es auch diesmal und bei Zenaide habe ich noch eine alte Schuld einzulösen. Sie soll jetzt bezahlt werden, und wenn es mit meinem Leben ist. Ich muß fort. Leb’ wohl!“

Er wollte gehen, aber Sonneck legte die Hand auf seinen Arm und hielt ihn zurück.

„Nun denn, wenn es durchaus nicht anders geht – so nimm mich mit!“

Ehrwald blieb stehen und blickte ihn betroffen an.

„Dich, Lothar? Nein, nein, das nicht!“

„Weshalb nicht? Wir sind ja so oft zusammen in die Gefahr gegangen und haben sie Seite an Seite bestanden, wir thun das heute noch einmal.“

„Aber Du bist noch nicht völlig genesen, Du hast nicht mehr die alte Kraft und dann – Deine junge Frau!“

Sonneck richtete sich empor und sein ganzes Wesen schien aufzuflammen in der einstigen Energie.

„Meine Elsa soll sehen, daß sie keinen bloßen Siechling zum Manne hat, und für eine Stunde wird die alte Kraft wohl [359] noch ausreichen. Keine Einwendung, Reinhart! Einer ist verloren bei solcher Fahrt, zwei haben wenigstens die Möglichkeit des Gelingens, also muß ich der Zweite sein.“

Ehrwald zögerte noch einen Augenblick, dann streckte er ihm die Hand hin. „Nun, wenn Du willst – ich lasse das Boot fertig machen.“

„Ich folge Dir sogleich, ich will nur noch meiner Frau Lebewohl sagen. Geh voran!“

Sie wechselten noch einen kurzen festen Händedruck, dann eilte Reinhart nach dem Landungsplatz hinunter und Lothar ging zu seiner Frau, die ihm entgegenkam und hastig fragte: „Nun, wie steht es? Glaubt Ihr, daß das Boot verloren ist?“

„Noch nicht,“ erwiderte er ruhig. „Man wird versuchen, ihm zu Hilfe zu kommen.“

Elsa erbleichte, sie hatte vorhin den Händedruck gesehen, den die beiden Männer tauschten, jetzt erblickte sie Ehrwald unten bei den Booten und verstand nun alles.

„Lothar, Du willst –?“

„Ja, es giebt kein andres Mittel. Sei mutig, Kind! Es ist ja nicht die erste Gefahr, die ich bestehe – Elsa, ängstigst Du Dich so um mich?“

Die letzten Worte klangen in stürmisch aufwogender Freude. Er sah die Todesangst in dem Gesicht seines jungen Weibes und die mußte ihm doch gelten, ihm allein, er hatte ja gar nicht von einem Gefährten gesprochen. Elsas Auge irrte über die tobende schäumende Flut und kehrte dann zu dem Landungsplatze zurück, wo man eben das Boot herabzog an den Strand. Sie machte keinen Versuch, ihren Gatten zurückzuhalten, aber ihre Stimme klang halb erstickt, als sie fragte: „Lothar – muß es sein?“

„Ja, es muß sein!“ entgegnete er ernst. „Es gilt drei Menschenleben. Reinhart wollte es allein unternehmen, aber das ist unmöglich, also gehe ich mit ihm, und meine Elsa wird nun zeigen, daß sie die Frau eines Weltfahrers ist, und nicht mehr bangen, als nötig ist. Versprich mir das!“

Er schloß sie in die Arme; eine Gefahr bedeutete allerdings nicht viel für Lothar Sonneck, aber als er jetzt seine junge Gattin zum Abschied küßte, wurden ihm doch die Augen feucht, er riß sich schnell los.

„Leb’ wohl – sei tapfer, meine Elsa! – Auf Wiedersehen!“

Inzwischen stand Ehrwald unten bei den Booten, umgeben von den Schiffern und einer Menge von Leuten, die herbeigeeilt waren, als sie hörten, um was es sich handelte, und nun mit Warnungen und Abmahnungen auf ihn eindrangen. Es war ja die bare Tollheit, jetzt hinauszufahren auf den tobenden See. Keiner von ihnen hätte das gewagt, und sie verstanden doch ihr Handwerk, und nun wollte es der fremde Herr wagen! Das Boot da draußen war verloren, das stand fest, und ein kleines Schiff, das ihm zu Hilfe kommen wollte, war es erst recht!

Der Herr solle doch Vernunft annehmen und nicht blindlings in das Verderben gehen, das dürfe man ja gar nicht zulassen!

Reinhart hörte das alles ruhig mit an, während er die Instandsetzung des Bootes überwachte, und zuckte höchstens von Zeit zu Zeit die Achseln. Als jedoch der Schiffsmeister sagte: „So, jetzt wären wir fertig. Aber ich sage es Ihnen noch einmal, Herr, lassen Sie es bleiben, Sie kommen nicht lebendig zurück“ – da fuhr er auf: „Hört endlich auf mit eurem Geschwätz und laßt mich in Ruhe! Wenn euch euer bißchen Leben so kostbar ist, ich habe es wohl schon um Geringeres in die Schanze geschlagen. Wir haben die Stromschnellen des Kongo gezwungen, da werden wir wohl auch euren See noch meistern. – Ist das Steuer in Ordnung? – Gut!“

Die Leute schwiegen ganz verdutzt und schauten den fremden Mann an, der so verächtlich von dem Leben sprach und ihren See meistern wollte, aber er imponierte ihnen doch, und sie wagten keine Einwendung mehr.

„Das Segel auf!“ befahl Ehrwald. „Es wird zwar nicht lange halten bei dem Sturme, aber es muß uns helfen, schnell vorwärts zu kommen, sonst wird es zu spät. Und nun vorwärts!“ schloß er, den heraneilenden Lothar schweigend begrüßend.

Er sprang in das Boot, Sonneck folgte ihm auf dem Fuße. Die Blicke der beiden Männer flogen noch einmal zurück und mit ihnen ein letzter Gruß zu der jungen blonden Frau, die dort oben stand; dann hieß es, Auge und Sinn von allem anderen losreißen und nur auf die Fahrt richten. Das Boot war kaum abgestoßen, da erfaßten es auch schon die Wellen und rissen es hinaus. Es erschien plötzlich hoch oben auf dem Wogenkamme und glitt dann wieder hinab in die Tiefe, das Segel blähte sich und flatterte im Sturme, und als habe er es auf seine Schwingen genommen, so schoß das kleine Fahrzeug dahin.

Elsa stand noch am Ausgange der Veranda, weit vorgebeugt. Sie weinte nicht und regte sich kaum. Ihr war es nun einmal nicht gegeben, wie Zenaide Schmerz und Qual in leidenschaftlichen Ausbrüchen auszuströmen, aber sie litt vielleicht mehr unter dieser stummen Todesangst, die sich nicht einmal in Thränen Luft machen konnte. Nur ihre Augen waren mit einem unsagbaren Ausdruck auf das gebrechliche kleine Fahrzeug gerichtet, das ihren Gatten hinaustrug auf die tobende Flut, ihn – und noch einen andern!

Der Regen hatte für den Augenblick aufgehört, so daß es klarer wurde; man sah es jetzt auch mit bloßem Auge, daß das Boot da draußen wie ein Ball umhergeschleudert wurde, von einem Lenken, einer Richtung war keine Rede mehr und der Sturm schien an Heftigkeit noch zuzunehmen. Immer höher schlugen die Wellen über das Ufer, der See selbst war nur noch eine wild gärende Masse von dunkler Flut und spritzendem weißen Gischt und darüber hing schwarzgraues Gewölk, aus dem Blitz auf Blitz niederzuckte, während der Donner rollend in hundertfachem Echo von den Bergen zurückkam. Die ganze Natur war im Aufruhr.

Das kleine Schiff hielt doch besser aus, als man gedacht hatte. Wie ein Sturmvogel schoß es durch die schäumenden Wellen, verschwand in ihnen und kam immer wieder zum Vorschein, und immer näher kam es dem gefährdeten Boote, das schon fast ganz auf der Seite lag. Die Insassen bemühten sich offenbar, es von den Trümmern des Mastes und des Takelwerkes zu befreien, die es in die Tiefe zu ziehen drohten. Das gelang ihnen auch endlich; doch die Gewalt des Stoßes, mit der die ganze Masse über Bord ging, wurde verhängnisvoll. Man sah auf einmal nur hochaufspritzenden Schaum und dann nichts mehr an der Stelle, wo eben noch das Boot sichtbar gewesen war. Als es nach einigen Minuten wieder auftauchte, trieb es – den Kiel nach oben – dahin.

Da war aber auch schon das kleine Schiff herangekommen und einer von den beiden Männern, die es führten, stand oben auf der Ruderbank. Es war der größere, der jüngere, er hatte den Rock abgeworfen und stürzte sich nun plötzlich mitten hinein in das Flutgebraus. Da entlud sich wieder das tief niederhängende Regengewölk mit voller Macht und in den stürzenden Wassermassen und dem jagenden Nebel verschwand für die Augen der bang am Ufer Harrenden alles andere. – – –

Als Lady Marwood durch eine Seitenthür das Hans verließ, war das Unwetter teilweise vorüber. Der Regen hatte nachgelassen, der Donner grollte fern und dumpf und durch das sich lichtende Gewölk zuckte nur noch hin und wieder ein Blitz. Aber der See tobte noch mit derselben Wildheit wie vorhin, wenn auch der Sturm bedeutend abgenommen hatte, und am Ufer befand sich eine Menge von Leuten, die hin und her liefen und einander zuschrieen. Zenaide achtete nicht darauf, es war nicht ihre Absicht gewesen, ihr Vorhaben in der Nähe des Hotels auszuführen, wo man es zu früh entdecken und dann verhindern konnte. Eine Strecke seitwärts lag ein kleines Gehölz, das sich dicht am Ufer hinzog; dort war sie sicher vor fremden Augen, und langsam wandte sie sich jener Richtung zu.

Der hochgelegene Strandweg war sonst noch eine ganze Strecke vom See entfernt, jetzt schäumte die Flut bis unmittelbar an den Rand. Wie ein Heer von sich bäumenden, zischenden Schlangen kamen die Wogen heran und stürzten sich auf alles, was sie erreichen konnten. Ein Gebüsch, das sie entwurzelt hatten, wurde in einem Augenblick hinausgerissen und verschwand in dem Strudel. Zenaidens Blick folgte ihm mit düsterer Befriedigung. Es war die rechte Stunde; ein kurzer Anlauf dort hinter den Bäumen und es war geschehen!

Da hörte sie hinter sich ihren Namen rufen, eine Frauengestalt eilte ihr nach und dann sah sie Elsa neben sich und hörte deren Stimme: „Zenaide, um Gotteswillen, wie hast Du es erfahren? Wir wollten es Dir ja verschweigen, um Dir die Angst zu ersparen! Hat ein Zufall es Dir verraten?“

Zenaide war stehen geblieben und sah sie groß und starr an. Sie verstand die Worte nicht, sie fühlte nur, daß sie aufgehalten wurde, aber in ihrem Gesichte lag etwas, was Elsa erschreckte, so daß sie beide Arme um die bleiche Frau schlang.

[362] „So fasse Dich doch! Die Gefahr ist ja vorüber, das Boot kommt zurück und Dein Kind ist gerettet. Hast Du es denn nicht gesehen, wie Ehrwald sich ihm nachwarf in die Flut?“

Zenaide blickte sie noch immer an, als redete Elsa in einer fremden Sprache.

„Mein Kind?“ wiederholte sie mechanisch. „Percy? Wo ist er?“

„Er war ja in dem sinkenden Boote, mit seinem Vater! Hast Du denn das nicht gewußt? Mein Gott, Zenaide, was wolltest Du denn hier am Strande?“

Zenaide gab keine Antwort, aber sie fing allmählich an, zu begreifen. Percy war auf dem See gewesen in dem Sturme und in derselben Stunde, wo sie sich den Wellen zum Opfer hinwerfen wollte, hatte man ihnen ihr Kind entrissen. Das durchzuckte sie wie eine furchtbare Mahnung und brach die starre tote Ruhe, die ihr ganzes Wesen gefangen hielt. Sie fuhr empor und wandte sich mit einem Aufschrei dem Boote zu, das dort herankam.

Das kleine Fahrzeug hatte wacker ausgehalten, wenn auch sein Segel zerfetzt am Maste hing. Es hatte jetzt, wo der Wind ihm entgegenstand, schwere Mühe, vorwärts zu kommen, doch jetzt waren es drei Männer, die sich in die Arbeit teilten. Man mußte die beiden Frauen am Strande bemerkt haben; es war noch zu weit, um einen Ruf hinüberzuschicken, aber Ehrwald stand aufrecht im Boote und hielt mit beiden Armen den kleinen Percy empor, um ihn der Mutter zu zeigen.

Noch eine bange Viertelstunde verging, dann wurde den Nahenden vom Ufer ein Tau entgegengeworfen, Reinhart fing es auf und befestigte es an dem Boote, das nun rasch ans Land gezogen wurde. Sonneck saß am Steuer, auf seinem Antlitz lag eine stolze, freudige Genugthuung: die letzte Stunde hatte ihm gezeigt, daß es mit seiner Kraft doch nicht so ganz zu Ende war, sie hatte diesmal noch völlig Stich gehalten. Es war keine Kleinigkeit, das Schiff zu führen bei solcher Fahrt, jetzt brachte er es glücklich zurück und dort am Strande stand sein junges Weib und harrte seiner.

Da auf einmal erlosch der freudige Ausdruck in seinen Zügen und seine Hand glitt langsam von dem Steuer nieder. Er sah es deutlich, Elsas Augen suchten nicht ihn, sondern einen anderen, der hochaufgerichtet im Boote stand. Ihm galt der leuchtende Strahl des Glückes, der aus ihren Augen hervorbrach, ihm die Bewegung, mit der sie den Landenden entgegenstürzen wollte, um dann plötzlich wie gefesselt stehen zu bleiben, und auch sein Blick flog zu ihr hinüber, mit einem stummen und doch so leidenschaftlichen Gruße. Es war ja nur eine Sekunde, in der die Blicke der beiden sich suchten und fanden, aber sie verriet alles.

Reinhart stieg zuerst aus, mit dem kleinen Percy im Arm; er hatte ihn den Wogen entrissen, er legte ihn auch jetzt in die Arme der Mutter.

„Ich war Ihnen ein Leben schuldig, Zenaide hier ist es!“ sagte er leise. „Hier ist Ihr Kind!“

Der Knabe war noch halb betäubt vor Schreck und Todesangst. Er war so lange da draußen umhergeschleudert worden zwischen Leben und Tod; er hatte den Vater und Hartley vor seinen Augen versinken sehen, während er selbst, an das Boot geklammert, noch einige Minuten lang oben blieb; dann hatte ihn auch die Flut verschlungen und er war erst wieder in dem anderen Schiffe erwacht. Nun ging es wieder durch Sturm und Wogendrang und die schwer arbeitenden Männer hatten nicht viel Zeit, das Kind zu trösten und zu beschwichtigen, das zitternd zwischen ihnen am Boden kauerte. Auch jetzt noch floß das Wasser aus seinen Kleidern, das schwarze Haar fiel in nassen Strähnen über sein totenbleiches Gesichtchen und seine großen dunklen Augen irrten verstört umher. Erst als die Arme der Mutter den Knaben umschlangen, als er ihre heißen Küsse auf seinen eiskalten Lippen und Wangen fühlte, erst da schien es ihm zum Bewußtsein zu kommen, daß er in Sicherheit sei. Er umklammerte krampfhaft ihren Hals, schmiegte sich fest an sie, als wollte er Schutz bei ihr suchen, und rief mit einem lauten Aufweinen: „Mama! Mama!“

Ein halbunterdrückter Ausruf des Jubels brach von den Lippen Zenaidens bei dieser ersten unbewußten Regung der Zärtlichkeit; von neuem überströmte sie ihr Kind mit leidenschaftlichen Liebkosungen und richtete sich dann erst empor, um den Rettern zu danken. Da gewahrte sie Hartley, der neben Ehrwald stand, ihn allein, und da zuckte eine Ahnung der Wahrheit in ihr auf.

„Sie sind es, Mister Hartley?“ fragte sie mit stockendem Atem. „Und – und Percys Vater?“

Hartley gab keine Antwort, er sah düster zu Boden, auch Reinhart schwieg – da trat Sonneck heran. Er war sehr bleich und auf seinem Antlitz lag es wie ein schwerer Schatten, aber seine Stimme klang ruhig und fest, als er mit tiefem Ernste sagte: „Lord Marwood ist tot – Sie sind Witwe, Zenaide!“ – –




Es war Abend geworden, das Wetter hatte ausgetobt und klar und leuchtend lag der Sternenhimmel über dem See, der noch unruhig wogte, aber doch bereits in seine alten Grenzen zurückgekehrt war. In Malsburg lag das Opfer, das er gefordert hatte. Als der Sturm und damit die Gefahr vorüber war, hatte man sich aufgemacht, um die Leiche Francis Marwoods zu suchen, und sie denn auch gefunden.

Der Lord war, ebenso wie sein Freund, ein guter Schwimmer gewesen, aller Wahrscheinlichkeit nach hatte ihn bei dem plötzlichen Untergange des Bootes ein Schlag desselben oder des stürzenden Mastes getroffen und betäubt, denn er kam nicht wieder zum Vorschein, während Hartley sofort wieder auftauchte und schwimmend das andere Schiff erreichte. Ehrwald, der den kleinen Percy versinken sah, war ihm sofort nachgesprungen und hatte sich mit dem Aufgebot seiner ganzen Kraft zu dem Kinde hingearbeitet, das er denn auch glücklich erreichte und an Bord brachte.

Das Boot war trotz der augenscheinlichen Gefahr noch eine Weile kreuzend an der Unglücksstelle geblieben, um vielleicht dem Lord Marwood noch Hilfe zu bringen; aber dieser war und blieb verschwunden, man konnte nicht mehr zweifeln an seinem Untergang. Bei der Rückfahrt hatte sich die Wut des Sturmes bereits gebrochen, es war noch immer ein hartes Stück Arbeit gewesen, doch Hartley, der sich sofort erholte, half wacker mit. Die kühne Fahrt hatte wenigstens zwei Menschenleben dem Tode entrissen.

In den Zimmern, die Zenaide bewohnte, schimmerte noch Licht, sie wachte am Bett ihres Knaben, der, erschöpft von der ausgestandenen Angst, in den Armen der Mutter eingeschlafen war. Elsa befand sich bei ihr und Ehrwald war noch in Malsburg, wohin er die Leiche Marwoods geleitet hatte.

Am Rande jenes kleinen Gehölzes, das sich dicht am Ufer hinzog, stand Sonneck, der so spät noch einen Gang in das Freie unternommen hatte. Die letzten Stunden waren so unruhevoll gewesen. Die Sorge für das Kind, das fast erstarrt war in den nassen Kleidern, die Anstalten zur Auffindung des Toten und der Zustand Zenaidens, die furchtbar erschüttert war, als Lothar ihr den Bericht darüber brachte, hatten ihn nicht zum Nachdenken kommen lassen. Er hatte sie auch gefürchtet, diese erste Stunde ruhigen Nachdenkens, nun war sie da und nun hieß es, der Wahrheit ins Auge sehen.

Jener unselige Argwohn hatte ja schon seit Wochen in seinem Innern genagt und gewühlt, allein es war doch immer noch keine Gewißheit gewesen, und immer wieder flüsterte die Hoffnung, daß der sterbende Helmreich sich getäuscht habe, daß er gar nicht mehr bei klarer Besinnung gewesen sei, als er die Warnung aussprach; sie wurde ja durch nichts bestätigt. Da kam das Wiedersehen nach der überstandenen Todesgefahr und riß den Schleier von den Empfindungen der beiden. Lothar wußte es jetzt, wem die Liebe seines Weibes galt, und er wußte es nun auch, wen Reinhart liebte.

Ja, es war ein verhängnisvoller Irrtum gewesen, die eben erst erblühende Jugend an sein Alter zu fesseln, und das rächte sich schnell genug. Freilich, damals war Elsa ein ernstes stilles Mädchen gewesen, dessen wahre Natur wie in einem Bann gefangen lag; da erschien Reinhart, in seiner vollen stürmischen Lebens- und Jugendkraft, da wachte sie auf aus dem langen Traume und es war gekommen, was kommen mußte, die beiden waren ja geschaffen füreinander.

Was nun? Es lag keine einzige Regung von niedriger und gemeiner Eifersucht in der Seele des Mannes, der in dieser Stunde sein ganzes Glück begrub. Er wußte es ja, er hatte keinen Treubruch zu fürchten von dem Freunde oder von seinem Weibe. Reinhart ging fort, schon in den nächsten Tagen, und er kam nicht wieder, so lange noch ein Funke dieser Leidenschaft in ihm war, dessen war er sicher. Und Elsa blieb an seiner Seite als eine pflichtgetreue Gattin. Die beiden würden sich nie wiedersehen und stumm und tapfer das Elend eines ganzen Lebens tragen – um [363] seinetwillen! Sonnecks Hand krampfte sich zusammen in wildem Schmerz. Nein, nein, das nicht! Dies Bewußtsein ertrug er nicht.

Gab es denn keinen Ausweg? Eine Scheidung vielleicht? – Thorheit! Reinhart würde eher sterben, als sein Glück aus der Hand des Freundes nehmen, wenn er wußte, daß diesem das Herz darüber brach, und Elsa hing fest an ihrem katholischen Glauben. Ihr war die Ehe ein Sakrament, das kein weltlicher Richterspruch löste; das löste nur der Tod!

Lothar blickte hinab zu der dunklen wogenden Flut und dann hinauf zu den Sternen, die so klar, so friedvoll leuchteten, und halblaut wiederholte er den letzten Gedanken: „Der Tod! – Nun, wir wollen es überlegen!“

[373] In Kronsberg sah es schon herbstlich aus, obgleich man sich erst in den letzten Tagen des Septembers befand, aber der Frühling kam spät und der Herbst früh in das Hochalpenthal. Die Häuser und Villen des Badeortes waren fast sämtlich geschlossen, mit Ausnahme der Villa Lady Marwoods, die noch hier verweilte, und in den Kuranlagen flatterten die welken Blätter bereits von den Bäumen und Gesträuchen.

Auch die alte Linde vor dem Gitterthor von Burgheim trug schon das Herbstgewand, ihre grüne Laubkrone hatte sich bunt gefärbt. Jetzt, im hellen Mittagssonnenschein, leuchtete sie [374] rot und goldig in ihrem Blätterschmuck und an ihrem Stamm lehnte wieder die Gestalt des Mannes, der sie in jener Mondnacht als den alten Freund seiner Kindheit begrüßt hatte. Damals war er nach langen Jahren und aus weiter Ferne zurückgekehrt, heute kam er, um Abschied zu nehmen von der Heimat, für immer.

Ehrwalds Abreise war auf morgen festgesetzt und er wollte jetzt in Burgheim Lebewohl sagen. Sein Blick schweifte langsam über das Thal und die Berge und kehrte dann nach dem Hause zurück. Er wußte ja, daß er das alles nicht wiedersehen würde, nicht wiedersehen durfte, das alte Haus, die moosbewachsenen Stufen, die dunklen Tannen und die großen tiefblauen Augen, die ihm geleuchtet hatten in jener mondbeglänzten Frühlingsnacht – nie, niemals wieder!

In der Brust des sonst so eisernen Mannes bäumte sich ein wildes, verzweiflungsvolles Weh auf, doch er zwang es nieder; wenigstens für den Augenblick. Er hatte es ja so lange getragen, nun galt es noch, die Abschiedsstunde zu tragen, und da war Lothar gegenwärtig – Gott sei Dank! da blieb man Herr seiner selbst!

Reinhart öffnete das Gitterthor und schritt durch den Garten. Er fand Sonneck in seinem Arbeitszimmer mit dem Hofrat Bertram, der bei ihm war und dem Eintretenden in seiner jovialen Art entgegenrief: „Da sind Sie ja, Ehrwald! Wir sprachen eben von Ihnen und ich erzählte, daß mein ganzes Haus in Sack und Asche trauert, weil Sie morgen fortgehen. Meine Jungen zumal können es nicht begreifen, wie sie ohne den afrikanischen Onkel und ihren Spielgefährten, den Achmet, fertig werden sollen, und haben nicht übel Lust, auch nach Afrika durchzugehen. Ich werde auf meiner Hut sein müssen.“

„Ja, sie haben mir auch derartige Pläne anvertraut,“ entgegnete Ehrwald mit einem flüchtigen Lächeln, während er seinem Freunde die Hand reichte. „Ich habe ihnen aber geraten, sie noch einstweilen aufzuschieben. Ich komme eben von Lady Marwood, wo ich Lebewohl gesagt habe. Percy war noch im Bett, ist aber sonst ganz munter und die Mutter bestand darauf, daß ich ihn zum Abschied noch einmal sah und mich von ihm küssen ließ.“

„Nun, er hat auch alle Ursache, seinem Retter dankbar zu sein,“ sagte der Hofrat. „Uebrigens hat sich der kleine Lord tapfer gehalten, es war keine Kleinigkeit, diese stundenlange Todesangst, und dann die schwere Erkältung in den nassen Kleidern: allein er kam mit einem tüchtigen Fieberanfall davon, der zum Glück nicht lange dauerte. In den ersten Tagen hatte ich ernstliche Sorge um das Kind und auch um die Mutter, denn bei ihr handelte es sich auch um Sein oder Nichtsein. Ich vergesse nicht den Aufschrei des Glückes, mit dem sie an dem Bettchen in die Knie sank, als ich ihr erklären konnte, daß die Gefahr vorüber und nichts mehr zu befürchten sei. Der kleine Bursche hat sich das freilich wohl gemerkt und tyrannisiert sie schon gründlich. Sobald sie nur einen Augenblick von seiner Seite geht, ruft er nach seiner Mama und verlangt diktatorisch, daß sie bei ihm bleibe, aber sie ist ganz selig über diese Tyrannei.“

„Ja, sie hat ihren Percy schnell genug zurückgewonnen,“ mischte sich Sonneck ein. „Ein Kind fühlt ja die Mutterliebe, besonders wenn es krank ist und die Mutter Tag und Nacht nicht von ihm weicht. Ich glaube auch kaum, daß Percy jemals Liebkosungen von seinem Vater empfangen hat; Marwoods kaltes, abgemessenes Wesen ließ das nicht zu, so stolz er auch auf seinen Erben sein mochte. Du hast also bereits Zenaide Lebewohl gesagt, Reinhart? Wirst Du sie in Kairo nicht wiedersehen?“

„Nein, Du weißt ja, daß ich mich diesmal gar nicht an der Küste aufhalte und sobald als möglich den Marsch in das Innere antrete, auch nimmt Zenaide noch einen Herbstaufenthalt in Italien, Wie ich eben hörte.“

„Es geschieht des Knaben wegen,“ bestätigte Bertram. „Er ist ein zartes Kind und eben erst genesen, da darf man ihn nicht sofort aus der rauhen Hochgebirgsluft in das jetzt noch so heiße Egypten bringen, deshalb schrieb ich die Uebergangsstation vor. In acht bis zehn Tagen, hoffe ich, wird Seine kleine Lordschaft reisefähig sein. Doch nun zu Ihnen, Herr von Sonneck! Sie gefallen mir gar nicht, seit Sie zurückgekehrt sind. Ich fürchte, Sie haben Ihren Kräften zu viel zugemutet bei jener Rettungsfahrt und müssen das nun büßen.“

„Nicht doch, ich befinde mich vollkommen wohl. Ich versichere es Ihnen,“ erklärte Sonneck, doch sein Aeußeres widersprach dieser Versicherung. Er sah bleich und angegriffen aus und seine Haltung hatte wieder das Müde, Gebeugte, das während der Zeit seines jungen Eheglücks völlig verschwunden gewesen war.

„Ja, Du hast Dich zu sehr angestrengt bei der Fahrt,“ sagte Ehrwald, mit einem besorgten Blick in das Gesicht des Freundes. „Ich hätte es nicht zulassen sollen, allein in der Gefahr denkt man immer nur an das Nächstliegende. Du mußt Dich künftig mehr schonen, Lothar, dergleichen ist nichts mehr für Dich. Zum Glück sind solche Abenteuer nur Ausnahmen hier in Deutschland.“

„Die Wiederholung würde ich auch entschieden verbieten,“ fiel der Hofrat ein. „Das muß ja eine Riesenarbeit gewesen sein, sich bis zu dem sinkenden Schiffe durchzuringen. Es hat auch Aufsehen genug gemacht, die Zeitungen haben es in alle Welt hinausgetragen, und man bewundert unsere beiden Afrikahelden nun auch neuerdings noch als kühne Seefahrer.“

„Ja, Aufhebens genug hat man davon gemacht,“ meinte Reinhart mit einem Achselzucken. „Die Geschichte war aber im Grunde gar nichts so Besonderes. Unsereins muß eben in allen Sätteln gerecht sein.“

„Für Sie allerdings nicht,“ lachte Bertram. „Sie haben wohl schon ein Dutzend solcher Heldenstücke vollführt und werden vermutlich noch ein zweites Dutzend leisten, wenn Sie erst wieder in Ihren Wüsten und Urwäldern sind. Uebrigens scheint auch Herr von Sonneck heute afrikanische Anwandlungen zu haben, es ist doch sonst nicht seine Art, das Mordgewehr mitten unter seine friedlichen Papiere zu legen.“

Er wies scherzend nach dem Schreibtische, wo allerdings eine sehr schöne Pistole lag, offenbar von älterer Form und Arbeit, deren Lauf im Sonnenschein blinkte. Sie lag gerade auf dem Manuskripte des großen Reisewerkes und so offen, daß sie jedem ins Auge fallen mußte.

„Es ist ein Abschiedsgeschenk für Reinhart,“ sagte Sonneck ruhig. „Ich habe die Waffe vor Jahren in Kairo gekauft und sie jetzt erst wieder hervorgesucht. Schöne arabische Arbeit, nicht wahr?“

„Prächtig!“ rief der Hofrat bewundernd, indem er den sehr kunstvoll eingelegten Griff betrachtete. „Ja, in solchen Dingen sind die Orientalen Meister.“

„Das ist in der That ein schönes Geschenk. Ich danke Dir, Lothar,“ sagte Ehrwald und wollte danach greifen, aber Lothar, der die Waffe aufgenommen hatte, um sie dem Arzte zu zeigen, behielt sie in der Hand.

„Ich will sie erst noch einmal probieren und reinigen,“ bemerkte er. „Sie ist jahrelang nicht gebraucht worden, ich bringe sie Dir heut’ abend.“

„Nur vorsichtig mit solchen alten Schußwaffen,“ warnte Bertram. „Das Ding ist doch hoffentlich entladen?“

„Natürlich!“ versetzte Sonneck mit voller Gelassenheit. „Was fällt Ihnen denn ein, Doktor? Ich verstehe es doch wahrhaftig, mit Waffen umzugehen.“

Damit legte er die Pistole, ohne sie aus der Hand zu geben, in das obere Fach des Schreibtisches. Der Hofrat brach jetzt auf, er wollte noch zu Lady Marwood, um nach dem kleinen Percy zu sehen, und die beiden anderen blieben allein.

„Ich bin auf dem Wege hierher mit Hartley zusammengetroffen,“ hob Reinhart wieder an. „Er kam von Dir und wollte zu Zenaide. Hast Du Rücksprache mit ihm genommen?“

„Gewiß und sehr ausführlich. Marwood hat kein Testament hinterlassen, er stand ja auch in voller blühender Lebenskraft. Es sind also keine Bestimmungen vorhanden, die Zenaide in ihren Mutterrechten irgendwie beschränken, dagegen tritt der Ehevertrag in Kraft, der damals bei der Vermählung abgeschlossen wurde. Er sichert der Gemahlin ein reiches Wittum; die englischen Familiengüter fallen selbstverständlich an den Sohn und Erben. Hartley wird als der nächste Freund des Verstorbenen in Gemeinschaft mit einem der Marwoods die Vormundschaft übernehmen, wenn Zenaide keinen Einspruch erhebt.“

„Das wird sie schwerlich thun. Hartley hat sich ihr niemals feindselig gegenübergestellt, sondern im Gegenteil stets zu vermitteln gesucht. Ich glaube, er hatte einst eine Neigung für sie, die nie ganz erloschen ist.“

„Möglich, jedenfalls wird er ihr bei der Erziehung des Knaben keine Schwierigkeiten machen, und das wird auch von seiten der Marwoodschen Familie nicht geschehen, wenn Zenaide sich entschließt, [375] jährlich einige Zeit mit ihrem Sohne auf den englischen Gütern zu verbringen. Zu diesem Opfer muß und wird sie sich verstehen. Percy ist in England geboren und darf seinem Vaterlande nicht ganz entfremdet werden.“

„Gewiß nicht,“ stimmte Ehrwald bei. „Aber jetzt, wo der Vater tot ist, hat die Mutter das alleinige Recht auf ihr Kind. Da hat das Schicksal einmal rettend eingegriffen! Zenaide war auf dem Wege, sich selbst zu verlieren, und Gott weiß, wie das geendet hätte. Das Kind wird ihr den Glauben an das Leben und an das Glück wiedergeben; seit ich sie am Bette Percys gesehen habe, fürchte ich nichts mehr für sie.“

Sonneck richtete das Auge ernst und forschend auf ihn.

„Und Ihr beide seid zu Ende miteinander? Ich weiß es, und es ist am besten so. Es gab eine Zeit, wo ich eine Verbindung zwischen euch wünschte und erhoffte, weil ich glaubte, ihr würdet das Glück miteinander finden; das war ein Irrtum. Zenaide hätte sich nie dem Berufe gefügt, der doch nun einmal der Deinige ist, sie hätte Dich nie von ihrer Seite lassen wollen und Dich selbst aus der Ferne mit ihrer Angst um Dich gequält. Du brauchst ein starkes Weib, das nicht jammert und verzweifelt, wenn es Dich in Gefahr weiß, und zur Not auch einmal die Gefahr mit Dir teilt.“

„Wie kommst Du darauf?“ fragte Reinhart befremdet. „Ich habe ja nie daran gedacht, mich zu vermählen, und jetzt, wo ich wieder auf Jahre hinausziehe, kann doch vollends davon keine Rede sein.“

Lothar ließ die Frage unerörtert, er wiederholte nur: „Auf Jahre! Und dann werden wieder Jahre vergehen, bis Du einmal nach Europa kommst. Wer weiß, ob Du mich dann noch findest, ich bin alt geworden, sehr alt. Vielleicht ist dies der letzte Abschied, den wir nehmen!“

„Thorheit, wer wird an so etwas denken!“ rief Ehrwald mit einem erzwungenen Lachen.

„Nun, der Gedanke liegt doch nah’ genug. Und wir haben in den zehn Jahren unsres Zusammenwirkens doch auch den Inhalt eines ganzen Lebens ausgekostet, denn es waren Kriegsjahre, die zählen doppelt. Das hat uns zusammengeschmiedet in Glück und Not und wir haben uns liebgehabt dabei – nicht wahr, Reinhart?“

„Ja,“ sagte Reinhart einfach, aber es lag mehr in dem einen Worte als in einer langen Beteuerung.

„Und das soll uns bleiben, auch wenn wir jetzt scheiden,“ ergänzte Lothar. „Doch nun geh’ auch hinunter zu Elsa und sag’ ihr Lebewohl!“

„Willst Du nicht mitkommen?“ fragte Ehrwald betroffen.

„Nein, ich – ich will zu Hartley. Ich habe versprochen, ihn im Hotel aufzusuchen, und muß ihn jedenfalls noch sprechen, wenn er von Zenaide kommt.“

„Dann begleite ich Dich zur Stadt,“ fiel Reinhart hastig ein. „Mein Abschiedsbesuch bei Deiner Frau wird nicht lange dauern, warte die paar Minuten.“

„Ich kann nicht, es ist ein Uhr und ich habe versprochen, pünktlich zu sein. So eilig brauchst Du es ja nicht zu machen mit dem Abschiede. Geh, Du findest Elsa unten im Wohnzimmer und wir beide sehen uns ja noch. Ich komme jedenfalls zu Bertram, um den letzten Abend mit Dir zu verbringen.“

Ehrwald zögerte noch einige Sekunden; als er aber sah, daß Lothar nach seinem Hute griff, blieb ihm nichts übrig, als sich zu fügen. Sie stiegen zusammen die Treppe hinunter und trennten sich erst dort. Sonneck war stehen geblieben und sah mit einem langen, düsteren Blicke dem Freunde nach.

„Er fürchtet dies Alleinsein!“ sagte er halblaut, „und ich schicke ihn geradeswegs hinein in die Versuchung, allein es hilft nichts, ich muß auch noch dies Letzte wissen. Wenn es unausgesprochen bleibt zwischen ihnen, wenn er geht ohne Geständnisse, vielleicht überwinden sie es dann beide. Wenn nicht – nun dann sollst Du das ‚Abschiedsgeschenk‘ haben, Reinhart, es ist das Kostbarste, was ich besitze.“

Er wandte sich um, aber nicht nach dem Ausgange, sondern nach dem Schlafzimmer Helmreichs, das jetzt verschlossen war. Er zog einen Schlüssel hervor und öffnete leise die Thür. Das Gemach stieß unmittelbar an das Wohnzimmer, man hörte jedes Wort, das dort gesprochen wurde.

Die junge Frau saß am Fenster und las, wenigstens hatte sie ein Buch in der Hand, aber ihre Augen folgten mechanisch den Worten, ohne daß ihr auch nur ein einziges davon zum Verständnis kam. Sie wußte ja, daß Ehrwald im Hause war und daß er kommen würde, um ihr Lebewohl zu sagen. Da öffnete sich die Thür und er trat ein, aber allein, und Elsa erbebte unwillkürlich. Sie hatte gehofft, daß der Abschied in Gegenwart ihres Gatten stattfinden würde – wo blieb Lothar?

Reinhart verneigte sich, so kühl und förmlich, wie er gewöhnlich mit der Gattin seines Freundes zu verkehren pflegte, und ebenso klang seine Anrede: „Ich komme, um mich zu verabschieden, gnädige Frau. Gestatten Sie mir, Ihnen nochmals Dank zu sagen für all die Freundlichkeiten, die ich in Ihrem Hause empfangen habe.“

Elsa neigte das Haupt und ihre Antwort klang ebenso förmlich: „Bitte, Herr Ehrwald, es ist Lothar und mir eine Freude gewesen. Sie wollen also morgen fort?“

„Morgen früh. Ich denke dann mittags die Bahnstation und den Eilzug zu erreichen.“

„Und dann gehen Sie direkt nach dem Süden?“

„Jawohl, ich reise ohne Aufenthalt nach Brindisi und schiffe mich dort ein.“

Es trat eine längere Pause ein; sie fühlten beide das drückende derselben und hatten doch nicht den Mut, weiter zu sprechen oder sich anzusehen. Ehrwalds Blick schweifte in den Garten hinaus und Elsas Augen blieben gesenkt. Die Zeit, wo sie sich über ihre Empfindungen täuschten, war vorüber, auch für die junge Frau; die grausamen Worte des sterbenden Großvaters hatten den Schleier von ihrem Inneren gerissen. Sie wußte es jetzt, welche geheimnisvolle, unentrinnbare Macht sie zu diesem Manne zog – er freilich hatte es längst gewußt! Dann kam jene Stunde der Todesangst, wo sie ihn auf der tobenden Flut wußte, und jene Minute, wo er gerettet ans Land sprang. Wenn auch noch kein Wort der Erklärung zwischen ihnen gefallen war, sie sahen beide klar genug.

„Sie werden diesmal lange fortbleiben?“ hob Elsa endlich wieder an.

„Wahrscheinlich jahrelang, es ist ein weiter Weg, den ich vor mir habe, und wenn ich an das Ziel gelangt bin, wird es noch Mühe und Arbeit kosten, uns die Früchte des Zuges zu sichern.“

„Aber Lothar hofft, daß Sie dann nach Europa zurückkehren, wäre es auch nur, um ihn wiederzusehen.“

„Gewiß, das hoffe ich auch. Wir nehmen ja nicht für immer Abschied.“

Er sprach die Unwahrheit aus, obgleich er wußte, daß sie nicht geglaubt wurde. Sie kannten ja beide die Bedeutung dieser Abschiedsstunde, das zeigte das bleiche Antlitz der jungen Frau und das dunkle Gesicht des Mannes, der ihr gegenüberstand. Wieder trat jenes bange, lastende Schweigen ein, das Minuten dauerte, dann richtete sich Ehrwald auf einmal jäh empor. Wozu denn die Qual verlängern, wozu lügenhafte Worte tauschen und sich hinter leeren Formen verschanzen! Es mußte ja doch ein Ende gemacht werden, so mochte es schnell geschehen!

„Leben Sie wohl,“ sagte er dumpf. „Denken Sie bisweilen meiner!“

Er wartete noch einige Sekunden auf eine Antwort, die nicht erfolgte, und ging dann. Aber an der Thür wandte er sich noch einmal um, sein Blick flog zurück und jetzt sah er die Augen, die sich ihm bisher verschleiert hatten, sah, wie sie ihm folgten, und das ganze herzzerreißende Weh des Abschieds stand darin. Da brach seine Selbstbeherrschung zusammen, in der nächsten Minute war er wieder an ihrer Seite.

„Elsa!“

Der Name kam zum erstenmal von seinen Lippen. Sie wich zurück. „Gehen Sie! – Ich bitte – gehen Sie!“

„Ich gehe ja,“ sagte er herb, „und für immer! Sie glauben es doch nicht, Elsa, daß ich zurückkehre?“

„Nein!“ war die leise Antwort.

„Nun, dann geben Sie mir auch ein Wort zum Abschiede mit. Ich warte darauf.“

„Leben Sie wohl – reisen Sie glücklich!“

„Glücklich?“ wiederholte Reinhart mit tief aufquellender Bitterkeit. „O gewiß, mein Glück in all den Gefahren ist ja beinahe sprichwörtlich geworden. Es war mir immer zur Seite, nur da, wo es sich um mein Lebensheil handelte, da wurde es mir treulos. Nun frage ich auch nicht mehr nach dem Leben überhaupt, wenn ich es diesmal lassen muß – mir ist es recht!“

Das Geständnis, das er bisher noch nicht ausgesprochen, lag in diesen grollenden Worten und auch Elsa machte keinen Versuch mehr, sich oder ihm die Wahrheit abzuleugnen, sie fuhr auf in bebender Angst.

[376] „Reinhart, um Gotteswillen, was heißt das? Sie suchen den Tod da draußen?“

„Nein,“ sagte er finster, „aber ich werde ihm auch nicht mehr aus dem Wege gehen. Sonst, wenn ich mir mein Leben wieder einmal zurückerobert, wenn ich es all den feindlichen Mächten abgekämpft hatte, dann flammte die Lust am Dasein so heiß und freudig wieder auf! Das ist vorbei – vor mir liegt für immer die Wüste.“

„O, Reinhart, nicht so!“ bat die junge Frau mit gefalteten Händen. „Gehen Sie nicht hinaus mit dieser wilden Bitterkeit und Verzweiflung! Ich muß es ja auch tragen, das ganze, lange, furchtbare Leben, und muß lächeln dabei. Lothar darf ja nichts ahnen, er ist mein Gatte –“

„Und mein Freund!“ ergänzte Ehrwald mit schwerer Betonung.

„Das macht mich wehrlos gegen das Geschick. Als ich zurückkehrte, waren Sie ja noch nicht sein Weib, Elsa, der Schwur am Altare war noch nicht geleistet! Ich hätte Sie der ganzen Welt abgekämpft, hätte Heil und Leben dafür eingesetzt – mit ihm konnte ich nicht kämpfen, ihm nicht sein Glück entreißen, es war ein Verhängnis.“

Elsa hatte sich erhoben, sie fühlte es ja, daß sie diese Sprache nicht hören durfte, allein sie war wieder im Bann seiner Stimme, seiner Augen, und anstatt zu gehen, blieb sie und lauschte den Worten, die gedämpft und doch so leidenschaftlich von seinen Lippen kamen: „Dies Verhängnis hat ja schon damals über uns gewaltet, in jener glühenden Mittagstunde, unter den Palmen des Nils, als wir die Fata Morgana erblickten. Es erschien uns beiden, das leuchtende Zeichen, und ich ahnte nicht, daß das Glück, das es mir verhieß, an meiner Seite stand. Aber so oft mir das geheimnisvolle Wüstenbild wieder auftauchte, im Traume wie im Wachen, immer schwebten darüber die großen blauen Kinderaugen, die es mit mir geschaut hatten. Ich bin ihm nachgejagt durch Länder und Meere, ich habe es gesucht in der brennenden Wüste, in den Tiefen des Urwaldes, auf steilen Bergesgipfeln und habe es nie gefunden. Da kehrte ich zurück und da stand es an der Schwelle meiner Heimat, das große, das grenzenlose Glück, von dem ich so oft geträumt, und sah mich an mit jenen leuchtenden Kinderaugen. Da fand ich es – um zu erfahren, daß es mir auf immer verloren sei!“

Er stand noch immer an ihrer Seite, ohne auch nur ihre Hand zu berühren, aber in jedem Worte bebte der mühsam verhaltene Sturm seines Inneren, und diese Sprache fand ein nur zu lautes Echo in der Brust des jungen Weibes. Dort klang es ja auch wie ein Aufschrei nach Glück und Liebe! Doch Elsa war nicht umsonst in der strengen Schule der Pflichten und der Entsagung aufgewachsen. Das hatte ihr die Jugendfreude genommen, aber auch ihre Kraft gestählt und die hielt stand, selbst in dieser schweren Stunde; sie entriß sich dem gefährlichen Bann.

„Nicht weiter, Reinhart! Hören Sie auf mit diesen Geständnissen, die ich nicht hören darf. Denken Sie an Lothar!“

„Nun, wenn es ein Unrecht ist gegen ihn, dann wird es gesühnt durch die Qual dieser Stunde,“ brach Reinhart mit wilder Heftigkeit aus. „Ich will Dich ja nicht besitzen, Elsa, Dich ihm nicht nehmen, aber eines darfst Du mir nicht verweigern! Sage es mir, daß Du mich liebst, laß es mich von Deinen Lippen hören! Es ist ja nur ein Wort und ich nehme es mit mir hinaus in die Ferne, in den Tod vielleicht. Denke, es ist ein Abschied für das Leben!“

Er war vor ihr niedergestürzt und sein Blick flehte noch heißer als seine Worte. Ein Abschied für das Leben! Das wußte auch Elsa und da beugte sie sich über ihn.

„Ja, Reinhart, ich liebe Dich grenzenlos! – Nun weißt Du es – nun geh!“

„Elsa!“ Er sprang auf, es lag Seligkeit und Verzweiflung zugleich in dem Rufe. „Und nun sollen wir uns nie, niemals wiedersehen! Kannst Du es denn tragen – ich kann es nicht.“

„Du mußt,“ sagte sie leise. „Ich muß es auch. Geh! Du hast es mir versprochen.“

Da fühlte sie sich von Reinharts Armen umschlossen, an seine Brust gerissen. Es war nur ein einziger Augenblick, dann brach ein glühendes, halb ersticktes „Lebewohl!“ von seinen Lippen und er stürzte davon.

[398] Im Garten der Bertramschen Villa gingen Selma und ihre Schwägerin, die in der nächsten Woche nach Birkenfelde übersiedeln wollte, im Gespräch auf und nieder. Es herrschte heute ausnahmsweise Stille in ihrer Umgebung, denn die drei Jungen befanden sich im Hause bei ihrem Vater und halfen ihm bei den Vorbereitungen zu einer kleinen Abschiedsfeier, die dem „afrikanischen Onkel“ galt. Auf diese Weise hatte auch Achmet Ruhe, der ein noch gesatteltes Reitpferd am Zügel auf und ab führte, offenbar, um es abzukühlen, denn das Tier dampfte und trug alle Spuren eines heftigen Rittes. In Kronsberg wurden während des Sommers stets Reitpferde gehalten, zur Verfügung für die vornehmen Kurgäste, und Ehrwald ritt täglich einige Stunden, wenn er hier war. Auch heute war er dieser Gewohnheit treu geblieben und eben erst nach Hause gekommen.

„Die Kronsberger Gäule werden froh sein, wenn dieser Wüstenmensch erst fort ist,“ bemerkte Ulrike in ihrer gewohnten liebenswürdigen Ausdrucksweise. „Und ihre Herren erst recht, er reitet ihnen ja die Tiere zu Schanden. Da ist er nun wieder wie toll umhergejagt, man sieht es dem armen Geschöpfe an.“

„Ja, Ehrwald kann nicht leben, wenn er nicht täglich ein paar Stunden im Sattel ist,“ sagte Selma. „Er ist allzusehr daran gewöhnt, sein Beruf bringt das so mit sich.“

„Dann soll er aber reiten wie ein Christenmensch und nicht seine wilden afrikanischen Gewohnheiten mit hierherbringen,“ grollte Ulrike, bei der Reinhart nun einmal nicht zu Gnaden angenommen wurde. „Viel Vergnügen habt Ihr übrigens in der letzten Zeit nicht gehabt von eurem ‚berühmten Gast‘. Er geruhte immer übler Laune zu sein, und vollends heute, als er von Burgheim kam und gleich darauf fortritt, machte er ein Gesicht wie zehn Donnerwetter.“

„Ich finde auch, daß er seit einiger Zeit verstimmt ist,“ pflichtete die Frau Hofrätin bei. „Aber das begreift sich, es ist der Abschied von Sonneck, der ihm schwer wird und auf ihm lastet.“

[399] „Ein Glück, daß wir den behalten!“ sagte Fräulein Mallner, für die Lothar Sonneck immer noch der „einzige Mensch“ auf der Welt war und blieb. „Diesen Ehrwald gönne ich den Wilden von ganzem Herzen. Der gehört mit seinen halsbrecherischen Gewohnheiten überhaupt nach Afrika, wo er überall den Herrn und Meister spielen und Menschen und Tiere malträtieren kann. Zu einem Wüstenhäuptling hat er das Zeug, aber nicht zu einem vernünftigen Menschen wie Herr Sonneck, der sich gescheiterweise hier in Deutschland zur Ruhe gesetzt hat. Er kommt doch heut’ abend?“

„Gewiß, er hat es versprochen, aber Elsa werden wir leider nicht sehen; sie ließ mir durch meinen Mann sagen, daß sie heute bei Lady Marwood sein werde.“

Ein lautes Hallo verkündete, daß man drinnen mit den Vorbereitungen fertig war. Die drei Jungen kamen schleunigst herbeigestürzt, um das zu verkünden und die Mama und die Tante aufzufordern, sich die Herrlichkeit anzuschauen. Die beiden Damen ließen sich denn auch dazu bereit finden und die ganze Gesellschaft verfügte sich in das Haus.

Ehrwald befand sich unterdessen in seinem Zimmer, wo schon alles für die Abreise gepackt stand. Man sah es ihm an, daß er sich mit der Ermüdung nicht die Ruhe erjagt hatte, und doch galt es, heute abend bei dem letzten Zusammensein mit Lothar eine ruhige Stirn zu zeigen. Aber das Schwerste war ja überstanden, nun mußte auch dies Letzte noch ertragen werden!

Da ließ sich draußen ein eiliger Schritt hören, die Thür wurde aufgerissen und Hofrat Bertram erschien, mit einem ganz verstörten Gesicht.

„Da sind Sie ja, Ehrwald!“ rief er hastig. „Wir müssen sofort nach Burgheim, eben kam ein Bote von dort. Es ist ein Unglück geschehen – mit Sonneck.“

Reinhart, der eben im Begriff war, noch einige Papiere in die Reisemappe zu legen, ließ diese fallen und fuhr auf.

„Lothar? Was ist mit ihm? Was ist geschehen?“

„Er hat die Pistole probieren oder reinigen wollen, Sie wissen ja, das Geschenk für Sie. Das unselige Ding war vermutlich doch nicht entladen, oder es ist sonst etwas damit passiert. Genug, Sonneck hat einen Schuß in die Brust erhalten, wahrscheinlich schwer, denn er liegt besinnungslos, der Bote meint gar – er läge im Sterben.“

Ehrwald stand wie erstarrt.

Der Mann, der doch mit Schrecknissen aller Art vertraut war, schien wie gelähmt durch die Nachricht. Aber was sich in seinen Zügen ausprägte, war mehr als Schreck, die Ahnung von etwas Entsetzlichem, Ungeheurem.

„Ich lasse eben anspannen,“ fuhr Bertram fort. „In zehn Minuten wird der Wagen da sein, wir fahren bei Lady Marwood vorüber und nehmen Elsa gleich mit. – Mein Gott, Ehrwald, Sie sind ja wie vernichtet! Vielleicht ist die Nachricht übertrieben, man muß nicht gleich das Schlimmste fürchten! Jedenfalls müssen wir auf der Stelle hinaus!“

Die letzten Worte brachten Ehrwald zur Besinnung, er stürzte an das Fenster, riß es auf und rief dem Neger zu, der eben das Pferd aus dem Thore führte: „Zurück mit dem Pferde, Achmet – ich brauche es! Kommen Sie nach, Bertram, jagen Sie, was die Tiere laufen können! Ich muß voran!“

Damit eilte er auch schon die Treppe hinunter in den Garten, riß Achmet die Zügel aus der Hand und warf sich auf das Roß. Das Tier, erschöpft von dem vorhergehenden scharfen Ritte, wollte den Gehorsam versagen, aber der Reiter trieb es wie wahnsinnig an. Im rasenden Galopp ging es durch den Kurort, über die Brücke, an der Stadt vorüber und den Weg nach Burgheim hinauf. Vor dem Gitterthor sprang Ehrwald aus dem Sattel, überließ das Tier sich selber und stürmte in das Haus.

In seinem Zimmer lag Sonneck auf dem Sofa, das Haupt mit Kissen gestützt, regungslos mit geschlossenen Augen und ohne Lebenszeichen, während sich der alte Bastian und eins der Mädchen mit allerlei Hilfeleistungen um ihn bemühten. Unter dem geöffneten Rock war das blutgetränkte Hemd sichtbar; es war offenbar noch nicht gelungen, das Blut zu stillen. Reinhart war an das Lager geeilt; ohne sich mit einer einzigen Frage aufzuhalten, entfernte er die Tücher und begann die Wunde zu untersuchen, während Bastian unaufgefordert berichtete, was er wußte.

Er hatte im Garten den Schuß gehört und war sofort hinaufgeeilt, da fand er den Herrn in seinem Blute. Herr Sonneck hatte noch die Kraft gehabt, ein paar Worte zu sprechen und das Unglück zu erklären, ehe er das Bewußtsein verlor. Demnach hatte er die Pistole reinigen wollen, sie hatte sich entladen, und die Kugel, die noch im Lauf steckte, traf ihn gerade in die Brust.

Ehrwald hörte das an, ohne ein Wort zu sprechen. Seit er die Wunde gesehen hatte, war sein Gesicht fast so farblos wie das des Schwerverletzten, aber er that mit gewohnter Geistesgegenwart, was der Augenblick forderte. Er schickte das Mädchen fort, um Wasser zu holen, befahl Bastian, die Hausapotheke herbeizuschaffen, und inzwischen legte er mit dem, was gerade zur Hand war, einen Notverband an.

Der Schmerz bei Berührung der Wunde erweckte Sonneck aus seiner Bewußtlosigkeit, er schlug langsam die Augen auf.

„Reinhart – Du?“ fragte er leise.

„Sprich nicht, rege Dich nicht, sonst fließt das Blut wieder,“ sagte Reinhart mit fliegendem Atem, während er den Verband vollendete, aber der Verwundete machte eine matte, abwehrende Bewegung.

„Laß – es ist umsonst! Eine Unvorsichtigkeit – die Waffe entlud sich – ich wußte nicht –“

Er verstummte, denn Ehrwald hatte sich über ihn gebeugt und seine Augen bohrten sich förmlich ein in das Antlitz des Freundes. Es stand eine furchtbare Frage in diesem Blick voll stummer Todesangst, wenn sie auch die Lippen nicht aussprachen, und Sonneck schien das zu fühlen.

„Fasse Dich,“ murmelte er. „Sei ein Mann!“

„Lothar!“ schrie Reinhart plötzlich auf, es war ein Ruf der wildesten Verzweiflung. „Lothar!“

Sonneck zuckte leise zusammen bei dem Tone und wandte den Kopf seitwärts.

„Laß mich – Du thust mir wehe!“

Da sank Ehrwald in die Knie und brach in ein lautes Weinen aus. Er hatte die Thränen nicht gekannt seit seinen Knabenjahren, und es lag etwas Erschütterndes in diesem Weinen des sonst so eisernen Mannes.

„Mein armer Junge!“ sagte Lothar weich. „Du hast mich sehr geliebt, ich weiß es, Dir übergebe ich mein Liebstes, Elsa – nimm sie in Deinen Schutz.“

„Nein, nein!“ fuhr Reinhart mit einem Ausdruck des Entsetzens auf. „Nimmermehr! Das darfst Du nicht fordern.“

Da legte sich die Hand des Sterbenden schwer und kalt auf die seinige und seine Stimme klang fast gebietend, in dem Aufflammen der letzten Kraft: „Ich will es! Ehre meinen letzten Willen!“

Ehrwald warf sich über ihn und umfaßte ihn mit beiden Armen, er sah ja, daß es hier nichts mehr zu schonen gab, aber er hörte auch die jetzt schon erlöschende Stimme, die jene Forderung wiederholte: „Elsa – laß sie nicht allein im Leben! Dein Versprechen, Reinhart – Dein Wort!“

Die tiefen grauen Augen Lothars waren unverwandt auf ihn gerichtet und der nahende Tod gab ihnen etwas Geisterhaftes. Es stand kein Vorwurf darin, nur die verzeihende Liebe des Mannes, dem der Freund doch vielleicht teurer gewesen war als sein junges Weib. Reinhart wollte sich noch einmal aufbäumen, sich weigern, aber er stand unter dem Zwange jenes geisterhaften Blickes, der von ihm forderte, daß das Opfer nicht vergebens, daß das Blut, das der Todeswunde entquoll, nicht umsonst geflossen sei – da neigte er das Haupt auf die erkaltende Hand und preßte seine Lippen darauf. „Ich – verspreche es!“

Das waren die letzten Worte, die gesprochen wurden. Tiefes Schweigen herrschte in dem Gemach, das ganz erfüllt war von dem goldigen Glanze der Abendsonne, wie einst ein anderes Sterbezimmer im fernen Afrika. Aber hier blickten schneegekrönte Berggipfel durch das Fenster, und das Leben, das sich hier verblutete, war nur Segen gewesen für andere – selbst der Tod war es!

Reinhart hielt den Sterbenden in den Armen, aber er zwang den Sturm der Verzweiflung nieder, er wollte dem Freunde nicht wieder „wehe thun“. Ohne Laut, ohne Regung sah er Lothars Augen sich verschleiern und nahm den letzten Hauch von seinen Lippen, dann aber brach er wie vernichtet zusammen.

Draußen fuhr in stürmischer Eile ein Wagen vor und hielt vor dem Eingange. Er brachte den Arzt, der hier nicht mehr nötig war – und eine junge Witwe!


[400] In den Straßen von Kairo flutete das gewohnte Leben und Treiben in unaufhörlichem Wechsel und ewiger Rastlosigkeit. Wagen und Pferde, lange Züge von Kamelen und die buntgezäumten Reitesel machten sich oft nur mühsam Bahn durch das Menschengewühl. Zwischen den dunkelfarbigen Gestalten der Orientalen, in ihren bunten Gewändern, sah man die Europäer aller Nationen. Fliegende Händler priesen ihre Waren an, dicht verschleierte Frauen bewegten sich durch das Gedränge und im blendenden Glanze der Mittagsonne ragten die Paläste, die Moscheen und Palmengärten der schimmernden Stadt auf. Es war das alte, malerische und phantastische Bild, und es hatte in all den Jahren nichts verloren von seinem reizvollen Zauber.

„Nun habe ich aber genug von diesem Staub und dieser Hitze,“ sagte ein Herr, der mit einer Dame am Arm durch das Gewühl steuerte, in deutscher Sprache. „Man merkt es, daß wir in Afrika sind. Es ist Anfang Februar und wir werden langsam geröstet in der Sonnenglut! Und dazu dieser Lärm! Die Nerven hat man sich hier in Kairo gründlich abzugewöhnen.“

„Ja, Sie sind Ihr stilles Kronsberg gewöhnt, Herr Hofrat,“ entgegnete die Dame; es war Frau Doktor Walter. „Wir sind hier mitten im Treiben der orientalischen Weltstadt.“

„Und wir sind Weltkurort, schon seit Jahren,“ erklärte Hofrat Bertram mit Selbstgefühl. „Ich bin tief beleidigt, gnädige Frau, daß Sie Kronsberg noch immer für ein stilles kleines Bergnest zu halten scheinen, und bestehe darauf, daß Sie es sich diesmal in der Hauptsaison ansehen, wozu mir Kollege Walter bereits Hoffnung gemacht hat. Da können wir Ihnen mit einem halben Dutzend Potentaten aufwarten, die Millionäre wimmeln nur so auf unserer Kurpromenade und die Berühmtheiten sind überhaupt gar nicht mehr zu zählen.“

„Er streicht seine Schöpfung nach Kräften heraus,“ sagte lachend Doktor Walter, der mit der Frau Hofrätin am Arme vorausging. „Sie haben ja doch eigentlich Kronsberg entdeckt, Kollege.“

„Zum Heil der Menschheit!“ bestätigte dieser. „Allerdings auch zu meinem eigenen Heile. Meine jetzige Stellung ist doch etwas einträglicher als jene, welche ich damals als junger Schiffsarzt beim Lloyd bekleidete.“

„Und sie hat Ihnen doch das Allerbeste eingebracht,“ scherzte Walter, mit einem Blick auf die blühende kleine Frau an seiner Seite. „Aber da sind wir bei unserem Hause, und im Garten ist es schattig und kühl, da können Sie sich von der ‚afrikanischen Glut‘ erholen.“

Sie hatten in der That das Waltersche Haus erreicht und traten jetzt in den Garten, der ebenso wie das Haus unverändert war, nur die Bäume waren höher, die Gebüsche dichter geworden; allein das erhöhte nur das Trauliche des Ortes, der noch immer wie eine kleine grüne Oase in dem Häusermeer der lärmenden, staubwirbelnden Stadt lag. Die kleine Gesellschaft ließ sich denn auch in aller Behaglichkeit an einem schattigen Platze nieder. Hofrat Bertram war mit seiner Frau erst vor acht Tagen angelangt und hatte den befreundeten Kollegen wieder aufgesucht. Das gab ein frohes Wiedersehen, auch zwischen den beiden Damen; Selma hatte ja ihre ganze Brautzeit in dem Walterschen Hause verlebt und man war stets im Briefwechsel geblieben.

„Es bleibt also dabei: Sie besuchen uns in Kronsberg, wenn Sie im Sommer nach Europa kommen,“ hob Bertram wieder an. „Unsere Heilquellen werden Sie interessieren, Kollege, und bei der Gelegenheit können Sie auch eine alte Bekanntschaft erneuern. Ich schrieb es Ihnen ja, daß die Schwägerin meiner Frau sich in unserer unmittelbaren Nähe angekauft hat und seit drei Jahren auf ihrem Landgute lebt.“

„Jawohl, und wir haben Ihnen unser tiefstes Mitgefühl nicht vorenthalten,“ versetzte Walter. „Meine Frau und ich, wir haben ja beide das Glück, Fräulein Ulrike Mallner zu kennen.“

„Bitte, die kennen Sie nicht,“ widersprach der Hofrat. „Respekt vor unserer Tante Ulrike! Die ist der Abgott unserer Jungen und mein Jüngster, der Hansel, verleugnet schnöde seine eigenen Eltern, wenn er bei der vielgeliebten Tante bleiben kann. Sie ist überhaupt ein wahrer Schatz für uns! Bei unserer Abreise hat sie sich die ganze kleine Gesellschaft nach Birkenfelde geholt, wo die Jungen natürlich nichts als Unfug anstiften. Sie wissen eben, daß sie sich dort alles erlauben dürfen, und werden dabei in unglaublicher Weise verzogen.“

Der Doktor und seine Frau schienen das für Scherz zu halten und hörten mit sehr ungläubiger Miene zu, aber Selma pflichtete ihrem Manne bei:

„Gewiß, ich hätte mich ja nie zu der langen und weiten Reise entschlossen, wenn ich die Kinder nicht in den allerbesten Händen wüßte. Ulrike hat sie schon im vorigen Winter in ihre Obhut genommen, als wir in Berlin waren; sie vertritt Mutterstelle in aufopfernder Weise.“

„Nun, gnädige Frau, da Sie es so ernsthaft sagen, werden wir es wohl glauben müssen,“ meinte Walter. „Es geschehen also noch Zeichen und Wunder auf Erden! Und auch Sie stehen sich jetzt gut mit der streitbaren Dame, Kollege?“

„Ausgezeichnet, wir zanken uns allerdings so oft wir uns sehen, allein das ist nur äußerlich. Unsere verehrte Erbtante – ich nenne sie stets so, und sie ist jedesmal wütend darüber – schämt sich nämlich unendlich ihrer Bekehrung. Es soll kein Mensch etwas davon merken, deshalb benimmt sie sich möglichst berserkerhaft.“

„Das kann ich mir denken,“ sagte Frau Walter lachend. „Ich erinnere mich ihrer noch ganz genau, sie war ein Original.“

„Das ist sie noch heute. Die Art zum Beispiel, wie sie mir ihre Testamentsbestimmungen ankündigte, war höchst originell. ,Freuen Sie sich nur nicht auf die Erbschaft!‘ schrie sie mich an. ,Sie bekommen nichts, keinen Pfennig, und Selma bekommt auch nichts, es ist alles den drei Jungens vermacht. Es sind zwar gottlose Rangen, aber sie können ja nicht dafür, daß sie so schlecht erzogen werden, und der Hansel wird Landwirt, das bitte ich mir aus, denn der erbt Birkenfelde.‘ So treibt sie es immer und dabei überschüttet sie die Kinder mit Geschenken. – Gott sei Dank, jetzt fange ich an, mich hier im Schatten wieder menschlich zu fühlen! Wir Hochgebirgsleute müssen uns erst in Afrika acclimatisieren. Eigentlich kann ich es Frau Elsa nicht verdenken, daß sie nach Giseh hinausgegangen ist, um nicht tagtäglich den Staub und Lärm von Kairo zu haben. Da draußen sieht sie freilich nichts als die Pyramiden und die Wüste, und das ist auf die Dauer doch etwas einförmig. Was sagen Sie eigentlich zu Frau von Sonneck, Kollege?“

„Nun, ich dächte, da gäbe es nur eine Meinung,“ versetzte der Gefragte lächelnd. „Es war ja immer ein reizendes Kind, jetzt ist es eine vollendete Schönheit geworden.“

„Das will ich meinen! Wenn sie im Sommer von Burgheim kam, um uns zu besuchen, war die ganze männliche Kurbevölkerung auf den Beinen und promenierte an unserer Villa vorüber, allein sie zeigte sich unendlich gleichgültig dagegen.“

„Ja, Elsa ist mir in manchen Dingen rätselhaft,“ sagte Selma nachdenklich. „Sonneck mag ja der trefflichste Gatte gewesen sein, aber er war doch beinahe vierzig Jahre älter als sie, und ihre Ehe hat überhaupt nur drei Monate gedauert. Dennoch beharrt sie auf ihrer Zurückgezogenheit. Wir waren ganz erstaunt, als sie mit dem Vorschlage zu dieser Reise hervortrat, sie gab ja eigentlich die Veranlassung dazu. Uebrigens wollte sie heute nach der Stadt kommen, um bei Lady Marwood einen Besuch zu machen.“

„Ja so, Lady Marwood!“ fiel Bertram ein. „Sie war so liebenswürdig, mir zu erklären, ich und Kronsberg hätten sie gesund gemacht. Wir haben das Wenigste dabei gethan. Die Erlösung von den Ketten dieser unglücklichen Ehe und der unbestrittene Besitz ihres Kindes, das brachte ihr die Genesung. Der kleine Percy hat sich ja prächtig entwickelt, und seine Mutter scheint hier in Kairo die erste Rolle zu spielen.“

„Gewiß, sie ist der strahlende Mittelpunkt unserer Gesellschaft und hat die großartige Gastfreundschaft des einstigen Osmarschen Hauses im vollsten Maße wieder aufgenommen. Man findet bei ihr alles, was auf Bedeutung Anspruch macht. Aber obwohl die noch immer sehr schöne Frau mit ihrem fürstlichen Reichtum von allen Seiten umworben wird, verlautet von einer zweiten Ehe noch nichts.“

„Das hat vielleicht seine Gründe,“ sagte der Hofrat mit einem vielsagenden Lächeln. „Wer weiß, ob uns die nächste Zeit nicht eine Ueberraschung bringt – Ehrwald kehrt ja jetzt von seinem Zuge zurück.“

„Allerdings, er hatte nach den letzten Nachrichten bereits die Nilstation erreicht und kann jeden Tag eintreffen. Glauben Sie wirklich, daß zwischen ihm und Lady Marwood –?“

„Wenigstens wurde in Kronsberg viel über die beiden [402] gesprochen. Es soll sich da um eine alte Jugendneigung handeln. Freilich, als Ehrwald vor drei Jahren Europa verließ, dachte er nicht an solche Dinge. Der Tod Sonnecks hatte ihn in einer Weise getroffen, die ich bei dem sonst so eisernen Manne gar nicht für möglich gehalten hätte.“

„Es war aber auch ein tragisches Geschick,“ sagte Doktor Walter ernst. „Sonneck hatte so viele Gefahren überstanden und noch im letzten Jahre eine schwere Krankheit glücklich überwunden, und nun erlag er einem bloßen Zufall, einer Unvorsichtigkeit, und die eigene Waffe gab ihm den Tod.“

„Ja, es war ein entsetzlicher Vorfall!“ stimmte Bertram bei, „und Ehrwalds Schmerz über den jähen Verlust war wohl zu begreifen. Aber er war förmlich zerschmettert dadurch, und sobald die Bestattung vorüber war, brach er auf, als jagte ihn etwas davon. Er war keinen Tag länger zu halten.“

„Die deutsche Kolonie plant einen großen Empfang bei seiner Rückkehr,“ erklärte Walter, „und wir haben auch alle Ursache, ihn zu feiern. Was hat der Mann wieder geleistet und errungen auf diesem Zuge! Welche Gebiete hat er uns erschlossen! Wenn Lady Marwood wirklich einen Entschluß faßt, wie Sie ihn andeuten, so wird das niemand überraschen. Der Name Reinhart Ehrwald hat jetzt einen Klang, der ihren Rang und Namen aufwiegt.“

Die kleine Gesellschaft begann jetzt ausführlich diese Frage zu erörtern, sie ahnte nicht, daß die Ueberraschung, die ihr allerdings in den nächsten Tagen bevorstand, eine ganz andere und ganz ungeahnte sein werde. –

Das Osmarsche Haus, das nach dem Tode des Konsuls jahrelang verschlossen und verlassen gestanden, hatte seine Pforten wieder geöffnet. Lady Marwood brachte jetzt stets den Winter in Kairo zu, während sie im Sommer regelmäßig einige Monate mit ihrem Sohne in England, auf den Marwoodschen Gütern verlebte. In die lange verödeten Räume war das einstige glanzvolle Leben wieder eingezogen und die Herrin dieses Hauses war in der That der strahlende Mittelpunkt der Gesellschaft, welche jetzt Lady Marwood nicht weniger feierte als einst Zenaide von Osmar. Jene Gerüchte und Klatschereien, die sich früher an ihren Ruf gewagt, hörten auf mit den peinlichen Verhältnissen, die sie hervorriefen. Die Gemahlin des englischen Lords, die getrennt von ihrem Gatten allein und unstet in der Welt umherreiste, hatte der Verleumdung nur zu sehr Stoff geboten, sich mit ihr zu beschäftigen. Die Witwe und Mutter, die ganz in der Zärtlichkeit für ihr Kind aufging, hatte das nicht zu befürchten. Freilich war auch ihre Art zu leben eine andere geworden.

Auf der Gartenterrasse des Osmarschen Hauses befanden sich Lady Marwood und Elsa von Sonneck. Zenaide hatte sich nur wenig verändert, sie war noch dieselbe blendende Schönheit wie vor drei Jahren in Kronsberg, aber das Fieberhafte, krankhaft Ueberreizte, das damals in ihrem ganzen Wesen lag, war verschwunden. Statt dessen umgab sie wieder etwas von jenem träumerischen, halb schwermütigen Reiz, der einst das junge Mädchen umschwebte.

Sie saß in einem Morgenkleide von kostbarem orientalischen Stoff im Schaukelstuhl, den Kopf nachlässig zurückgelehnt; wer diesen herrlichen Kopf mit dem bläulich schwarzen Haar und den tiefdunklen, feuchten Augen sah, der begriff es, daß Zenaide Marwood nicht nur ihres Reichtums wegen von allen Seiten noch umworben wurde, obgleich die Jugend bereits hinter ihr lag.

In der jungen Frau dagegen, die neben ihr stand und in den Garten hinausblickte, hätte niemand eine Frau oder gar eine Witwe vermutet, denn ihre ganze Erscheinung hatte noch etwas ungemein Zartes und Mädchenhaftes. Elsa war freilich kaum einundzwanzig Jahre alt, und so sieghaft sich ihre Schönheit auch entfaltet hatte, es lag darin noch immer etwas von der tauigen Frische einer eben erst erblühten Knospe.

Jetzt, wo der jahrelange Druck einer tyrannischen Erziehung geschwunden war, erinnerte wieder so vieles an das kleine, sonnige Wesen, das einst hier auf dieser Terrasse gespielt hatte. Das war wieder jener berückende Liebreiz, mit dem sich das schöne blonde Kind in alle Herzen stahl, und zugleich jener Zug leidenschaftlichen Trotzes, der sich selbst jetzt noch in leichter Andeutung verriet. Vielleicht war es gerade diese leise Beimischung von Herbheit, die der jungen Frau diesen eigenartigen Zauber gab, sie war und blieb nun einmal die Tochter Bernrieds.

Die beiden Damen sprachen von dem, was jetzt so ziemlich alle Kreise in Kairo beschäftigte, von der bevorstehenden Rückkehr Reinhart Ehrwalds, und Lady Marwood erörterte das im Tone ruhiger, freundschaftlicher Teilnahme.

„Also auch Hofrat Bertram und seine Frau wissen noch nichts?“ fragte sie. „Ihnen hättest Du doch bei der Abreise die Wahrheit eingestehen können.“

„Ich bin mit Reinhart übereingekommen, daß unsere Verlobung bis zu seiner Ankunft Geheimnis bleibt,“ entgegnete Elsa. „Dir freilich konnte ich es nicht ableugnen, Du hattest es ja längst erraten.“

„Erraten – jawohl!“ Zenaide mochte an die Stunde denken, wo sie von Ehrwalds eigenen Lippen das Geständnis gehört hatte, aber sie fuhr ruhig fort: „Seit Du Witwe bist, wußte ich, daß eure Verbindung nur eine Frage der Zeit war. Ihr wollt also hier in Kairo eure Vermählung feiern?“

„Ja, sobald als möglich, und dann kehren wir vorläufig nach Europa zurück. Reinhart will ja mit diesem Zuge seine Entdeckungsfahrten abschließen.“

„Um sich nicht immer wieder von Dir trennen zu müssen,“ ergänzte Zenaide. „Ich begreife das.“

„Ich glaube auch, daß ihn das hauptsächlich bestimmt hat,“ sagte die junge Frau, „aber es wurden schon vor drei Jahren Verhandlungen von anderer Seite angeknüpft, die sich damals zerschlugen. Jetzt hat man ihm in Berlin neue und glänzende Anträge gemacht, die er vermutlich annehmen wird.“

„Das war vorauszusehen. Nach den großartigen Erfolgen, die er jetzt wieder errungen hat, wird man alles mögliche aufbieten, um ihn zu gewinnen und sich seine Kraft zu sichern. Wann erwartest Du ihn?“

„Der Nildampfer soll morgen eintreffen, Reinhart hat mich gebeten, ihn in Giseh zu erwarten, damit wir wenigstens die erste Zeit des Wiedersehens für uns allein haben.“

„Er hat ganz recht, hier in Kairo würde man euch keine ruhige Stunde lassen. Sobald er da ist, drängt sich alles an ihn, um ihn zu feiern und zu beglückwünschen. Ihr werdet noch später genug davon aushalten müssen – und Ihr müßt euch ja doch eigentlich erst kennenlernen.“

„Kennenlernen?“ Die junge Frau lächelte. „Wir lieben uns ja.“

„Meinst Du, daß das genug ist für die ganze Zukunft?“

„Ich denke doch!“

„Du hast Reinhart drei Jahre lang nicht gesehen, nur brieflich mit ihm verkehrt, und denkst es Dir so leicht, an seiner Seite zu leben? Ich fürchte, Du wirst noch bisweilen mit ihm kämpfen müssen, trotz seiner Leidenschaft für Dich. Lerne erst diesen Mann ergründen, der mit seiner stürmischen gewaltsamen Natur alles in seinen Bannkreis reißen will, der in seinem Wesen so manche dunkle Tiefe hat, die Du noch nicht kennst. Hast Du keine Furcht davor?“

Elsa hob den blonden Kopf mit einer beinahe trotzigen Bewegung.

„Nein, vor dem Manne, den ich liebe, habe ich keine Furcht. Es mag ja sein, daß mir noch manches in ihm dunkel und fremd ist, aber er kennt mein innerstes Wesen vielleicht auch noch nicht, er muß das auch erst kennenlernen.“

„Das klingt sehr stolz,“ sagte Zenaide mit leisem Spott. „Nimm Dich in acht, Elsa, und fordere nicht zu viel von ihm! Da draußen auf seinen Zügen ist er jahrelang der unumschränkte Gebieter gewesen, der Herr über Leben und Tod, und die Herrschsucht liegt überhaupt in seinem Charakter. Glaubst Du, daß er da ein fügsamer Gatte sein wird?“

„Nein, und das fordere ich auch nicht, aber was ich ihm gebe, das muß er mir zurückgeben in demselben Maße. Wenn er bei anderen der Herr und Gebieter ist, bei seinem Weibe muß er um Liebe werben und sie sich erhalten – wer weiß, ob ich ihm das so leicht mache!“

Die letzten Worte klangen wie Scherz, und doch, als die junge Frau so dastand und die blauen Augen aufsprühten, lag in ihrer Haltung wieder jene herbe Sprödigkeit, die bisweilen durch all die sonnige Liebenswürdigkeit ihres Wesens brach. Zenaide hatte sich emporgerichtet und streifte sie mit einem seltsam düsteren Blick. Sie, die gefeierte Schönheit, die reiche Erbin hatte nur hingebende Liebe gekannt für den Reinhart, der damals doch noch ein unbekannter Fremdling war, und dies junge Wesen stellte sich [403] so ruhig, so zuversichtlich an die Seite des Mannes, der jetzt auf der Höhe seiner Erfolge stand, und forderte von ihm, er solle noch werben um die bereits gewonnene Braut. Und vielleicht gerade dadurch hatte sie Reinhart angezogen und zu ihrem Anbeter gemacht!

Elsa faßte dies Schweigen falsch auf, sie sagte hastig, als gälte es, ein Unrecht wieder gut zu machen: „O, Du darfst mich nicht mißverstehen. Ich wäre jeden Augenblick bereit, mein Leben für Reinhart hinzugeben –.“

„Aber nicht Deinen Willen,“ ergänzte Zenaide. „Das hast Du ihm ja schon als Kind gezeigt, bei eurer ersten Begegnung. Er wollte Dich küssen und Du wolltest es nicht leiden, da erzwang er übermütig den Kuß. Ein anderes Kind hätte sich gefügt oder geweint, Du schlugst ihn dafür im vollsten Zorne und trotztest noch wochenlang mit ihm – da fing er schon an, Dich zu lieben!“

Die junge Frau senkte die Augen und eine tiefe Röte stieg in ihrem Antlitz auf.

„O, das war eine Kinderei!“

„Und doch entscheidend für euch beide. Ein Mann wie Ehrwald erträgt nun einmal keine bedingungslose Hingebung. Die ist wertlos für ihn. Du wirst ihn zwingen, auch als Gatte immer wieder von neuem um Dich zu werben – Dich wird er lieben, bis ans Ende.“

Es lag eine kaum verschleierte Bitterkeit in den Worten und Elsa fühlte das, doch bevor sie noch etwas erwidern konnte, wurde die Thür des Gartensaales geöffnet und Percy stürmte auf die Terrasse. Er hatte eine kleine Reitpeitsche in der Hand und kam eben von dem kurzen Morgenritte zurück, den er täglich mit seinem Erzieher machte, aber er begrüßte seine Mutter mit so ungestümer Zärtlichkeit, als habe er sie tagelang nicht gesehen. Zenaide streckte ihm die Arme entgegen und strich ihm dann die Haare aus dem erhitzten Gesicht.

„Da bist Du ja, Du Wildfang!“ sagte sie zärtlich. „Aber siehst Du denn Tante Elsa nicht?“

Der kleine Lord bemerkte in der That erst jetzt die junge Frau und beeilte sich, ihr die Hand zu küssen, dann jedoch kehrte er schleunigst zu seiner Mutter zurück. Seine Aehnlichkeit mit ihr trat jetzt noch deutlicher hervor als damals vor drei Jahren. Es waren Zenaidens Züge, ihre Augen, selbst ihre Leidenschaftlichkeit, die sich in dem ganzen Wesen des Knaben verriet. Auch nicht das Geringste erinnerte an den Vater. Er begann jetzt allerlei kleine Erlebnisse von seinem Ritt zu berichten und verlangte schließlich, die Mama solle mit ihm zu dem Pony- und Eselreiten fahren, das am heutigen Nachmittag stattfand.

„Nein, mein Liebling, heute nachmittag sehe ich Gäste bei mir, das weißt Du ja,“ sagte Zenaide. „Aber ich fahre gegen Abend mit Dir aus.“

„Gäste?“ schmollte Percy, mit einem bitterbösen Gesichtchen. „O, Mama, dann sehe ich Dich wieder zwei oder gar drei Stunden nicht.“

„Du bist ein eifersüchtiger kleiner Herr,“ sagte Elsa lächelnd. „Willst Du denn Deine Mama für Dich ganz allein haben? Du mußt sie doch auch einmal der Gesellschaft gönnen.“

„Nein, meine Mama gönne ich keinem, die gehört mir ganz allein!“ erklärte Percy trotzig und legte den Arm um sie, als wollte er sein Alleinrecht wahren. Zenaide zog ihn an sich und küßte ihn.

„Sie will auch niemand gehören als Dir, mein Percy – Willst Du schon fort, Elsa?“

„Ich möchte noch zu Doktor Walter fahren und denke, dort meine Reisegefährten zu finden. Entschuldige mich für heute!“

„Nun denn auf Wiedersehen!“ sagte Lady Marwood, indem sie sich erhob und ihr die Hand hinstreckte. „Und wenn Ehrwald kommt, so sage ihm auch ein Willkommen von mir und Percy. Wir lassen ihn grüßen!“

Die junge Frau küßte den kleinen Lord und verabschiedete sich dann. Zenaide war an die Brüstung der Terrasse getreten und brach jetzt eine der dunkelroten Rosen, die sich über den weißen Marmor rankten. Eine solche duftende Purpurblume hatte einst Reinhart aus ihrer Hand empfangen und er hatte sie achtlos verloren und verwelken lassen. Doch das schöne herbe Edelweiß da droben, auf steiler Felsenhöhe, zu dem er hinaufdringen mußte mit Mühe und Gefahr, das barg er als köstliches Gut an seiner Brust.

Arme Rose! Sie entglitt den Händen der schönen Frau und fiel zu Boden. Percy jedoch hob sie auf und steckte sie in seine Sammetbluse. Er war ganz Eifer und Aufregung, denn er hatte den Gruß gehört, den Elsa bestellen sollte. Der kleine Lord wußte sehr gut, wer ihn gerettet hatte bei jenem Sturme, der seinem Vater das Leben kostete, und Ehrwald, von dessen Zügen und Thaten er so viel gehört hatte, war der Held seiner Knabenphantasie geworden. Er bestürmte daher jetzt die Mutter mit allen möglichen Fragen.

„Du läßt Onkel Ehrwald grüßen, Mama – ist er denn schon da? Woher kennt ihn Tante Elsa? Sie ist ja eben erst aus Europa gekommen und er war so lange in Afrika? Und weshalb kommt er zuerst zu ihr und nicht zu uns?“

„Weil Tante Elsa seine Braut ist!“ sagte Zenaide leise.

„Ah!“ rief Percy überrascht. „Dann hat er sie wohl sehr lieb?“

„Ja – sehr lieb!“

Der Knabe fragte weiter, er wollte alles mögliche wissen, erhielt aber keine Antwort. Zenaidens Augen blickten wie traumverloren in die Ferne. Da tauchte sie noch einmal auf, die Jugendliebe, die so lange wie eine leuchtende Fata Morgana am Horizont ihres Lebens gestanden hatte. Sie grüßte zum letztenmal und entschwebte dann für immer.

„Mama, Du weinst ja!“ rief Percy und schlang beide Arme um die Mutter. Das rief sie in die Wirklichkeit zurück. Aus dem Thränenschleier, in dem jenes Traumbild unterging, dämmerte das schöne lebensvolle Antlitz ihres Knaben hervor und sie hörte seine halb angstvolle, halb schmeichelnde Bitte: „Mama, süße Mama, nicht weinen!“

Da richtete sich Zenaide empor, und ihn mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit an ihre Brust pressend, flüsterte sie: „Nein, ich weine nicht mehr. Ich habe ja Dich, mein Percy, mein geliebtes Kind, mein alles!“ – 000000000000000


Die Schwalben sammelten sich bereits zum Fluge über das Meer, um dem Norden die Botschaft des nahenden Frühlings zu bringen. Auch der Dampfer, der jetzt die Reede von Alexandrien verließ, nahm seinen Kurs nach Norden. Es war in der ersten Morgenfrühe, die Passagiere, die gestern abend schon an Bord gekommen waren, schliefen noch in den Kajüten, und außer dem Kapitän, der auf der Kommandobrücke stand, und der Mannschaft befanden sich nur ein Herr und eine Dame auf dem Deck, ein neuvermähltes Paar, das aus Kairo nach Deutschland zurückkehrte. Das Schiff steuerte der offenen See zu, noch waren die Stadt und der Hafen deutlich sichtbar, aber sie lagen im kalten farblosen Morgenlichte, nur ein aufdämmernder rosiger Schein im Osten verkündete den nahen Sonnenaufgang.

Reinhart Ehrwald hatte den Arm um seine junge Gattin gelegt, die ihm erst vor wenigen Tagen angetraut worden war, und sie blickten beide zurück nach der entschwindenden Küste. Es war kein tändelndes Liebesgeflüster, das sie tauschten, stürmisch und leidenschaftlich wie die ganze Natur des Mannes war auch seine Werbung gewesen und das verriet sich jetzt in seiner Zärtlichkeit.

In Ehrwalds äußerer Erscheinung hatten die letzten drei Jahre nichts geändert, es war noch die hohe, kraftvolle und markige Gestalt, das dunkle energische Antlitz, die flammenden gebieterischen Augen. Das alles war unberührt geblieben von den neuen Kämpfen und Thaten, die er zu den alten gefügt hatte. Aber ein Zug hatte sich in seine Stirn gegraben, der früher nicht dagewesen war, und der auch nicht jenen Kämpfen und Gefahren entstammte. Die tiefe düstere Falte, die jetzt zwischen den Brauen stand, hatte er aus der Heimat mitgebracht – vom Grabe des Freundes.

„Nun bist Du mein, endlich mein!“ sagte er, mit einem tiefen Atemzuge. „Die Verheißung, die mir vor Jahren hier aufging, hat doch Wort gehalten. Sie gab mir das Glück!“

Elsa lächelte und lehnte das Haupt an seine Schulter.

„Hast Du deshalb darauf bestanden, daß unsere Vermählung hier vollzogen werde? Freilich, Du hast Dir ja ein Heimatsrecht erobert in dieser fremden Welt.“

Reinharts Antlitz verdüsterte sich und seine Stimme sank, als er antwortete: „Das war es nicht, weshalb ich Dich bat, mich hier zu erwarten. Ich wollte Deine Hand nicht in Kronsberg empfangen, nicht dort, wo Lothar unter den Tannen von Burgheim schläft, wo er – starb.“

[404] „Mir ist die Stätte teuer,“ sprach Elsa leise. „Ich habe Lothar wie einen teuren Vater geliebt und betrauert; er war so gut und edel, er würde sicher keinen Vorwurf für unser Glück haben.“

„O nein, er nicht!“ sagte Reinhart dumpf und schwer. „Er hat Dich mir ja noch sterbend ans Herz gelegt.“

„That er das wirklich?“ In dem Auge der jungen Frau quoll eine heiße Thräne auf. „Ich fand ihn ja nicht mehr lebend und Du wolltest mir damals nichts sagen über seine letzten Augenblicke, Du hattest nur finsteres Schweigen auf all meine Fragen. Auch jetzt noch, Reinhart?“

Ehrwald sah nieder auf das schöne Antlitz, das so bittend, so ahnungslos zu ihm aufblickte, und tiefer und düsterer grub sich jene Falte in seine Stirn, aber er schwieg. Das, was nie ausgesprochen, nie zugestanden worden war und dennoch als furchtbare Gewißheit in seiner Seele stand, das blieb sein Geheimnis. Er trug es ja, allein er brauchte seine ganze eiserne Kraft, um es zu tragen. Elsa durfte nicht ahnen, um welchen Preis ihr Glück erkauft war, ihr hätte es das Leben und die Zukunft vergiftet.

„Erlaß mir das!“ sagte er endlich. „Ich kann nicht darüber sprechen, auch zu Dir nicht. Ich kann nicht, Elsa!“

Es lag eine mühsam verhaltene Qual in den Worten. Elsa wußte, wie sehr er den Freund geliebt hatte, und sie fragte und forschte nicht weiter, sie sah es ja, daß er litt durch ihre Fragen.

Der Mastenwald des Hafens und die Stadt mit ihren weißschimmernden Häusern und Türmen wichen weiter und weiter zurück. Bald war nur noch die Küste sichtbar, die auf den Meereswogen zu schwimmen schien mit ihren ragenden Palmen, aber der rosige Schein war zur dunklen Glut geworden.

Reinharts Blick hing unverwandt daran. So hatte sie ihn einst gegrüßt, die Ferne, der er mit stürmischer Sehnsucht zujubelte. Nun hatte er sie durchmessen und bezwungen, aber was er dort gefunden, war nur Kampf und Streit gewesen, nur heißes, mühevolles Ringen. Jenes Wunderland voll Glanz und Licht, das er zu erjagen träumte, das stand auch heute noch so fern am Horizont wie die leuchtende Küste dort, das stieg nimmer herab zur Wirklichkeit. Aber das Glück, das er in jenem Traumland gesucht, das stand jetzt wieder neben ihm, wie einst, wo er es noch nicht erkannte, und sah ihn an mit den großen leuchtenden Kinderaugen – aus dem Antlitz seines Weibes.

„Da entschwindet uns das Sonnenland!“ sagte die junge Frau leise.

„Aber nicht für immer,“ ergänzte Ehrwald. „Wir werden ja jetzt bald die Heimat grüßen, aber früher oder später mußt Du doch wieder mit mir hinaus in die weite Ferne. Wird Dich das Heimweh nicht verzehren, Elsa? Es lebt sich schwer unter fremdem Himmel, unter fremden Völkern. Du wirst viel vermissen und viel entbehren in jenen heißen Zonen.“

„Aber ich werde bei Dir sein – und wir lieben uns ja!“

Es waren dieselben Worte, die Elsa so freudig, so siegesgewiß der Warnung Zenaidens entgegengesetzt hatte, und sie bannten auch jetzt die düstere Wolke auf der Stirn ihres Gatten. Seine ganze leidenschaftliche Liebe flammte auf und mit ihr der alte feurige Lebensmut, der Mut, glücklich zu sein, trotz der düsteren Erinnerung und ihres Schattens.

„Ja, wir lieben uns!“ wiederholte er fest. „Und damit wollen wir es uns schaffen und erhalten, unser Glück.“

Der ganze östliche Himmel loderte jetzt in purpurner Pracht, die ferne Küste schien in rotem Feuerschein zu stehen. Wie auf flammendem Hintergrunde erhoben sich die Palmen, hinter denen es jetzt emporschoß wie feurige Lohe. In leuchtenden Morgengluten grüßte es noch einmal die Scheidenden und versank dann in den blauen Wogen – das Wunderreich der Fata Morgana.