Fata Morgana (Werner)/I

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Textdaten
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Autor: E. Werner
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Titel: Fata Morgana
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1–12, 13–24, S. 1–7, 21–27, 38–42, 53–58, 69–74, 85–90, 101–107, 117–124, 133–139, 149–155, 165–168, 181–187
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Hinweis: Der Text wird aus technischen Gründen aufgeteilt in I und II.
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[1]

Fata Morgana.

Roman von E. Werner.


Die Bahn war geöffnet und Reiter wie Zuschauer harrten erwartungsvoll auf das Zeichen zum Beginn des Rennens. Die Schranken umlagerte eine dichte Volksmenge und auf den Tribünen war jeder Platz besetzt. Es war jenes bewegte, farbenreiche Bild, das man bei solcher Veranlassung auf allen europäischen Rennplätzen sieht, aber hier, unter einem fremden Himmel, in einer ganz anderen Welt, erschien es in so eigenartigem Rahmen, daß sich das oft Gesehene zu einem ganz neuen, fesselnden Schauspiel gestaltete.

Im Hintergrunde dehnte sich weit und hellschimmernd die Stadt aus, ein Meer von Straßen, Palästen und Häusern, aus dem die Kuppeln der Moscheen, die schlanken, zierlichen Minarets überall emportauchten. Dazwischen Gruppen von mächtigen Palmen und, über dem Ganzen thronend, auf der Höhe die Citadelle mit ihren Türmen. Wie eine Märchenstadt lag das schöne Kairo da, überflutet von dem heißen Lichtglanze der afrikanischen Sonne, und darüber wölbte sich der Himmel mit einem so tiefen, leuchtenden Blau, wie es selbst der Süden Europas nicht kennt.

In der Volksmenge, welche sich an den Schranken der Rennbahn drängte, waren alle Völker und Stämme des Orients vertreten. Eine Fülle von seltsamen Gestalten, in der malerisch phantastischen Tracht ihrer Heimat, ein Gewoge von leuchtenden, oft schreienden Farben, von gelben, braunen, tiefschwarzen Gesichtern, deren dunkle, brennende Augen bald an der beim Start versammelten Reiterschar, bald an den Tribünen hingen.

Dort unter den weit ausgespannten Sonnendächern war die ganze vornehme Welt von Kairo versammelt, eine Gesellschaft, die vielleicht nicht weniger bunt zusammengesetzt war als jene, die sich da unten vor den Schranken drängte. Neben den vornehmen Orientalen sah man die ganze Fremdenkolonie der Stadt, und ihr hatte sich der große Strom der europäischen Touristen angeschlossen, die Reiselust oder Erholungsbedürfnis hierher gezogen. Auch hier waren alle Länder vertreten, alle Sprachen schwirrten durcheinander, Nord- und Südländer fanden sich zusammen und neben der reichsten, gewähltesten Toilette zeigte sich der einfachste Reiseanzug. Man sah und hörte es ringsum, daß man sich in einer der großen Fremdenstationen des Orients befand.

Vor den Tribünen stand eine Gruppe von Herren in angelegentlicher Unterhaltung, die selbstverständlich das bevorstehende Rennen betraf. Der mutmaßliche Verlauf desselben wurde sehr lebhaft erörtert und die Meinungen darüber schienen [2] geteilt zu sein, bis ein englischer Oberst, der soeben herangetreten war, mit voller Bestimmtheit erklärte: „Ich kann Ihnen den Ausgang vorhersagen, meine Herren. Bernried schlägt mit seinem ‚Darling‘ all die übrigen.“

„Wirklich?“ – „Das ist doch noch die Frage.“ – „Halten Sie das für so ausgemacht?“ klang es von verschiedenen Seiten.

„Gewiß. Ich kenne ‚Darling‘, er ist ein vorzüglicher Renner. Wenn ich nur wüßte, wie Bernried zu dem prächtigen Tiere gekommen ist! Ich hätte es gern gehabt, aber mir war der Preis zu hoch – er hat es vor acht Tagen gekauft.“

„Aber schwerlich bezahlt,“ warf ein junger Offizier ein, der gleichfalls englische Uniform trug. „Dieser deutsche Baron hat ein großartiges Talent, alles schuldig zu bleiben, obwohl man ihm nirgends mehr Kredit geben will.“

„Da sind Sie doch wohl im Irrtum, Hartley,“ sagte der Oberst. „In diesem Falle hat man es sicher gethan, denn Bernried ist bekannt als der beste Reiter, und wenn er nun vollends ‚Darling‘ reitet, so gilt sein Sieg als beinahe zweifellos. Die meisten Wetten stehen ja auf den Fuchs. Sie halten gleichfalls auf ihn, Lord Marwood?“

Er wandte sich an einen Herrn, der neben ihm stand und dem Gespräche zuhörte, ohne sich daran zu beteiligen. Auch jetzt fand er es nicht für nötig, eine Antwort zu geben, sondern bejahte nur mit einem leichten Kopfnicken.

„Ich glaubte, Du würdest auf die ‚Faida‘ des deutschen Generalkonsuls halten, Francis,“ sagte Hartley. „Wie steht es denn eigentlich damit? Du mußt es doch wissen, Du bist ja oft genug im Hause des Herrn von Osmar.“

„‚Faida‘ hat gar keine Aussichten,“ ließ sich Lord Marwood jetzt endlich vernehmen. „Sie hat noch kein Rennen mitgemacht und ist überhaupt noch nicht ordentlich trainiert. Aber Miß Zenaide wollte ihr Lieblingspferd durchaus auf der Rennbahn sehen.“

„Und Du hältst trotzdem nicht auf ‚Faida‘?“ neckte der junge Offizier. „Du würdest die Wette verloren haben, aber geschadet hätte Dir das durchaus nicht bei Deiner Dame, ganz im Gegenteil.“

Dem jungen Lord schien die Neckerei nicht angenehm zu sein, er erwiderte keine Silbe darauf.

Francis Marwood mochte am Ende der Zwanzig stehen. Groß und schlank, mit Zügen, die in ihrer strengen Regelmäßigkeit unbedingt Anspruch auf Schönheit machen konnten, mit den hellen, nur etwas matten Augen und dem vollen aschblonden Haar war er das echte Bild eines vornehmen Engländers. Haltung, Sprache, Bewegung, alles war kühl, förmlich und abgemessen, aber die Erscheinung des jungen Mannes wäre eine sehr angenehme gewesen ohne die kalte, hochmütige Zurückhaltung, die einen hervorstechenden Zug seiner Persönlichkeit bildete und selbst seinen Landsleuten und Standesgenossen gegenüber hervortrat.

„Nun gegen ‚Darling‘ hat jedes Pferd einen schweren Stand,“ nahm der Oberst wieder das Wort. „Wer reitet denn ‚Faida‘?“

Lord Marwood zuckte die Schultern und seine Lippen kräuselten sich verächtlich, als er im wegwerfenden Tone sagte: „Ein Fremder, ein ganz junger Bursche, den Sonneck eingeführt hat und der wahrscheinlich gar nichts vom Reiten versteht!“

„Ah, der junge Deutsche!“ rief Hartley. „Wie heißt er doch? Ich habe den Namen vergessen. Ein hübscher, kecker Bursche ist er jedenfalls und reiten wird er wohl auch können, sonst würde ihn Sonneck schwerlich auf seinem Zuge in das Innere mitnehmen. Der berühmte Afrikaforscher pflegt sonst sehr wählerisch zu sein mit seinen Gefährten.“

„Möglich, daß er für den Wüstenzug taugt, aber man führt den ersten besten Abenteurer nicht in ein Haus wie das Osmarsche ein, und etwas anderes ist dieser Mensch schwerlich. Niemand weiß, woher er kommt. Man kann da auf sehr unliebsame Enthüllungen gefaßt sein, aber Sonneck schlägt mit seinem Einfluß und seinen Verbindungen jeden Einwand nieder.“

Es lag ein unglaublicher verletzender Hochmut in den Worten des jungen Lords, der Oberst aber sagte leichthin: „Ja, Sonneck setzt so ziemlich alles durch, was er will, zumal bei Herrn von Osmar. – Ah, da giebt man das Zeichen! Jetzt gilt’s!“

Das Zeichen zum Beginn des Rennens war in der That soeben gegeben worden und die Reiter brausten in vollem Laufe dahin. Alle Gespräche verstummten und aller Augen richteten sich auf die Bahn, wo der Wettkampf seinen Anfang genommen hatte.

„Sehen Sie, meine Herren, ich behalte recht,“ rief der Oberst lebhaft. „Bernried führt, ‚Darling‘ ist allen voran!“

„Und ‚Faida‘ ist die letzte!“ ergänzte Marwood mit herbem Spott. „Ich dachte es mir. Freilich, bei einem solchen Reiter ist nichts anderes zu erwarten. Ich begreife den Konsul nicht, daß er das immerhin kostbare Pferd solchen Händen anvertraut hat.“

„Ja, der Reiter verspricht allerdings nicht viel,“ stimmte Hartley bei. „Wenn er das schöne Tier nur nicht zu Fall bringt bei einem der Hindernisse.“

Die Pferde wurden meist von den Besitzern selbst geritten und die edlen Tiere gehorchten dem leisesten Schenkeldruck. Die Herren waren sämtlich vortreffliche Reiter, aber sie jagten schon nicht mehr in geschlossener Reihe dahin. Gleich nach dem ersten Hindernis hatte sich das Feld gelockert, und die Zurückgebliebenen suchten das Verlorene mit leidenschaftlichem Eifer wieder einzubringen. Das Bild wurde mit jedem Augenblick stürmischer und bewegter. Die Führung hatte ein englischer Fuchs übernommen, ein prächtiges Tier, das sich seiner Ueberlegenheit bewußt zu sein schien. Er hatte, allen voran, das erste Hindernis genommen und jagte nun in langgestrecktem Galopp dahin, die anderen weit hinter sich zurücklassend. Auf ihn waren hauptsächlich von Anfang an die Augen der Zuschauer gerichtet, und der Reiter wurde mit lebhaftem Zuruf begrüßt. Es war ein Mann von einigen dreißig Jahren, mit scharf ausgeprägten Zügen, in denen etwas Herbes, Düsteres lag. Jetzt freilich spielte ein leises triumphierendes Lächeln um seine Lippen. Herr von Bernried schien im Vertrauen auf die Schnelligkeit seines Pferdes seines Sieges vollkommen sicher zu sein.

Da schoß von den Nachzüglern einer, der letzte von allen, plötzlich vorwärts, mit einer so jähen, blitzartigen Schnelligkeit, daß alles aufmerksam wurde. In kurzer Zeit hatte er seine Gefährten erreicht, bald überholte er sie, einen nach dem andern. Jetzt nahm er das Hindernis, leicht und sicher, ohne jede Anstrengung und jagte nun weiter, dem führenden Reiter nach, so daß der Raum zwischen ihnen kleiner und kleiner wurde.

Bernried hatte sich umgesehen und ein halb erstaunter, halb zorniger Blick traf den unerwarteten Gegner. Es war ein noch sehr junger Mann, den man bisher kaum bemerkt, jedenfalls nicht beachtet hatte; er saß wie festgewachsen im Sattel. Der Schimmel, den er ritt, erschien fast klein gegen den riesigen Fuchs, war aber unstreitig von edelster Rasse. Der schlanke Bau des schönen Tieres, der zierliche Kopf mit den großen klugen Augen verrieten das arabische Blut. Jetzt war er dicht hinter „Darling“, jetzt wieder jenes jähe, blitzartige Vorwärtsschießeu und beide Pferde waren auf gleicher Höhe.

Der Kampf wurde ernst. Bernried hatte nur eines Blickes bedurft, um zu erkennen, daß der so plötzlich aufgetauchte Gegner ihm ebenbürtig war, daß er absichtlich sein Roß geschont und zurückgehalten hatte, um jetzt erst die volle Kraft einzusetzen. Ein Zucken ging wie Wetterleuchten über sein Gesicht und seine Stirn faltete sich drohend, aber er war nicht der Mann, sich den Sieg so leicht streitig machen zu lassen. „Darling“ fühlte die Sporen und setzte seine ganze Kraft ein, aber umsonst. Der Araber blieb dicht an seiner Seite, und Seite an Seite nahmen sie das nächste Hindernis.

Das anfängliche Interesse der Zuschaner an diesem überraschenden Verlauf des Rennens hatte sich längst zur leidenschaftlichen Teilnahme gesteigert. Die anderen Reiter, die in größerer oder geringerer Entfernung nachjagten, wurden kaum mehr beachtet, man sah nur auf die beiden, die so hartnäckig um den Siegespreis rangen. Alles andere trat zurück vor diesem Wettkampfe zwischen dem anerkannt ersten Reiter in der Sportswelt von Kairo und dem jungen Fremden, den die wenigsten kannten. Aber gerade dies Unerwartete, Blitzähnliche seines Erscheinens gewann ihm die Sympathie der Menge, der vornehmen Zuschauer wie des Volkes da unten; wo er vorüber kam, wurde stürmischer Zuruf laut.

Herr von Bernried mochte es wohl fühlen, wem diese Rufe jetzt galten, und je zweifelloser sein Sieg im Anfang geschienen hatte, desto schwerer empfand er die Möglichkeit einer Niederlage. Sein Gesicht war flammendrot, jede Fiber an ihm bebte in wilder Erregung, aber diese Erregung drohte ihm verhängnisvoll zu werden. Er verlor mit der Herrschaft über sich selbst auch die über sein Roß. Wie im Sturmwind jagten die beiden Reiter vorwärts, [3] „Darling“ in langen, mächtigen Sätzen, neben ihm „Faida“ leicht dahinfliegend wie ein Vogel, so daß ihre zierlichen Hufe kaum den Boden zu berühren schienen.

Da endlich gewann der Araber einen Vorsprung, der Fuchs blieb zurück, erst um Kopfeslänge, dann weiter und weiter, er schien zu ermatten. Gelang es „Faida“, vor ihm das letzte Hindernis zu nehmen, so war der Sieg entschieden. Vielleicht war es dieser Gedanke, der Bernried den letzten Rest von Besinnung und Selbstbeherrschung raubte. Die dunkle Glut in seinem Antlitz wich einer Totenblässe. Mit fest zusammengebissenen Zähnen, jede Muskel gespannt, peitschte er wie wahnsinnig sein Roß. Der Schaum floß am Gebiß „Darlings“ nieder, seine Flanken bebten, aber er gehorchte. Mit einer letzten äußersten Anstrengung gelang es ihm, den Araber wieder zu erreichen, und beide setzten fast gleichzeitig zum Sprunge an.

In weitem mächtigen Satze flog „Faida“ über das Hindernis hinweg. Ein halb erstickter Aufschrei, der in demselben Augenblick ertönte, ging unter in dem jubelnden Beifall, mit dem die Zuschauer dies tollkühne Reiterstück begrüßten, dann jagte der Reiter dem Ziele, dem Siege zu, den ihm niemand mehr streitig machte.

Niemand! – „Darling“, der nur einige Sekunden später das Hindernis zu nehmen sich anschickte, war gestürzt bei dem Sprunge. Er lag zusammengebrochen an der Hürde und sein Herr, aus dem Sattel geschleudert, lag einige Schritte davon, regungslos auf dem Boden ausgestreckt. Rasch hob man den Bewußtlosen auf, trug ihn aus der Bahn und übergab ihn den Händen eines Arztes. Das Rennen selbst erlitt keine Unterbrechung, auf dergleichen Unfälle muß man ja bei jedem Rennen gefaßt sein!

Lauter, stürmischer Jubel empfing den Sieger, der soeben durchs Ziel ritt, von allen Seiten wurde er mit Beifall und Zurufen überschüttet, und die wehenden Tücher der Damen grüßten ihn von den Tribünen her. Er hatte allerdings glänzend gesiegt, denn es vergingen Minuten, ehe die anderen Reiter anlangten.

Der junge Mann – er konnte höchstens drei- oder vierundzwanzig Jahre zählen – hatte die Mütze abgenommen, um zu danken. Es war eine schlanke aber kraftvolle Gestalt, dichtes, blondes Kraushaar legte sich in überreicher Fülle um die Stirn, das leicht gebräunte Antlitz war nicht eigentlich schön, eher das Gegenteil, aber es lag etwas eigentümlich Fesselndes in diesen vollkommen unregelmäßigen Zügen. In den dunklen feurigen Augen blitzte kecker Uebermut, stolzes Selbstvertrauen, und als er jetzt nach allen Seiten hin sich verbeugte, noch glühend erhitzt von dem wilden Ritte, strahlend im Triumph des Sieges, da erschien er wie die leibhaftige Verkörperung der stürmischen Jugend, in ihrer ganzen Kraft und Schönheit.

Er grüßte nach den Tribünen hinüber, wo in der vordersten Reihe ein älterer Herr und eine junge Dame ihm lebhaft zuwinkten. Der erstere verließ jetzt rasch seinen Platz und kam ihm entgegen.

„Das nennt man ja im Sturme siegen!“ rief er in freudiger Erregung. „Meinen Dank, Herr Ehrwald! Da überschüttet man mich mit Glückwünschen von allen Seiten nein, meine Herren, hier an diesen jungen Reitersmann müssen Sie sich wenden! Er allein hat meiner ‚Faida‘ zum Siege verholfen.“

Er hatte deutsch gesprochen und wandte sich bei den letzten Worten an einige Herren, die ihm gefolgt waren und nun den jungen Landsmann gleichfalls mit Glückwünschen umringten.

„Und Sie haben uns beiden den Sieg doch nicht zugetraut, Herr Konsul,“ sagte Ehrwald lachend, indem er auf dem Platz vor der Wage aus dem Sattel sprang. „Sie fürchteten im vollen Ernste eine Niederlage und zuckten die Achseln, als ich mich erbot, Ihre ‚Faida‘ in acht Tagen für das Rennen zuzureiten.“

„Hätte ich eine Probe Ihrer Reitkunst gesehen, ich wäre wohl zuversichtlicher gewesen,“ entgegnete der Konsul, ein älterer Mann von vornehmer Erscheinung. „Nun, in diesem Falle war die Ueberraschung eine sehr angenehme. Aber jetzt gehen Sie zu meiner Tochter, Zenaide möchte ihre ‚Faida‘ sehen, sie ist sehr stolz auf deren Sieg.“

Herr von Osmar, der augenscheinlich ebenso stolz war, winkte freundlich mit der Hand und wandte sich dann zu den beiden englischen Herren, die jetzt auch herantraten, während Ehrwald nach einer kurzen Begrüßung derselben das Pferd am Zügel nach der Tribüne führte. „‚Faida‘ möchte sich nun auch einen Dank von ihrer Herrin holen,“ sagte er, mit einer leichten Verneigung vor der jungen Dame, deren Hand sich liebkosend dem Tiere entgegenstreckte. Es senkte schmeichelnd den schönen Kopf und ließ ein leises Wiehern hören, als sei es sich bewußt, die Liebkosung verdient zu haben.

„Und der Reiter? Will er keinen Dank für seinen kühnen Ritt?“ fragte die Dame lächelnd.

„Im Gegenteil, mein gnädiges Fräulein, ich habe Ihnen zu danken,“ versetzte Ehrwald, „denn ohne Ihre Fürsprache hätte man mir ‚Faida‘ gar nicht anvertraut. Der Herr Konsul war ja anfangs entschieden dagegen und gab nur Ihrer Bitte nach.“

„Spotten Sie nur, Sie haben ja all die Zweifler glänzend geschlagen und auch den armen Herrn von Bernried. Sein Sturz ist doch nicht gefährlich gewesen?“

„Ich hoffe: nicht. Ich habe mich bereits danach erkundigt, aber Lord Marwood, den ich fragte, geruhte nicht, mir eine Antwort zu geben. Ich stand zwar nie in Gnaden bei Seiner Lordschaft, seit Sie aber gesehen haben, daß ich doch einigermaßen fest im Sattel bin, scheinen Sie mich mit Ihrer vollen Ungnade zu beehren. Ich bin ganz untröstlich darüber.“ Es lag ein übermütiger Spott in den Worten und eine gewisse Absichtlichkeit in der Bewegung, mit welcher der junge Mann jetzt dicht an die Schranke trat und den Arm darauf stützte. Er hatte recht gut gesehen, daß Lord Marwood, der drüben im Gespräch mit dem Konsul stand, ihn und die junge Dame beobachtete.

Zenaide von Osmar mochte etwa zwanzig Jahre zählen. Es war eine schlanke, zarte Erscheinung, in der trotz der deutschen Abkunft etwas von der fremdartigen, glühenden Schönheit des Landes lag, in dem sie geboren war. Auf dem tiefschwarzen Haar, das einfach gescheitelt und am Hinterhaupt in einem griechischen Knoten aufgenommen war, ruhte ein leichter bläulicher Schimmer und die großen Augen hatten gleichfalls jenes tiefdunkle, sammetartige Braun, das man nur bei den Kindern des Südens findet. Der Blick war sanft und träumerisch und doch schlummerte darin ein verborgenes leidenschaftliches Feuer. Das Antlitz erschien etwas bleich, es fehlte ihm die rosige Frische, aber mit seinen weichen, zarten Linien hatte es einen ganz bezaubernden Reiz. Die junge Dame hätte wahrlich nicht die Tochter eines der reichsten Männer von Kairo zu sein brauchen, um begehrenswert zu erscheinen.

Das mochte auch Lord Marwood finden, der unausgesetzt hinüberblickte. Seine Lordschaft konnten es augenscheinlich nicht begreifen, daß der „junge Bursche“ es wagte, so vertraulich mit der Tochter des Generalkonsuls zu plaudern. Herr von Osmar schien das jedoch nicht zu bemerken, er sprach gerade mit den beiden englischen Offizieren, die ihn gleichfalls beglückwünscht hatten, von dem Sturze des Herrn von Bernried.

„Nun, der Arme scheint noch ziemlich glücklich davongekommen zu sein,“ äußerte der Konsul. „Seine Verletzungen sind nicht gefährlich, wie ich hörte. Aber ‚Darling‘ ist wirklich verloren?“

„Leider!“ bestätigte der Oberst. „Er hat das eine Hinterbein gebrochen. Schade um das prächtige Tier, aber Bernried spornte es ja wie ein Unsinniger. Er ist selbst schuld an dem Verlust, der für ihn den Ruin bedeutet.“

„Er setzte eben alles dran, zu siegen,“ sagte Hartley. „Und dieser Ehrwald ritt ja wie auf Tod und Leben. Wer ist denn eigentlich dieser Herr?“

„Ein junger Landsmann, der sein Glück in der weiten Welt versuchen will,“ entgegnete Herr von Osmar heiter. „Viel mehr weiß ich auch nicht über ihn. Sonneck hat ihn aus Deutschland mitgebracht und will ihn auf seinem Zuge in das Innere mitnehmen. Mir gefiel er gleich bei der ersten Vorstellung. Ein prächtiger, gescheiter Junge, er sprüht nur so von Feuer und Leben!“

„Ja, solche Leute kann Sonneck brauchen,“ sagte der Oberst. „An Tollkühnheit fehlt es diesem Ehrwald jedenfalls nicht. War das ein Sprung, mit dem er über das letzte Hindernis wegsetzte!“

Der Name, auf den die Herren sich vorhin nicht besinnen konnten, war ihnen jetzt sehr geläufig geworden. Er ging ja auch seit einer Viertelstunde wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund, der junge unbeachtete Fremde hatte sich auf einmal in den Vordergrund gestellt. Sein Gespräch mit Fräulein von Osmar wurde bald genug unterbrochen, der Konsul rief ihn ab, um ihn noch einigen Bekannten vorzustellen, und er wurde von neuem mit Glückwünschen überhäuft, während sich „Faida“ der gleichen Aufmerksamkeit erfreute.

Man war so ausschließlich mit den beiden beschäftigt, daß niemand sich um den geschlossenen Wagen kümmerte, der soeben im langsamen Schritt davonfuhr und die Richtung nach der Stadt einschlug. Nur ein einzelner Herr befand sich in der Nähe, er [6] hatte dem Kutscher die nötigen Weisungen gegeben und wollte eben nach der Bahn zurückkehren, als er unvermutet angeredet wurde.

„Nun, Herr Doktor Walter, Sie haben leider Arbeit bekommen bei dem heutigen Vergnügen. Es ist wohl Herr von Bernried, der dort nach der Stadt fährt? Die Sache scheint bei alledem noch verhältnismäßig gut abgelaufen zu sein. Der Unfall ist nicht ernst, wie es heißt.“

„Er scheint im Gegenteil sehr ernst, Herr Sonneck,“ sagte der Arzt, der sich rasch umgewandt hatte, und seine Miene bestätigte nur zu sehr die Worte. „Wir haben einstweilen einen Notverband angelegt, die eingehende Untersuchung werde ich erst im deutschen Hospital vornehmen, wohin Herr von Bernried jetzt gebracht wird.“

„Nach dem Hospital?“ wiederholte Sonneck betroffen. „Können Sie ihn nicht in seiner Wohnung behandeln?“

„Nein, er hat überhaupt keine eigene Wohnung mehr seit dem Tode seiner Frau, nur ein paar Zimmer im Hotel. Da kann von einer ordentlichen Pflege nicht die Rede sein. Wenn ich nur wüßte, was aus dem Kinde, seinem kleinen Töchterchen, werden soll! Im Hotel kann sie nicht bleiben, denn es kann lange dauern, bis der Vater zurückkehrt – wenn es überhaupt geschieht!“

Sonneck, der mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörte, schien bei den letzten Worten zu erschrecken.

„Sie fürchten doch nicht etwa einen tödlichen Ausgang?“ fragte er rasch und gepreßt. „Das wäre allerdings sehr traurig.“

„Wer weiß!“ sagte der Arzt ernst. „Vielleicht wäre es das beste für den Mann. Der Verlust seines ‚Darling‘ hat ihn ja doch ruiniert und ich glaube nicht, daß er selbst noch Freude gehabt hat an dem Leben, das er in der letzten Zeit führte. Für das Kind war es auch kein Segen, in solchen Verhältnissen und Umgebungen aufzuwachsen, obgleich der Vater es abgöttisch liebte. Ich werde jedenfalls mein möglichstes thun, ihn zu retten, aber viel Hoffnung habe ich nicht.“

Es trat eine Pause ein. Sonneck sah stumm zu Boden, endlich begann er wieder in einem Tone, durch den eine mühsam unterdrückte Bewegung zitterte: „Herr von Bernried scheint nicht besonders beliebt zu sein in Kairo. Man kümmert sich sehr wenig um ihn und seinen Unfall und spricht fast mehr von seinem ‚Darling‘ als von ihm. Man begegnete ihm ja auch nie in der eigentlichen Gesellschaft, und Herr von Osmar empfing ihn überhaupt nicht in seinem Hause.“

Der Arzt zuckte mit sehr bezeichnender Miene die Achseln.

„Das ist begreiflich, der deutsche Generalkonsul hat seine Stellung zu wahren und muß sich Persönlichkeiten fernhalten, denen doch mehr oder weniger Bedenkliches anhaftet. Bernried ist ja allerdings von altem deutschen Adel und spielt in der Sportswelt eine Rolle; Freunde hat er aber nie besessen und sein Treiben war auch nicht danach. – Doch da kommt Herr Ehrwald, er scheint Sie zu suchen. Ich will nur noch mit meinem Kollegen sprechen und fahre dann sofort nach dem Hospital hinaus.“

Der Arzt grüßte und ging. Es war in der That Ehrwald, der jetzt den Gesuchten entdeckt hatte und rasch näher kam. Sonneck fuhr mit der Hand über die Stirn, als wollte er irgend eine quälende Erinnerung fortscheuchen, dann ging er dem jungen Manne entgegen und bot ihm die Hand.

„Kann man endlich Deiner habhaft werden, Du Held des Tages,“ sagte er. „Ich konnte Dir vorhin nur aus der Ferne zuwinken, so umdrängt warst Du von allen Seiten. Meinen Glückwunsch, Reinhart! Du hast ja glänzend gesiegt!“

„Habe ich es gut gemacht?“ fragte Reinhart mit aufleuchtenden Augen.

„Beinahe zu gut, denn ich fürchte, man wird Dich gründlich verderben mit all der Bewunderung und den Schmeicheleien. Aber warum hast Du denn mit aller Welt Komödie gespielt und Dich für einen höchst mittelmäßigen Reiter ausgegeben, um heute erst zu zeigen, was Du kannst?“

„Weil es mir Spaß machte,“ versetzte Ehrwald. „Was war das für eine Verwunderung und für ein Achselzucken, als es bekannt wurde, daß ich mich mit ‚Faida‘ in die Bahn wagen wollte, wo der vielbewunderte ‚Darling‘ lief! Kein Mensch ahnte, was das Tier wert war, am wenigsten der Konsul selbst, nur Fräulein von Osmar hatte unbedingtes Vertrauen.“

„Fräulein von Osmar – so?“ Sonneck streifte mit einem eigentümlich forschenden Blick das Gesicht des jungen Mannes. „Nun, vielleicht galt ihr Vertrauen ebenso sehr dem Reiter wie dem Roß.“

„Vielleicht! Jedenfalls habe ich es nicht getäuscht,“ sagte Reinhart leichthin.

Sie hatten während des Gespräches den Rückweg angetreten, blieben aber diesmal außerhalb der Schranken, mitten unter der Volksmenge. Sonneck, dessen Namen man in ganz Europa kannte als den eines der kühnsten und erfolgreichsten Afrikaforscher, schien auch hier in Kairo vielfach gekannt zu sein, denn man machte ihm überall ehrerbietig Platz.

Er war kleiner als der schlanke, hochgewachsene Ehrwald, eine mittelgroße, sehnige Gestalt. Das dunkelgebräunte Antlitz mochte in der Jugend schön gewesen sein, jetzt war es tief durchfurcht von all den Linien, die ein ganzes Leben voller Kämpfe und Gefahren, voll Anstrengungen und Entbehrungen darin eingegraben hatte. Das dunkle Haar des kaum vierzigjährigen Mannes zeigte an den Schläfen schon einen weißen Schimmer und in den tiefen grauen Augen lag ein schwermütiger Ernst, der nur selten von einem flüchtigen Lächeln verdrängt wurde.

Er sah schweigsam und zerstreut dem Wettfahren zu, das jetzt auf der Rennbahn stattfand, und plötzlich wandte er sich an seinen jungen Gefährten mit der Frage: „Weißt Du, daß der Sturz des Herrn von Bernried ein sehr schwerer gewesen ist?“

Ehrwald sah betroffen auf. „Nein, ich hörte das Gegenteil! Man sagte, daß seine Verletzungen nicht bedenklich sind.“

„So sagte man: aber Doktor Walter, den ich soeben sprach, scheint die Sache sehr ernst zu nehmen. Wir wollen morgen zu ihm gehen und uns erkundigen, wie es steht. – Uebrigens, Reinhart, es war nicht nötig, daß Du das letzte Hindernis in dieser tollkühnen Weise nahmst, anstatt einfach darüber hinwegzusetzen. Der Luftsprung hätte Dir den Hals kosten können und der armen ‚Faida‘ dazu. Solche Kunststücke gehören in den Cirkus, für die Rennbahn passen sie nicht.“

„Ich habe es auch im Cirkus gelernt,“ sagte Reinhart lachend.

Sonneck stutzte und sah ihn befremdet an.

Wo hast Du das gelernt?“

„Im Cirkus, bei den Kunstreitern. Ich bin ja fast ein Jahr lang mit ihnen herumgezogen.“

„So? Und das erfahre ich erst heute?“

„Sie fragten mich ja nicht und ich hatte bisher noch keine Veranlassung, davon zu sprechen. Ein Geheimnis wollte ich Ihnen nicht daraus machen, oder – nehmen Sie Anstoß daran?“

„Nein,“ entgegnete Sonneck ruhig. „Ich schenke selten einem Menschen unbedingtes Vertrauen, geschieht es aber einmal, dann pflege ich auch nicht viel mehr zu fragen und zu forschen. Du hast mir offen bekannt, was Dich aus Deiner Heimat fortgetrieben hat, das ist mir genug, aber Du scheinst Dich doch bisweilen in etwas bedenklicher Gesellschaft umhergetrieben zu haben. Ich glaube, es war Zeit, daß Du wieder in andere Kreise kamst.“

Ueber die Züge des jungen Mannes legte sich ein tiefer Schatten und seine Stimme klang in unterdrückter Bewegung, als er antwortete: „Ja, es war hohe Zeit! Man fühlt es ja selbst, wie man verwildert in solchen Umgebungen, und kann’s doch nicht ändern. Ich hatte keine Wahl, wie ich mein Brot verdienen wollte, und leben mußte ich doch. Aber wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn Sie mir nicht rechtzeitig die Hand gereicht und mich emporgerissen hätten! Viel Worte habe ich freilich nicht gemacht mit meinem Danke. Sie wollen es ja nicht, aber ich hoffe, ihn dereinst abtragen zu können.“

„Schon gnt,“ wehrte Sonneck ab, „Du wirst auf unserem Zuge Gelegenheit genug dazu haben. Nun weiß ich doch wenigstens, woher Dein tolles Reiten stammt! Aber diese Kunstreiterstücke verbitte ich mir ein für allemal. Ich bestreite Dir entschieden das Recht, Dir schon hier in Kairo Hals und Beine zu brechen, später geben sich solche Thorheiten von selbst. Wenn man von Gefahren aller Art umringt ist und sich sein Leben täglich erst erkämpfen muß, dann setzt man es nicht mehr so leichtsinnig aufs Spiel, um einer bloßen Eitelkeit willen.“

„Wären wir nur erst draußen!“ rief Reinhart aufflammend. „Sie ahnen nicht, wie ich mich danach sehne. Wann endlich ziehen wir hinaus?“

„Sobald ich die nötigen Leute und die nötigen Mittel zur Verfügung habe, und das kann noch wochenlang dauern. Mir macht das wahrlich kein Vergnügen, denn mit jeder Woche geht ein Teil der besten Reisezeit verloren. Aber Dir ist Kairo ja noch neu und fremd, Du mußt ja förmlich berauscht sein von all den [7] Eindrücken, und nach dem heutigen Tage wirst Du vollends Glück in der Gesellschaft machen – zumal bei den Frauen!“

Es war derselbe forschende Blick wie vorhin, der bei den letzten Worten das Antlitz des jungen Mannes streifte, aber dieser warf beinahe unwillig den Kopf zurück und seine Lippen kräuselten sich verächtlich. „Was kümmern mich die Frauen! Mich zieht es in die Ferne. Hier ist alles noch so zahm und europäisch, hier ist man noch eingeengt von tausend Formen und Fesseln, aber wenn ich droben auf jenen Höhen stehe und in die Wüste hinaus blicke, die sich so weit, so endlos vor mir ausdehnt, dann ist’s mir immer, als wäre dort allein, in dieser grenzenlosen Weite die Freiheit zu finden – die Freiheit und das Glück!“

Ueber Sonnecks Gesicht zog ein flüchtiges Lächeln bei diesem stürmischen Ausbruch, aber seine Stimme klang tiefernst, als er sagte:

„Du wirst Dich auch noch bescheiden lernen. Fesseln giebt es überall, und wenn man sie sich selbst schmieden sollte, und ein Glück ist diese schrankenlose Freiheit nicht! Es kommt eine Zeit, wo man sie gern hingäbe für – doch was nützt das Predigen! Solch ein vierundzwanzigjähriger Feuerkopf glaubt ja doch nicht, was ihm der Erfahrene sagt, und will alles besser wissen. Dich muß das Leben erst in die Schule nehmen, einstweilen bin ich Dein Mentor und werde dafür sorgen, daß Du nicht gar zu tolle Streiche machst.“

Die Volksmenge kam jetzt in Bewegung, das Wettfahren war zu Ende und damit die letzte Nummer des Programms erledigt, auch die Zuschauer auf den Tribünen brachen auf. Der ganze Platz vor der Rennbahn war gefüllt mit an- und abfahrenden Wagen und dazwischen drängten sich Reiter und Fußgänger.

Herr von Osmar saß mit seiner Tochter bereits im Wagen, und am Schlage stand Lord Marwood, der sich etwas umständlich von der jungen Dame verabschiedete. Er mußte aber leider die Bemerkung machen, daß sie sehr zerstreut war und kaum zuhörte.

Sie schien irgend etwas in der Menge zu suchen und mußte es wohl jetzt gefunden haben, denn die dunklen Augen strahlten plötzlich auf, während eine leise Röte das schöne Antlitz färbte. Francis folgte der Richtung jenes Blickes, dort drüben stand Sonneck mit Reinhart Ehrwald und beide grüßten herüber. Der junge Lord biß sich auf die Lippen, er brach plötzlich das Gespräch ab und trat mit kühlem Gruße zurück. Der „Abenteurer“, auf den er so vornehm herabsah, war ihm bisher nur unbequem gewesen, jetzt sah es beinahe aus, als könne er gefährlich werden.

[21] Erlauben Sie, daß wir uns Ihnen vorstellen, Herr Doktor! Sie sind zwar ein Arzt, aber Herr Sonneck sagt, Sie wären trotzdem ein guter Mensch, und ich hoffe, daß er recht hat, Sie sehen wirklich nicht schlimm aus.“

Doktor Walter, dem diese merkwürdige Anrede galt, verneigte sich leicht vor den beiden Damen, die soeben in sein Sprechzimmer getreten waren, und erwiderte, ein Lächeln unterdrückend:

„Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich in der That nicht schlimm bin. Sie scheinen das leider bei meinen sämtlichen Kollegen vorauszusetzen.“

„Ich habe meine Erfahrungen!“ sagte die Dame mit Nachdruck. „Aber, wie gesagt, Sie sehen ganz menschenfreundlich aus, und überdies sind Sie ein Deutscher, da werden sie Ihre Landsmänninnen, zwei verlassene, hilflose Frauen, die nach diesem schändlichen Wüstenlande verschlagen sind, nicht schlecht behandeln.“

Die Bezeichnungen „verlassen“ und „hilflos“ paßten eigentlich [22] nicht zu der Persönlichkeit der Sprechenden, die schon in vorgerückten Jahren stand. Sie war schwarz gekleidet und trug einen ungeheuren Sonnenschirm in der Hand, sah aber nichts weniger als hilfsbedürftig aus. Es war eine lange, hagere Gestalt, mit scharfen Zügen und sehr energischem Gesichtsausdruck. Ihre junge Begleiterin, ein zartes kleines Wesen, mit einem lieblichen, etwas blassen Gesicht, blondem Haar und hellen Augen, war gleichfalls in Trauer gekleidet. Sie sah ungemein schüchtern und ängstlich aus und hielt sich dicht an der Seite ihrer Gefährtin, als müßte sie Schutz bei derselben suchen.

„Es ist durchaus nicht meine Gewohnheit, meine Patienten schlecht zu behandeln,“ erklärte der Doktor, der Mühe hatte, ernst zu bleiben, „also, meine gnädige Frau –“

„Unvermählt!“ unterbrach ihn die Dame in einem beinahe entrüsteten Tone.

„Ich bitte um Entschuldigung. Also, mein Fräulein, womit kann ich Ihnen dienen?“

Das Fräulein sah ihn noch einmal scharf an, wie um sich zu versichern, ob es ihm mit der zugesagten guten Behandlung ernst sei, schien dann aber in der That Vertrauen zu fassen und begann nun in aller Form die Vorstellung.

„Mein Name ist Mallner, Fräulein Ulrike Mallner, aus Martinsfelde in Hinterpommern. Mein seliger Bruder war Gutsbesitzer, vor zwei Jahren ist er gestorben und dies hier ist seine Witwe, Frau Selma Mallner, geborene Wendel. Vor acht Tagen sind wir in Kairo angekommen und wir wären wie verraten und verkauft hier, wenn sich Herr Sonneck nicht unserer angenommen hätte. Wir wohnen in dem gleichen Hotel und er ist der einzige Mensch dort, unter all den Engländern und Amerikanern, er hat uns zu Ihnen geschickt. So, Herr Doktor, nun wissen Sie Bescheid und nun geben Sie uns Ihren ärztlichen Rat!“

„Sehr gern,“ entgegnete Walter, während er mit einem etwas verwunderten Blick die junge Witwe streifte, die höchstens zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt sein konnte. „Wenn Sie mir nur erst sagen wollten, wem ich diesen Rat geben soll und wer von Ihnen eigentlich die Patientin ist.“

„Nun Selma natürlich,“ sagte Fräulein Mallner, in deren Schätzung der Arzt offenbar bedeutend sank, weil er das nicht gleich herausfand. „Sie hustet und deshalb mußten wir nach Afrika schwimmen. Wenn man in meiner Jugendzeit den Husten hatte, trank man Brustthee und das half immer; jetzt wird man nach allen möglichen Weltteilen geschickt und das hilft natürlich nicht, denn wir sind schon eine volle Woche hier und Selma hustet noch immer! Die Aerzte wissen ja gar nicht mehr, was sie alles erfinden sollen, um die arme Menschheit zu plagen –“

„Aber Ulrike, ich bitte Dich!“ mahnte die junge Frau leise und ängstlich und zupfte ihre Schwägerin am Kleide; diese nahm sich denn auch zusammen und lenkte ein.

„Ja so! Nun Sie sind natürlich nicht gemeint, Herr Doktor, Sie dürfen mir das nicht übelnehmen, denn –“

„Die Anwesenden sind immer ausgenommen!“ ergänzte Walter, dem die Sache außerordentlichen Spaß machte. „Seien Sie unbesorgt, mein Fräulein, Ihnen nehme ich nichts übel. Jetzt aber möchte ich doch einiges Nähere wissen. Seit wie lange sind Sie leidend, gnädige Frau, und wie äußert sich dies Leiden?“

Er wandte sich direkt an die junge Frau und diese machte auch einen schüchternen Versuch, zu antworten, aber die Schwägerin schnitt ihr ohne weiteres das Wort ab.

„Bei Selmas Lunge ist etwas nicht in Ordnung,“ erklärte sie. „Der rechte Flügel oder der linke oder alle beide, ich weiß das nicht mehr so genau, genug, irgend etwas ist los mit den Flügeln. Es heißt, sie hätte sich bei der Pflege meines Bruders überanstrengt. Er war jahrelang krank und wir haben zwei Aerzte gehabt, aber helfen konnten sie ihm natürlich nicht. Die Aerzte können ja alles mögliche, nur nicht ihre Patienten gesund machen. Beruhige Dich, Selma, Du hörst es ja, der Herr Doktor nimmt nichts übel.“

Walter verlor diesem letzten Ausfall gegenüber denn doch einigermaßen die Geduld. Er hatte eine scharfe Antwort auf den Lippen, aber die Augen der jungen Frau waren so bittend und ängstlich auf ihn gerichtet, daß er beschloß, die rücksichtslose Dame von der komischen Seite zu nehmen. Sie ließ sich auch in ihrem Redefluß durchaus nicht stören.

„Unser Hausarzt hatte sich in den Kopf gesetzt, daß ein Klimawechsel notwendig wäre, und wollte uns durchaus nach Italien schicken. Ich lachte ihn natürlich aus und wir blieben, wo wir waren. Wir haben die gesundeste Luft in Martinsfelde, nie mehr als sechzehn Grad Kälte im Winter, und das bißchen Sturm von der See ist nicht der Rede wert! Aber Selmas Husten wurde immer ärger und da ließ ich mir unglücklicherweise beikommen, eine sogenannte Autorität zu fragen, den Geheimrat Felder aus Berlin, der auf einem Nachbargute bei Verwandten zum Besuche war. Er kam, untersuchte und dann sagte er kurz und bündig: Nach Kairo!“

„So, Geheimrat Felder hat Sie hergeschickt!“ schaltete der Doktor ein. Fräulein Ulrike nickte grimmig mit dem Kopfe.

„Ja, der! Die große Autorität hat uns auf dem Gewissen! Ich dachte, mich sollte der Schlag treffen, und sträubte mich mit Händen und Füßen, aber da wurde die Autorität grob – so grob ist noch niemand zu mir gewesen – und sagte mir ins Gesicht, wo die Mittel so reichlich vorhanden wären, könnte von einer Weigerung überhaupt nicht die Rede sein. Unser Hausarzt stand ihm natürlich in allen Stücken bei und schließlich drohten sie mir, meine Schwägerin auf eigene Hand nach Kairo zu schicken. Da blieb mir denn nichts anderes übrig als zu packen. Wir reisten ab, schwammen über das Mittelmeer und nun“ – sie trat einen Schritt vor und sah den Arzt herausfordernd an – „nun sind wir da!“

„Das sehe ich,“ sagte Walter ruhig. „Und da Sie nun meinen Rat wünschen, so werde ich Frau Mallner zuvörderst untersuchen, dann wird sich das weitere finden. Ich bitte hier einzutreten, gnädige Frau!“

Er öffnete die Thür des Nebenzimmers, ließ die junge Frau vorangehen und wollte folgen, war aber genötigt, ihrer Schwägerin den Weg zu vertreten, die schon auf der Schwelle stand.

„Ich gehe mit,“ erklärte sie sehr entschieden.

„Bitte, Sie bleiben hier,“ versetzte der Doktor noch weit entschiedener und schlug ihr die Thür vor der Nase zu.

„Einer wie der andere!“ sagte Ulrike entrüstet und setzte sich so nachdrücklich in einen Armstuhl, daß dieser in allen Fugen krachte.

Zum Glück blieb sie nicht lange ihren grollenden Gedanken überlassen, denn der arabische Diener öffnete die Thür des Vorzimmers und ließ Sonneck ein, der sich mit freundlichem Gruße näherte.

„Ah, Fräulein Mallner! Sie haben von meiner Empfehlung Gebrauch gemacht, wie ich sehe. Wo ist denn Ihre Frau Schwägerin?“

Das Fräulein begrüßte den Landsmann, der offenbar hoch in ihrer Gunst stand, wie einen guten Kameraden, indem sie ihm derb die Hand schüttelte, und deutete dann auf die geschlossene Thür.

„Da drinnen, bei dem Doktor! Er will ihre Lunge untersuchen und mich hat er ohne weiteres ausgesperrt. Ihr vielgerühmter Doktor Walter ist auch kein weißer Rabe, trotz all seiner Höflichkeit und Liebenswürdigkeit. Sobald der Arzt zum Vorschein kommt, wird er grob – so sind sie alle!“

„Ja, so sind sie nun einmal,“ stimmte Sonneck lächelnd bei. „Ich kann Ihnen aber die Versicherung geben, daß Frau Mallner sich in den besten Händen befindet. Doktor Walter hat einen ganz bedeutenden Ruf und gilt für eine Autorität –“

„Bleiben Sie mir mit den Autoritäten vom Leibe!“ rief Ulrike zornig. „Ich habe genug an dem Berliner Geheimrat. Wenn mein seliger Martin wüßte, daß ich mit seiner Frau hier in Afrika umherlaufe, er würde sich im Grabe umdrehen, dreimal hintereinander!“

„Frau Mallner hat wohl sehr jung geheiratet?“ fragte Sonneck, während er neben der erzürnten Dame Platz nahm.

„Mit siebzehn Jahren. Wir hatten sie als Kind in das Haus genommen, als arme Waise, weil wir mit ihren Eltern weitläufig verwandt waren, und als sie herangewachsen war, setzte mein Bruder es sich auf einmal in den Kopf, sie heiraten zu wollen. Ich sagte anfangs Nein.“

„Und Sie hatten natürlich die entscheidende Stimme im Hause,“ warf der Zuhörer mit kaum verhehltem Spotte ein.

„Natürlich, Martin that nichts ohne meine Zustimmung, aber er grämte sich, denn er hatte sich im vollen Ernste verliebt in das junge Ding, trotzdem er längst graue Haare hatte. Er war auch schon lange kränklich, ich hatte die Gutswirtschaft fast allein in Händen und konnte nicht auch noch Krankenpflegerin sein. Ich überlegte mir also die Sache noch einmal und fand, daß es schließlich das beste sei, ihm den Willen zu thun.“

„Und das junge Mädchen hat gleichfalls eingewilligt?“

[23] „Eingewilligt?“ wiederholte Ulrike mit unermeßlichem Erstaunen. „Nun, ich hoffe, sie hat Gott auf den Knien gedankt für das große Glück, das er einer armen Waise zu teil werden ließ! Sie war auch anfangs ganz bestürzt, als wir ihr die Sache ankündigten, und weinte – vor Freude natürlich! Leicht hat sie es freilich nicht gehabt in ihrer dreijährigen Ehe. Mein seliger Martin war kein geduldiger Kranker, da hieß es Tag und Nacht auf den Beinen sein, und im letzten Jahre ist sie überhaupt nicht aus dem Krankenzimmer herausgekommen. Ich war im ganzen mit ihr zufrieden, sie that, was sie konnte.“

„Und dann erkrankte die junge Frau infolge der Ueberanstrengung?“ Es lag ein tiefes Mitleid in der Frage; das Fräulein zuckte verächtlich die Schultern.

„Jawohl, solch ein schwächliches Ding kann ja gar nichts aushalten! Es war nicht so arg mit Selmas Krankheit, sie war bald wieder auf den Beinen, aber der Husten blieb. Das dauerte Jahr und Tag, und dann kam die große Autorität, der Geheimrat, und da war’s aus, rein aus, wir mußten nach Kairo!“

Es sprach eine so grimmige Verzweiflung aus den letzten Worten, daß Sonneck ein Lächeln nicht unterdrücken konnte.

„Sie scheinen das als ein großes Opfer zu betrachten,“ bemerkte er. „Aber Sie haben mir ja selbst erzählt, daß Martinsfelde ganz einsam liegt und Sie fast gar keinen Verkehr dort haben. Da müßte es doch eine Freude sein für Sie und besonders für die junge Frau, einmal in die weite Welt hinauszukommen und fremde Länder und Menschen zu sehen.“

„Für Selma?“ wiederholte Fräulein Mallner in gedehntem Tone. „Nun, ich wollte ihr nicht raten, Geschmack daran zu finden! Denken Sie, ich werde der Witwe meines Bruders erlauben, in der Welt umherzureisen? Einmal habe ich nachgegeben, weil es hieß, ihr Leben stände auf dem Spiel, aber zum zweitenmal geschieht es nicht wieder. Im Frühjahr reisen wir nach Martinsfelde zurück, mit oder ohne Husten! Dahin gehört Selma und da soll sie bleiben, ihr Leben lang!“

Sie stieß zur Bekräftigung der Worte nachdrücklich ihren Schirm auf den Boden. In diesem Augenblick trat der Arzt mit seiner Patientin wieder ein, begrüßte Sonneck und wandte sich dann zu der harrenden Dame, die ihn mit einem erwartungsvollen „Nun?“ empfing.

„Ich schließe mich ganz der Meinung meiner Kollegen an,“ erklärte er. „Der Winteraufenthalt in Aegypten ist unbedingt notwendig für Frau Mallner. Augenblicklich ist sie noch sehr angegriffen von der Reise, ich werde sie deshalb einige Wochen lang hier in Kairo behandeln und später nach einer der großen Nilstationen, wahrscheinlich nach Luksor, schicken.“

„Schicken Sie uns doch lieber gleich zu den Botokuden!“ rief das Fräulein wütend. „Selma, Du bringst mich noch um mit Deinem Husten, nach Afrika hast Du mich schon damit gebracht!“

„Ich kann ja nicht dafür, liebe Ulrike,“ bat die junge Frau so demütig, als habe sie wirklich ein Unrecht begangen. „Du weißt, ich habe es nicht gewollt.“

„Nein, Du wolltest es nicht,“ grollte das Fräulein, „aber die Aerzte wollten es, diese Autoritäten, diese –“ sie verschluckte die ferneren Liebenswürdigkeiten und sah den Doktor nur mit einem vernichtenden Blicke an, was dieser in großer Gemütsruhe ertrug.

„Wenn Ihnen der Aufenthalt hier so unangenehm ist, so ließe sich ja wohl ein Ausweg finden,“ bemerkte er kühl. „Es wird nicht schwer sein, eine ältere deutsche Dame ausfindig zu machen, die die Stelle einer Gesellschafterin bei Frau Mallner übernimmt. Ich mache mich anheischig, das zu vermitteln. Also reisen Sie in Gottesnamen zurück nach Ihrem Hinterpommern, mein Fräulein, Ihre Schwägerin ist hier ganz gut aufgehoben.“

„Ohne mich?“ rief Ulrike starr vor Erstaunen und Empörung. „Ohne mich? Ja, was denken Sie sich denn eigentlich, Herr Doktor? Mein seliger Bruder hat mir auf dem Sterbebette seine Frau übergeben und mir das Versprechen abgenommen, nicht von ihrer Seite zu weichen, und Sie muten mir zu, sie allein zu lassen hier in dem fremden Weltteil! Oder mochtest Du das etwa, Selma?“

„O gewiß nicht,“ versicherte die junge Frau, mit einem halb furchtsamen, halb dankbaren Aufblick zu der gestrengen Schwägerin. „Ich habe ja niemand als Dich auf der Welt, Ulrike! Laß mich nicht allein!“

„Sei ruhig, ich bleibe bei Dir,“ erklärte das Fräulein gnädig und warf einen triumphierenden Blick auf den Doktor, der nur die Achseln zuckte.

„Wenn Frau Mallner Ihr Bleiben wünscht, habe ich natürlich nichts dagegen einzuwenden. Also ich komme übermorgen zu Ihnen, gnädige Frau, und bitte, einstweilen meine Verordnungen pünktlich zu befolgen. Ihnen aber, mein Fräulein, möchte ich zu bedenken geben, daß Ihre Schwägerin eine sehr zarte Natur ist, die der äußersten Schonung bedarf. Auf Wiedersehen, meine Damen!“

Er begleitete die beiden Damen bis zur Thür und kehrte dann zu Sonneck zurück, der ein schweigsamer Zuhörer geblieben war.

„Das ist ja eine merkwürdige Praxis, die Sie mir da zugewiesen haben,“ sagte er lachend. „Dies streitbare Fräulein aus Hinterpommern, das mit allen Aerzten in wütender Fehde lebt und unsereinem fortwährend Injurien ins Antlitz schleudert, ist wirklich ein Original.“

„Das ist sie,“ stimmte Sonneck bei. „Sie steht auch fortwährend auf dem Kriegsfuße mit dem Direktor unseres Hotels und der arabischen Dienerschaft. Ich habe da schon verschiedenemal Frieden stiften müssen und die arme kleine Frau scheint sich willenlos ihrem Scepter zu beugen. – Ist der Fall ein schwerer?“

„Nein, durchaus nicht. Ich habe der jungen Frau die besten Hoffnungen geben können und hoffe, sie vollständig herzustellen. Aber über einen anderen Fall kann ich Ihnen leider nichts Tröstliches berichten. Sie wollen doch wohl hören, wie es mit Herrn von Bernried steht?“

„Allerdings, deshalb komme ich zu Ihnen. Nun?“

„Sein Zustand ist hoffnungslos. Ich sah und wußte es schon gestern, als ich die Untersuchung im Hospital vorgenommen hatte, und als ich heute morgen wieder bei ihm war, sah ich, daß auch ein Hinfristen nicht möglich ist. Ich gebe ihm höchstens noch vierundzwanzig Stunden und wahrscheinlich geht es noch weit schneller zu Ende, denn die Kräfte sinken ungemein rasch.“

„Also doch!“ murmelte Sonneck, und als verließe ihn plötzlich die Selbstbeherrschung, trat er rasch an das Fenster und preßte die Stirn gegen die Scheiben.

„Sie nehmen tieferen Anteil an dem Manne,“ sagte Walter nach einer kurzen Pause. „Ich sah es schon gestern bei unserem Gespräch. Haben Sie ihn früher gekannt?“

Sonneck wandte sich um und man las es in seinen Zügen, wie tief ihn der Ausspruch getroffen hatte.

„Ja, Doktor, wir sind einst Freunde gewesen, Jugendfreunde – bis etwas geschah, was uns trennte. Erlassen Sie es mir, Ihnen das zu erzählen, ich kann es nicht über mich gewinnen in dieser Stunde und ich will nichts aussprechen, was wie eine Anklage klingt. Wir haben uns lange Jahre hindurch nicht wiedergesehen, bis ich ihm vor einigen Wochen hier in Kairo begegnete. Von seinem äußeren Leben erfuhr ich genug, er ist ja bekannt in der ganzen Sportswelt, aber Sie scheinen ihn doch näher gekannt zu haben. Ich hörte, Sie seien früher oft in sein Haus gekommen.“

„Allerdings, denn ich habe Frau von Bernried bis zu ihrem Tode behandelt. Sie war schon krank, als sie vor drei Jahren hierherkamen, und siechte langsam dahin. Man sah es noch, daß sie sehr schön gewesen war, und es heißt ja auch, Bernried habe um ihretwillen mit seiner Familie gebrochen.“

„Ja, er warf damals alles hin, um seiner Leidenschaft zu folgen. Wenn sie nur wenigstens stand gehalten hat! War die Ehe glücklich?“

„Ich glaube kaum. Ein Mann vergiebt es der Frau selten, wenn er um ihretwillen Reichtum und Lebensstellung opfern muß. Mag sie noch so schuldlos daran sein, sie muß das früher oder später büßen, wenn die Leidenschaft verraucht ist. Als ich Bernried kennenlernte, war er schon tief verbittert, zerfallen mit sich und der Welt, angewidert von dem Leben, das doch seine einzige Hilfsquelle war. Ich fürchte, die arme Frau hat das oft entgelten müssen. Wahrhaft geliebt hat er wohl nur eins auf Erden – sein Kind!“

Sonneck erwiderte nichts, er nickte nur stumm, als habe er diese Auskunft erwartet, während der Arzt fortfuhr:

„Wie oft habe ich später versucht, ihn zu bestimmen, die Kleine irgend einer deutschen Familie zur Erziehung anzuvertrauen. Was sollte denn aus ihr werden, wenn sie den größten Teil des Tages einer unwissenden Bonne überlassen blieb, während der [26] Vater sich in den Spielklubs und auf den Rennplätzen umhertrieb. Aber alle Vorstellungen waren umsonst, er behauptete, nicht leben zu können ohne die Nähe des Kindes, an dem er mit unsinniger Zärtlichkeit hing. Ich glaube, er hatte ein instinktmäßiges Gefühl, daß diese Nähe allein noch ihn vor dem Schlimmsten, vor dem völligen Sinken bewahrte, und klammerte sich daran wie an einen Rettungsanker.“

„Ich war heute morgen in seinem Hotel, um nach dem Kinde zu sehen,“ sagte Sonneck gepreßt. „Ich hörte aber, Sie seien bereits dagewesen und hätten es mit sich genommen.“

„Ja, ich habe die Kleine zu meiner Frau gebracht, die von jeher eine große Zuneigung für sie hegte, und einstweilen bleibt sie bei uns. Kennen Sie die Verhältnisse näher? Bernried war in dieser Hinsicht sehr verschlossen und sprach nie von seiner Familie, und doch wird man sich an sie wenden müssen.“

„Von den Bernrieds ist nichts zu erwarten,“ erklärte Sonneck mit Bestimmtheit. „Sie haben sich dieser Heirat von Anfang an mit vollster Feindseligkeit gegenübergestellt und das Kind gilt in ihren Augen ebensowenig für ebenbürtig wie die Mutter. Es ist ein hochmütiges, ahnenstolzes Geschlecht. Ich werde dem Großvater der Kleinen, dem Professor Helmreich, Nachricht geben, der jetzt in Kronsberg lebt. Aber vielleicht trifft Bernried selbst noch irgend eine Bestimmung. Ist er bei Besinnung?“

„Bis jetzt nur auf Minuten, aber ich glaube, daß vor dem Tode noch einmal volle Klarheit eintreten wird. Das geschieht oft in solchen Fällen und dann wird er zweifellos nach seinem Kinde verlangen.“

Sonneck schien einige Sekunden lang mit sich zu kämpfen, dann sagte er: „Darf ich ihn sehen?“

„Wenn Sie es wünschen, gewiß. Eine Aufregung ist hier nicht mehr zu fürchten und vielleicht ist Ihr Kommen noch eine letzte Freude für den Mann, um den sich sonst wohl keiner kümmern wird. Ich fahre heute gegen Abend noch einmal hinaus nach dem Hospital, Sie brauchen mich dort nur aufzusuchen. – Aber jetzt kommen Sie mit hinunter in den Garten, meine Frau ist dort mit der kleinen Elsa, ich möchte Ihnen das Kind zeigen.“

Als die Beiden die Treppe hinunterschritten, begegnete ihnen Reinhart Ehrwald, der beim Doktor ein Zusammentreffen mit Sonneck verabredet hatte und ebenfalls kam, um zu hören, wie es mit dem Manne stehe, dem die gestrige Niederlage so verhängnisvoll geworden war. Er schloß sich auf die Einladung des Doktors den Herren an.

Der Garten des Walterschen Hauses lag wie eine kleine grüne Oase mitten in dem Häusermeer der Stadt. Hier duftete und blühte alles in tropischer Fülle und Pracht und der zierlich gedeckte Frühstückstisch gab dem Orte etwas ungemein Trauliches und Behagliches. Eine Dame war eben beschäftigt, den Thee zu bereiten, und ein kleines Mädchen von sieben oder acht Jahren jagte sich im lustigen Spiel mit einem winzigen weißen Hündchen umher.

„Da bringe ich Dir die beiden Wüstenhelden!“ sagte der Doktor scherzend, indem er mit seinen Gästen an den Tisch trat. Frau Walter, eine noch junge Frau mit feinen, anmutigen Zügen, begrüßte die beiden Herren, die sie bereits kannte, mit einfacher Liebenswürdigkeit und lud sie freundlich ein, an dem Frühstück teilzunehmen.

„Ich kann leider noch nicht den mindesten Anspruch auf den Titel machen, den mir der Herr Doktor giebt,“ sagte Ehrwald, indem er den angebotenen Platz einnahm. „Ich habe vorläufig nur den guten Willen, ihn zu verdienen.“

„Und die nötige Tollkühnheit dazu, das haben wir gestern bei dem Rennen gesehen,“ ergänzte Walter und wandte sich dann zu dem Kinde, das sein Spiel unterbrochen hatte und neugierig herbeikam, um die Fremden anzuschauen.

„Komm her, Elsa, und gieb diesem Herrn die Hand, es ist ein Freund Deines Papas!“

Die Kleine gehorchte und bot Sonneck zutraulich das Händchen. Es war ein allerliebstes kleines Geschöpf, schlank und zierlich wie eine Elfe, mit einem rosigen Kindergesicht, aus dem ein Paar großer dunkelblauer Augen hervorblickte. Das blonde Haar, das einen leicht rötlichen Schimmer hatte, fiel offen über Hals und Schultern, deren zarte Farbe es nicht verriet, daß das Kind schon mehrere Jahre lang unter der afrikanischen Sonne lebte. Sein weißes Kleidchen war reich mit Spitzen besetzt und an seinem Halse funkelte ein Medaillon von feinster arabischer Goldarbeit. Das ganze kleine Wesen war Lust und Leben, und als es jetzt, erhitzt vom Spiel, mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht strich und die Fremden anlachte, da sah es so reizend aus, daß Sonneck es mit einer fast leidenschaftlichen Zärtlichkeit an sich zog und küßte.

Klein-Elsa ließ sich das ruhig gefallen und mit jener Wichtigkeit, mit der Kinder eine Neuigkeit erzählen, sagte sie: „Mein Papa ist verreist, aber er kommt bald zurück, sehr bald, und dann bringt er mir etwas Schönes mit, sagt der Onkel Doktor. Du kennst auch den Papa?“

„Ja, mein Kind,“ entgegnete Sonneck, und sich niederbeugend, setzte er so leise, daß nur das Kind ihn verstehen konnte, hinzu: „Ich habe Deinen Papa einst lieb gehabt, sehr lieb!“

Elsa sah ihn an, es war, als habe sie eine Ahnung davon, was in diesen Worten lag, denn plötzlich bot sie, ohne jede Aufforderung, dem fremden Manne den kleinen roten Mund zum Kusse dar.

„Nun will ich aber auch eine Hand und einen Kuß haben, kleine Landsmännin,“ sagte Ehrwald. „Ich will nicht leer ausgehen, komm zu mir!“

War es der übermütige, etwas befehlende Ton, oder mißfiel dem Kinde sonst etwas an dem jungen Manne, genug, es rührte sich nicht.

„Nun, Elsa, willst Du dem Herrn Ehrwald nicht auch die Hand geben?“ mahnte Frau Walter, aber Elsa schüttelte den Kopf und ließ ein sehr entschiedenes „Nein!“ hören.

Jetzt legte sich Sonneck ins Mittel und redete der Kleinen freundlich zu, aber vergebens. Sie glitt von seinen Knien auf den Boden nieder und stand nun da wie ein vollendeter Trotzkopf. Sie stampfte mit dem Füßchen und wiederholte mit vollster Heftigkeit:

„Nein! Ich will nicht! Ich will ihn nicht küssen!“

„Ei, wie feindselig!“ spottete Reinhart. „Da werde ich mir den versagten Kuß wohl erobern müssen.“

Er streckte die Arme nach dem Kinde aus, aber dies entglitt ihm blitzschnell und lief in den Garten. Der junge Mann sprang ihm nach und nun begann eine förmliche Jagd zwischen den Bäumen und Gebüschen.

Klein-Elsa machte es ihrem Verfolger schwer genug. Wie ein Pfeil schoß sie vor ihm hin, tauchte dann plötzlich im Gebüsch unter, kam an einer ganz anderen Stelle wieder zum Vorschein und entwischte ihm immer wieder, wenn er sie zu fassen glaubte. Das weiße Röckchen und die blonden Haare flatterten, während das Kind wie ein großer weißer Falter durch die blühenden Gesträuche huschte, und Ehrwald hatte so viel Mühe, es zu fangen, wie nur irgend ein Schmetterlingsjäger. Endlich aber erreichte er es doch und trug es zu dem Tische zurück.

„Da habe ich sie!“ rief er triumphierend und hielt seine Beute mit beiden Armen hoch empor. „Willst Du mich nun küssen, Elsa? Ja oder nein?“

„Nein!“ rief die Kleine zornig, während sie vergebliche Versuche machte, sich zu befreien. „Laß mich los! Du sollst mich loslassen!“

„Erst den Kuß!“ lachte Reinhart, und ohne sich an das Sträuben seiner kleinen Gefangenen zu kehren, drückte er einen Kuß auf das widerstrebende Gesichtchen.

Das Kind schrie auf, so laut und angstvoll, als habe man ihm irgend ein Leid angethan. Dann aber ballte es die kleine Faust und schlug dem jungen Manne so nachdrücklich in das Gesicht, daß er es betroffen, fast bestürzt aus seinen Armen gleiten ließ. Diesmal machte Elsa keinen Versuch, zu flüchten, sie stand regungslos da, aber all die sonnige Liebenswürdigkeit war plötzlich wie ausgelöscht in dem Wesen des Kindes. Die Hände waren noch geballt, die Zähne zusammengebissen, und das waren auch keine Kinderaugen mehr, die zu Reinhart aufblickten. Es sprühte darin seltsam, beinahe unheimlich, er mußte unwillkürlich an die Augen Bernrieds denken, als dieser gestern seinen Gegner maß, während er jene letzte verzweifelte Anstrengung machte, die ihm den Tod bringen sollte.

„Aber Elsa, wie kannst Du so unartig sein! Was soll der fremde Herr von Dir denken?“ rief Frau Walter. Da regte sich das Kind, es lief zu ihr, barg den Kopf in ihrem Schoß und [27] begann laut und bitterlich an zu weinen, sein ganzer Körper bebte in krampfhaftem Schluchzen.

„Das ist die Erziehung, oder vielmehr der Mangel an Erziehung von seiten des Vaters,“ sagte Walter, aber Sonneck schüttelte leise den Kopf.

„Nein, Doktor, es ist das Blut des Vaters, das sich in dem Kinde verrät. Gerade so wild und maßlos bäumte sich Bernried auf, wenn ihm von Menschen oder Verhältnissen ein Zwang geschah, und seine Tochter hat diese unselige Charakteranlage geerbt, wie man sieht!“

„Wenn ich nur wüßte, was mit Elsa in der nächsten Woche geschehen soll,“ nahm Frau Walter wieder das Wort, während sie sich bemühte, das noch immer schluchzende Kind zu beruhigen. „Wir haben einen Besuch in Ramleh versprochen, wo in der Familie eines uns befreundeten Landsmannes eine Hochzeit gefeiert wird, und mein Mann hat sich mit Mühe für acht Tage frei gemacht. Mitnehmen können wir die Kleine nicht und ebensowenig sie allein unserer arabischen Dienerschaft überlassen. Ich weiß für den Augenblick wirklich niemand –“

„Ueberlassen Sie das mir,“ fiel Sonneck rasch ein. „Ich werde Fräulein von Osmar bitten, sich des Kindes anzunehmen, und bin überzeugt, sie thut es mit Freuden.“

„Das wäre freilich ein Ausweg. Aber der Konsul? Wird es ihm recht sein?“

„Gewiß, er läßt seiner Tochter volle Freiheit in solchen Dingen. Ich verbürge mich für seine Zustimmung.“

„Es wäre nur für acht Tage, dann hole ich mir meinen kleinen Liebling wieder. Am liebsten behielte ich ihn ganz, aber das wird wohl nicht möglich sein.“

„Nein, gnädige Frau, denn der Großvater, Professor Helmreich, wird das Kind jedenfalls beanspruchen. Das düstere Haus des alten, strengen Mannes wird freilich ein trauriger Aufenthalt sein für das sonnige kleine Wesen, aber er überläßt seine Enkelin schwerlich fremden Händen.“

Er hatte mit gedämpfter Stimme gesprochen, um von der Kleinen nicht gehört zu werden, aber diese achtete gar nicht auf das Gespräch. Sie hatte sich nach und nach beruhigt und tröstete sich jetzt mit einem Stück süßen Backwerks, das sie gewissenhaft mit dem bittenden Hündchen teilte.

[38] Am Frühstückstische des Doktors entspann sich jetzt eine lebhafte Unterhaltung, bei der sich nur Sonneck schweigsam und zerstreut zeigte. Man sah es, wie schwer die Nachrichten über Bernried, die er von dem Arzte empfangen hatte, auf ihm lasteten. Ehrwald sprühte dagegen wie gewöhnlich von Uebermut und spielte den Liebenswürdigen bei Frau Doktor Walter, die sich so wenig wie ihr Mann dem Zauber seiner Persönlichkeit entziehen konnte. Endlich brachen die Herren auf, Sonneck verabredete noch mit dem Doktor die Stunde, wo sie im Hospital zusammentreffen wollten, und wandte sich dann wieder zu dem Kinde.

„Nun, Elsa, willst Du mir nicht Lebewohl sagen?“ fragte er freundlich.

Klein-Elsa besaß jedenfalls einen stark ausgesprochenen Eigenwillen. So entschieden sie sich von Ehrwald abgewandt hatte, so zutraulich zeigte sie sich seinem älteren Freunde gegenüber. Sie kam sofort herbei, bot ihm die Hand und ließ sich zum Abschied küssen.

„Nun, kleine Landsmännin, wollen wir nicht auch Frieden schließen?“ sagte Reinhart scherzend. „Du hast mich zwar sehr schlecht behandelt, aber ich will es Dir nicht nachtragen.“

Er machte Miene, sich gleichfalls zu nähern, aber es bedurfte nur dieser Bemühung, um sofort wieder die ganze Feindseligkeit des Kindes zu entfesseln. Es flüchtete hinter Sonneck und rief angstvoll und zornig zugleich:

„Er soll mich nicht wieder küssen! Nicht wahr, Du leidest es nicht?“

„Gewiß nicht,“ beschwichtigte Sonneck. „Laß das Kind in Ruhe, Reinhart, Du siehst ja, es fürchtet sich vor Dir!“

„Fürchten?“ wiederholte der junge Mann, halb ärgerlich, halb belustigt durch diesen Widerstand. „Da sind Sie doch im Irrtum. Sehen Sie nur, wie das kleine Ding dasteht, als wolle es sich auf Leben und Tod gegen mich verteidigen! Was habe ich Dir denn gethan, Du Trotzkopf? Ich habe Dich ja nur geküßt.“

Da flammte es wieder auf in den Augen des Kindes, ebenso seltsam wie vorhin, und mit der ganzen früheren Leidenschaftlichkeit rief es:

„Ich wollte, Du hättest mich lieber geschlagen!“

Reinhart trat unwillkürlich einen Schritt zurück, aber seine Stirn zog sich finster zusammen, er schien förmlich beleidigt zu sein.

„Nun, schmeichelhaft ist das gerade nicht für Dich,“ sagte Sonneck mit leisem Spott. „Du bist etwas verwöhnt in dieser Beziehung und nun findest Du auf einmal eine junge Dame, die lieber einen Schlag als einen Kuß von Dir hinnehmen will. Merke Dir das, Reinhart!“

Der junge Mann lachte laut auf, aber das Lachen klang etwas gezwungen und dabei fiel ein tiefgereizter Blick auf das Kind, das ihn unverwandt anschaute.

„Nun, ich werde mich wohl zu trösten wissen über meine Niederlage,“ entgegnete er achselzuckend und wandte sich zu dem Doktor und seiner Frau, um sich zu verabschieden.

„Was war denn das heute mit Elsa?“ sagte Frau Walter, als sie allein waren. „Das Kind ist sonst so liebenswürdig, so habe ich es ja noch niemals gesehen.“

Der Doktor blickte nachdenklich auf die Kleine, die ihr Spiel mit dem Hündchen wieder begonnen hatte, und entgegnete ernst:

„Ich fürchte, Sonneck hat recht, es ist das Blut des Vaters, das sich da verrät. Aber wir wollen Klein-Elsa nicht schelten, heute nicht – denn vielleicht wird sie schon heute abend eine Waise sein.“




Der überraschende Verlauf des Rennens bildete noch am nächsten Tage das Hauptgespräch in der Gesellschaft von Kairo. Man sprach überall von der „Faida“ des deutschen Generalkonsuls, von Reinhart Ehrwald und auch von dem vielbeklagten „Darling“, der infolge seiner Verletzung hatte getötet werden müssen, von seinem Herrn war nur sehr wenig die Rede. Man fand jenen ersten „rücksichtsvollen“ Ausspruch des englischen Arztes, daß der Sturz wohl keine schweren Folgen haben werde, sehr bequem, denn nun war man der Mühe überhoben, sich eingehend um den Gestürzten zu kümmern, und konnte in einigen Tagen wieder nachfragen. Es fiel niemand ein, sich näher zu erkundigen oder den Kranken aufzusuchen. Bernried hatte in der That keinen einzigen Freund in Kairo, nur Bekannte, die mit ihm verkehrten, weil er doch nun einmal ein deutscher Baron war und sich in der Sportswelt geltend zu machen wußte.

Seine Abkunft war allerdings zweifellos. Er war der jüngere Sohn einer alten, süddeutschen Adelsfamilie und schien in seiner Jugend ein echtes Kind des Glückes gewesen zu sein. Schön, reich begabt, mit allen möglichen blendenden Eigenschaften ausgestattet, gewann er sich alle Herzen. Er stand als junger Offizier mit seinem Regimente in der Universitätsstadt, wo Sonneck sich kürzlich als Docent niedergelassen hatte, und dort knüpfte sich die Freundschaft zwischen den beiden an.

Lothar Sonneck, der nur einige Jahre älter war, galt für ernst und verschlossen, aber er hatte schon damals den Kopf voll von all den Zukunftsplänen, die er später so glänzend verwirklichte. Er stammte von armen Eltern, hatte mit eisernem Fleiße seinen Studien obgelegen und gab sich nun mit demselben Eifer seinem Berufe hin. Kurz, er war in allen Stücken der Gegensatz zu dem jungen, lebenslustigen Offizier, dem die reichsten Mittel zu Gebote standen, und vielleicht war es gerade diese Verschiedenheit, die sie zu Freunden machte.

Professor Helmreich, der damalige Rektor der Universität, nahm an dieser wie in der Gesellschaft eine der ersten Stellen ein. Er war mit dem Vater Sonnecks befreundet gewesen und blieb auch dem Sohne ein väterlicher Freund. Lothar verkehrte oft und viel in seinem Hause, wo eine einzige Tochter aufwuchs, und vielleicht war es der geheime Wunsch des Professors, daß der junge hochbegabte Mann, für den er eine glänzende Zukunft voraussah, ihm einst noch näher treten möge. Vorläufig aber gab sich von beiden Seiten keine tiefere Neigung kund und es blieb bei einem fast geschwisterlichen Verhältnis zwischen den jungen Leuten.

Da brachte Sonneck seinen Freund in das Helmreichsche Haus und führte damit, ohne es zu ahnen, das Unheil über dessen Schwelle. Bernried, der leicht entflammt und hingerissen war, verliebte sich leidenschaftlich in das schöne Mädchen und gewann im Sturme dessen Herz, fand aber dann, vielleicht zum erstenmal in seinem Leben, eine unübersteigliche Schranke in dem Widerstande des Professors. Die Bernriedsche Familie war als hochmütig und adelsstolz bekannt und der jüngere Sohn war mit seiner Zukunft ganz auf den Vater angewiesen. Helmreich sah eine endlose Reihe von Kämpfen und Demütigungen für seine Tochter voraus und versagte mit aller Entschiedenheit seine Einwilligung so lange, bis der Bewerber die volle rückhaltlose Zustimmung seiner Eltern bringe.

Bernried wußte am besten, daß man ihm damit eine unmögliche Bedingung stellte, denn, ganz abgesehen davon, daß seine Eltern eine derartige Heirat niemals zugegeben hätten, standen hier noch ganz andere Familieninteressen auf dem Spiel. Da die Güter Majorat waren, das nur der ältere Sohn erbte, hatte man beizeiten Sorge getragen, auch dem jüngeren dasselbe glänzende Los zu sichern. Ihm war bereits die Hand einer entfernten Verwandten, einer reichen Erbtochter, zugesagt, die noch in sehr jugendlichem Alter stand und die er erst in einigen Jahren heimführen sollte. Von einer Preisgabe dieser Pläne von seiten seiner Eltern konnte nicht die Rede sein.

Lothar Sonneck war selbstverständlich der Vertraute des jungen Paares und that, was er nur konnte, um den Freund zum Abwarten, zum ruhigen Ausharren zu bestimmen, bis er wenigstens die Einwilligung des Professors erlangt haben werde; aber er predigte tauben Ohren. Der vom Glück verwöhnte junge Baron war gewohnt, alles im Sturme zu erreichen und zu erringen, und glaubte, das auch hier durchsetzen zu können. Als das erste schroffe Nein von seinem Vater eintraf, zugleich mit dem Befehl, sofort nach Hause zu kommen, damit den „tollen Streichen“ ein Ende gemacht werde, griff er ohne Besinnen zu einem Gewaltmittel.

Er bestürmte den Freund, ihm eine letzte Zusammenkunft mit der Geliebten zu ermöglichen, von der ihn das strenge Verbot ihres Vaters fernhielt. Sonneck entschloß sich nur widerstrebend dazu, und erst als Bernried ihm versprach, daß es nur ein Abschied sein sollte, vertraute er und gab nach. Das Vertrauen wurde getäuscht [39] und das gegebene Wort gebrochen. Die beiden jungen Leute benutzten die Zusammenkunft zu einer heimlichen Flucht und gingen auf und davon.

Der Vorfall machte ungeheures Aufsehen in der Universitätsstadt, gerade wegen der hervorragenden Stellung des Professors, und dieser, den der Schlag wie ein Blitz aus heiterm Himmel traf, brach fast zusammen darunter. Er war von jeher ein ernster, strenger Mann gewesen, dessen starre Ehrbegriffe bis zur Härte gingen, und nun that ihm die einzige Tochter das an! Es änderte nichts an seinen Anschauungen, als nach einigen Wochen zugleich mit der Nachricht, daß die beiden im Auslande getraut seien, die Bitte um Verzeihung eintraf. Er zeigte sich jedem Versöhnungsversuche unzugänglich, beantwortete keinen der Briefe der jungen Frau, auch den letzten nicht, in dem sie ihm die Geburt eines Kindes anzeigte – für ihn gab es hinfort keine Tochter mehr.

Die Familie Bernrieds zeigte sich ebenso unversöhnlich. Sie verzieh dem ungehorsamen Sohne nicht den eigenmächtigen Schritt und vergab ihm noch viel weniger die Vernichtung ihrer Zukunftspläne, sie sagte sich völlig los von ihm. Der junge Baron seinerseits war viel zu stolz und eigenwillig, um da um Verzeihung zu bitten, wo er nur sein Recht der freien Selbstbestimmung auszuüben geglaubt hatte. Er antwortete auf jene Lossagung in der schroffsten Weise und damit war der Bruch endgültig vollzogen.

Man hatte dem jungen Ehepaare selbstverständlich alle Mittel entzogen, aber für die ersten Jahre reichte das Vermächtnis eines alten Verwandten hin, über das Bernried freie Verfügung hatte. Es wäre vielleicht ausreichend gewesen, irgendwo eine bescheidene aber sichere Existenz damit zu begründen, doch der im Schoße des Reichtums erzogene Mann, der nie Mangel und Sorge gekannt hatte, dachte nicht an eine solche Verwendung. Er lebte in gewohnter Weise weiter mit seiner Frau, und als die Summe reißend schnell zu Ende ging, verfiel er nach und nach dem Abenteurerleben, zog mit Weib und Kind unstet bald hierhin bald dorthin und wurde endlich nach Kairo verschlagen, wo seine Laufbahn ein so jähes Ende finden sollte. –

Das deutsche Hospital lag weit draußen in der Vorstadt, in einer Umgebung von Gärten und Villen. Hier sah und hörte man nichts von dem bunten, lärmenden Treiben der Stadt und das helle, freundliche Gebäude lag so friedlich da, als berge es nur Ruhe und Frieden in seinem Innern.

Es war am Spätnachmittage, als Sonneck durch den Garten schritt und in das Haus eintrat. Er bat die Pflegerin, die ihn empfing, den Doktor Walter herbeizurufen, der auch gleich darauf erschien.

„Sie kommen zur rechten Zeit,“ sagte er ernst. „Ich habe soeben meinen Wagen nach der Stadt zurückgesandt, um die kleine Elsa zu holen, denn – es geht zu Ende!“

„Schon jetzt?“ fragte Sonneck erbleichend.

„Ja, ich habe schon heute morgen befürchtet, daß Bernried den Abend nicht mehr erleben wird, und auch meine andere Voraussetzung hat sich bestätigt. Die Besinnung ist noch einmal voll und klar zurückgekehrt. Ich habe ihn auf Ihren Besuch vorbereitet und er verlangt danach, Sie zu sehen. Kommen Sie!“

Sie schritten durch einen Gang und betraten ein einfach aber freundlich eingerichtetes Gemach, dessen Fenster weit offen standen.

Neben dem Bette, wo der Kranke lag, saß eine der Schwestern, die sich jetzt erhob, als der Doktor ihr einige Worte zuflüsterte, und das Zimmer verließ. Sonneck trat leise näher und beugte sich über den Kranken.

„Ludwig!“ sagte er halblaut, aber das ganze Weh dieses traurigen Wiedersehens lag in dem einen Worte.

Der Mann, der sich gestern noch in voller stürmischer Lebenskraft so wild aufbäumte gegen die Möglichkeit einer Niederlage, lag jetzt bleich und still da, aber der Ausdruck herber Verbitterung war aus seinem Antlitz gewichen. Es hatte ausgestürmt in diesen Zügen wie in diesem Leben.

„Lothar!“ sagte er matt. „Jetzt endlich kommst Du zu mir?“

Lothar verstand den Vorwurf und senkte das Auge. Er wollte sprechen, aber Bernried machte eine abwehrende Bewegung.

„Laß, Du hattest ja recht, ganz recht, es hat mir nur so wehe gethan. Ich habe viel Bitterkeit und Demütigung erfahren, seit es – abwärts ging mit meinem Leben, aber das Bitterste war doch die Stunde, wo Du an mir vorübergingst, ohne mich kennen zu wollen.“

„Hätte ich gewußt, daß Du eines Freundes bedarfst, ich wäre gekommen,“ entgegnete Sonneck gepreßt. „Ich ahnte es nicht, Ludwig, daß Du so allein standest mitten in dem großen Kreise.“

„Jawohl, allein, ganz allein! Ich hatte niemand als –“ der Kranke wandte plötzlich den Kopf nach dem Arzte, der an der anderen Seite des Bettes stand. „Mein Kind, meine kleine Elsa! Ist sie denn noch nicht da? Noch nicht?“

„Sie wird in zehn Minuten hier sein,“ beruhigte ihn Doktor Walter. „Ich führe sie dann sofort zu Ihnen.“

Sonneck hatte sich niedergesetzt und die Hand des Kranken in die seinige genommen. Dieser schien körperlich gar nicht zu leiden, aber es sprach eine angstvolle Unruhe aus dem Blick, mit dem er zu dem einstigen Freunde aufsah.

„Ich habe ein Kind, Lothar, ein einziges – was wird aus ihm, nach meinem Tode?“

„Ich weiß, ich habe Dein Kind heute morgen gesehen,“ sagte Lothar mit mühsam unterdrückter Bewegung. „Wie gern nähme ich es schützend in meine Arme! Aber Du weißt es ja, ich habe nicht Haus noch Herd, in wenigen Tagen ziehe ich wieder hinaus in die weite Ferne und kehre vielleicht erst nach Jahren zurück. Aber verlassen ist Deine Kleine ja nicht, sie hat einen Großvater.“

„Helmreich? – Er hat mir und seiner Tochter nie vergeben – er wird auch unser Kind nicht lieben.“

„Du thust ihm unrecht. Es ist das Kind seiner verstorbenen Tochter, die er trotz alledem mehr als alles andre auf dieser Welt liebte, es ist seine Enkelin, sein Blut, und sie wird sich bald genug in sein Herz stehlen. Wenn Du aber wünschest, daß wir uns an Deine Familie wenden –“

„Nein, nein, nur das nicht!“ unterbrach ihn Bernried erregt. „Nur da nicht betteln! Soll mein Kind das Gnadenbrot essen bei denen, die seinen Vater ausstießen? Versprich mir, Lothar, daß da kein Versuch gemacht wird.“

„Regen Sie sich nicht auf, Herr von Bernried,“ mahnte der Arzt besorgt. „Es wird ja alles geschehen, wie Sie es wünschen.“

Das kurze, fieberhafte Aufflammen hatte in der That die Kräfte des Kranken erschöpft. Er sank zurück und lag nun regungslos mit geschlossenen Augen. Da wurde die Thür von neuem geöffnet und an der Hand der Schwester erschien die kleine Elsa. Man hatte ihr gesagt, daß der Papa krank von der Reise zurückgekommen sei und daß sie sehr still und artig sein müsse, wenn sie ihn besuchen wolle. Sie hatte es auch versprochen, aber als sie nun den Vater erblickte, totenbleich, mit geschlossenen Augen, den Kopf mit weißen Tüchern umwunden, da schien dem Kinde doch die Ahnung von irgend etwas Furchtbarem zu kommen. Ehe die Schwester es verhindern konnte, machte es sich los, lief auf das Bett zu und rief mit einem lauten, angstvollen Aufweinen:

„Papa! Papa!“

Bernried zuckte zusammen bei dem Klange dieser Stimme und schlug die Augen auf. Er hatte noch die Kraft, die Arme auszustrecken und sein Kind an die Brust zu ziehen, es war ja das Einzige, was er wahrhaft geliebt hatte.

„Dein Papa ist sehr krank, Elsa!“ sagte Doktor Walter halblaut. „Du darfst jetzt nicht weinen oder laut sprechen, denn das thut ihm wehe, und dann darfst Du auch nicht bei ihm bleiben.“

Das Kind sah erschrocken zu ihm auf mit den großen, thränenvollen Augen, aber die Mahnung half. Es schluckte tapfer die Thränen hinunter und versicherte mit rührender Innigkeit:

„Ich will ganz, ganz still sein und nimmer weinen, wenn ich nur bei meinem lieben Papa bleiben kann!“

Ein Lächeln – das letzte! – flog über das Antlitz Bernrieds, dann begann er mit seinem Kinde zu reden. Es war nur ein Geflüster, matt und abgebrochen, mit schon erlöschender Stimme, aber die Kleine beruhigte sich dabei sichtlich. Der Vater sprach ja zu ihr mit der gewohnten Zärtlichkeit, nannte sie wie sonst seinen süßen kleinen Liebling; darüber vergaß sie den traurigen Anblick. Sie schlang beide Aermchen um seinen Hals und begann nun auch ihrerseits leise zu plaudern. Sie erzählte ihm, daß sie jetzt bei dem Onkel Doktor wohne und dort bleiben werde, bis der Papa ganz gesund sei und zurückkomme, erzählte von der guten Tante Walter, dem schönen Garten und dem weißen Hündchen.

Die süße, schmeichelnde Kinderstimme umspann den Sterbenden wie eine weiche, holde Melodie, die allmählich verklingt. Anfangs hörte und verstand er wohl noch die Worte und seine Augen waren unverwandt auf das Gesicht seines Lieblings gerichtet, dann aber [40] sanken die Lider wie todmüde herab und die Melodie erklang ferner und ferner – sie geleitete ihn hinüber in die Ewigkeit.

„Es geht zu Ende!“ flüsterte der Arzt Sonneck zu. „Aber es wird kein Kampf stattfinden, wir wollen das Kind bei ihm lassen, wenn er noch irgend etwas fühlt, so ist es seine Nähe. – Du darfst Dich jetzt nicht regen, Elsa. Du siehst es ja, der Papa will schlafen. Wecke ihn nicht!“

Die Kleine nickte ernsthaft und verständig und schmiegte leise ihr warmes, rosiges Gesichtchen an die erkaltende Wange des sterbenden Vaters. Tiefes Schweigen herrschte in dem Gemach, das ganz erfüllt war von dem goldigen Glanze der sinkenden Sonne, und durch das offene Fenster sah man weit hinaus in die schimmernde Ferne. Sonneck stand regungslos da, aber ein paar schwere Thränen rollten langsam über seine Wangen, als er auf den Freund blickte, den er im Glanze der Jugend und des Glückes gekannt, den ein einziger falscher Schritt hinausgetrieben hatte in ein unstetes, friedloses Leben und dem der Tod nun als ein Erlöser nahte.

„Vorbei!“ sagte Walter leise und legte seine Hand auf die Brust des Toten, wo kein Atem mehr zu spüren war.

Die kleine Elsa hob das Köpfchen, und mit glücklichem Lächeln zu den beiden Männern aufblickend, flüsterte sie: „Nun schläft der Papa!“

Da beugte sich Sonneck nieder, das Kind emporhebend, schloß er es fest an seine Brust und rief mit ausbrechendem Schmerze:

„Ja, Elsa, er schläft – und das ist gut für ihn, sehr gut! – Wir wollen ihn schlafen lassen!“




Der deutsche Generalkonsul, Herr von Osmar, nahm in Kairo eine in jeder Beziehung hervorragende Stellung ein. In seiner amtlichen Eigenschaft war er selbstverständlich das Haupt der deutschen Kolonie und überdies machten ihn sein Reichtum und seine vielfachen Beziehungen, die bis in die höchsten Kreise hinaufreichten, zu einer sehr einflußreichen Persönlichkeit. In seinem glänzenden, gastfreien Hause verkehrten die Spitzen der Gesellschaft, jeder Fremde von Bedeutung ließ sich dort vorstellen und es galt für eine Auszeichnung, in diesem Hause Zutritt zu haben.

Herr von Osmar war schon seit Jahren Witwer und hatte nicht wieder geheiratet, wohl aus Liebe zu seiner Tochter, der er keine Stiefmutter geben wollte. Ihm war es recht, daß sie noch immer keine Lust zeigte, sich zu vermählen, und gegen all die Bewerbungen, deren Ziel das schöne und reiche Mädchen war, die vollste Gleichgültigkeit zeigte. Er wünschte und erwartete selbstverständlich eine glänzende Partie für Zenaide, aber er hatte durchaus nichts dagegen, wenn dieser Zeitpunkt noch länger hinausgeschoben wurde, die Tochter war ihm allzusehr ans Herz gewachsen.

Das Osmarsche Haus, eine weitläufige, prachtvolle Villa, lag im vornehmsten Teile der Stadt und vereinigte in seiner inneren Einrichtung den europäischen Luxus mit orientalischer Pracht. Nur die persönliche Bedienung des Konsuls und seiner Tochter war deutsch, sonst sah man überall auf Gängen und Treppen die schwarzen oder braunen Gesichter der Eingeborenen in ihrer malerischen Tracht. –

Herr von Osmar befand sich in seinem Arbeitszimmer mit Lord Marwood, der vor einer halben Stunde gekommen war. Das Gespräch der beiden Herren mußte wohl etwas Wichtiges betreffen, denn der junge Lord hatte, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, viel und angelegentlich gesprochen und sah jetzt erwartungsvoll den Konsul an, der mit ruhiger Aufmerksamkeit zuhörte und nun mit derselben Ruhe antwortete:

„Es ist mir gerade kein Geheimnis mehr, was Sie mir da eröffnen, Mylord. Ich habe es längst bemerkt, daß Ihre Besuche in meinem Hause meiner Tochter galten, und die näheren Aufschlüsse, die Sie mir soeben über Ihre Familie und Ihr Vermögen gegeben haben, befriedigen mich in jeder Hinsicht. Aber hier handelt es sich doch vor allen Dingen um die Einwilligung Zenaidens. Ich lasse ihr volle Freiheit, ihrer Neigung und ihrem Herzen zu folgen, aber ich habe, offen gestanden, noch nichts von einer solchen Neigung bemerkt.“

„Ich habe auch noch nicht versucht, mich der jungen Dame zu erklären,“ warf Francis ein. „Ich hielt es für korrekt, mich mit meinem Antrage zunächst an Sie zu wenden, um Ihre Einwilligung und Ihre Fürsprache zu erbitten.“

„Ganz recht, und ich weiß Ihr Vertrauen vollkommen zu schätzen. Aber meine Zenaide hat ein eigenwilliges, romantisches Köpfchen, in dem sich die Welt und das Leben noch so ganz anders malen, als sie in Wirklichkeit sind. Sie will geliebt und gewonnen sein! Wenn da der Vater kommt und ihr ganz nüchtern einen Antrag vorlegt, den er befürwortet, so sagt sie sicher Nein. Ich kenne das, ich bin schon einigemal in diesem Falle gewesen, und eben weil ich Ihnen einen solchen Mißerfolg nicht wünsche, rate ich Ihnen, anders zu Werke zu gehen.“

Der junge Lord zog die Stirne kraus. Man deutete ihm da einen Weg an, den er beim besten Willen nicht gehen konnte, denn die Romantik war seine Sache nun einmal nicht. Er war sich bewußt, mit seinem Reichtum und seinem Range eine glänzende Partie zu sein, selbst für ein so vielumworbenes Mädchen wie Zenaide von Osmar. Er hatte sich mit seiner Werbung ganz „korrekt“ an den Vater gewendet und erwartete eine ebenso „korrekte“ Antwort. Nun mußte er zu seiner Verwunderung erfahren, daß der Konsul die Vermählung seiner Tochter ganz anders behandelte, als dies in den vornehmen englischen Kreisen Sitte war.

„Ich wünschte vorläufig nur zu erfahren,“ hob er wieder an, „wie Sie, Herr Konsul, meine Bitte aufnehmen und ob mir bei Miß Zenaide nicht etwa irgend eine – anderweitige Neigung entgegensteht.“

„Darüber kann ich Sie beruhigen,“ erklärte Herr von Osmar zuversichtlich. „In dem Punkte haben Sie vollkommen freie Bahn bei meiner Tochter.“

„Sind Sie wirklich davon überzeugt?“

„Gewiß, ich wüßte nicht, daß Zenaide irgend jemand von der Gesellschaft besonders auszeichnet.“

„Man kann den Begriff der ‚Gesellschaft‘ sehr weit ziehen und Miß Zenaide scheint das in der That zu thun.“

Die Worte klangen in so unverkennbarer Gereiztheit, daß der Konsul ihn befremdet ansah. „Was soll das heißen? Sie scheinen eine ganz bestimmte Persönlichkeit im Auge zu haben; da muß ich Sie aber doch bitten, sich näher zu erklären. Ich habe keine Ahnung davon, wen Sie meinen.“

„Das sehe ich und bitte im voraus um Entschuldigung, wenn ich Sie auf unliebsame Dinge aufmerksam machen muß. – Herr Sonneck verkehrt sehr viel in Ihrem Hause.“

„Allerdings, er ist einer meiner nächsten Freunde, aber ihn werden Sie doch kaum in Verdacht haben.“

„Nicht ihn, aber seinen Günstling, der ihn stets begleitet und es gründlich auszunutzen weiß, daß er Ihre ‚Faida‘ damals zum Siege geführt hat.“

Osmar stutzte einen Augenblick, dann aber lachte er laut auf.

„Reinhart Ehrwald? Da spielt Ihnen die Eifersucht wirklich einen Streich, Mylord. Der hat ja nichts im Kopfe als die Nilquellen und all die Kämpfe und Abenteuer, die ihn auf dem Zuge erwarten. Er ist weit ungeduldiger, fortzukommen, als Sonneck selbst und kaum mehr in Kairo zu halten. Nein, der träumt nur von der Romantik seines Wüstenzuges, darauf gebe ich Ihnen mein Wort!“

„Und eben das macht ihn interessant für Miß Zenaide,“ sagte Francis mit Nachdruck. „Sie haben es ja selbst vorhin zugestanden, daß sie der Romantik sehr zugänglich ist.“

Der Konsul wurde ernster, aber er schüttelte ungläubig den Kopf. „Thorheit! Meine Tochter hört ihm gern zu, wenn er von seinen Zukunftsplänen schwärmt, das thut sie auch, wenn Sonneck von seinen Fahrten erzählt; sie hat nun einmal eine Vorliebe für solche Dinge, aber von einem persönlichen Interesse ist dabei nicht die Rede. Sie sehen Gespenster, Mylord.“

„Ich will es hoffen,“ sagte Lord Marwood kühl. „Jedenfalls aber möchte ich Sie bitten, die junge Dame einmal zu beobachten, wenn sie im Gespräch ist mit diesem – diesem kecken Glücksritter, der sich einzubilden scheint, daß ihm nichts unerreichbar bleibt, wenn er verwegen genug ist, die Hand danach auszustrecken. Er rechnet wohl auf Ihre Liebe zu der einzigen Tochter, die selbst eine solche Wahl –“

„Das würde ich mir denn doch sehr verbitten!“ fiel Osmar erregt ein. „Wenn ich vorhin erklärte, daß ich der Neigung meiner Tochter freies Spiel lasse, so hatte ich dabei selbstverständlich eine angemessene Wahl im Auge. Aber dieser junge Mann, von dem ich nicht viel mehr weiß als den Namen, über dessen Herkunft [42] und Verhältnisse auch Sonneck nur sehr oberflächlich unterrichtet zu sein scheint, und der nichts auf der Welt besitzt, kann doch füglich nicht ernst genommen werden in dieser Hinsicht. Ich habe ihn um Sonnecks willen in meinem Hause empfangen und ihm damit die Kreise der hiesigen Gesellschaft geöffnet. Ich will hoffen, daß seine Wünsche nicht höher fliegen, sonst wäre ich genötigt, ihn an die Schranken zu erinnern, die ihm gezogen sind.“

Francis sah mit Genugthuung, daß seine Warnung die beabsichtigte Wirkung hatte, und dabei ließ er es vorläufig bewenden. Das Hetzen und Wühlen war seine Sache nicht, dazu dünkte er sich zu vornehm. Er hielt es mir für notwendig, den „kecken Glücksritter“ unschädlich zu machen, und das schien erreicht zu sein. Herr von Osmar war in der That bedenklich geworden, wenn er es auch nicht für gut fand, es einzugestehen.

„Uebrigens brauchen wir uns darum keine Sorge zu machen,“ begann er wieder. „Es ist ganz überflüssig, so viel Worte zu verlieren um einer Sache willen, die sich von selbst erledigt, auch wenn es sich wirklich um eine flüchtige romantische Laune meiner Tochter handeln sollte. Der Verkehr, der Sie so beunruhigt, nimmt jetzt ein Ende, denn wir gehen schon in der nächsten Woche nach Luksor, auf meine dortige Besitzung.“

„Wie, Sie wollen Kairo verlassen?“

„Jawohl, ich habe mich etwas überarbeitet in der letzten Zeit und spüre jetzt doch die Folgen. Doktor Walter rät mir dringend, mich für einige Wochen von den Geschäften wie von der Geselligkeit zurückzuziehen, deshalb wurde die Reise beschlossen. Ich will dort meine angegriffenen Nerven wieder einigermaßen in Ordnung bringen, und wenn wir zurückkehren, sind Sonneck und Ehrwald längst fort. Ihnen aber, Mylord, möchte ich Gelegenheit geben, Ihre Werbung selbst anzubringen. Wollen Sie unser Gast in Luksor sein?“

Lord Marwood erhob sich in offenbar sehr angenehmer Ueberraschung. „Das bedarf keiner Frage, ich bin Ihnen sehr dankbar für die Einladung.“

„Und das übrige ist dann Ihre Sache,“ ergänzte der Konsul lächelnd. „Aber einen Rat möchte ich Ihnen noch geben – lassen Sie sich Zeit mit Ihrer Erklärung. Sie werden ja nun täglich Gelegenheit haben, meine Tochter zu sehen und zu sprechen, aber ich wiederhole es Ihnen, Zenaide will gewonnen sein! Sprechen Sie das entscheidende Wort nicht eher, als bis Sie Ihrer Sache sicher sind. Was ich thun kann, Ihnen den Weg zu ebnen, soll geschehen.“

Er reichte dem jungen Lord die Hand, die dieser mit ungewohnter Lebhaftigkeit ergriff. Es war eine Bundesgenossenschaft, die dieser Händedruck besiegelte, und die beiden Herren schienen gleich befriedigt davon.

Als Herr von Osmar allein war, klingelte er und fragte nach seiner Tochter. Der Diener berichtete ihm, das gnädige Fräulein sei vor einer Stunde ausgefahren, mit den Herren von Sonneck und Ehrwald. Die Stirn des Konsuls faltete sich, obgleich er sich erinnerte, daß die Ausfahrt gestern verabredet worden war. Sonneck hatte in irgend einer alten verfallenen Moschee etwas Interessantes entdeckt, das er der jungen Dame zeigen wollte, und Osmar, der sehr wenig Sinn für arabische Bauten und Inschriften hatte, war ganz einverstanden damit, wenn man ihm mir nicht zumutete, mitzukommen. Aber Reinhart Ehrwald war auch dabei, wie immer! Wenn er wirklich verwegene Hoffnungen und Pläne hegte, wie Lord Marwood angedeutet hatte, an Gelegenheit fehlte es ihm nicht!

Der Konsul begann unruhig auf und nieder zu gehen. Jetzt, wo er aufmerksam gemacht worden war, kam ihm manches in Erinnerung, was er früher nicht beachtet hatte. Dieser Ehrwald mit seinem feurigen, lebensprühenden Wesen hatte etwas Bestrickendes, das ließ sich nicht leugnen, er glich so gar nicht den anderen jungen Männern und Osmar kannte am besten die Vorliebe seiner Tochter für das Ungewöhnliche. Die Sache war vielleicht doch nicht so ganz ungefährlich und im Hinblick darauf gewann die Werbung des jungen Lords eine erhöhte Bedeutung für den Vater. Begünstigt hätte er sie auch ohnehin, denn es war zweifellos eine Partie ersten Ranges und eine erste Rolle, die Zenaide als Lady Marwood in der englischen Gesellschaft spielen würde. Jetzt aber trat vielleicht noch die Notwendigkeit ein, durch eine standesgemäße Heirat einer etwaigen Thorheit vorzubeugen, und das war entscheidend für den Konsul. Er beschloß, seine ganze väterliche Autorität dafür einzusetzen.

[53] Zenaide hatte in der That mit Sonneck und Ehrwald den besprochenen Ausflug unternommen. Es war ein ziemlich langer Weg gewesen, denn die Moschee lag weit draußen, im arabischen Teile der Stadt, und erst nach mehr als halbstündiger Fahrt erreichten sie den in einer engen Gasse ziemlich versteckten Eingang. Es war ein altes arabisches Bauwerk, eins der ältesten und mächtigsten, das Kairo aufzuweisen hatte, aber es diente längst nicht mehr religiösen Zwecken. Halb zur Ruine geworden, bildete es nur noch eine Sehenswürdigkeit für die Fremden, denn die mehr als tausendjährigen Mauern trotzten noch immer der Zeit. Der weite Hof war überflutet von dem letzten Sonnenglanz des scheidenden Tages. Durch die hufeisenförmigen Fenster des Sanctuariums fielen die Strahlen in rötlich zuckenden Lichtern und spielten auf zerbröckelnden Marmorsäulen, auf uralten Mosaiken und halb verwischten Inschriften. Ueberall Verfall und Verödung! Keine Schar von Gläubigen belebte mehr Hof und Hallen, kein Gebetsruf ertönte von dem Minaret. Tiefes Schweigen ringsum, nur eine Schar weißer Tauben, die in den Arkaden nistete, flatterte auf bei den Fußtritten der Nahenden. Sie war das einzig Lebende in diesen Mauern, die lärmende, staubaufwirbelnde Stadt lag wie versunken hinter ihnen.

Sonneck saß am Fuße einer der Säulen, das Skizzenbuch auf den Knien, und zeichnete den Brunnen, der sich in der Mitte des Hofes erhob. Er lag auch schon fast in Trümmern, nahm sich aber äußerst malerisch aus mit seinem verfallenen Kuppeldach. Drüben zwischen den Arkaden des Sanctuariums wurden von Zeit zu Zeit das helle Gewand Zenaidens und die hohe Gestalt Reinharts sichtbar. Sie schienen den Raum nach allen Richtungen zu durchwandern. Der Zeichnende störte sie nicht, bis sie endlich aus der dämmernden Halle in den sonnendurchleuchteten Hof hinaustraten und sich ihm nahten.

„Nun, Zenaide,“ sagte er, sich der Anrede bedienend, die er in seinem väterlich vertraulichen Verkehr mit der Tochter seines Freundes stets gebrauchte, „hatte ich nicht recht, daß diese alte, halbverfallene Gâma eines Besuches wert sei? Sie birgt eine Fülle des Malerischen wie keine andere. Sie und Reinhart haben sich auch nicht satt daran sehen können, wie es scheint.“

„O, das trifft nur bei mir zu,“ versetzte die junge Dame lachend. „Herr Ehrwald hat allerdings ritterlich bei mir ausgehalten, aber ich fürchte, er hat sich dabei sträflich gelangweilt, denn er teilt meine Bewunderung durchaus nicht. Ich habe da arge Ketzereien mit anhören müssen.“

„Ich habe nur erklärt, daß ich nicht viel Sinn habe für eine tote Vergangenheit,“ verteidigte sich Reinhart. „Mich reizt nur das Lebendige, wo sich noch alle Kräfte regen. Aber wir haben Sie wohl gestört bei Ihrer Arbeit?“

„Nein, ich bin fertig,“ erklärte Sonneck. Er wollte das Buch schließen, aber Zenaide streckte die Hand danach aus.

[54] „Bitte, lassen Sie mich sehen! Wie schnell Sie das hingeworfen haben! Kairo hat Ihr Skizzenbuch wohl überhaupt sehr bereichert? – Ah, das ist reizend! Unsere kleine Elsa, wie sie leibt und lebt! Sehen Sie nur, Herr Ehrwald!“ Sie hatte in den Skizzen geblättert und hielt jetzt eine derselben dem jungen Manne hin. Es war in der That die kleine Elsa von Bernried, auch nur flüchtig mit dem Stifte hingeworfen, aber die Zeichnung gab das Köpfchen des Kindes in ungemein lebensvoller Auffassung wieder.

„Jawohl, der kleine Trotzkopf ist zum Sprechen ähnlich,“ bestätigte Reinhart. „Ich glaube, Herr Sonneck, wären Sie nicht zufällig ein berühmter Afrikaforscher, Sie wären ein berühmter Maler geworden.“

„Ein guter Zeichner vielleicht, weiter nichts,“ sagte Sonneck ruhig. „Was aber unseren kleinen Schützling betrifft, Zenaide, so treiben Sie Ihre Güte wirklich zu weit. Ich erbat nur auf acht Tage Ihre Gastfreundschaft für das Kind, nur bis zur Rückkehr des Doktor Walter, jetzt sind bereits drei Wochen verstrichen –“

„Und ich gebe es noch immer nicht heraus!“ ergänzte Zenaide scherzend. „Nein, meinen Liebling dürfen Sie mir nicht so schnell wieder nehmen. Das holde kleine Geschöpf ist mir so ans Herz gewachsen, daß Sie es mir durchaus lassen müssen bis zu seiner Abreise, und damit hat es ja noch Zeit.“

„Einstweilen – ja, denn dem Professor Helmreich verbieten Alter und Kränklichkeit die weite Reise hierher. Ich habe ihm aber das Versprechen gegeben, seine Enkelin nur unter sicherem Schutze heimzusenden, und dazu findet sich erst in einigen Wochen Gelegenheit. Ich sagte Ihnen bereits, daß dann einer unserer Missionäre, der gegenwärtig noch in Luksor weilt, nach Deutschland zurückkehrt und bereit ist, das Kind unter seine Obhut zu nehmen.“

„Ich weiß, und eben deshalb will ich Elsa mit nach Luksor nehmen. Auch mein Vater meint, es sei das beste, wenn wir sie dort dem geistlichen Herrn übergeben. Gern lasse ich sie freilich nicht fort, sie hängt an mir mit ihrem ganzen kleinen Herzen.“

„Sie verziehen sie aber auch nach Kräften, mein gnädiges Fräulein,“ warf Reinhart ein. „Es ist ja ein schönes Kind, aber auch der ausgemachteste Eigensinn, den ich kenne.“

„Nur gegen Sie allein, Herr Ehrwald,“ sagte Zenaide vorwurfsvoll. „Aber daran sind Sie selbst schuld. Sie necken und quälen das Kind ja fortwährend und lassen es nie in Ruhe.“

„Weil es mir Spaß macht, daß mir das kleine Ding den erzwungenen Kuß noch immer nicht vergessen kann! Sobald ich nur in Sicht bin, setzt es sich in Kriegsbereitschaft und gerade das reizt mich immer wieder, mit ihm anzubinden.“

„Ja, Dich reizt überhaupt nur der Widerstand, und wenn es der eines Kindes ist!“ entgegnete Sonneck. „Was Du mühelos erreichen kannst, weißt Du nicht zu schätzen. Uebrigens ist es wahr, die Kleine hat eine ungemein energische Empfindung, in der Liebe wie in der Abneigung. Was war das für ein leidenschaftlicher Ausbruch, als wir ihr klar machen mußten, daß der Vater gestorben sei. Das ging weit über ihr Alter hinaus. Doch ich denke, wir steigen jetzt auf den Turm hinauf, sonst geht uns der Sonnenuntergang verloren.“ Er deutete auf das Minaret, das an der Westseite aufragte, halb verfallen wie seine Umgebung, aber die gewundenen Treppen, die an der Außenwand emporführten, hielten noch stand. Sonneck schritt, zur Vorsicht mahnend, voran, die anderen beiden folgten und bald standen sie droben auf der Höhe, die einen weiten Ausblick über Nähe und Ferne bot.

Der rote Sonnenball stand schon tief am Horizont, aber er strömte immer noch Licht und Glut über die Erde hin. Tief unten lag die Stadt mit ihrem brausenden Leben, von dem nur einzelne verworrene Laute empordrangen. Dumpfe enge Gassen, wo eine wahre Menschenflut auf und nieder wogte, und weite offene Plätze, wo Wagen und Reiter sich wie im Fluge kreuzten. Die Häuser der Araber in ihrer ganzen Armseligkeit und Verkommenheit und dazwischen die ragenden Mauern und Kuppeln der Moscheen in ihrer ganzen Pracht. Schimmernde Paläste, von Palmengärten umgeben, und der mächtige Nilstrom, der langsam und majestätisch dahinzog – das alles war eingetaucht in die glühende Lichtflut, welche die kahlen gelben Höhenzüge des Mokattam, oberhalb der Stadt, mit tiefem Rot färbte und in dem Wasserspiegel des Nil flammte und blitzte. Dort aber, wo das Häusermeer endete, dehnte es sich weit und grenzenlos aus, eine unabsehbar öde Fläche – die Wüste! Und aus dem goldigen Dunst der Ferne ragten deutlich die Pyramiden auf, die tausendjährigen Wahrzeichen Aegyptens.

„Dorthin führt unser Weg!“ sagte Sonneck, indem er nach Süden deutete. „Wir gehen nilaufwärts bis zu den Katarakten und schlagen dann erst den Landweg ein.“

„Ja, aber wann – wann?“ fiel Ehrwald stürmisch ein. „Wir liegen ja hier wie festgekettet, schon seit Wochen, und von einem Tage zum anderen werden wir vertröstet und hingehalten – es ist zum Verzweifeln!“

„Fesselt Sie unser schönes Kairo so wenig?“ fragte Zenaide scherzend, aber es lag ein Vorwurf in der Frage und in dem Blick der schönen dunklen Augen. Doch Reinhart schien beides nicht zu verstehen. „Aber, mein gnädiges Fräulein, ich bin doch nicht hier, um die Schönheiten Kairos zu genießen,“ versetzte er unmutig. „Unser warten große kühne Aufgaben und eben darum ertrage ich nicht diesen erzwungenen Müßiggang. Ich begreife Herrn Sonnecks Geduld nicht, ich hätte längst einen Gewaltstreich gemacht und wäre trotz alledem aufgebrochen! Die Mittel sind uns ja bewilligt und zugesagt, man muß sie uns gewähren, und wenn wir nur erst unterwegs sind, kann und wird man uns nicht im Stich lassen.“

„Weißt Du das so genau?“ fragte Sonneck gelassen. „Ich dächte, Du hättest jetzt auch erfahren, mit welchen Schwierigkeiten selbst eine gesicherte Expedition zu kämpfen hat, ehe es wirklich zum Aufbruch kommt, ich kenne das längst. – Ja ja, Zenaide, ich habe meine Not mit diesem Heißsporn, der immer mit dem Kopf durch die Wand möchte. Er ginge am liebsten noch in dieser Stunde auf und davon und unternähme auf eigene Hand den Wüstenzug, ohne danach zu fragen, ob ich nachkomme!“

„Nein, so undankbar bin ich nicht,“ verteidigte sich Reinhart, „aber geträumt habe ich freilich oft davon, mich aufs Roß zu werfen und hineinzujagen in die Wüste, immer weiter und weiter, dem Glück entgegen, das dort in der Ferne liegt, das ich erringen und erjagen muß!“

„Und das Du nie erreichst!“ fiel Sonneck mit schwerem Nachdruck ein. „Nimm Dich in acht, es ist die Fata Morgana, der Du nachjagst! Kennst Du nicht die alte Wüstensage?“

„Fata Morgana!“ wiederholte Zenaide träumerisch. „Ich habe oft schon davon gehört. Hat sie sich Ihnen schon einmal gezeigt, Herr Sonneck?“

„O ja, mehr als einmal. Sie taucht ja selten genug auf, aber so ein alter Weltwanderer wie ich ist doch vertraut mit ihr. Du wirst sie auch noch kennenlernen, Reinhart, die lockenden, tückischen Geister der Wüste, die Djinns. Sie malen Dir fern am Horizont das Land Deiner Träume, ein Wunderland voll Glanz und Licht, aber noch hat keines Sterblichen Fuß es je betreten. Je mehr Du ihm nachjagst, desto weiter und weiter weicht es zurück, es bleibt ewig in endloser Ferne. Und wenn Du Weg und Steg verloren hast und verschmachtend zusammenbrichst, dann zerfließt das Trugbild höhnend vor Deinen Augen. Hüte Dich davor!“

Die Worte klangen tiefernst und der junge Mann mochte ihren geheimen Sinn wohl verstehen, aber mit seinem ganzen Uebermut warf er den Kopf zurück.

„Pah, ich fürchte mich nicht vor allen Djinns des Orients, ich nehme es auf mit ihnen! In unserer deutschen Märchenwelt wimmelt es ja auch von Hexen und Kobolden und von allerlei tückischem und dämonischem Geisterspuk. Als ich noch ein Knabe war, hat mich nichts so gereizt als die Sagen von den Drachen und Zauberwesen, die hoch oben auf steiler Felsenhöhe oder tief unten in Höhlen und Klüften hausen und Jedem Verderben drohen, der ihnen naht. Aber zuletzt kommt doch immer der Eine, der sie bezwingt, der zu ihnen dringt durch tausend Flammen und Gefahren und sie ohne Grauen fest in die Arme preßt. Dann sinkt die Hülle und die düstere Zaubergestalt verwandelt sich in ein leuchtendes Schönheitsbild. Dann ist der Bann gelöst und aus der Tiefe steigt das versunkene Reich in Pracht und Herrlichkeit – warum soll ich nicht dieser Eine sein?“

„Sehr bescheiden!“ spottete Sonneck. „Finden Sie das nicht auch, Zenaide? Er nimmt sich ohne weiteres die Rolle des Märchenprinzen!“

Zenaidens Augen hingen unverwandt an dem jungen Schwärmer, dessen Augen so feurig blitzten im kühnen Wagemut, und halblaut, wie unwillkürlich, sagte sie:

„Ich glaube, Herr Ehrwald wäre einer solchen Rolle gewachsen.“

„Sehr schmeichelhaft, mein gnädiges Fräulein,“ lachte Reinhart, indem er sich scherzend verbeugte. „Ich werde mir Mühe geben, die gute Meinung zu verdienen. An mir soll es nicht fehlen und [55] an den Kämpfen und Gefahren hoffentlich auch nicht. Wer weiß, vielleicht erobere ich mir dabei eine von den schönen Feen des Morgenlandes und mit ihr das Zauberreich der Fata Morgana!“

Die Sonne war gesunken und auch die rote Glut im Westen begann zu erblassen. Der Abendwind, der mit Sonnenuntergang aufgewacht war, machte sich fühlbar hier oben auf der luftigen Höhe. Er wehte scharf vom Nil herüber und ließ den Schleier am Hute der jungen Dame hoch aufflattern. Sonneck mahnte zum Aufbruch. „Wir müssen fort, es wird kühl und Sie sind sehr leicht gekleidet, Zenaide. Aber seien Sie vorsichtig beim Hinabsteigen, die Stufen sind uneben. Soll ich Sie führen?“

Die Frage war überflüssig, denn Ehrwald hatte der jungen Dame bereits die Hand geboten und leitete sie abwärts. Ihr Fuß glitt leicht genug über die zerbröckelnden Stufen und ihr Auge blickte schwindelfrei in die Tiefe, dennoch lehnte sie die angebotene Unterstützung nicht ab, ihre Hand lag fest in der Reinharts und ihre Wangen färbten sich höher dabei. Sonneck, der ihnen unmittelbar folgte, mochte seine eigenen Gedanken haben, denn es spielte ein leises Lächeln um seine Lippen, während sein Blick auf den beiden ruhte.

Jetzt hatten sie den Boden erreicht und schritten über den weiten öden Hof der Moschee, den kein Sonnenglanz mehr erfüllte, nur durch die Fensteröffnungen sah man noch den lichten Abendhimmel. In den Säulengängen lagerten schon tiefe Schatten und der Taubenschwarm hatte seine Schlupfwinkel aufgesucht.

Ueberall Abendruhe und Stille, aber als sich die Pforte vor ihnen öffnete, empfing die Hinaustretenden wieder das ganze brausende Leben Kairos und umwogte sie während der Fahrt, bis der Wagen vor dem Osmarschen Hause hielt. Hier verabschiedeten sich die beiden Herren von der jungen Dame und kehrten zu Fuß nach ihrem Hotel zurück. Es dunkelte bereits, als sie dort anlangten, aber es war noch eine volle Stunde bis zum Diner und Sonneck, der ungern in geschlossenen Räumen verweilte, suchte mit seinem Begleiter das flache Dach des Hauses auf, das man mit einzelnen Sitzen und Zierpflanzen zu einer Art hochgelegener Terrasse umgestaltet hatte. Es bot einen schönen Ausblick über die Stadt und wurde von den Gästen häufig aufgesucht. Jetzt freilich befand sich niemand mehr dort, und die beiden späten Besucher konnten ungestört plaudern.

Sie hatten sich niedergelassen und ihr Gespräch drehte sich, wie jetzt zumeist, um die bevorstehende Expedition. Reinhart ließ wieder seiner Ungeduld den Zügel schießen und erging sich in allen möglichen Plänen und Vorschlägen zur Beschleunigung der Sache, aber Sonneck schüttelte nur den Kopf dazu.

„Das ist alles nicht ausführbar,“ sagte er. „Hier heißt es warten und Geduld haben. Was stürmst und drängst Du denn so ungestüm vorwärts? Dich müßte Kairo doch jetzt mehr fesseln als jeden anderen und – wer weiß – wenn es endlich zur Abreise kommt, bist Du es vielleicht, der sie verzögert und hinausgeschoben zu sehen wünscht.“

„Ich? Niemals!“ rief der junge Mann hastig. „Was soll mich hier fesseln?“

„Eine seltsame Frage! Siehst Du wirklich nichts, oder willst Du nicht wissen, daß Du nur die Hand auszustrecken brauchst, um ein Glück zu gewinnen, um das Dich ganz Kairo beneiden würde.“

„Und wenn ich es wüßte! – Halten Sie es für ein Glück, der Mann einer reichen Frau zu sein?“

„Nein,“ sagte der Aeltere ernst, „aber der Gatte eines holden, liebenswerten Geschöpfes zu sein, das mit ganzer Seele an Dir hängen würde – das ist ein Glück, und der Glanz und Reichtum, der es hier umgiebt, würden es wohl nicht gerade beeinträchtigen.“

Es vergingen einige Sekunden, ehe Reinhart antwortete, endlich fragte er halblaut: „Und Herr von Osmar? Glauben Sie, daß ich ihm als Freier willkommen wäre? Daß Zenaide sich entschließen könnte, einem Manne anzugehören, den sein Beruf immer wieder von ihrer Seite reißt, der nur Monate bei ihr weilen kann und dann wieder hinauszieht in die Ferne?“

Sonneck zuckte mit vielsagendem Lächeln die Achseln.

„Das fragst Du mich? Du mußt eben die Probe machen, das Zagen und Bedenken ist doch sonst Deine Sache nicht! Uebrigens ist das ein Los, das die Frau jedes Schiffskapitäns auf sich nimmt, und wie Ihr beide nun einmal geartet seid, ist es das einzige, was Eurem Glücke Dauer verspricht. Die Gewohnheit, das Alltagsleben einer friedlichen Ehe ertragt Ihr vielleicht beide nicht, aber Trennung und Gefahr würden Eurer Liebe immer neuen Reiz geben und jedes Wiedersehen wäre eine neue Brautzeit. – Doch wozu all diese Erörterungen, hier handelt es sich nur um eins – liebst Du Zenaide?“

Reinhart hatte sich wieder niedergelassen und stützte den Kopf in die Hand. „Ich weiß nicht,“ sagte er langsam. „Ich habe mich bisher noch nie ernstlich gefragt.“

„So frage Dich und dann rede – oder schweige. Ich will Dich nicht beeinflussen, aber eine Natur wie die Deinige braucht einen Zügel, muß irgendwo Wurzel fassen, wenn sie sich nicht ins Schrankenlose verlieren soll. Da träumst Du von einem märchenhaften, unermeßlichen Glück, das da irgendwo in endloser Ferne liegt, und hast kein Auge dafür, daß die holde Wirklichkeit dicht neben Dir steht und Dir die Hand bietet. Entscheide Dich – noch hast Du die Wahl!“

Er stand auf und wandte sich zum Gehen. Reinhart gab keine Antwort und folgte ihm auch nicht, aber man sah es, die Mahnung war diesmal nicht wirkungslos geblieben; wohl zehn Minuten lang verharrte der junge Mann unbeweglich an seinem Platze, dann erhob er sich und trat an die Brüstung.

Tief unten brauste der Straßenlärm von Kairo, der gegen Abend nur zuzunehmen schien, und überall blinkten die Lichter auf. Dort, über dem Gebiet des Nils, lag jetzt Nacht und Dunkel, aber die Sternbilder leuchteten am Himmel in ihrer vollen Pracht, sie schienen so viel größer, so viel näher als in der fernen nordischen Heimat. Diese geheimnisvolle, sternfunkelnde Nacht des Orients, sie hatte auch etwas von dem lockenden gefährlichen Zauber, der Reinhart jetzt wieder mit Macht umfing. Das schöne Antlitz mit den dunklen sehnsüchtigen Augen, das eben noch so deutlich vor ihm stand, erblich mehr und mehr und sein Blick verlor sich in jene Sternenweiten.




In der Muski, der großen Verkehrs- und Geschäftsstraße Kairos, wogte das bunte, rastlose Treiben, das sich hier tagtäglich vom frühen Morgen bis zum späten Abend entfaltete. Vor den Kaufgewölben, die in ununterbrochener Reihe die beiden Seiten der Straße säumten, standen Händler und Käufer, anpreisend und feilschend, ganz unbekümmert um das Menschengewoge, das sich an ihnen vorüber drängte und schob. Ernste würdevoll dahinschreitende Gestalten mit lang herabwallenden Bärten, den Turban auf dem kahlgeschorenen Haupte, Frauen in schleppenden dunkelblauen Gewändern, Kopf und Antlitz so dicht verhüllt, daß nur die Augen allein sichtbar waren. Schwarze und braune Burschen, nur halb bekleidet, allerlei Waren ausrufend und anbietend. Dazwischen rollten die Wagen, deren Kutscher Mühe hatten, die schnaubenden, bäumenden Pferde in dem Gewühl vorwärts zu bringen, hochbeladene Kamele schritten langsam und feierlich dahin, Reitesel, deren Führer ihre mit bunten Ketten und Münzen aufgeputzten Tiere mit lautem Geschrei Fremden und Einheimischen anpriesen, drängten die Fußgänger beiseite. Ueberall Staub und Lärm, überall ein dichtes Gewühl von Menschen und Tieren, das in der engen Straße oft lebensgefährlich zu werden drohte, und dazu brannte die Mittagssonne mit einer wahren Sommerglut, obwohl man sich mitten im Winter befand. Der Anblick war sinnverwirrend und doch so malerisch und phantastisch, so reizvoll in seinem ewigen Wechsel, daß sich das Auge nicht satt daran sehen konnte.

Am Eingange zu den Bazaren, wo das Gedränge am ärgsten war, tauchte jetzt eine lange, hagere Gestalt auf, die sich mit Schultern und Ellbogen sehr energisch Platz machte. Dabei schwang sie einen ungeheuren Sonnenschirm wie ein Notzeichen über dem Kopfe und rief unaufhörlich mit lauter durchdringender Stimme: „Selma! Selma!“ Der Ruf ging völlig unter in dem Straßenlärm und wurde auch nicht beachtet, man rief und schrie ja hier alles mögliche aus, nur ein Herr in europäischer Kleidung, der gerade vorüberging, blieb stehen, sah sich um und grüßte dann flüchtig.

„Guten Tag, Fräulein Mallner.“

„Herr Doktor Walter!“ rief Ulrike, die nicht sobald den Doktor erblickt hatte, als sie sich schleunigst zu ihm durcharbeitete und ihn am Arm packte. „Gott sei Dank, daß ich Sie finde! Sie müssen mir helfen. Meine Schwägerin ist mir abhanden gekommen, sie ist verloren gegangen und ich kann sie nicht wiederfinden!“

„Ah!“ sagte Walter überrascht, aber Fräulein Mallner fuhr ihn mit gewohnter Rücksichtslosigkeit an:

„‚Ah‘! kann jeder sagen! Sie sollen mir suchen helfen!“

„Das kann auch jeder sagen,“ versetzte der Doktor trocken. „Wollen Sie mir nicht gefälligst erklären, wo und wie Sie von Ihrer Schwägerin getrennt worden sind?“

Ulrike deutete auf den Eingang zu den Bazaren.

[58] „Da drüben an jener Ecke standen wir und wollten nach Hause. Selma war wie immer dicht an meiner Seite. Da kommt auf einmal einer von diesen verrückten arabischen Hochzeitszügen, bei denen man alles mögliche sieht und hört, nur die Hauptperson, die Braut, nicht. Alles rennt herbei, wir werden gedrängt und gestoßen und auf einmal ist Selma verschwunden. Ich rufe und suche überall, laufe zurück in die Bazare, umsonst – sie ist nicht wiederzufinden.“

„Nun dann wird sie irgendwo in der Muski sein.“

„Aber nicht mehr lebendig! Sie ist überfahren, totgetreten, man ist ja seines Lebens nicht sicher in diesem schändlichen Wirrwar und Selma ist ohne mich hilflos wie ein Kind. Aber das kommt davon, wenn man nach Afrika geschickt wird, eines bloßen Hustens wegen. Wenn mein seliger Martin das wüßte! Selma! Selma!“

„Das Rufen nützt nichts,“ sagte der Doktor. „Man hört es in dem Straßenlärm ja kaum einige Schritte weit; wir müssen die Sache strategisch anfangen. Suchen Sie in dem oberen Teile der Straße, ich werde den unteren auf mich nehmen, hier an den Bazaren treffen wir wieder zusammen. Wenn Frau Mallner überhaupt noch hier ist, müssen wir sie finden.“

„Ja, so wird es gehen,“ stimmte Ulrike bei, der dieser Vorschlag einleuchtete. Sie trat schleunigst ihren Entdeckungszug an, während der Doktor sich gleichfalls ohne weiteren Gruß nach der andern Richtung wandte. Er war längst dahingelangt, die Dame ebenso rücksichtslos zu behandeln, wie sie es sich gegen ihn erlaubte, und hätte sich schwerlich herbeigelassen, ihrer Aufforderung nachzukommen, wenn es sich nicht gerade um seine Patientin gehandelt hätte, deren Unselbständigkeit und Schüchternheit er kannte.

Die junge Frau befand sich allerdings noch in der Muski, aber in völliger Ratlosigkeit und Verzweiflung. Als sie sich so plötzlich von ihrer Begleiterin getrennt sah, hatte sie freilich versucht, diese wieder aufzufinden, aber da sie sich dabei nach der falschen Richtung wandte, entfernten sie sich immer mehr voneinander. Die arme Selma, der man kaum daheim in Martinsfelde erlaubt hatte, allein auszugehen, und die hier nun vollends nicht von der Seite ihrer Schwägerin kam, war in der That hilflos wie ein Kind! Es fiel ihr gar nicht ein, einen Wagen zu suchen, um nach dem Hotel zu fahren, dessen Namen der Kutscher doch wohl verstanden hätte, sie spähte immer nur angstvoll nach Ulrike und ließ sich dabei von der Menschenmenge geduldig schieben und stoßen. Aber ihre Furcht wurde immer größer dabei, und als sich nun vollends zwei Eselsjungen dicht an sie herandrängten und mit lautem zudringlichen Geschrei ihre Tiere anpriesen, flüchtete sie in Todesangst in eine kleine Mauernische, drückte sich dicht an die Wand und brach in Thränen aus.

„Grüß Gott, Frau Mallner!“ sagte auf einmal eine Stimme in deutscher Sprache neben ihr, und sich umwendend, gewahrte sie einen jungen Mann, dessen ganzes Gesicht strahlte in freudiger Ueberraschung, als er fortfuhr: „Das nenne ich Glück! Gleich bei meinem ersten Ausgange in Kairo treffe ich mit Ihnen zusammen!“

Er mußte der jungen Frau wohl als ein Helfer in der Not erscheinen, denn sie atmete auf bei seinem Anblick, aber sie wurde zugleich dunkelrot. „Ach, Herr Doktor!“

„Zu Befehl! Doktor Bertram, wohlbestallter Schiffsarzt vom Lloydschiffe ‚Neptun‘, hat die Ehre, sich zu melden. Also haben Sie mich doch nicht ganz vergessen, gnädige Frau? Ich hörte freilich nichts weiter von Ihnen, seit wir Sie in Alexandrien landeten. Aber was ist Ihnen denn, Sie sehen ja ganz verstört aus?“

„Ich ängstigte mich so,“ gestand Selma. „Ich wurde im Gedränge von meiner Schwägerin getrennt und nun bin ich ganz allein in dem Menschengewühl –“

„Jetzt nicht mehr, denn jetzt bin ich da,“ erklärte der junge Arzt, indem er sich wie ein Baum vor der Mauernische aufpflanzte. „Seien Sie ganz unbesorgt, gnädige Frau, ich bleibe an Ihrer Seite.“

„Ich – ich danke Ihnen,“ sagte Selma schüchtern. „Wenn Sie mir nur helfen wollten, meine Schwägerin aufzufinden!“

„Das sollten wir ruhig abwarten,“ meinte Doktor Bertram, der gar keine Eile zu haben schien, auch diese zweite Reisebekanntschaft zu erneuern. „Fräulein Mallner wird schon irgendwo wieder zum Vorschein kommen!“

„Nein, nein, ich habe schon zu lange gewartet,“ rief die junge Frau ängstlich. „Bitte, helfen Sie mir Ulrike suchen.“

„Wie Sie befehlen.“ Er bot ihr den Arm, Selma zögerte, ihn anzunehmen: sie war an solche Aufmerksamkeiten gar nicht gewöhnt. Aber der Doktor ließ ihr keine Zeit zum Besinnen, sondern bemächtigte sich ohne weiteres ihres Arms und führte sie mitten hinein in das Straßengewühl.

Der junge Arzt, der am Ende der Zwanzig stehen mochte, war eine stattliche hübsche Erscheinung. In dem von Sonne und Seeluft gebräunten Antlitz blitzte ein Paar lustiger, brauner Augen und die Marinemütze mit dem Abzeichen des Lloyd saß keck und schief auf dem dunklen, leicht gekrausten Haar. Er war offenbar sehr vergnügt über dies unerwartete Zusammentreffen und über seine Beschützerrolle und es gelang ihm auch, seine Schutzbefohlene etwas zutraulicher zu machen. Die kleine zarte Frau hing wie ein Kind an seinem Arme, aber sie kam sich auf einmal so geschützt und geborgen vor, antwortete auch bald nicht mehr so scheu und einsilbig wie im Anfange und lachte sogar bisweilen über die lustigen Bemerkungen ihres Begleiters. Dabei verlor sie aber den Zweck ihres Ganges einigermaßen aus den Augen und Fräulein Ulrike Mallner trat etwas in den Hintergrund.

Aber diese Dame wußte sich schon rechtzeitig wieder in den Vordergrund zu stellen. Urplötzlich tauchte sie in Lebensgröße vor den beiden auf und schoß wie ein Stoßvogel auf die verlorengegangene Schwägerin los. „Selma, habe ich Dich endlich! Du warst –“ sie verstummte urplötzlich und stand da wie eine Salzsäule. Die unerhörte Thatsache, die Witwe ihres Bruders am Arme eines fremden Mannes zu sehen, raubte ihr für den Augenblick Sprache und Bewegung.

[69] Als das streitbare Fräulein den Begleiter ihrer Schwägerin erkannte, kam ihr endlich die Sprache wieder, und sie fuhr in sehr gedehntem Tone fort:

„Herr Doktor Bertram – wo kommen Sie denn her?“

„Direkt von Alexandrien,“ versetzte der junge Arzt, indem er die Hand grüßend an die Mütze legte. „Ich hatte das Vergnügen, Frau Mallner zu treffen und ihr meinen Beistand anzubieten, um Sie wieder aufzufinden, mein Fräulein.“

„So – nun jetzt bin ich wieder da,“ sagte Ulrike, die diesen Beistand sehr überflüssig zu finden schien. „Ich begreife nicht, [70] Selma, wie Du so unachtsam sein konntest, mich aus den Augen zu verlieren. Komm, wir wollen nach Hause!“

Selma wollte sich gehorsam von ihrem Begleiter losmachen, aber dieser hielt sehr nachdrücklich ihren Arm fest und versetzte, ganz unbekümmert um den sehr deutlichen Wink:

„Frau Mallner ängstigt sich in dem Menschengewühl und es ist auch wirklich lebensgefährlich hier in der Muski. Sie gestatten wohl, daß ich Sie noch eine Strecke weit begleite.“

Das Fräulein sah ihn von oben bis unten an, ob dieser Keckheit. „Wir danken, Herr Doktor, Sie können es uns getrost überlassen, allein – ja, was soll denn das heißen?“

Mit diesem entrüsteten Ausrufe unterbrach sie sich plötzlich, denn sie hatte eine ganz merkwürdige Berührung an ihrem Hute gespürt, und sich umwendend, gewahrte sie dicht über ihrem Kopfe den langen Hals eines Kamels, das einen schwarzbraunen Aegypter trug. Es konnte augenblicklich in dem Gedränge nicht vorwärts und benutzte diese Muße dazu, um mit harmloser Neugier den Hut der Dame zu untersuchen, aber da kam es bei dieser übel an. Sie hob den Sonnenschirm und gab dem Tiere einen so nachdrücklichen Schlag auf die Nase, daß es erschrocken zurückschnellte, während der Reiter in ein lautes, drohendes Geschrei ausbrach.

„Ja, schrei nur, Du Affengesicht!“ rief Ulrike, noch immer im hellen Zorn. „Denkst Du vielleicht, ich werde mich von diesem afrikanischen Untier so ohne weiteres auffressen lassen? Dergleichen verbitte ich mir ein für allemal!“

„Die Kamele nähren sich für gewöhnlich nicht von lebenden Menschen,“ sagte der junge Schiffsarzt lachend. „Das Tier war nur neugierig, es wollte Ihnen nichts Böses thun.“

„So wollte es meinen Hut fressen und den gebe ich auch nicht her,“ beharrte das Fräulein. „Aber nun vorwärts, daß wir endlich herauskommen aus diesem Hexensabbath. Mein Lebtag gehe ich nicht wieder in diese verwünschte Muski!“

„Ja, ohne Begleitung ist das auch für Damen nicht ratsam,“ stimmte Doktor Bertram sehr bereitwillig bei. „Aber unter dem Schutz eines Herrn –“

„Wir haben Begleitung,“ schnitt ihm Ulrike das Wort ab.

„Doktor Walter erwartet uns bei den Bazaren.“

Wenn sie glaubte, damit den unwillkommenen Begleiter los zu werden, so irrte sie sich, er rief in freudiger Ueberraschung:

„Ah, Kollege Walter, den wollte ich ohnehin aufsuchen! Ich habe ihn erst kürzlich in Namleh bei einem Landsmann getroffen. Den muß ich sofort begrüßen!“ Dabei hielt er seine Dame unbeirrt fest und steuerte seelenvergnügt mit ihr durch das Gedränge. Die arme Selma stand dabei Todesangst aus, sie wußte, daß sie diese Begleitung werde büßen müssen, so unschuldig sie daran war, und atmete förmlich auf, als sie endlich den Eingang der Bazare erreichten. Doktor Walter, dessen Suchen natürlich erfolglos geblieben war, wartete hier bereits und rief ihnen entgegen: „Nun, da ist ja meine verloren gegangene Patientin! Sieh da, Kollege Bertram! Also haben Sie Wort gehalten und sind auch einmal nach Kairo herüber gekommen? Das freut mich!“

Der junge Arzt schien sich über dies Zusammentreffen noch weit mehr zu freuen, denn er begrüßte den älteren Kollegen so stürmisch, daß dieser ihn ganz verwundert anschaute. Uebrigens schloß er sich ohne weiteres der kleinen Gesellschaft an, war aber nunmehr genötigt, hinter den beiden Damen herzugehen. Fräulein Mallner hatte sich in dem Augenblick, wo die Herren einander begrüßten, ihrer Schwägerin bemächtigt und ließ sie nicht wieder los.

Am Ausgange der Muski machte sie überhaupt jeder ferneren Begleitung ein Ende, indem sie einen Wagen herbeiwinkte und kurz und bündig zu Walter sagte: „Wir fahren nach Hause – adieu!“

„Aber das Wetter ist so wundervoll,“ versuchte Bertram einzuwerfen. „Wäre es nicht besser –“

„Wir fahren!“ unterbrach ihn das Fräulein, mit einem niederschmetternden Blick. „Vorwärts, Selma, steig’ ein – adieu!“

Sie stellte sich dicht vor den Schlag, weil sie sah, daß der junge Schiffsarzt Miene machte, ihrer Schwägerin beim Einsteigen zu helfen. Dann schob sie Selma in den Wagen, stieg gleichfalls ein und in der nächsten Minute fuhren sie davon.

„Fräulein Mallner ist eine sehr kriegerisch angelegte Natur,“ sagte Bertram lachend, indem er dem Wagen nachsah. „Sie kommandiert wie ein Unteroffizier und schleppt ihre Schwägerin davon wie eine eroberte Beute. Eine liebenswürdige Verwandtschaft!“

„Ja, es ist eine merkwürdige Dame,“ stimmte Walter bei. „Sie und ich sind nachgerade dahin gelangt, uns mit aller gegenseitigen Hochachtung so grob wie nur möglich zu behandeln. Auf diese Weise kommen wir aus. Aber wie ist’s, Kollege, darf ich Sie gleich mit nach Hause nehmen? Ihre Zeit wird sehr knapp sein, denn der ‚Neptun‘ liegt ja immer nur drei Tage vor Anker in Alexandrien, aber ein paar Stunden müssen Sie uns jedenfalls schenken!“

„Der ‚Neptun‘ ist schon wieder auf der Rückfahrt. Ich habe einen vierwöchigen Urlaub genommen, um mir Kairo einmal gründlich anzusehen. Man muß das doch kennenlernen.“

Der junge Arzt warf das anscheinend ganz unbefangen hin, aber Walter stutzte und sah ihn scharf an.

„Jetzt, in der Hauptsaison des Lloyd nehmen Sie Urlaub, um sich hier in Kairo zu amüsieren? Das könnte ich mir nicht leisten. Ich habe schon Mühe genug gehabt, mich für die acht Tage in Ramleh frei zu machen, und da lag eine ganz besondere Veranlassung, die Hochzeit eines Freundes, vor.“

„Ja, Sie lassen in solchem Falle auch Ihre ganze große Praxis im Stich. Auf dem Schiffe handelt es sich ja nur darum, daß überhaupt ein Arzt da ist, und ein junger Kollege aus Triest, der vorläufig noch keine Stellung hat, vertritt mich einstweilen. Aber nun eine Frage. Sie nannten Frau Mallner vorhin Ihre Patientin, haben Sie die Behandlung übernommen? Das trifft sich ja ausgezeichnet!“

„Trifft sich? Wieso?“

„Nun, ich meine das natürlich vom medizinischen Standpunkte aus. Der vorliegende Fall scheint sehr interessant zu sein.“

„Daß ich nicht wüßte, er liegt im Gegenteil sehr einfach. Sie hatten also Veranlassung, sich auch damit zu beschäftigen? War Frau Mallner krank während der Ueberfahrt?“

„Das nicht, ihre Schwägerin war seekrank und konnte während der ganzen Fahrt ihre Kabine nicht verlassen, die junge Frau dagegen kam mit einem leichten und ganz kurzen Anfall am ersten Tage davon. Ich verordnete ihr, möglichst viel auf Deck zu sein, da die frische Seeluft ihr wohlthat –“

„Und da haben Sie den interessanten Fall gründlich studiert,“ ergänzte Walter mit vollkommen ernster Miene. „Ja, wir Aerzte können das nicht lassen, auch wenn uns die Sache eigentlich nichts angeht.“

„Ich bin aber noch keineswegs im klaren darüber,“ sagte Bertram, der in seinem Eifer und seiner Ungeduld, den Kollegen zum Reden zu bringen, den Spott gar nicht merkte. „Vom bloßen Sehen und Berichten läßt sich da wirklich nichts feststellen, dazu gehört eine Untersuchung, die Sie jedenfalls vorgenommen haben. Ist der Fall ein schwerer?“

„Je nachdem – es kommt ganz auf die Behandlung an.“

„Auf die Behandlung? Wie meinen Sie das? Ist wirklich ein Lungenleiden vorhanden? Ist es ernster Natur? Mein Gott, Kollege, so reden Sie doch endlich!“

Doktor Walter war boshaft genug, noch einige Sekunden mit der Antwort zu zögern, dann aber sagte er mit einem bedeutsamen Achselzucken: „Nach allem, was ich sehe und höre, ist der Fall allerdings ernst, so ernst, wie er überhaupt nur sein kann.“

„Um Gotteswillen!“ fuhr der junge Arzt so bestürzt auf, daß der Aeltere den angenommenen Ernst aufgab und ihm lachend die Hand auf die Schulter legte.

„Strafe muß sein! Wenn Sie hartnäckig darauf bestehen, mir etwas vorzulügen, so bezahle ich mit gleicher Münze. Uebrigens bleibe ich dabei, der Fall ist sehr ernst – bei Ihnen nämlich! Also lassen Sie gefälligst den medizinischen Standpunkt fahren und beichten Sie, sonst erfahren Sie nichts von mir, keine Silbe.“

In das hübsche, gebräunte Antlitz des jungen Mannes stieg eine dunkle Röte und er sah stumm zu Boden, während Walter fortfuhr: „Der lange Urlaub in dieser Jahreszeit war mir gleich verdächtig, jetzt begreife ich ihn allerdings. Gestehen Sie es nur ein, Sie haben sich verliebt in die junge Frau, gründlich verliebt! Sie sind eigens nach Kairo gekommen, um die Bekanntschaft fortzusetzen, und wollen nun vor allen Dingen wissen, ob Sie überhaupt werben können und dürfen. Wir Aerzte kennen ja am besten die Gefahr der Vererbung bei Lungenkrankheiten oder wollen Sie jetzt noch leugnen?“

„Nein, nein, ich gebe alles das zu!“ rief Bertram. „Aber spannen Sie mich auch nicht länger auf die Folter und sagen Sie mir die Wahrheit. Darf ich –?“

„Wenn’s durchaus nicht anders geht – ja! Von Schwindsucht ist hier keine Rede, es handelt sich nur um eine hochgradige [71] Erschöpfung des ganzen Nervensystems. Die arme kleine Frau ist bei der jahrelangen Pflege des alten Mannes, den sie, wie es scheint, halb gezwungen nahm, in der unerhörtesten Weise angestrengt worden. Sie ist fast niemals aus dem Krankenzimmer hinausgekommen, hat die Nächte hindurch wachen müssen und der selige Martin und seine Schwester werden auch das möglichste gethan haben, ihr das Leben schwer zu machen. Als sie nach seinem Tode selbst erkrankte, wurde sie ebenso rücksichtslos behandelt: Fräulein Mallner mit ihrer Berserkernatur weiß ja gar nicht, was Schonung ist, und da kam es dann schließlich soweit, daß nur das energische Eingreifen des Geheimrats Felder einem wirklich unheilbaren Leiden vorbeugte.“

„Aber er hat doch von einem Lungenleiden gesprochen,“ warf Bertram ein, der mit atemloser Spannung zuhörte.

„Ja, er war gescheit genug, mit der Schwindsucht zu drohen, weil diese Reise eine Lebensfrage für die junge Frau war, und weil sich ihre Schwägerin sonst nun und nimmermehr dazu hätte bringen lassen. Unser berühmter Kollege wußte so genau wie ich, daß Brust und Lunge bei unserer Patientin vollkommen gesund sind, daß sie überhaupt gar keine Anlage zu einer solchen Krankheit hat. Das Nervenleiden ist zu beseitigen, die vier Wochen hier in Kairo haben schon überraschenden Erfolg gehabt, und wenn Frau Mallner den Winter hier bleibt, bürge ich für ihre Herstellung.“

„Hurra, dann wird geheiratet!“ rief der junge Arzt mit ausbrechendem Jubel. „Kollege, liebster, bester Kollege, nehmen Sie es mir nicht übel, aber für die Nachricht muß ich Ihnen um den Hals fallen, es geht nicht anders!“ Und damit überfiel er wirklich auf offener Straße den Kollegen mit einer herzhaften Umarmung.

„Nur nicht so zuversichtlich,“ warnte dieser lachend. „Die Sache ist noch keineswegs ausgemacht. Ich dächte, Sie hätten schon vorhin einen Vorgeschmack davon erhalten, was Ihnen bei Ihrer Werbung bevorsteht.“

„Sie meinen den Kampf mit dem Drachen, der meinen Schatz bewacht? Pah, den fürchte ich nicht!“

„Nehmen Sie die Sache nicht zu leicht. Die junge Frau ist grenzenlos verschüchtert und unselbständig. Sie wird es gar nicht wagen, sich der Bevormundung ihrer Schwägerin zu entziehen, und diese hat sie, wie es scheint, zu ewiger Witwentrauer verdammt.“

„Jawohl, sie führt das Gespenst des seligen Martin immer im Koffer mit sich und läßt es bei jeder Gelegenheit auftauchen, um die arme Selma zu schrecken. Mich schreckt sie nicht damit, ich schlage mich herum mit dem seligen Bruder und der lebendigen Schwester. Ich hatte nur eine Furcht und die haben Sie mir, Gott sei Dank, genommen. Alles andere schlage ich aus dem Felde!“

Das Gesicht des jungen Arztes strahlte in so glückseligem, siegesgewissem Uebermut, daß Walter ihm herzlich die Hand hinstreckte.

„Nun denn, Glückauf dazu! Aber Sie werden den Kriegsschauplatz verlegen müssen, denn ich schicke die beiden Damen schon in den nächsten Tagen nach Luksor. Jetzt aber kommen Sie mit zu meiner Frau, da wollen wir gemeinschaftlich den Angriffsplan überlegen. Ich wiederhole es Ihnen, leicht ist die Sache nicht. Gnade Gott der armen kleinen Frau, wenn die gestrenge Schwägerin erst dahinter kommt, was bei den medizinischen Studien auf Deck eigentlich passiert ist!“

Damit ergriff er den Arm seines jungen Kollegen und zog ihn mit sich fort.




Bei dem deutschen Generalkonsul fand eine größere Festlichkeit statt. Er versammelte vor seiner Abreise noch einmal den ganzen Freundes- und Bekanntenkreis, und dazu gehörte so ziemlich alles, was Kairo an hervorragenden Persönlichkeiten aufzuweisen hatte.

Die weiten, lichtstrahlenden Gesellschaftsräume des Osmarschen Hauses machten einen blendenden Eindruck; denn hier vereinigte sich der moderne Luxus mit echt orientalischer Pracht. Die schweren Goldstickereien der Stoffe, welche die Wände bis zur halben Höhe bedeckten, die kostbaren Teppiche, die auf dem Boden, auf den Diwans oder als Vorhänge an den Thüren ihre leuchtenden Farben zeigten, all die zierlichen oder prächtigen Werke arabischer Kunst aus alter und neuer Zeit, welche die Salons schmückten, gaben diesen etwas Phantastisches, und die Fächer der Palmen, die hier einen Ruhesitz überschatteten, dort eine kleine Fontäne umgaben, erinnerten vollends daran, daß man sich unter einem fremden Himmel befand.

Die Gesellschaft, welche sich in diesen Räumen bewegte, trug ein ähnliches Gepräge. Zwischen den Seiden- und Atlasroben der Damen, den Uniformen der Herren tauchte überall der orientalische Fez auf. Die deutsche Kolonie war natürlich in erster Reihe vertreten, aber auch viele der englischen Offiziere mit ihren Damen waren anwesend, einige hohe ägyptische Würdenträger und all die Fremden und Einheimischen, für die das glänzende gastfreie Haus einen Mittelpunkt bildete. Das alles wogte und flutete durcheinander. Was nur Anspruch darauf erhob, zur ersten Gesellschaft von Kairo zu gehören, das war hier erschienen.

Herr von Osmar, seine Tochter zur Seite, empfing und begrüßte die Gäste. Zenaide, die früh ihre Mutter verloren, hatte es auch schon früh gelernt, die Dame des Hauses zu spielen, und sie that das mit ebensoviel Anmut wie Sicherheit. Man konnte es dem Konsul nicht verdenken, wenn er keine Eile hatte, sie zu vermählen; er verlor zu viel, wenn sie aus seinem Hause schied.

Lord Marwood schien sich solchen Erwägungen allerdings nicht hinzugeben. Jetzt, wo er der Einwilligung des Vaters sicher war, wagte er es auch, den Anschein der Berechtigung in seine ganz offen dargebrachten Huldigungen zu legen, und die kühle Aufnahme derselben beirrte ihn durchaus nicht. Er war unausgesetzt an der Seite der jungen Dame; wo sie auch weilte, wohin sie sich wandte, überall tauchte die hohe Gestalt des Engländers neben ihr auf, und dabei gab er sich offenbar Mühe, so liebenswürdig wie nur möglich zu sein.

Sonneck und Ehrwald waren gleichfalls anwesend. Der Konsul hatte den jungen Mann, der wochenlang in seinem Hause verkehrt hatte, heute füglich nicht ausschließen können, und es war ja auch keine Gefahr mehr bei der Sache, da die Trennung unmittelbar bevorstand. Zu der ihm so dringend empfohlenen Beobachtung fand Herr von Osmar allerdings jetzt keine Zeit, er wurde als Wirt von allen Seiten in Anspruch genommen und mußte mit aller Welt sprechen, aber er sah zu seiner Beruhigung, daß Lord Marwood die Beobachtung übernommen hatte. Dieser würde es schon zu verhindern wissen, daß nicht etwa in letzter Stunde noch eine unliebsame Annäherung erfolgte.

Augenblicklich befand sich der Konsul im Gespräch mit einem alten Herrn, der soeben erst gekommen war und den er jetzt einigen Mitgliedern der deutschen Kolonie vorstellte: „Herr Professor Leutold, unser Landsmann, dessen Name Ihnen jedenfalls bekannt sein wird und der uns nach langer Zeit einmal wieder mit seinem Besuche erfreut.“

Die Herren verbeugten sich. Der Name des deutschen Gelehrten hatte wie der Sonnecks einen Klang, der weit über sein Vaterland hinaus reichte. Er selbst zeigte trotz seiner weißen Haare in Sprache und Bewegungen noch eine jugendliche Rüstigkeit. Das geistvolle, scharfgezeichnete Gesicht verriet freilich, daß er bereits an der Schwelle der Siebzig stand, aber die Augen leuchteten noch hell und ungetrübt hervor unter den weißen Brauen.

„Ja, es sind beinahe zehn Jahre her, daß ich in Kairo war,“ sagte er. „Wenn man auf einem deutschen Lehrstuhl sitzt, kann man sich selten genug Zeit nehmen zu solchen Ausflügen. Jetzt aber habe ich mich für einige Monate frei gemacht und denke, mich nun hier von all den Amtspflichten zu erholen. Sie wissen ja, die ägyptischen Studien sind von jeher mein Steckenpferd gewesen und ich gedenke die Königsgräber von Theben diesmal gründlich zu durchforschen.“

„Und das nennen Sie eine Erholung?“ rief Osmar lachend. „Ich gratuliere zu den Studien in Staub und Wüstensand! Da werden wir uns also baldigst wiedersehen, Sie nehmen doch wohl Ihren Aufenthalt in Luksor?“

„Das weiß ich wirklich noch nicht,“ versetzte der Professor. „Ich überlasse mich darin ganz der Führung Sonnecks, er weiß hier ja am besten Bescheid und wird uns das Hauptquartier aussuchen.“

Der Konsul stutzte, er wußte allerdings, daß die beiden Herren befreundet waren, aber die letzte Bemerkung befremdete ihn doch.

„Geht denn Sonneck gleichfalls nach Luksor?“ fragte er. „Ich weiß ja keine Silbe davon.“

„Es wurde auch erst gestern beschlossen. Ich habe ihn bestimmt, mitzugehen, er ist augenblicklich noch frei, allerdings zu seinem großen Mißvergnügen, aber es ist doch schließlich gleich, ob er es hier oder in Theben abwartet, daß die Herren am grünen Tisch ihm endlich die Möglichkeit geben, aufzubrechen. Er will ja ohnehin den Weg nilaufwärts nehmen, da muß er Luksor in jedem Fall passieren, und mir ist seine Führung und Begleitung von sehr großem Wert.“

„Allerdings – und Herr Ehrwald geht natürlich auch mit?“

[74] „Ehrwald? Ach so, der junge Landsmann, den Sonneck in Deutschland aufgegriffen hat und mitnehmen will auf seinem Zuge. Nebenbei gesagt, ein prächtiger Bursche – ja, der geht auch mit.“

In dem Gesichte des Herrn von Osmar malte sich eine sichtlich unangenehme Ueberraschung bei dieser Eröffnung. Er war zwar überzeugt, daß die eifersüchtigen Befürchtungen Lord Marwoods übertrieben seien, und glaubte nicht an eine ernstliche Neigung seiner Tochter, aber dieser Entschluß Sonnecks kam ihm doch äußerst ungelegen, denn er brachte den „kecken jungen Glücksritter“ aufs neue in die Nähe Zenaides. Für den Augenblick ließ sich indessen nichts thun, man mußte den tückischen Zufall hinnehmen.

Der Konsul brach deshalb ab, sprach von anderen Dingen und überließ nach einigen Minuten den Professor den deutschen Herren, während er sich zu Lieutenant Hartley wendete, der eben eintrat.

Reinhart Ehrwald verkehrte inzwischen ganz unbefangen in der Gesellschaft, wo er trotz seines kurzen Aufenthaltes in Kairo bereits heimisch geworden war. Der Sieg, den er damals beim Rennen gewann, und das tollkühne Reiterstück, das er dabei zum besten gab, hatten das allgemeine Interesse auf ihn gelenkt und seine Persönlichkeit war ganz danach, es dauernd zu fesseln. Er hatte entschieden Glück in diesen Kreisen, zumal bei den Damen, und gerade das Stürmische, Gewaltsame, das in seinem Charakter lag und das er nie ganz zu beherrschen vermochte, sicherte ihm seine Erfolge. Er war etwas so ganz anderes als die jungen Herren, denen man dutzendweise in den Salons begegnete, die frische Ursprünglichkeit seiner Natur gewann jeden und wußte jeden festzuhalten.

Er hatte bei seinem Kommen selbstverständlich Fräulein von Osmar begrüßt, zu einem längeren Gespräche aber keine Gelegenheit gefunden, da sie die Pflichten der Wirtin zu üben hatte, und überdies stand der langweilige Lord Marwood wie eine Schildwache an ihrer Seite. Reinhart bezeigte keine Lust, seine Unterhaltung mit der jungen Dame der Kontrolle Seiner Lordschaft zu unterbreiten, und wandte sich nach einigen Minuten der übrigen Gesellschaft zu, die sich jetzt zwanglos in die einzelnen Räume verteilte. Man fand sich in größeren oder kleineren Gruppen zusammen, man begrüßte sich und plauderte in allen Sprachen. Es war das gewohnte Treiben der Salons, nur daß es hier farbenreicher, vielgestaltiger und durch die Menge der verschiedenartigen Elemente auch interessanter erschien.

Die Glasthüren des großen Empfangssaales, die auf die Terrasse hinausgingen, waren der Hitze wegen weit geöffnet. Dort stand Sonneck im Gespräch mit dem Professor Leutold. Die beiden Herren waren seit langer Zeit befreundet. Sonneck hatte vor zwanzig Jahren als junger Student die Vorlesungen an der Universität gehört, wo der Professor schon damals wirkte, und wenn er inzwischen auch selbst zur Berühmtheit und zu einem Weltruf gelangt war, so bewahrte er dem verehrten Lehrer doch die alte Anhänglichkeit. Sie hatten von Deutschland gesprochen, von der Universität und den dortigen Bekannten, als Sonneck plötzlich fragte:

„Wissen Sie etwas Näheres von dem Professor Helmreich? Ich habe ihn nicht gesehen, als ich kürzlich in Europa war, denn auf meine briefliche Anfrage erhielt ich ein kurze, kühle Antwort, aus der ich herauslas, daß mein Besuch ihm nicht erwünscht sei. Infolgedessen unterließ ich es, ihn aufzusuchen.“

„Daran thaten Sie sehr recht,“ entgegnete Leutold. „Ich bin im vergangenen Sommer bei ihm gewesen, als ich einen Ausflug in die Berge machte; er ist aber so verbittert und menschenfeindlich geworden, daß das Zusammensein sehr unerquicklich war. Ich begreife überhaupt nicht, wie ein Mann von der Vergangenheit und dem Wissen Helmreichs sich in einen solchen Ort vergraben kann. Dies Kronsberg ist ein kleines abgelegenes Bergnest, das nicht die geringste geistige Anregung bietet. Freilich, er will ja auch keinen Verkehr, lebt einzig und allein seinen Studien und ist ganz außer sich darüber, daß sich in unmittelbarer Nähe der Stadt ein freilich noch sehr bescheidener Badeort entwickelt, weil ihn das in seiner Einsamkeit stört.“

„Sie wissen es ja, was ihn in die Einsamkeit getrieben hat,“ sagte Sonneck halblaut.

„Ja freilich, die Geschichte machte damals Aufsehen genug, aber deshalb giebt man doch nicht sein Amt und seinen ganzen Freundeskreis auf, wie Helmreich es that. Für ihn hatte alle Welt doch nur Mitleid und Teilnahme.“

„Und eben das ertrug sein Stolz nicht. Ueberdies – es war sein einziges Kind, das er bis dahin geliebt hatte mit der ganzen Kraft seiner herben Natur; daß der Schlag gerade von dieser Seite kam, konnte er nicht verwinden.“

„Nun, die Sache wurde aber doch durch die Heirat wieder ausgeglichen. Jeder andere Vater hätte sich da erweichen lassen und schließlich verziehen. Helmreich hielt seinen Groll fest bis über das Grab hinaus. Die junge Frau ist ja wohl gestorben?“

„Vor zwei Jahren! Und vor vier Wochen habe ich auch Ludwig von Bernried zu Grabe geleitet.“

„Hier in Kairo?“ rief der Professor überrascht. „Wie ist er denn hierher gekommen?“

„Wie so manche gescheiterte Existenz, die ihr Heil schließlich in der Fremde sucht. Es war ein ruheloses, verfehltes Leben, das ein jäher Tod endigte. Ich habe ihn erst auf dem Sterbebette wiedergesehen.“ Sonnecks Stimme bebte hörbar bei den letzten Worten, auch Professor Leutold war ernst geworden.

„Ich weiß, Sie waren befreundet mit ihm,“ sagte er. „Und er zog Sie in die traurige Geschichte mit hinein. Haben Sie Helmreich Nachricht von dem Tode seines Schwiegersohnes gegeben?“

„Ich mußte es wohl, denn Bernried hat ein Kind hinterlassen, ein kleines Mädchen von acht Jahren, das nun ganz verwaist ist. Es soll in einigen Wochen nach Kronsberg reisen.“

Der Professor schüttelte bedenklich den Kopf.

„Ein Kind in dem Hause und bei dem Manne, der vollständig zum Sonderling wurde! Ein trauriges Los für die Kleine.“

„Das fürchte ich auch,“ stimmte Sonneck bei. „Aber das Kind hat sonst keine andere Zuflucht und der Großvater nimmt es auch mit aller Entschiedenheit in Anspruch.“

Vor ihm tauchte das Bild des kleinen sonnigen Wesens auf, mit dem rosigen Gesichtchen und dem frohen Kinderlachen, mit den Augen, die so sehr denen des Vaters glichen, wenn sie im jähen Trotze aufflammten, und kaum hörbar setzte er hinzu: „Armes Kind, was wird aus dir werden in solchen Händen!“

„Jetzt wollen wir uns aber mit den alten trüben Geschichten nicht die heitere Gegenwart verderben,“ sagte der Professor jovial. „Hier schwimmt ja alles in Vergnügen und der junge Herr da plätschert nun vollends darin wie ein Fisch im Wasser. Ja, die Jugend mit ihrer beneidenswerten Genußfähigkeit!“

Die letzten Worte galten Ehrwald, der soeben herantrat und lachend erwiderte: „Man muß ja leider mit dem Strome schwimmen, Herr Professor.“

„Nun, so unangenehm scheint Ihnen diese Beschäftigung gerade nicht zu sein,“ spottete Leutold. „Sie spielen ja den Liebenswürdigen bei dem ganzen weiblichen Kairo und, so viel ich bemerken konnte, mit unleugbarem Erfolge.“

„Ja, man verwöhnt ihn hier in jeder Hinsicht,“ meinte Sonneck. „Und er nimmt das so unbekümmert hin, als ob es sich ganz von selbst verstände. Es ist Zeit, daß wir fortkommen, sonst verdreht man Dir noch vollständig den Kopf.“

„Glauben Sie, daß ich ihn mir so leicht verdrehen lasse?“ fragte der junge Mann mit spöttisch sich kräuselnden Lippen.

„Gönnen Sie es ihm doch heute noch,“ fiel Leutold ein, „die Herrlichkeit nimmt ja bald ein Ende. In Zukunft kann er nur noch den schwarzen oder kaffeebraunen Schönheiten den Hof machen, und das dürfte doch nicht ganz nach seinem Geschmack sein. Ihnen ist es wohl nicht recht, Herr Ehrwald, daß wir jetzt schon das glänzende Kairo hinter uns lassen? Ich kann es mir denken!“

„Mir?“ rief Reinhart aufflammend. „Wenn Sie wüßten, wie dankbar ich Ihnen bin, daß Sie Herrn Sonneck zum Aufbruch nach Luksor bestimmten! Es ist doch wenigstens eine Erlösung von dem thatenlosen Harren und Warten, das uns nachgerade zur Folter wird, wenigstens ein Schritt vorwärts auf unserem Wege!“

„Nun, der ‚Schritt‘ bedeutet immerhin fünf Tagereisen,“ sagte lächelnd der Professor, dem das ungestüme Vorwärtsdrängen des jungen Mannes zu gefallen schien. „Aber da ist Doktor Walter! Ich muß ein paar Worte mit ihm sprechen: ich möchte mir vor der Abreise das Deutsche Hospital ansehen. Kommen Sie, Sonneck!“

Die beiden Herren gingen und Ehrwald war im Begriff, ihnen zu folgen, blieb aber plötzlich stehen. Während er seine Artigkeiten überall verschwendete, hatte er es gar nicht gesehen, daß ein Paar dunkler Augen ihn suchte und immer wieder suchte. Jetzt sah er es und auch sein Blick hing minutenlang an der jungen Herrin des Hauses, die sich eben losmachte von dem Kreise, der sie mit Aufmerksamkeiten und Huldigungen aller Art umgab.

[85] Zenaide von Osmar war eine liebreizende Erscheinung, und heute, im Festschmucke, mehr als je, aber auch bei ihr zeigte sich jene eigentümliche Vermischung des Europäischen mit dem Morgenländischen, die sich in der ganzen Umgebung ausprägte. Ueber dem weißen, golddurchwirkten Kleide von halb durchsichtigem Stoff trug sie das ärmellose, orientalische Jäckchen von dunklem Sammet mit reicher Goldstickerei. Im Haar leuchtete nur eine einzige Purpurrose, ein Strauß der gleichen Blumen schmückte die Brust, aber das kostbare Geschmeide, das an Hals und Armen funkelte, verriet, daß die junge Dame die Tochter eines der reichsten Männer Kairos war.

Sie schritt langsam durch den Saal und trat bald zu dieser bald zu jener Gruppe, hier ein paar Worte, dort einen Gruß oder ein Lächeln spendend. Das zwanzigjährige Mädchen war schon die vollendete Weltdame, die mit unbedingter Sicherheit alle Formen beherrschte. Nur die Augen redeten eine andere Sprache, diese dunklen feuchten Augen, in denen etwas lag wie Sehnsucht nach einer ganz anderen Welt, als dies bunte glänzende Gewühl sie ihr darbot. Der unvermeidliche Lord Marwood war natürlich dicht neben ihr und an der andern Seite ging Lieutenant Hartley, der in sehr beredten Worten seinem Kummer über die bevorstehende Abreise Ausdruck gab, von der er erst heute erfahren hatte.

„Also unwiderruflich in der nächsten Woche? Mein gnädiges Fräulein, können Sie es wirklich verantworten, Kairo so ganz verwaist zurückzulassen?“

„Ich glaube, Kairo wird sich zu trösten wissen,“ sagte Zenaide, die zerstreut zuhörte, mit einem flüchtigen Lächeln.

„Im Gegenteil, wir hüllen uns alle in die tiefste Trauer bis zu Ihrer Wiederkehr. Nicht wahr, Francis?“

„Ich wenigstens habe keine Veranlassung dazu,“ erklärte Marwood. „Herr von Osmar war so freundlich, mich nach Luksor einzuladen. Sie sind doch davon unterrichtet, mein gnädiges Fräulein?“

„Jawohl, Papa sagte es mir gestern bei meiner Rückkehr.“

Die Antwort klang sehr kühl und die väterliche Einladung wurde von der Tochter nicht wiederholt, wie es doch wohl die Artigkeit erfordert hätte. Der junge Lord schien das nicht zu bemerken, [86] Hartley aber rief mit komischer Entrüstung: „Natürlich, Du bist immer der Bevorzugte, Beneidenswerte! Guten Tag, Herr Ehrwald. Haben Sie es schon gehört, welcher Verlust uns allen bevorsteht? Sie bleiben ja auch noch einige Wochen in Kairo.“

„Das hat sich inzwischen geändert,“ erklärte Reinhart, der jetzt herantrat. „Unsere Abreise ist schon auf übermorgen festgesetzt, aber wir gehen einstweilen nur bis Luksor. Sonneck und Professor Leutold wollen gemeinsam die Königsgräber durchforschen.“

Ein zornerfüllter Blick, wie man ihn den matten Augen Marwoods gar nicht zugetraut hätte, traf den jungen Mann und dann wandte sich der Blick auf Zenaide. Sie sprach auch diesmal kein Wort der Zustimmung, der Einladung, aber ihre Augen strahlten in so verräterischer Glückseligkeit auf, daß Francis sich auf die Lippen biß. Hartley dagegen rief halb lachend, halb ärgerlich:

„Sie auch? Nun dann bleibt mir wahrhaftig nichts übrig, als einen Einfall der Madhisten herbeizuwünschen, damit mein Regiment schleunigst nach dem Nil kommandiert wird – selbstverständlich mit einer längeren Station in Luksor.“

Er unterbrach sich plötzlich und trat mit einer Verbeugung seitwärts, denn eben kam die Gemahlin seines Kommandanten angerauscht und nahm ihn und seinen Freund in Beschlag, zum großen Mißvergnügen dieses letzteren. Es half ihm nichts, daß er sich einer außerordentlichen Schweigsamkeit befleißigte, die Dame sprach umsomehr. Sie war weitläufig mit seiner Familie verwandt, wollte Nachrichten darüber haben und verwickelte ihn rettungslos in eine Unterhaltung, der er sich ohne direkte Unart nicht entziehen konnte. Er sah es trotzdem, daß Fräulein von Osmar im Gespräch mit Ehrwald sich dem Ausgange zuwandte und schließlich mit ihm auf die Terrasse hinaustrat.

Durch die große Mittelthür fiel ein breiter heller Lichtstreifen auf die Marmorfliesen, der übrige Teil der Terrasse lag im Halbdunkel. Im Gegensatz zu den heißen, menschenerfüllten Sälen mit ihrem grellen Lichte und ihrem glänzenden Treiben herrschte hier die vollste Stille und Einsamkeit. Dort standen Zenaide und Reinhart, zu ihren Füßen lag der Garten der Villa im nächtlichen Dunkel, aber aus diesem Dunkel stiegen süße Düfte empor und umwehten die beiden wie ferne, geheimnisvolle Grüße, über ihnen funkelte die leuchtende Sternenpracht des Nachthimmels. Aber diesmal verlor sich der Blick des jungen Mannes nicht in jene endlosen Weiten, er haftete auf der schlanken, weißen Gestalt, die dort an der Brüstung lehnte. Er hatte es ja auch gesehen, das Aufleuchten jener Augen bei der Nachricht, die ein Wiedersehen verhieß.

Sie sprachen deutsch miteinander und hatten bisher von gleichgültigen Dingen geredet, aber die Stimme Zenaidens klang gedämpft, verschleiert und der Ton Ehrwalds hatte eine eigentümliche Weichheit, die ihm sonst gar nicht eigen war.

„Lord Marwood wird Sie nach Luksor begleiten?“ fragte er.

„Wenigstens wird er uns dahin folgen. Mein Vater hat ihn eingeladen, ich –“ sie brach plötzlich ab und unterdrückte die Aeußerung, die sie schon auf den Lippen hatte.

„Sie hätten es nicht gethan?“ ergänzte Reinhart.

„Nein!“ erklärte Zenaide mit voller Bestimmtheit.

„Ich fürchte, er hat eine Ahnung davon,“ spottete der junge Mann. „Aber Seine Lordschaft besitzt die Tugend der Beharrlichkeit im höchsten Grade. Sie werden mir freilich das Gleiche vorwerfen, aber ich versichere feierlichst, daß ich unschuldig bin an dem Reiseplan, für den Professor Leutold allein verantwortlich ist, ich erfuhr erst gestern abend davon.“

„Sie verteidigen sich ja förmlich dagegen, als wenn es ein Unrecht wäre,“ sagte Zenaide lächelnd. „Warum denn?“

„Weil ich nicht auch ein unwillkommener Gast sein möchte. Die Herren werden Sie und Herrn von Osmar jedenfalls aufsuchen.“

„Gewiß, das ist doch selbstverständlich, ebenso wie unsere Freude an dem Besuch. Herr Sonneck ist ein Freund meines Vaters und steht unserem Hause sehr nahe.“

„Und ich?“

Zenaide schwieg.

„Und ich?“ wiederholte Reinhart. „Sie haben auch mir kein Wort der Zustimmung gesagt, als ich von unserem Reiseplane sprach. Ich weiß ja nicht einmal – ob ich kommen darf.“

Sie sprach auch jetzt nicht, aber in ihren Augen, die sie zu ihm emporhob, stand die Antwort und sie war deutlich genug. Er trat einen Schritt nähcr und beugte sich zu ihr nieder.

„Zenaide – darf ich kommen?“

Sie bebte leise zusammen, als sie ihren Namen von diesen Lippcn hörte, aber kein zorniger Blick, kein Verbot traf den Kecken, der sich unterfing, sie so anzureden. Ihm wurde eine Kühnheit verziehen, die sich Francis Marwood nie hätte erlauben dürfen, und er fühlte das Zugeständnis, das darin lag.

„Ein Glück, um das Dich ganz Kairo beneiden würde!“ hatte ihm Sonneck damals zugerufen. Ja, es war ein hoher Preis! Das schöne gefeierte Mädchen, an dessen Hand ein fürstliches Vermögen hing, und dieser Preis war sein, sobald er wollte! Reinhart hätte kein Mann sein müssen, wenn dies Bewußtsein ihn nicht berauscht hätte, wenn sein trotziges Selbständigkeitsgefühl, sein glühender Freiheitsdrang davor standgehalten hätten. All die phantastischen Zukunftsträume wichen zurück in weite Ferne, er sah jetzt auch nur die holde Wirklichkeit, die ihm zur Seite stand.

„Darf ich kommen?“ fragte er noch einmal, aber dringender, leidenschaftlicher.

„Ja,“ kam es leise von den Lippen Zenaidens, und wie einer plötzlichen Eingebung folgend, zog sie eine der Rosen aus dem Strauße, der ihre Brust schmückte, und reichte sie dem jungen Manne; sie wehrte ihm auch nicht, als er die Hand festhielt, die ihm die duftende Gabe spendete, und sie an seine Lippcn zog.

Aber in dem gleichen Augenblick fiel ein Schatten in den hellen Lichtkreis vom Saale her. Lord Marwood stand auf der Schwelle. Er konnte bei der halben Dämmerung, die hier draußen herrschte, den Handkuß wohl kaum gesehen haben, aber er sah, daß die beiden dicht nebeneinander standen in leiser angelegentlicher Unterhaltung und daß sie sofort verstummten bei seinem Nahen.

Langsam kam er näher und verbeugte sich vor der jungen Dame, während er Ehrwald nicht zu bemerken schien.

„Sie entziehen sich uns so ganz, gnädiges Fräulein? Man vermißt Sie sehr in der Gesellschaft und Herr von Osmar sucht Sie überall.“

Zenaide hatte sich rasch gefaßt, sie war zu sehr Weltdame, um auch nur mit einem Blick oder einer Bewegung zu verraten, wie unwillkommen ihr die Störung war. Sie wandte sich zu dem jungen Lord und erwiderte scheinbar unbefangen:

„Es ist so erstickend heiß in den Sälen! Papa hätte meinen Vorschlag annehmen und den Garten mit in unser Fest hineinziehen sollen, aber er fand das bedenklich in dieser Jahreszeit. Doch ich werde ihn jetzt wohl aufsuchen müssen.“ Sie neigte leicht das Haupt gegen die beiden Herren und verließ die Terrasse.

Marwood folgte ihr nicht, er hatte längst die Rose in der Hand Ehrwalds bemerkt und ein Blick auf den Strauß Zenaidens hatte ihm auch gezeigt, woher sie stammte. Seine Haltung war kalt und hochmütig wie immer, aber auf seinem Gesichte lag eine fahle Blässe. Es gab doch einen Punkt, wo die Kälte und Gleichgültigkeit seiner Natur nicht standhielt, und das war seine Neigung zu der schönen Tochter Osmars. Er sah es freilich, daß sie nicht erwidert wurde, aber mit der ganzen Zähigkeit und Hartnäckigkeit seines Charakters hielt er den Gedanken fest, Zenaide zu besitzen. Als er sich nun vollends in diesem Besitze bedroht sah, von einem Manne bedroht, den er unendlich tief unter sich glaubte, da flammte seine Eifersucht hell auf und er beschloß, um jeden Preis den kecken Glücksritter unschädlich zu machen.

„Sie sprachen vorhin die Absicht aus, nach Luksor zu gehen, Herr Ehrwald,“ begann er. „So viel ich weiß, haben Sie keine Einladung dorthin erhalten.“

Reinhart lehnte in sehr nachlässiger Haltung an der Brüstung und ebenso nachlässig klang sein Ton, als er erwiderte: „Haben Sie die Einladungen für Luksor zu vergeben, Lord Marwood? Das erfahre ich wirklich erst in diesem Augenblick, werde aber nicht verfehlen, Herrn Sonneck mitzuteilen, daß er sich bei Ihnen die Erlaubnis zu unserem Ausfluge holen muß.“

„Herr Sonneck und sein Begleiter verfolgen wissenschaftliche Zwecke,“ sagte Francis, der es unter seiner Würde hielt, den Spott zu bemerken. „Welchen Zweck verfolgen Sie?“

„Interessieren Sie sich so sehr dafür?“ lautete die kühle Gegenfrage. „Das ist mir sehr schmeichelhaft, doch bedaure ich, keine Auskunft darüber geben zu können.“

Die spöttische Ueberlegenheit seines Gegners reizte den jungen Lord um so mehr, als er ihr nicht gewachsen war. Es war überhaupt nicht seine Absicht, sich in einen Wortstreit mit diesem Menschen einzulassen, er bemerkte daher kurz und scharf: „Es ist nicht jedermanns Sache, ein unwillkommener Gast zu sein.“

[87] „Ganz meine Meinung!“ stimmte Reinhart bei. „Ich bin darin durchaus Ihrer Ansicht, Mylord. Ich sprach gerade vorhin über diesen Punkt mit Fräulein von Osmar.“

Er verharrte noch immer in seiner nachlässigen Stellung und spielte dabei herausfordernd mit der Rose. Das war zu viel für Francis Marwood, der schon diese Haltung als eine Beleidigung empfand und nur zu gut wußte, wohin die letzten Worte zielten; er richtete sich auf und mit dem ganzen verletzenden Hochmut, der ihm so meisterhaft zu Gebote stand, sagte er:

„Herr Ehrwald, ich mache Ihnen bemerklich, daß ich Ihre Anwesenheit in dem Hause des Herrn Osmar nicht für passend erachte.“

Reinhart blieb vollkommen ruhig und seine Stimme verriet nicht die mindeste Erregung, als er antwortete:

„Lord Marwood, ich mache Ihnen bemerklich, daß ich diese Aeußerung für eine Unverschämtheit erachte.“

„Mein Herr!“ fuhr Francis auf.

„Für eine Unverschämtheit oder Frechheit! – Sie können wählen zwischen den beiden Worten.“

Ein halb unterdrückter Ausruf der Wut entrang sich den Lippen Marwoods, er hob die geballte Fanst und machte eine Bewegung, als wollte er sich auf den Beleidiger stürzen. Da aber richtete sich dieser gleichfalls empor und stand drohend, mit blitzenden Augen vor ihm. „Wollen wir vielleicht eine Prügelscene hier aufführen? Das dürfte noch weniger passend sein für das Haus des Herrn von Osmar und ich bin es überhaupt nicht gewohnt, Streitigkeiten in solcher Weise auszufechten.“

Francis wurde dunkelrot bis an die Stirn, als sein Gegner ihn an die Pflichten des Anstandes erinnern mußte. Langsam ließ er den erhobenen Arm sinken. „Sie werden von mir hören!“ knirschte er, indem er ihm den Rücken wandte und die Terrasse verließ. Reinhart sah ihm nach und zuckte die Achseln. „Ein Duell so unmittelbar vor der Abreise — das giebt einen Sturm mit Herrn Sonneck! Pah, er braucht ja gar nichts davon zu erfahren, ich werde die Sache schon allein abmachen.“ Mit diesem Gedanken wandte er sich gleichfalls nach dem Saale, wo das Fest jetzt seinen Höhepunkt erreicht hatte. Das wogte, schimmerte und glänzte überall und der junge Mann schloß sich so unbekümmert der Gesellschaft wieder an, als sei die Begegnung, die er soeben gehabt hatte, nur ein ganz harmloser Wortwechsel gewesen. Er war bald hier, bald da, so daß Lieutenant Hartley, der ihn suchte, Mühe hatte, ihn aufzufinden. Der junge Offizier teilte durchaus nicht die Abneigung seines Freundes und pflegte heiter und unbefangen mit Ehrwald zu verkehren, jetzt aber näherte er sich ihm in sehr förmlicher Weise. „Ich werde mir erlauben, Sie morgen früh aufzusuchen, Herr Ehrwald,“ sagte er leise. „Es handelt sich um eine dringende Angelegenheit. Ich finde Sie doch zu Hause?“

Reinhart verneigte sich. „Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung. Was aber die fragliche Angelegenheit betrifft, so bitte ich sehr um möglichste Beschleunigung. Unser Dampfer geht übermorgen und ich möchte die Abfahrt nicht versäumen.“

Hartley sah ihn etwas verwundert an, diese sorglose Zuversicht im Angesicht eines Zweikampfes war ihm doch neu, aber er erwiderte ebenso artig und ebenso förmlich wie vorher: „Wir werden uns darin nach Ihren Wünschen richten. Auf morgen früh also!“

Sie tauschten noch einen Gruß aus und trennten sich dann. Ehrwald trat zu der Gruppe, deren Mittelpunkt Zenaide bildete, umschwärmt und gefeiert wie immer. Ihr Auge streifte ihn wie mit einer Frage. Sie fand es ja natürlich, daß er ihre Rose nicht offen vor aller Welt im Knopfloch trug, man hätte doch vielleicht erraten, woher sie stammte, denn diese leuchtenden Purpurblüten trug nur Eine heute abend, und sie war ihm dankbar für dies Zartgefühl. Er hatte die duftende Gabe wohl auf der Brust geborgen. Arme Zenaide! Wenn sie gewußt hätte, daß der Mann, den sie liebte, es gar nicht bemerkt hatte, als die Rose ihm vorhin bei dem Wortwechsel mit Lord Marwood entfiel. Sie welkte draußen auf dem Marmorboden der Terrasse. Reinhart hatte sie einfach – vergessen.




Die Morgendämmerung begann eben dem vollen Tageslichte zu weichen und die weißen Nebel, die über dem Nil lagerten, fingen an, unruhig zu wogen und zu wallen. Die sonst so belebte Straße, die von Kairo nach den Pyramiden hinausführte, war zu dieser frühen Stunde noch ziemlich einsam, nur einige Fellahweiber zeigten sich, die nach der Stadt wanderten, und jetzt wurde ein offener Wagen sichtbar, der von dort kam und in dem zwei Herren saßen. Er hatte etwa drei Viertel des Weges zurückgelegt, als die rasche Fahrt gehemmt wurde; die Herren stiegen aus, der jüngere gab dem Kutscher einige Weisungen, dann schritten beide querfeldein und nahmen die Richtung nach einem kleinen Palmengehölz, das eine Viertelstunde seitwärts von der großen Straße lag.

„Die Morgen sind vor Sonnenaufgang doch recht kalt hier im Orient,“ sagte der ältere, indem er sich fester in seinen Mantel hüllte. „Sie haben auch eine verwünscht frühe Stunde gewählt, Herr Ehrwald. Um acht Uhr wäre es auch noch Zeit gewesen.“

„Nein, dann sind wir nicht mehr sicher vor unliebsamen Störungen,“ versetzte Ehrwald, der nur ein leichtes Plaid über die Schultern geworfen hatte. „Dann pflegen die Touristen auszuschwärmen und die ganze Gegend unsicher zu machen. Ueberdies muß ich um neun Uhr wieder in Kairo sein, denn eine Stunde später reisen wir ab und ich möchte Herrn Sonneck und den Professor nicht warten lassen.“

Der andere, es war Doktor Bertram, sah ihn an und schüttelte den Kopf. „Sie scheinen mit aller Bestimmtheit einen glücklichen Ausgang anzunehmen. Sie haben wirklich eine beneidenswerte Zuversicht.“

„Soll ich die Sache etwa tragisch nehmen? Auf unserem Zuge in das Innere werden wir uns Tag für Tag mit der Gefahr herumschlagen müssen, da haben wir mit den Menschen, der Natur, den Elementen zu kämpfen – und hier handelt es sich um ein harmloses Duell.“

„Bei dem man sich gegenseitig als Scheibe dient. So harmlos finde ich das gerade nicht.“

„Nun derartige Annehmlichkeiten werden wir wohl noch öfter haben, wenn wir von feindlichen Stämmen angegriffen werden,“ lachte Reinhart. „Das ist eine kleine Vorübung. Lord Marwood will nun einmal schießen. Meinetwegen! Ich werde ihm das Vergnügen machen, er soll nur nicht verlangen, daß ich es ernsthaft nehme.“

„Der Lord schießt gut,“ sagte Bertram ernst. „Ich hörte es von seinem Sekundanten.“

„Möglich, aber ich schieße vermutlich noch besser und übrigens muß man sich in solchen Fällen auf das Glück verlassen. Mich hat es noch nie im Stich gelassen, ich bin so eine Art Sonntagskind. Wie oft schon ist es drunter und drüber gegangen in meinem Leben und schließlich blieb ich doch immer oben.“

„Aber wenn Lord Marwood fällt oder schwer verwundet wird, ist die Sache ebenso bedenklich für Sie,“ warf der junge Arzt ein. „Bei seiner Stellung in der Gesellschaft –“

„Er wird nicht fallen,“ unterbrach ihn Reinhart. „Das kostbare Leben Seiner Lordschaft wird der Welt und der Menschheit erhalten bleiben. Aber nun thun Sie mir den Gefallen, Herr Doktor, und legen Sie diese Leichenbittermiene ab, die so gar nicht zu Ihrem Gesicht paßt. Sie ist allerdings offiziell bei solchen Gelegenheiten, aber ich erlasse sie Ihnen, wenigstens solange bis Sie mich feierlichst zu Grabe geleiten.“

„Sie sind ein unverbesserlicher Spötter,“ sagte Bertram halb lachend. „Das hätte ich mir wirklich nicht träumen lassen, daß ich hier in Kairo noch Dienste als Sekundant leisten muß. Ich glaubte, Sie würden Herrn Sonneck darum ersuchen.“

„Ums Himmels willen nicht! Das hätte eine endlose Strafpredigt gegeben und schließlich wären noch Versöhnungsversuche gemacht worden. Herr Sonneck darf keine Silbe erfahren von dem ganzen Vorfall, aber Sie hat mir mein guter Stern zugeführt, Doktor. Ich wußte wirklich nicht, woher ich in aller Eile einen Sekundanten nehmen sollte. Die englischen Herren mochte ich nicht darum bitten und einen Deutschen fand ich nicht. In meiner Verzweiflung lief ich endlich zu Doktor Walter, obgleich ich auch da eine Moralpredigt und allerlei Schwierigkeiten voraussah. Da traf ich Sie dort und nahm Sie auf der Stelle in Beschlag!“

„Ja, es war eine merkwürdige Bekanntschaft. Wir waren kaum einander vorgestellt, da zogen Sie mich auf die Seite und machten mir die Eröffnung. Nun, ich war selbstverständlich gern bereit, einem Landsmanne beizustehen, aber ich hätte mir doch eine andere Gelegenheit dazu gewünscht.“

„Warum? Die Gelegenheit ist vortrefflich. Doch da sind wir am Platze, ich glaube, er ist gut gewählt.“

[88] Sie hatten das Palmenwäldchen erreicht, das weit genug von der Straße entfernt lag, um neugierigen Augen die Zusammenkunft zu entziehen. Die Gegner waren noch nicht da, doch wurde jetzt auch ihr Wagen sichtbar. Sie ließen gleichfalls in einiger Entfernung halten und legten den letzten Teil des Wegs zu Fuß zurück.

Eben ging die Sonne auf und die Riesengestalten der Pyramiden, die sich hier in voller Nähe zeigten, leuchteten rot, als sei Leben in den Steinmassen. Kairo selbst lag noch im weißen Nebelduft, der jetzt langsam vor den Sonnenstrahlen zu zerfließen begann. Anfangs waren nur die Höhen des Mokattam und die Türme der Citadelle sichtbar, dann tauchten, wie aus einer schimmernden Flut, die Kuppeln und Minarets hervor, dann die Paläste und die höher gelegenen Punkte, bis sich endlich das ganze weite Häusermeer den Blicken zeigte, die letzten Nebel verwehten und zerflatterten. Kairo hatte sich entschleiert und lag nun da in leuchtender Morgenschönheit.

Reinhart war so versunken in den Anblick, daß er gar nicht auf die Nahenden achtete; erst als sein Gefährte sagte: „Da kommen die Herren!“ fuhr er auf.

„Wer? Ah so, unsere Gegner! Sehen Sie nur diesen wundervollen Anblick! Wenn ich Sonnecks Talent hätte und das in einer Skizze festhalten könnte – das müßte ein Bild geben!“

Doktor Bertram meinte im stillen, daß man jetzt doch wohl an andere Dinge zu denken habe als an Skizzen und Bilder. Die Herren kamen inzwischen näher, Lord Marwood mit dem Lieutenant Hartley, seinem Sekundanten, und dem englischen Oberst, der damals beim Rennen so entschieden für den voraussichtlichen Sieg Bernrieds eingetreten war; überdies hatten sie den Regimentsarzt mitgebracht.

„Alt-England ist in der Majorität!“ spottete Neinhart halblaut. „Welch ein ausführlicher Apparat, weil ein paar Schüsse losgeknallt werden sollen, aber anders thun es die Herren nun einmal nicht.“

„Lord Marwood sieht sehr mißgestimmt aus,“ bemerkte Bertram. „Er scheint die Sache ernster zu nehmen als Sie.“

„Er hat vermutlich aristokratische Beklemmungen wegen des Duells. Sie müssen nämlich wissen, daß er es für eine ungeheure Herablassung hält, sich mit mir zu schlagen, der ich weder einen Stammbaum noch eine Million besitze. Ich habe also eigentlich gar keinen Anspruch auf die Ehre, von Seiner Lordschaft niedergeschossen zu werden, und bin tief durchdrungen von dem Gefühl dieser meiner Unwürdigkeit.“

„Ehrwald, ich bitte Sie, seien Sie ernsthaft!“ mahnte der junge Arzt leise und halb unwillig. Reinhart zuckte nur die Achseln, aber er hatte mit seinem Spott das Richtige getroffen. Lord Marwood bereute es in der That, daß er sich so weit hatte fortreißen lassen, denn durch diese Forderung gestand er dem Gegner ja gerade die gesellschaftliche Berechtigung zu, die er ihm bestreiten wollte. In seinem Hochmut hatte er wirklich geglaubt, ihn mit jener beleidigenden Zurechtweisung unschädlich zu machen, aber als Ehrwald die Beleidigung verdoppelt auf ihn zurückwarf, blieb ihm nur die Wahl, sie entweder hinzunehmen oder zu rächen. Er hatte natürlich das letztere gewählt, aber sein ganzes aristokratisches Bewußtsein empörte sich dagegen, daß er den „Abenteurer“ zu einer Art von Ebenbürtigkeit erhob, indem er sich mit ihm schlug.

Er betrat mit seinen Begleitern jetzt das Wäldchen; den Gegner grüßte er nur mit einem steifen Kopfnicken, während die anderen höfliche, aber kühle Grüße mit Reinhart und Bertram austauschten. Von den Zeugen kannte keiner den wahren Grund der Forderung, sie wußten nur von einer im Gespräch gefallenen Beleidigung von seiten Ehrwalds, die vermutlich durch eine verletzende Aeußerung Marwoods hervorgerufen war; dieser hatte ja nie ein Hehl aus seiner Abneigung gegen den jungen Deutschen gemacht.

Der ausgewählte Platz lag auf der anderen Seite des Wäldchens, am Rande desselben. Durch die Palmen war man gegen jede Beobachtung von der Straße her gedeckt und drüben auf den weiten Feldern zeigte sich niemand. Oben in der Luft kreiste ein Sperber und ließ seinen heiseren Schrei ertönen, sonst regte sich nichts, ringsum herrschte tiefe Morgenstille.

Die Vorbereitungen waren bald getroffen, die Sekundanten maßen die Schritte ab und luden die Waffen und die beiden Gegner nahmen ihre Plätze ein.

„Sehen Sie nur, wie dieser Ehrwald dasteht,“ sagte der Oberst leise und halb ärgerlich zu Hartley. „Als wenn es zum Tanze ginge!“

„Ich fürchte, es ist sein letzter Uebermut“, gab der junge Offizier ebenso leise zurück. „Marwood hat den ersten Schuß und er ist furchtbar erbittert.“

Reinhart stand in der That nicht da, als gälte es einen Kampf auf Tod und Leben. In seiner Haltung lag jener Uebermut, der gewohnt ist, mit der Gefahr zu spielen, und dem dies Spiel ein Vergnügen ist, und gerade das schien den Lord aufs äußerste zu reizen. Als er langsam die Pistole hob und ihr fest und sicher die Richtung nach der Brust seines Gegners gab, da sah man es an seinem Gesichte, daß er entschlossen war, den verachteten und doch gefürchteten Nebenbuhler aus dem Wege zu schaffen.

Der Oberst gab das Zeichen, da plötzlich schoß der Sperber aus der Höhe herab und stieß in einiger Entfernung auf den Boden nieder, wo er wohl eine Beute erspäht hatte. In demselben Augenblick krachte der Schuß Marwoods, die Kugel pfiff dicht an der Schulter Reinharts vorüber, er selbst stand unverletzt da. Sein Glück hatte ihn in der That nicht im Stiche gelassen, das jähe, blitzartige Niederschießen des Vogels, der sich jetzt, die zappelnde Beute in den Krallen, wieder in die Luft erhob, hatte den Gegner gestört und gerade im entscheidenden Augenblick seiner Waffe die tödliche Richtung genommen.

Jetzt war die Reihe an Ehrwald und in der nächsten Minute schoß auch er, aber er schien gleichfalls gefehlt zu haben. Der Lord stand noch fest an seinem Platze, wandte sich aber plötzlich um und winkte Hartley herbei, dem er in sichtbarer Erregung einige Worte sagte. Dieser antwortete ebenso, und nach einem kurzen, leise geführten Gespräch kam er zu Reinhart hinüber, der, die abgeschossene Pistole noch in der Hand, mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen dastand.

„Lord Marwood läßt Sie um Auskunft darüber ersuchen, Herr Ehrwald, was dieser Schuß eigentlich bedeuten sollte,“ begann der junge Offizier mit scharfer Betonung.

„Bedeuten?“ wiederholte Reinhart anscheinend ganz unbefangen. „Sie werden mich doch hoffentlich nicht dafür verantwortlich machen, meine Herren, daß ich schlecht geschossen habe.“

„Sie haben in die Luft geschossen!“ sagte der Oberst. „Wir sahen es alle und bitten um eine Erklärung.“

„Wozu? Ich habe die Forderung meines Gegners angenommen und mich seiner Kugel gestellt – das übrige ist wohl lediglich meine Sache.“

„Ich dächte, es ginge auch einigermaßen den Lord an. Er hat das Duell ernst genommen.“

„Das sah ich!“ versetzte Reinhart kalt. „Er wünschte mich zu treffen, ich wünschte ihn zu fehlen, wir waren da beiderseitig in unserem Rechte.“

„Wenn das eine Großmut sein soll, so mache ich Ihnen bemerklich, daß sie beleidigend ist,“ sagte Hartley mit Nachdruck. „Lord Marwood setzte selbstverständlich unbedingte Gegenseitigkeit voraus. Ich glaube nicht, daß er mit diesem Gange seine Forderung für erledigt halten wird.“

Reinhart zuckte gleichgültig die Achseln. „Wenn mein Gegner einen zweiten Kugelwechsel für nötig hält, so bin ich bereit, aber ich werde genau so schießen wie das erste Mal.“

„Herr Ehrwald!“

„Mein Wort darauf, Herr Lieutenant!“

Hartley zögerte einen Moment, er wußte offenbar nicht sogleich, wie er sich dieser Erklärung gegenüber verhalten sollte. Dann wandte er sich und ging zu seinem Freunde zurück; die mit diesem nun halblaut geführte Verhandlung schien ziemlich erregt zu sein.

„Sie sind ein Tollkopf!“ sagte Bertram leise. „Ich glaube, Sie wären imstande, Wort zu halten.“

„Gewiß, zweifeln Sie etwa daran?“

„Nein, leider nicht im geringsten. Aber wenn der Lord den tollen Vorschlag nun annimmt?“

„Schwerlich! Zu einem bloßen Mordhandwerk giebt sich Marwood nicht her. Uebrigens stehe ich in jedem Fall bei meinem Worte.“

Nach einigen Minuten kam Hartley zurück und erklärte kurz und förmlich: „Lord Marwood läßt mitteilen, daß er unter diesen Umständen auf die Fortsetzung des Duells verzichtet.“

Reinhart verbeugte sich. „So ist die Sache erledigt und ich habe mich nur den Herren zu empfehlen. Kommen Sie, Doktor!“

Er grüßte noch einmal nach der anderen Seite, was diesmal [90] nur von dem Oberst und dem englischen Arzte erwidert wurde, und ging dann in Begleitung Bertrams. Als sie außer Hörweite waren, sagte der letztere mit einem Vorwurf, den er nicht zurückhalten konnte: „Das war ein merkwürdiger Ausgang! Uebrigens bin ich der Meinung des Lieutenant Hartley, ein Duell ist immer eine ernste Sache, und Sie machten eine Komödie daraus.“

„Es ist ja auch im Grunde nichts anderes,“ versetzte Reinhart wegwerfend. „Oder finden Sie es so besonders geistreich, wenn zwei Menschen sich gegenüberstehen und in Gegenwart von so und so viel Zeugen feierlichst aufeinander losknallen? Ich habe das stets sehr abgeschmackt gefunden.“

„Und doch haben Sie die Forderung angenommen?“

„Was blieb mir denn sonst übrig? Die Beleidigung war nun einmal gefallen, von beiden Seiten, prügeln konnten wir uns doch nicht und ich hatte keine Lust, mich von der gesamten Gesellschaft Kairos als Feigling in Acht und Bann thun zu lassen, wenn ich das Duell verweigerte. Aber ich habe diesem hochmütigen Burschen eine Lehre gegeben! Er wollte mir wirklich die Ehre erweisen, mich höchsteigenhändig niederzuschießen und ich – schonte ihn! Das vergiebt er mir natürlich niemals, aber er wird sich hüten, mir wieder mit einer Unverschämtheit nahe zu kommen, wenn wir uns in Luksor begegnen, ich habe ihn damit zahm gemacht.“

„Sie spielten aber ein gewagtes Spiel,“ warf der junge Arzt ein. „Marwood zielte mit voller Sicherheit; wenn ein glücklicher Zufall es nicht gefügt hätte, daß der Sperber gerade im letzten Augenblick niederstieß und ihn störte, so lägen Sie jetzt vermutlich sterbend am Boden.“

„Ja wenn – wenn!“ rief Reinhart lachend. „Der Zufall ist aber doch gekommen, und ich stehe in voller Lebendigkeit vor Ihnen. Die Worte ‚wenn‘ und ‚aber‘ habe ich längst aus meinem Leben gestrichen, und auf diese Weise wird man am besten fertig. Doch jetzt ist die Sache abgemacht und nun meinen Dank, Doktor, für den Freundschaftsdienst, den Sie mir geleistet haben! Wenn Sie einmal einen Gegendienst brauchen, ich stehe zur Verfügung.“

„Aber hoffentlich beanspruche ich ihn nicht in dieser Weise,“ sagte Bertram lachend, Ehrwalds Händedruck herzlich erwidernd. „Ich bin froh, daß ich Sie heil und gesund nach Kairo zurückbringe.“

Sie hatten inzwischen das Gehölz durchschritten und traten ins Freie. Die ganze weite Ebene des Nils lag jetzt im hellsten Sonnenschein, die Pyramiden mit ihren starren Linien standen wie ernste, dunkle Rätselbilder in der goldenen Lichtflut, schimmernd grüßte die Stadt aus der Ferne und hoch oben in der blauen Luft kreiste der Sperber und spähte nach neuer Beute. Reinhart blieb unwillkürlich stehen.

„Das Leben ist doch schön!“ sagte er mit einem tiefen Atemzuge, „und am schönsten dann, wenn man es einer Todesgefahr abgewonnen hat. Sie haben recht, ich danke es dem geflügelten Burschen da oben, aber einen Zufall nannten Sie das? Mein Glück war es, das da aus luftiger Wolkenhöhe zu mir niederstieß und mich rettete! Und da predigt mir Sonneck immer, daß es nur eine trügerische Fata Morgana ist, die zerfließt, sobald ich es versuche, ihr zu nahen. Ich habe auch heute wieder seinen Hauch und seine Nähe gespürt wie so oft schon. Und wenn es noch so hoch und noch so fern ist – ich erjage es doch!“

[101] Heiße Sonnenglut lag über den gelbschimmernden Wogen des Nils, die Felder des Fruchtlandes drüben am jenseitigen Ufer leuchteten in hellem Grün und die kahlen, gelbgrauen Höhenzüge der lybischen Gebirge, die hier nahe an den Fluß traten, hoben sich in scharfen Linien ab von dem tiefblauen Himmel.

Auf der Terrasse des großen neuerbauten Hotels in Luksor saß eine kleine Gesellschaft, Fräulein Ulrike Mallner mit ihrer Schwägerin und einem Herrn im hellen Touristenanzuge. Sie sprachen deutsch, das heißt Ulrike sprach und die andern beiden hörten pflichtschuldigst zu; nur der Herr erlaubte sich bisweilen eine kurze Antwort oder eine Bemerkung, während Selma sich ganz schweigsam verhielt.

Sie war eben damit beschäftigt, auf ihrem Hut einen blauen Schleier zu befestigen, zum Schutz gegen das grelle Sonnenlicht, und man brauchte sie nur anzusehen, um dem Doktor Walter recht zu geben, wenn er von einem überraschenden Erfolge sprach. Das schmale blasse Gesichtchen war voller und rosig geworden, der müde Ausdruck der Augen hatte sich verloren, ebenso wie die matte gebeugte Haltung. Die junge Frau blühte sichtlich auf in diesem Klima, das für sie die beste Arznei war. Nur ihre Schüchternheit schien sich nicht gemindert zu haben, trotz des Reiselebens und all seiner wechselnden Eindrücke. War doch auch die gestrenge Schwägerin immer an ihrer Seite und zog einen förmlichen Bannkreis um sie, den nur wenige Auserwählte überschreiten durften. Der Herr, der den beiden Damen Gesellschaft leistete, gehörte offenbar zu diesen Auserwählten und er verdankte diesen Vorzug in erster Linie dem dringenden Bedürfnis des Fräulein Mallner, deutsch zu sprechen. Zu ihrer großen Entrüstung befanden sich auch hier im Hotel vorwiegend Engländer und Amerikaner, da wurde die sehr bescheidene Annäherung des Landsmannes, der sich ebenso vereinsamt fühlte, in Gnaden angenommen.

Es war ein Mann von einigen vierzig Jahren, eine kleine, ziemlich unbedeutende Erscheinung mit einem freundlichen, gutmütigen Gesichte und einem ungemein höflichen Wesen. Trotz der erst achttägigen Bekanntschaft stand er aber bereits vollständig unter dem Scepter seiner energischen Landsmännin, die ihn regelrecht kommandierte, ihm ihrer Gewohnheit nach die rücksichtslosesten Dinge ins Gesicht sagte und ihn bei Spaziergängen und sonstigen Gelegenheiten ohne weiteres ins Schlepptau nahm. Sie hatte eben einen längeren Vortrag gehalten und machte jetzt notgedrungen eine Pause, die er benutzte, um auch einmal zu Wort zu kommen.

„Unsere berühmten Landsleute gönnen sich heute einen Ruhetag,“ hob er an. „Die gestrigen Forschungen waren freilich sehr anstrengend, wir waren bis zum späten Abend in Theben.“

[102] Er betonte das „wir“ mit einem gewissen Selbstbewußtsein, aber das trug ihm nur ein Achselzucken von seiten des Fräulein Mallner ein, die in ihrer derben Weise sagte: „Jawohl, Herr Ellrich, Sie waren natürlich auch drüben. Sie sind ja so lange um die Herren herumscherwenzelt, bis Sie mitgenommen wurden.“

Herr Ellrich schien den Ausdruck „herumscherwenzeln“ übelzunehmen, er erwiderte in etwas empfindlichem Tone: „Ich glaube nicht, daß es Vorwurf verdient, wenn man große Männer bewundert und die Gelegenheit benutzt, sich ihnen anzuschließen. Dieser berühmte Sonneck, der seine verwegenen Züge in das Herz von Afrika so gemütsruhig unternimmt, wie wir eine Landpartie machen, dieser gelehrte Professor, der mit den jahrtausendalten Mumien sozusagen auf du und du steht –“

„Und dieser naseweise Ehrwald,“ fiel Ulrike ein, „der weder berühmt noch gelehrt ist und doch immer thut, als ob ihm die ganze Welt gehöre! Herrn Sonneck lasse ich gelten, allenfalls auch noch den Professor, obgleich er eine wahre Manie hat, in dem alten Heidengerümpel herumzustöbern.“

„Heidengerümpel?“ wiederholte Ellrich entsetzt. „Aber mein Fräulein, das sind Funde von unermeßlicher Wichtigkeit, Denkmäler einer mächtigen Vergangenheit, Zeugen einer untergegangenen Kulturepoche –“

„Jawohl, so steht es im Reisehandbuch, und da haben Sie es wahrscheinlich auswendig gelernt,“ fiel ihm Fräulein Mallner ins Wort. „Ich weiß auch Bescheid damit, wir haben uns in Kairo im Museum die ganze Herrlichkeit angesehen und nur heidnisches Gerümpel gefunden. Und was nun vollends die alten Mumien betrifft, so ist es geradezu eine Sünde, sie aus dem Wüstensande, wo sie schon ein paar tausend Jahre liegen, wieder herauszuwühlen.“

„Bitte, sie lagen in den Felsengräbern, drüben in Theben,“ schaltete der angehende Forscher mit großer Sachkenntnis ein.

„Meinetwegen! Ich krieche nicht hinein, und ich würde es mir überhaupt verbitten, wenn man mich nach meinem Tode wieder ausgraben und öffentlich ausstellen wollte, dergleichen Unverschämtheiten ließe ich mir ein für allemal nicht gefallen. Gott sei dank, bei uns in Martinsfelde kann dergleichen nicht passieren, da wird man wenigstens anständig begraben.“

„Guten Tag, meine Damen!“ klang es plötzlich in deutscher Sprache, aber der Gruß hatte eine eigentümliche Wirkung auf die beiden Damen. Die ältere richtete sich kerzengerade auf und starrte den Fremden an, der eben in die offene Thür des Speisesaales getreten war, als sähe sie ein Gespenst. Die jüngere dagegen wurde dunkelrot, der Hut, mit dem sie noch beschäftigt war, entglitt ihren Händen und fiel zu Boden – glücklicherweise, denn während sie sich bückte, um ihn aufzuheben, konnte sie ihre vollständige Fassungslosigkeit einigermaßen verbergen. Der neue Ankömmling schien aber doch etwas davon bemerkt zu haben, denn seine Augen leuchteten auf, als er rasch näher trat.

„Also glücklich angekommen, meine Damen? Das freut mich. Wie befinden Sie sich, gnädige Frau? Ich habe die Ehre, Fräulein Mallner, wir sind ja alte Bekannte.“

Er machte Miene, der „alten Bekannten“ freundschaftlich die Hand zu schütteln, aber sie wich mit einer sehr entschiedenen Bewegung aus und rief mit einer Entrüstung, die sie sich keine Mühe gab, zu verbergen: „Herr Doktor Bertram – sind Sie schon wieder da?“

Der Empfang war nicht gerade ermutigend, aber Doktor Bertram lächelte so verbindlich, als habe man ihn mit offenen Armen aufgenommen.

„Ja, ich bin wieder da. Ich bin gestern abend angekommen, es ist doch merkwürdig, daß wir immer wieder zusammentreffen, wirklich sehr merkwürdig!“

Er hätte diese Merkwürdigkeit damit erklären können, daß auf dem Dampfer, den die beiden Damen benutzten, kein einziger Platz mehr verfügbar gewesen war, daß er deshalb zu seinem großen Mißvergnügen auf das nächste Schiff hatte warten müssen, mit dem er nun schleunigst nachgefahren war, aber er verschwieg das weislich und wandte sich grüßend an Herrn Ellrich, der neben der jungen Frau saß.

„Ein Landsmann, wie ich vermute? Ich hörte, daß Sie deutsch sprachen, als ich heraustrat. Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle – Doktor Bertram.“

„Mein Name ist Ellrich,“ versetzte dieser, indem er sich artig erhob, aber da hatte der Doktor schon einen leeren Stuhl an der Hand, schob ihn dem Höflichen zu und ergriff die Lehne des neben Selma freigewordenen, während er sagte:

„Bitte, bemühen Sie sich nicht. Sie wollen mir Ihren Platz abtreten? Das ist wirklich zu liebenswürdig –“ Damit saß er schon neben Selma und machte ein außerordentlich vergnügtes Gesicht.

Herr Ellrich sah etwas betroffen aus, als er sich auf den neuen Sitz niederließ. Inzwischen blickte Fräulein Mallner den Eindringling wütend von der Seite an und bemerkte in grollendem Tone: „Ich denke, Sie sind längst wieder auf Ihrem Schiffe. Das ist ja eine merkwürdige Stellung, die Ihnen erlaubt, wochenlang in Aegypten herumzureisen, während der ‚Neptun‘ regelmäßig seine Fahrten macht.“

Bertram seufzte und nahm eine melancholische Miene an.

„Ich habe leider Urlaub nehmen müssen, ganz gegen meinen Willen. Ich bin nämlich leidend.“

Selma hob erschrocken die gesenkten Augen empor; glücklicherweise war das Aussehen des Herrn Doktors so durchaus beruhigend, daß Ellrich verwundert äußerte: „Sie sehen ja aber aus wie die Gesundheit selbst.“

„Ja, es ist ein Herzleiden,“ erklärte der junge Arzt. „Das kann man dem Patienten nie ansehen, aber es ist sehr gefährlich, besonders wenn es so hochgradig auftritt wie bei mir. Doch Sie haben mir noch gar nicht auf die Frage nach Ihrem Befinden geantwortet, gnädige Frau. Erlauben Sie, daß ich von meinem ärztlichen Vorrechte Gebrauch mache,“ und damit ergriff er die Hand der jungen Frau und begann die Pulsschläge zu zählen.

„Doktor Walter ist unser Arzt!“ fuhr Ulrike mit voller Schärfe dazwischen, aber Bertram ließ sich in seiner ärztlichen Beobachtung durchaus nicht stören.

„Ich weiß, mein Fräulein, aber Kollege Walter hat mir seine Patientin ausdrücklich empfohlen, als er hörte, daß ich nach Luksor ginge. Ich habe versprochen, ihm genauen Bericht zu erstatten. Nicht wahr, Sie haben Vertrauen zu mir, gnädige Frau?“

Er zählte noch immer gewissenhaft die Pulsschläge und fand es dabei für nötig, seiner jungen Patientin angelegentlich in die Augen zu sehen. Selmas Gesicht war wieder wie in Glut getaucht, aber sie ließ sich dies Anschauen ganz ruhig gefallen und machte auch keinen Versuch, ihre Hand zurückzuziehen. Das trug ihr allerdings einen niederschmetternden Blick der Schwägerin ein, die höhnisch die Achseln zuckte.

„Vertrauen? Sie können ja nicht einmal Ihr eigenes Herzleiden kurieren und wollen anderen helfen? Aber so sind die Aerzte! Sie wissen und verstehen natürlich alles und werfen immer mit großen Worten um sich, aber gesund machen können sie niemand!“

Es half ihr aber nichts, daß sie ihre Zuflucht zur äußersten Grobheit nahm, der geschmähte Arzt nickte ihr freundlich zu und sagte im gemütlichsten Tone:

„Ja, so sind wir nun einmal! Aber die Menschheit braucht uns leider und muß uns hinnehmen, in unserer ganzen Erbärmlichkeit. Sie sind ein Original, Fräulein Mallner, und ich freue mich täglich mehr, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben! Es ist wirklich herzerfrischend, in unserer Zeit der Redensarten und der Heuchelei noch eine solche Offenheit und Aufrichtigkeit zu finden. Sind Sie nicht auch der Meinung, Herr Ellrich?“

Herrn Ellrich wurde es etwas unheimlich bei dem Gespräch, er begriff natürlich nicht den Zusammenhang, aber er sah es doch, daß die Stimmung seiner verehrten Landsmännin eine gewisse Aehnlichkeit mit einem Pulverfaß hatte, das eben explodieren will. Er suchte deshalb möglichst abzulenken und entgegnete: „Fräulein Mallner und ich sind nur leider ganz verschiedener Meinung über Aegypten. Ich bewundere die mächtige Vergangenheit des Pharaonenlandes, die großartige Einförmigkeit seiner Landschaften –“

„Großartig langweilig sind sie, weiter nichts!“ schnitt ihm Ulrike das Wort ab, die sich auf diesen neuen Gegenstand des Gespräches förmlich stürzte, um ihre mühsam zurückgehaltene Wut daran auszulassen. „Rechts die arabische und links die lybische Wüste, wo gar nichts wächst, und in der Mitte dieser Nil, von dem sie so viel Wesens machen und der ebenso langweilig ist. Sandbänke hat er, wir sind auf der Herfahrt zweimal sitzen geblieben, aber Brücken und sonstige Kultureinrichtungen hat er nicht. Mit der Kultur ist es hier überhaupt jämmerlich bestellt. Und nun sitzen wir hier, eines Hustens wegen, der gar nicht mehr da ist. Selma ist ganz gesund, und wenn Doktor Walter vernünftig gewesen wäre, hätte er uns längst nach Hause reisen lassen. Aber als ich auf der [103] Abreise bestand, that er ja, als wäre das ein Verbrechen, und drohte mir wieder mit Selmas Lungenflügeln, die noch immer nicht in Ordnung sein sollen. Nun gut, ich habe auch noch dies Opfer gebracht, aber es ist das letzte. Wenn wir erst in Martinsfelde sind und es kommt mir wieder eine sogenannte ärztliche Autorität über die Schwelle, dann –“

Sie vollendete nicht, aber der Blick, mit dem sie den gerade anwesenden Repräsentanten des verhaßten Standes anschaute, hätte diesen eigentlich vernichten müssen; statt dessen verbeugte sich Bertram mit dem liebenswürdigsten Lächeln.

„Sie überschätzen mich, Fräulein Mallner,“ versicherte er. „Ich bin keineswegs eine Autorität, nur ein ganz bescheidener Jünger Aeskulaps, aber ich bin Ihnen unendlich verbunden für Ihre schmeichelhafte Meinung.“

Ulrike stand plötzlich auf, sie war zu Ende mit ihrem Vorrat an Grobheit, diesem Menschen war nicht beizukommen. Sie erklärte deshalb, es sei zu heiß auf der Terrasse und man müsse hineingehen. Selma und Herr Ellrich erhoben sich gleichfalls, aber Doktor Bertram that genau dasselbe und trat mit in die große Halle, als gehörte er zu der Gesellschaft.

„Unser Hotel ist vollständig besetzt!“ sagte das Fräulein mit unverkennbarer Schadenfreude.

Bertram hatte diese betrübende Thatsache schon gestern abend erfahren, wo er vom Dampfer schleunigst hergestürzt war, um sich ein Zimmer zu sichern; sie überraschte ihn also nicht, und er versetzte mit heiterer Unbefangenheit: „O, ich bin in dem meinigen recht gut untergebracht. Ich will nur eine Nachricht für meinen Freund Ehrwald zurücklassen, der hier wohnt. Er ist leider ausgeritten, aber ich werde am Nachmittage wiederkommen. Ich werde ihn überhaupt sehr oft besuchen, denn es gefällt mir hier ausnehmend.“

Mit dieser tröstlichen Versicherung empfahl er sich nun endlich und ging, um dem schwarzen Pförtner eine Karte für Ehrwald zu übergeben. Es war wohl nicht bloßer Zufall, daß Selma gleich darauf so eilig die Treppe hinauflief, um ihren Hut und das Arbeitskästchen nach ihrem Zimmer zu tragen. Ulrike blieb mitten in der Halle stehen, wo sich zum Glück sonst niemand befand, sah ihren Landsmann an und fragte mit dumpfer Stimme: „Was sagen Sie dazu?“

Der Landsmann sagte vorläufig gar nichts. Er hegte eine dunkle Furcht, daß sich das Pulverfaß gegen ihn entladen werde, wenn er irgend eine unliebsame Antwort gebe, endlich erwiderte er vorsichtig: „Sie scheinen den Herrn Doktor Bertram nicht besonders gern zu sehen.“

„Diesen Menschen?“ rief das Fräulein mit einem krampfhaften Auflachen. „Freilich, Sie haben ihn ja heute zum erstenmal gesehen und wissen nicht, daß er uns schon wochenlang verfolgt. Von Alexandrien ist er uns nach Kairo gefolgt, von Kairo nach Luksor. Ich habe alles mögliche versucht, ihn loszuwerden, zuerst versuchte ich es mit der Grobheit, und ich kann sehr grob sein, das versichere ich Ihnen!“

Sie schaute den kleinen Herrn herausfordernd an, ob er sich etwa erlaube, daran zu zweifeln, er machte aber nur eine zustimmende, etwas ängstliche Verbeugung, die hinreichend ausdrückte, daß er diese hervorragende Eigenschaft der Dame in ihrem vollen Umfange kannte und schätzte, und dadurch befriedigt, fuhr sie fort:

„Aber bei dem verfängt das nicht! Seit wir ihm damals in der Muski begegneten, heftet er sich förmlich an unsere Fersen. Wir gehen aus, um noch ein paar Einkäufe für die Reise zu machen, da taucht er plötzlich auf, gesellt sich zu uns und behauptet, er müsse auch einkaufen. Wir sind bei dem Doktor Walter, um uns zu verabschieden, da erscheint er auf einmal, sagt dem Diener: ‚Ich muß den Kollegen augenblicklich sprechen, eine dringende medicinische Angelegenheit!‘ und dabei marschiert er in das Sprechzimmer, wo der Doktor sich mit Selma befindet, während ich draußen sitze. Wir gehen an Bord des Dampfers, da steht er schon auf dem Verdeck und erklärt, er wolle uns Lebewohl sagen. Er blieb denn auch bis zur letzten Minute und kam nur noch mit genauer Not ans Land. Hier in der Wüste glaubten wir wenigstens vor ihm sicher zu sein, und jetzt ist er schon wieder da – es ist furchtbar!“

„Aber welchen Grund hat denn dieser Herr, Sie so unausgesetzt zu verfolgen?“ fragte Ellrich, der bei dieser Schilderung ganz ängstlich geworden war.

Ulrike antwortete nicht sofort, obgleich es ihr nachgerade klar geworden war, welcher Magnet den jungen Arzt anzog. Sie hatte sich lange gesträubt, daran zu glauben, daß irgend ein Mensch und wäre es selbst ein Arzt – sich bis zu der Höhe des Frevels versteigen könne, um die Witwe des seligen Martin zu freien und sie ihrer Witwenschaft abwendig zu machen; aber schließlich sah sie doch ein, daß diese Frevelthat wirklich beabsichtigt war, und seitdem war ihr ganzes Dasein ein ununterbrochener Kampf dagegen gewesen.

„Auf meine Schwägerin hat er es abgesehen!“ brach sie endlich aus. „Und alle Welt kommt ihm zu Hilfe. Auch Herr Sonneck findet gar nichts so Ungeheuerliches an dieser Heirat.“

„Ah so, heiraten will der junge Mann!“ rief Ellrich erleichtert. „Weiter nichts?“

„Ist das etwa nicht genug?“ Das Fräulein rückte ihm bei dieser Frage so drohend auf den Leib, daß er ängstlich zurückwich.

„Ja gewiß – natürlich – aber wenn nun Frau Mallner damit einverstanden ist?“

„Das wollte ich ihr nicht raten, und diese himmelschreiende Undankbarkeit traue ich ihr denn doch nicht zu! Als blutarme Waise haben wir sie aufgenommen, jetzt ist sie eine vermögende Frau und auf ihr Vermögen allein hat es dieser Doktor abgesehen, das habe ich Selma schon hundertmal gesagt.“

„Weiß er denn überhaupt davon?“ warf Ellrich ein.

„Nein, aber er spekuliert darauf,“ behauptete Ulrike in höchst unlogischer Weise. „Aber noch bin ich da und ich werde dafür sorgen, daß der schändliche Plan nicht gelingt. Mein seliger Martin würde sich ja im Grabe umdrehen, er würde im Jenseits keine Ruhe haben, und wenn er wiederkommt – dieser Spekulant, dieser Intriguant, dieser –“ Fräulein Mallner suchte nach Worten, die eine noch höhere Verachtung ausdrücken sollten, fand sie aber nicht und wiederholte deshalb drohend: „Noch bin ich da – und Sie, Herr Ellrich, Sie werden mir helfen, Selma zu bewachen, wir dürfen sie nicht eine Minute allein lassen!“

Herr Ellrich schien nicht gerade erbaut zu sein von der ihm zugewiesenen Rolle und machte einen Versuch, sie abzulehnen.

„Aber ich werde in den nächsten Tagen gar nicht hier sein. Professor Leutold und Herr Sonneck haben mich so freundlich eingeladen, sie zu begleiten, und da kann ich doch nicht –“

„Sie bleiben hier!“ unterbrach ihn Ulrike gebieterisch. „Sie werden uns beistehen als Landsmann und Deutscher, als Mann überhaupt, denn wir sind zwei verlassene hilflose Frauen, ohne Schutz – das versteht sich ganz von selbst!“

Der kleine Herr blickte mit kläglicher Miene zu der „verlassenen hilflosen Frau“ empor, die von ihm verlangte, er solle sie als Mann und Deutscher schützen, und ihn dabei so ingrimmig ansah, als wolle sie ihn im Weigerungsfalle gleich übern Haufen werfen. Vollständig eingeschüchtert versprach er alles, was sie nur begehrte. Sie nickte ihm gönnerhaft zu und stieg dann die Treppe hinauf, um das Strafgericht über ihre Schwägerin abzuhalten. Herr Ellrich blieb unten stehen und sah ihr nach.

„Eine merkwürdige Frau!“ sagte er halblaut, mit scheuer Bewunderung. „Ich möchte wohl wissen, ob Doktor Bertram mit ihr fertig wird!“




An dem hohen Uferrande des Nils lag eine Gruppe von Dattelpalmen, deren mächtige Kronen Schutz gewährten vor den sengenden Strahlen der Sonne. Es war ein glühend heißer Tag, wie er in dieser Jahreszeit selbst hier zu den Seltenheiten gehört, und die hier weilenden Europäer hielten sich meist in den kühlen Zimmern eingeschlossen.

Am Fuße einer der Palmen saß Lothar Sonneck, der, längst an dies Klima gewöhnt, die Hitze kaum zu empfinden schien, das Skizzenbuch auf den Knien, und zeichnete. Er besaß ein ausgesprochenes Talent dafür, wenn sein Reiseleben ihm auch nie Zeit und Muße gelassen hatte, es wirklich künstlerisch auszubilden, aber seine Mappen bargen eine Fülle von Motiven und Entwürfen, um die ihn jeder Maler hätte beneiden können. Augenblicklich zeichnete er den Landsitz des Herrn von Osmar, der sich in geringer Entfernung auf einem Vorsprunge des Ufers erhob, von schönen Dum- und Dattelpalmen umgeben. Er war eben mit seiner Skizze fertig geworden und schloß das Buch, als Schritte hinter ihm ertönten. Gleich darauf stand Reinhart Ehrwald neben ihm und reichte ihm ein Telegramm.

„Eine Depesche aus Kairo, wahrscheinlich von unserem [104] Agenten,“ sagte er hastig. „Vielleicht bringt sie endlich die ersehnte Nachricht, wir warten ja täglich und stündlich darauf.“

„Und da hast Du es natürlich nicht ausgehalten, bis ich zurückkam, und bist im Sturmschritt hierhergelaufen,“ tadelte Sonneck, mit einem Blick in das glühend erhitzte Gesicht des jungen Mannes. Doch dieser unterbrach ihn mit stürmischer Ungeduld: „Schelten Sie mich nachher, aber jetzt, bitte, lesen Sie!“

Lothar öffnete das Telegramm und durchflog es, dann reichte er es seinem jungen Gefährten, der mit äußerster Spannung in seinen Zügen zu lesen versuchte.

„Nun ja, Du hattest recht, es ist die erwartete Nachricht. Der Agent teilt mir mit, daß die letzten Schwierigkeiten gehoben sind. Wir können aufbrechen.“

„Endlich! Endlich!“ jubelte Reinhart laut auf. „Es war auch die höchste Zeit.“

„Das war es allerdings, wir haben fast zwei Monate verloren und müssen uns beeilen, wenn wir das Versäumte wieder einbringen wollen. Ich werde zurücktelegraphieren, daß unsere Leute mit dem Gepäck sofort aufbrechen sollen. Wenn sie für die Hälfte des Weges die Bahn benutzen, können sie in drei bis vier Tagen hier sein und dann –“

„Dann geht es hinaus in die Weite,“ ergänzte Ehrwald mit strahlenden Augen. „Hinein in das Reich der Fata Morgana!“

„Du jubelst ja wie ein Kind bei der Weihnachtsbescherung,“ sagte Sonneck. „Wird es Dir wirklich so leicht, von Luksor zu scheiden, ich meine – von dort?“

Er wies hinüber nach dem Landsitz des Generalkonsuls, der junge Mann lächelte flüchtig.

„Nun, man braucht ja nicht auf immer zu scheiden, man kann sich ja sagen: Auf Wiedersehen!“

„Gewiß, und das hängt wohl nur von Dir ab, aber mir scheint, als hättest Du das Osmarsche Haus in der letzten Zeit eher gemieden als aufgesucht. Das ist von gewisser Seite sehr ungnädig bemerkt worden und ich bin beauftragt, Dir deswegen den Text zu lesen.“

„Beauftragt – von wem? Doch wohl nicht von dem Herrn Konsul?“ fragte Reinhart scharf.

„Nein, von Zenaide, aber weshalb fragst Du?“

„Weil Herr von Osmar sein Benehmen gegen mich geändert hat. Er ist ja höflich genug, aber die Güte und Vertraulichkeit fehlt, mit der er mich sonst behandelte. Bisweilen habe ich sogar das Gefühl, als seien ihm meine Besuche überhaupt lästig und als nehme er sie nur um Ihretwillen hin.“

Sonneck hatte längst die gleiche Beobachtung gemacht, aber er erwiderte mit vollster Gelassenheit: „Er wird wohl entdeckt haben, wie es zwischen Dir und Zenaide steht. Hast Du etwa erwartet, er werde Dich mit offenen Armen aufnehmen, Dich, der nichts in die Wage zu legen hat als seine Zukunft, während auf der andern Seite ein Bewerber steht wie Lord Marwood? Du mußt darauf gefaßt sein, um die Braut zu kämpfen, und Du liebst ja sonst den Kampf so sehr, scheust Du ihn hier allein?“

„Den Kampf mit dem Vater – nein!“ sagte Reinhart heftig. „Aber den mit dem reichen Manne, der in mir vielleicht nur eine Art Glücksritter sieht und mich als solchen verachtet – der Gedanke schießt mir oft heiß durch den Kopf! Wenn ich das jemals empfinden müßte, dann freilich hätte ich das Osmarsche Haus zum letztenmal betreten!“

„Das heißt also – Du würdest Zenaide aufgeben?“

Die Frage klang ernst und vorwurfsvoll. Der junge Mann antwortete nicht, aber in seinen Zügen prägte sich ein herber Trotz aus.

„Wenn Du das kannst, dann liebst Du sie nicht,“ fuhr Sonneck mit Nachdruck fort, „und dann ist es allerdings besser, Du scheidest ohne Erklärung. Lord Marwood wird Dir sehr dankbar sein, wenn Du ihm den Platz räumst.“

Es trat eine Pause ein, Reinhart schien mit sich zu kämpfen, endlich sagte er halblaut: „Halten Sie es für möglich, daß Zenaide einem Manne wie diesem Marwood die Hand reichen könnte?“

„Wenn sie ihren Jugendtraum begraben muß und der Vater in sie dringt – wahrscheinlich! Eine Konvenienzheirat ist ja gewöhnlich das Los von ihresgleichen. Zenaide wollte freilich lieben und geliebt sein! Doch ich möchte Dich da nicht beeinflussen. Es ist immer schwer und verantwortungsreich, in ein Menschenschicksal einzugreifen, am schwersten dann, wenn es nicht die gewöhnlichen Bahnen des Alltagslebens geht. Wenn wir Luksor verlassen, muß die Entscheidung ja doch gefallen sein – so oder so!“

Er erhob sich und wandte sich zum Gehen. „Ich werde jetzt unverzüglich die Depesche nach Kairo aufgeben. Kommst Du mit?“

„Nein,“ versetzte Ehrwald einsilbig, „ich möchte hier bleiben.“

Sonneck winkte einen kurzen Abschiedsgruß und entfernte sich, während sein junger Gefährte sich auf den Boden niederwarf und träumerisch in die Kronen der Palmen hinaufblickte.

Liebte er denn Zenaide wirklich? Er war nicht gleichgültig geblieben dem schönen Mädchen gegenüber, gewiß nicht, aber der geschmeichelte Stolz, der allein Bevorzugte zu sein, wo sich sonst niemand eines Vorzuges rühmen konnte, hatte wohl auch seinen Anteil an dieser Empfindung. Vorhin, als die Nachricht von dem nahen Aufbruch eintraf, da hatte er aufgejubelt in stürmischer Freude. Jetzt endlich that sich die ersehnte Ferne vor ihm auf wie ein goldenes Zauberland, und jetzt empfand er es fast wie eine Fessel, daß er einer Frau Wort und Treue verpfänden sollte, sich binden sollte für die Rückkehr. Mochte der Besitz noch so kostbar sein, eine Fessel blieb es doch!

„Ich glaube, ich tauge nicht für die Liebe!“ sagte er halblaut. „Da liegt es nicht, was ich ersehne, das große, das märchenhafte Glück – aber wo dann?“

Da ertönte helles Kinderlachen in unmittelbarer Nähe. Am Rande des Ufers, das hier ziemlich hoch und steil gegen den Nil abfiel, tauchte ein Köpfchen auf, von einem breitrandigen Strohhut beschattet, dann wurde eine kleine, zierliche Gestalt sichtbar, die sehr geschickt emporkletterte und sich endlich leicht wie ein Vogel auf das Ufer schwang, und nun jubelte eine Kinderstimme: „Ich bin doch die Erste! Komm, Hassan, komm! Ich bin schon oben!“

Reinhart hob den Kopf und gewahrte die kleine Elsa von Bernried, die dort drüben stand und mit beiden Händchen winkte; jetzt zeigte sich auch eine zweite, dunkelfarbige Gestalt, die nicht größer war und eiligst nachstrebte. Sie gewann gleichfalls das Ufer und nun rannten die beiden Kinder erhitzt, atemlos, aber mit lautem Jauchzen den Palmen zu.

„Elsa, wie kommst Du hierher?“ rief der junge Mann erstaunt, die Kleine außerhalb des Osmarschcn Gartens und ohne jede Aufsicht zu sehen. Elsa gewahrte erst jetzt den Daliegenden, zeigte aber keine besondere Ueberraschung bei seinem Anblick. Sie verstand es sonst, einen sehr zierlichen Knix zu machen, und man hatte sie gelehrt, jeden fremden „Onkel“ damit zu begrüßen. Reinhart Ehrwald gehörte aber in ihren Augen nun einmal nicht zu dem weitverbreiteten Geschlechte der Onkel, sie war nie zu bewegen gewesen, ihm diesen Namen zu geben. Sie zog trotzig ihren kleinen braunen Gefährten mit sich in den Palmenschatten und antwortete:

„Wir sind fortgelaufen. Wir sollen immer im Garten spielen und nie an den Nil hinuntergehen! Das ist so langweilig! – Aber heute wurde Fatme in das Haus gerufen und kam nicht wieder, da rief ich den Hassan und husch! waren wir fort.“

„Das war sehr unartig,“ sagte Reinhart strafend.

„Ja, aber es war so lustig,“ versetzte die Kleine, die sich sehr über den Streich zu freuen schien. „Wir haben so schön gespielt und das Lustigste war das Hinaufklettern, nicht wahr, Hassan?“

Der kleine Aegypter stand ungefähr in dem gleichen Alter wie seine Spielgefährtin; besonders schön war er gerade nicht, aber das dunkelbraune Gesichtchen mit den schmalgeschlitzten, pechschwarzen Augen und den wulstig aufgeworfene Lippen hatte einen ungemein drolligen Ausdruck. Man hatte zwar das Möglichste gethan, um ihn zu verschönen, und ihm nach morgenländischer Sitte den winzigen braunen Schädel ganz kahl geschoren. Nur an beiden Seiten, über den Ohren, waren zwei Haarbüschel stehen geblieben, die einsam emporstrebten und ihm eine gewisse Aehnlichkeit mit einem jungen Uhu gaben. Seine Kleidung bestand in einem Hemde von blauem Baumwollenstoff, das nur leider viel zu lang geraten war, es schleppte am Boden nach und war sehr hinderlich beim Gehen. Dies einzige Kleidungsstück wurde mit vieler Würde getragen, aber das ganze braune Kerlchen war trotzdem behend und flink wie ein Aeffchen.

Die beiden Kinder sprachen ein ganz merkwürdiges Kauderwelsch, aus arabischen und deutschen Brocken gemischt, die sie wohl im gegenseitigen Verkehr gelernt hatten, aber sie verstanden sich vollkommen und wo die Worte nicht ausreichten, nahmen sie eine höchst ausdrucksvolle Zeichensprache zu Hilfe.

[106] Elsa hatte ihren Strohhut abgenommen und setzte sich nun, ihr Röckchen sorgsam aufhebend, auf den Boden. Es konnte nicht leicht einen größeren Gegensatz geben als die kleine Europäerin, in dem luftigen weißen Kleidchen, mit dem rosigen Gesicht und dem offenen Blondhaar, sonnig und licht wie eine Elfe, und dem dunkelfarbigen kleinen Afrikaner, der sich an ihrer Seite niedergekauert hatte und sie unverwandt anstarrte wie ein treuer Pudel, der das Auge nicht von seinem Herrn läßt. Auch Ehrwald drängte sich dieser Kontrast auf.

„Du hast Dir ja da einen echt afrikanischen Kavalier ausgesucht,“ spottete er. „Viel Staat kannst Du gerade nicht mit ihm machen, aber ich glaube, ich habe dies kleine Affengesicht schon einigemal in Eurem Garten gesehen.“

„Hassan ist kein Affe!“ belehrte ihn entrüstet die Kleine, die diese Bezeichnung ihres Spielgefährten sehr übelnahm. „Er ist der Sohn unsres Gärtners und ich spiele immer mit ihm, denn er thut alles, was ich will.“

„Und das ist Dir jedenfalls die Hauptsache,“ ergänzte Reinhart. „Also durchgegangen seid ihr und habt trotz des Verbotes unten am Nil gespielt? Da wird Tante Zenaide Dich schelten.“

„Tante Zenaide schilt nie,“ sagte Elsa. „Sie ist sehr, sehr gut, aber auf Dich ist sie böse, weil Du gestern nicht gekommen bist. Sie hat geweint darüber.“

„Geweint?“ Der junge Mann richtete sich halb auf und stützte sich auf den Ellbogen. „Woher weißt Du das?“

„Ich habe es gesehen. Ich glaube, Tante Zenaide mag Dich leiden, aber der Onkel Konsul mag Dich gar nicht.“

„O, Du siebenjährige Weisheit, hast Du das auch schon herausgefunden?“ lachte der junge Mann. „Magst Du mich denn jetzt, kleine Else?“

„Nein!“ kam es mit herber Entschiedenheit von den Lippen der Kleinen, die sich jetzt zu Hassan wandte und mit ihm zu plaudern begann.

„Ich gehe nun sehr bald fort,“ erklärte sie. „Weit fort über das Meer, viele hundert Meilen weit, zu meinem Großpapa nach Deutschland und dann können wir nicht mehr miteinander spielen, Hassan, denn Du kannst nicht mitreisen und mußt in Afrika bleiben. Hast Du das verstanden?“

Hassan verstand die größtenteils deutsche Erzählung durchaus nicht. Er hörte mit offenem Munde zu und grinste höchst vergnügt seine Spielgefährtin an, die sich darob sehr beleidigt fühlte.

Sie wiederholte daher die Worte „Weit, weit fort!“ in der Landessprache und bemühte sich, ihm halb arabisch, halb pantomimisch die bevorstehende Trennung klarzumachen. Es dauerte eine ganze Weile, bis der kleine Aegypter das begriff, er hatte es aber nicht sobald gefaßt, als er auch sofort in ein lautes Geheul ausbrach und unter fortwährendem stoßweisen Schluchzen immer wieder „La! La!“ schrie.

„Er sagt Nein,“ triumphierte Elsa mit einem Blick nach Ehrwald hinüber. „Aber das hilft Dir nichts, Hassan, ich gehe doch fort und Du darfst nicht so schreien darüber. Du bist ja ein Bub’! Schäme Dich doch!“

Der Appell an sein Ehrgefühl fand gar keinen Anklang bei Hassan. Er brüllte weiter, faßte mit seinen schwarzbraunen Händchen den Arm der Spielgefährtin, als wollte er sie festhalten, und brach bei jedem Versuche, ihn zu beruhigen, in ein erneutes Jammergeschrei aus. Elsa war offenbar sehr befriedigt von diesem Eindruck. Sie wollte ihr Taschentuch hervorziehen, um die Thränen abzutrocknen, die über die Wangen des kleinen Aegypters kugelten, vermißte es jedoch.

„Mein Tuch!“ rief sie. „Wo hast Du es gelassen, Hassan? Ich hatte es Dir ja über den Kopf gebunden, weil die Sonne gar so arg brannte und sie Dir alle Haare abgeschnitten haben. Hast Du es verloren?“

Da sie diesmal gleich die Pantomime zu Hilfe nahm, so verstand Hassan sofort, er hörte auf zu schreien und griff sehr betroffen nach seinem Kopfe, wo das Tuch sich nicht mehr fand.

„Dann liegt es unten am Wasser,“ rief die Kleine. „Geh’ gleich hinunter und hole es mir!“

Das war jedoch nicht nach dem Geschmack Hassans, er wollte hier im Palmenschatten bleiben und wehrte sich auf arabisch gegen die nochmalige Rutsch- und Kletterpartie in dem glühenden Sonnenbrand. Da kam er aber übel an bei der kleinen Tyrannin.

„Du gehst und suchst das Tuch!“ befahl sie aufspringend und zeigte gebieterisch auf die Stelle, wo sie emporgeklommen waren. „Du hast es verloren, Du mußt es mir wiederbringen. Lauf, Hassan, lauf!“

Hassan gab den ferneren Widerstand auf. Er trottete ab wie ein gehorsamer Pudel, setzte sich glatt auf den Uferrand und fuhr rittlings hinab in die Tiefe.

„Du bist ja sehr befehlshaberisch angelegt, kleine Else,“ sagte Reinhart, der, obgleich er ganz andere Gedanken im Kopfe hatte, es nicht lassen konnte, sie wieder zu necken. „Aber dies Spielen am Nil sollte man euch ernstlich verbieten. Dem Hassan schadet es nichts, wenn er ins Wasser fällt, der puddelt wieder heraus wie ein junger Hund, Du aber würdest ertrinken, wenn ich nicht zufällig in der Nähe wäre, um Dich herauszufischen.“

„Du sollst mich nicht herausfischen, das leide ich nicht!“ fuhr die Kleine entrüstet auf, aber ihr Zorn reizte den jungen Mann nur noch mehr zum Lachen.

„Oho, ist die Feindschaft so groß, daß Du lieber ertrinken willst? Trotzkopf! Hast Du den Kuß von damals noch nicht vergessen?“

Elsa antwortete nicht, aber sie blitzte ihn feindlich an mit ihren dunkelblauen Augen. Doch Reinhart schien nun einmal ein eigenes Vergnügen daran zu finden, in diese feindseligen Kinderaugen zu blicken, und er that das auch jetzt unverwandt.

„Also Du reisest nun fort?“ hob er wieder an; die Kleine nickte.

„Ja, zu meinem Großpapa nach Kronsberg.“

„Kronsberg!“ Es legte sich wie ein finsterer Schatten auf die Stirn Ehrwalds und er wiederholte das Wort mit einem eigentümlich grollenden Ausdruck.

„Und da ist es sehr schön, sagt Onkel Sonneck,“ fuhr Elsa fort. „Er weiß es vom Großpapa. Bist Du auch schon einmal dagewesen?“

„Ja!“ sagte Reinhart kurz und hart.

„O – erzähl’ mir davon!“

Die Neugier der Kleinen überwog ihre Abneigung, sie kam näher, stellte sich vor den jungen Mann hin, und als er noch immer schwieg, drängte sie ungeduldig: „So erzähl’ mir doch! Ist es schön da? So schön wie hier?“

Er hatte sich erhoben und strich langsam mit der Hand über die Stirn, während sein Auge hinausschweifte in die sonnendurchglühte Landschaft.

„Es ist anders, Elsa, ganz anders! Dort sind hohe Berge, viel höher als hier, sie reichen bis an den Himmel und auf ihren Häuptern liegt Eis und Schnee. Und weite Wälder sind ringsumher, dunkle Tannen, in denen es rauscht und weht und flüstert. Von den Bergen stürzen die Wasser, schäumend und tosend, an den Felswänden jagen die Wolken hin, und wenn die Stürme brausen um die Schneegipfel und durch die Thäler, dann wird es Frühling – in der Heimat!“

Er sprach halblaut und träumerisch, mehr zu sich selber als zu dem Kinde, das ihn nur halb verstand, aber es wehte etwas wie Sehnsucht hervor aus den Worten. Die Schilderung regte trotzdem die Phantasie der Kleinen an, vielleicht dämmerte auch in ihrem Köpfchen eine dunkle Erinnerung an das Land auf, wo sie geboren war und von dem ihr der Vater erzählt haben mochte. Sie hörte gespannt zu und fragte dann lebhaft:

„Und da wohnt der Großpapa? Wirst Du auch wieder hinkommen?“

„Nein – niemals!“

„Warum denn nicht?“

„Weil ich es hasse!“ brach Reinhart plötzlich mit wilder Heftigkeit aus. Er dachte nicht mehr an das Kind.

Seine Stirn war finster wie die Nacht und seine Augen flammten drohend, während er die Worte zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervorstieß. Der jähe, wilde Ausbruch hätte ein anderes Kind sicherlich erschreckt, aber die kleine Elsa glich nun einmal nicht andern Kindern. Sie hatte dem jungen Manne bisher die vollste Abneigung gezeigt, jetzt schien sie seltsamerweise zutraulich zu werden. Sie kam dicht an seine Seite und fragte angelegentlich: „Waren sie bös mit Dir, die Leute dort?“

„Ja, sehr bös,“ sagte Ehrwald herb. „Ich habe ihnen freilich auch Schlimmes angethan!“

„Und da hast Du geweint?“ fragte mitleidig die Kinderstimme. Reinhart lachte laut auf, aber es war ein grelles, höhnisches Lachen.

„Geweint? Nein, kleine Elsa, da weint man nicht. Man beißt die Zähne zusammen und schlägt um sich, gleichviel, wohin es trifft. Man macht sich Bahn durch das Gesindel und geht [107] davon auf Nimmerwiederkehr. So habe ich es gemacht, und das hat mir die Freiheit eingebracht, die goldene herrliche Freiheit. Jetzt soll es einer versuchen, sie mir wieder zu nehmen!“

Der Mann, der in seiner sprudelnden Heiterkeit, seinem kecken Uebermut jedem nur als die Verkörperung heißer, stürmischer Lebensfreude erschien, war wie verwandelt in diesem Augenblick. Es that sich da plötzlich eine dunkle, drohende Tiefe auf, die sich sonst vor aller Welt verschloß, selbst vor dem väterlichen Freunde, der ihm ein so großmütiges Vertrauen bewies. Jetzt öffnete sie sich vor einem Kinde, das nichts davon verstand und in der nächsten Stunde schon den seltsamen Ausbruch vergaß; aber was da auf dem Grunde ruhte, versunken und halb vergessen, das brach nun plötzlich mit elementarer Gewalt hervor, als müßte es sich Luft machen um jeden Preis. Das Kind blickte halb scheu, halb mitleidig zu ihm auf, es begriff nichts von dem allem, aber es fühlte instinktmäßig, daß der Mann dort litt.

Die Mittagsstunde nahte und die Luft wurde immer schwüler und drückender. Luksor lag seitwärts hinter den Palmen, die es den Blicken entzogen.

Dort über der fernen Wüste lagerte es wie eine Wolke von glühendem Dunst, die anfangs farblos und gestaltlos erschien, aber allmählich sich goldig zu färben begann. Bisweilen schien es, als wollte der Dunst sich lichten, und dann zeigten sich seltsame Bilder darin, schwankend und schleierhaft, aber sie zerflossen, sobald das Auge sie festzuhalten versuchte.

Die ganze Landschaft ringsum war wie in brennende Sonnenglut getaucht. Gelb leuchteten die kahlen Wüstenberge drüben am jenseitigen Ufer, gelb schimmerten die Fluten des Nils, die langsam in kaum sichtbarer Bewegung dahinzogen, und dort, wo seine Windungen sich in der Ferne verloren, dehnte sich das gelbe Sandmeer der Wüste aus. Alle anderen Farben schienen zu erblassen und zu erlöschen in dem grellen blendenden Lichte der Mittagssonne, selbst die Palmenwälder standen grau und farblos in der heißen flimmernden Luft.

Reinhart stand unbeweglich an den Stamm der Palme gelehnt und blickte hinaus in die Ferne. Die gelbe Dunstwolke dort am Wüstenrande schimmerte jetzt im tiefen Goldton, es leuchtete und zuckte darin wie von verborgenen Strahlen, und wieder zeigten sich jene Bilder, anfangs nur wie lichte Schemen, aber sie wurden immer klarer, immer deutlicher. Es war, als hebe sich langsam ein Schleier von einer fremden, geheimnisvollen Welt, die sich hinter jenem glühenden Nebel barg.

Da formten sich Kuppeln und Türme, und eine ganze Märchenstadt von schimmernden Palästen dämmerte hervor aus der goldigen Lichtflut. Riesenpalmen hoben ihre mächtigen Fächer in die Luft, und dahinter ragten hohe Berge empor, deren Gipfel verschwammen im schneeigen Glanz. An ihren Fuß schmiegte sich ein See mit leuchtender, wogender Flut und nun erglühte das Ganze im rosigen Scheine, als sei es angestrahlt von Morgengluten. Das erträumte Wunderland, das Land voll Glanz und Licht, da stand es, fern, fern am Horizont, in unerreichbarer Weite, aber geisterhaft schön!

„O, was ist das?“ fragte die kleine Elsa verwundert und entzückt. Reinhart verharrte noch immer regungslos an seinem Platze, aber sein Auge hing wie gebannt an dem schimmernden Luftgebilde und leise, als könnte ein lautes Wort den Zauber zerstören, sagte er: „Das ist die Fata Morgana!“

„Fata Morgana?“ sprach das Kind nach und dann schwieg es gleichfalls und schaute, weit vorgebeugt, mit großen Augen auf das Wüstenbild.

Das dauerte Minuten oder Viertelstunden – sie wußten es nicht, dann entschwebte die Erscheinung, langsam und geheimnisvoll, wie sie aufgetaucht war. Die hohen Berge verdämmerten im rosigen Duft, der See schien sich weit und immer weiter auszudehnen, er wurde zum uferlosen Meere und darin versanken die Palmen und die schimmernde Märchenstadt. Jetzt erblaßte auch der rosige Schein und alles zerfloß und zerrann in eine einzige Goldflut. Aber auch sie wurde matter und matter, dichter ballte sich der Nebel zusammen, nur jenes seltsame Leuchten zuckte noch bisweilen hindurch. Endlich erlosch auch das, und über der fernen Wüste lagerte wieder der glühende Dunst.

„Das schöne Land – jetzt ist es fort!“ rief die kleine Elsa. Reinhart fuhr auf, wie aus einem Traum erwachend. Er sah auf das Kind und dann umher, als müßte er sich erst besinnen, wo er sei.

„Ja, jetzt ist es verschwunden!“ sagte er mit einem tiefen Atemzuge. „Aber ich habe es doch geschaut – nun werde ich es auch zu finden wissen!“

Elsa sah ihn zweifelnd an, sie mochte doch das Unirdische jenes glänzenden Luftbildes ahnen, das in den Wolken zu schweben schien, und schüttelte das Köpfchen.

„Es ist aber sehr, sehr weit! Können wir denn hinkommen?“

„Wir? Willst Du mit, kleine Else?“ fragte Reinhart, bei dem jetzt wieder der alte stürmische Uebermut aufflammte. „Dann nehme ich Dich vor mich aufs Roß und wir jagen hinein in die Wüste, jagen Tag und Nacht, immer weiter und weiter, bis wir es erreicht haben, das Wunderland, wäre es auch mit einem Ritt auf Leben und Tod!“

Die Augen des Kindes strahlten. Es war noch ganz märchengläubig und hatte ja eben erst einen Blick in eine Märchenwelt gethan – da erschien ihm dieser phantastische Ritt, den es natürlich buchstäblich nahm, durchaus glaubhaft. Es schlug jubelnd in die Hände und rief: „Ja, ja, ich will mit!“

„Mit mir? Ich denke, Du magst mich nicht leiden,“ neckte der junge Mann. „Hast Du jetzt Frieden mit mir gemacht? Aber ich fürchte, ich kann Dich trotzdem nicht mitnehmen, denn Du reisest ja fort, weit über das Meer, nach Deutschland.“

Das Gesicht der Kleinen wurde sehr nachdenklich, sie überlegte augenscheinlich, ob der versprochene Wüstenritt nicht doch am Ende der Fahrt über das Meer vorzuziehen sei, endlich versetzte sie etwas kleinlaut: „Onkel Sonneck sagt, ich müsse heim zum Großpapa.“

„Heim – jawohl!“ wiederholte Reinhart in einem eigentümlich verschleierten Tone. Er beugte sich nieder und sah tief in die blauen Kinderaugen, während er fortfuhr: „Und wenn Du heimkommst, zu den hohen Bergen und den dunklen Wäldern, den stürzenden Wassern, dann – dann bringe ihnen einen Gruß, hörst Du, Elsa!“

„Von wem?“ fragte die Kleine unbefangen. Da hob sie Ehrwald mit beiden Armen empor und preßte sie fest an sich, sie fühlte ein paar heiße, zuckende Lippen auf den ihrigen und eine bebende, halberstickte Stimme flüsterte: „Von dem verlornen Sohn!“

Seltsam, diesmal sträubte sich das Kind nicht gegen die ungestüme, fast wilde Liebkosung, es schaute mit seinen großen Augen unverwandt in das Gesicht des jungen Mannes und sagte ernsthaft:

„Siehst Du – nun weinst Du doch!“

Reinhart zuckte zusammen und setzte mit einer heftigen Bewegung die Kleine wieder auf den Boden.

„Nein, ich weine nicht!“ sagte er rauh.

Elsa strich mit den kleinen Fingern über ihre Stirn, wo ein paar heiße brennende Tropfen zurückgeblieben waren, und sah dann wieder empor; sie schien nicht recht an die Ableugnung zu glauben. Da ließen sich Stimmen in einiger Entfernung hören, von denen die eine in arabischen Lauten abwechselnd schalt und jammerte, während eine Kinderstimme in derselben Sprache antwortete. Die Kleine horchte auf.

„Das ist Fatme, sie sucht mich und den Hassan hat sie schon gefunden.“

In der That wurde jetzt an einer anderen, minder abschüssigen Stelle des Ufers Hassan sichtbar, mit dem glücklich gefundenen Tuche, das er gewissenhaft wieder über den Kopf gebunden hatte, und hinter ihm eine alte Negerin, die, sobald sie Elsa erblickt hatte, schleunigst auf sie zustürzte und sie halb scheltend, halb liebkosend an sich zog.

„Ja, da sind sie, die beiden Durchgänger,“ sagte Reinhart, gleichfalls auf arabisch. „Das nächste Mal gieb besser acht, Fatme, sonst laufen sie Dir wieder davon.“

Fatme erschöpfte sich in Entschuldigungen und Beteuerungen, dann nahm sie die Kleine fest an die Hand, als fürchtete sie ein erneutes Fortlaufen, und führte sie davon, während Hassan der Spielgefährtin eiligst nachlief. Elsa folgte willig, aber nach einigen Schritten wandte sie sich um, blickte zurück und rief beinahe triumphierend: „Und Du hast doch geweint!“

Reinhart blieb allein. Er stampfte wie zornig über sich selbst mit dem Fuße. „Daß man sie doch nicht los wird, die alten Erinnerungen! Man wird noch ganz und gar zum Schwächling dabei und schämt sich dann vor einem Kinde. Pah, was hat es verstanden davon!“

Er warf mit einer energischen Bewegung den Kopf zurück und richtete sich empor. „Fort mit der Vergangenheit, ich habe sie abgeschworen! Hinter mir Nacht – vor mir Tag und was für ein herrlicher goldener Tag! Du hast mir den Weg gezeigt, du leuchtende Fata Morgana – ich komme!“

[117] Professor Leutold nahm es ernst mit seinen ägyptischen Studien, und die Stätte des alten Theben, der „hundertthorigen Stadt“, lieferte ihm unerschöpflichen Stoff dazu. Er gab sich mit nie rastendem Eifer seinen Forschungen hin und ertrug mit jugendlicher Rüstigkeit die damit notwendig verbundenen Strapazen. Fast täglich war er drüben bei den Königsgräbern und quartierte sich bisweilen sogar für die Nacht in einem der nahegelegenen Fellahdörfer ein, um die tägliche Ueberfahrt über den Nil und den zeitraubenden Ritt zu ersparen. Er fand dabei einen treuen Gefährten an Sonneck, der sehr zufrieden war, die lange Zeit des Wartens doch nicht ganz thatenlos verbringen zu müssen, und selbstverständlich war Reinhart Ehrwald der stete Begleiter der beiden Herren bei diesen Ausflügen. Der Professor hatte einige neue Entdeckungen gemacht, hoffte, noch weitere zu machen, und so waren die drei Wochen, die man nun schon in Luksor weilte, ungemein schnell vergangen.

[118] Wer sich aber durchaus nicht glücklich und zufrieden fühlte, das war Herr Ellrich, der mit jedem Tage melancholischer wurde.

Der Aufenthalt am Nil hatte so schön für ihn begonnen, ein günstiges Geschick führte ihn mit dem berühmten Professor Leutold zusammen, der mit all den tausendjährigen Mumien auf du und du stand, und mit dem noch weit berühmteren Sonneck, der Afrika so gemütsruhig durchquerte wie andere eine Landpartie machen. Die beiden Herren hatten seine bescheiden geäußerte Bewunderung freundlich aufgenommen, ihm bisweilen an ihren Ausflügen teilzunehmen erlaubt, und der rührende Eifer, mit dem er sich zu allen möglichen Dienstleistungen hergab, gewann ihm ihr ganzes Wohlwollen.

Aber das Glück dauerte nur etwa acht Tage, da tauchte der Störenfried auf, dieser unselige Doktor Bertram. Nicht als ob dieser Herrn Ellrich irgendwie zu nahe getreten wäre, er behandelte ihn im Gegenteil stets mit der ausgesuchtesten Höflichkeit; aber Fräulein Mallner hatte ihre Drohung wahr gemacht und den Landsmann zu einem Schutz- und Trutzbündnis gezwungen, das ihm gar keine Zeit mehr übrig ließ, sich den Berühmtheiten anzuschließen. Er versuchte es vergebens, sich dagegen aufzulehnen. Ulrike nahm ihn beim Wort. Er mußte stets zur Hand sein, wenn der Feind sich im Anzuge befand, und das war eigentlich immer der Fall.

Der junge Arzt bekundete nämlich ein dringendes Bedürfnis, seinen Freund Ehrwald alle Tage zu besuchen, und das ging so weit, daß er sogar diese Besuche machte, wenn der Freund gar nicht da war, sondern sich in Theben befand. In diesem Falle pflegte sich der Doktor stundenlang im Zimmer Reinharts einzuquartieren, den er natürlich ins Vertrauen gezogen hatte, und benutzte den kleinen Balkon dieses Zimmers als Beobachtungswarte. Sobald sich die Damen nur blicken ließen, war er da und ließ sich weder durch Grobheit noch durch List fortbringen. Fräulein Ulrike ihrerseits verteidigte mit grimmiger Energie die Witwe ihres seligen Bruders gegen diese frevelhafte Werbung; es gelang dem Doktor nie, die junge Frau auch nur eine Minute lang allein zu sprechen, und wenn der Cerberus, wie er höchst unehrerbietig die Dame nannte, wirklich einmal wich, dann mußte Herr Ellrich diesen beneidenswerten Posten einnehmen.

Es war noch ziemlich früh am Morgen, als Fräulein Ulrike Mallner und ihr Verbündeter im Garten des Hotels auf und nieder gingen. Selma war augenblicklich nicht bei ihnen, sondern befand sich in ihrem Zimmer, um auf Weisung ihrer Schwägerin einen Brief an den Inspektor von Martinsfelde zu schreiben. Da der Feind zu so früher Stunde noch nicht anzurücken pflegte, so konnte man es wagen, die junge Frau auf kurze Zeit allein zu lassen; übrigens behielt man den Eingang des Hauses scharf im Auge.

„Also Sie gehen mit nach Karnak?“ fragte Herr Ellrich. „Ich glaubte anfangs, es sei ein Irrtum, denn Sie machen ja sonst niemals Ausflüge.“

„Herr Sonneck hat uns aufgefordert,“ versetzte Ulrike, „und da er in einigen Tagen abreist, mochte ich es ihm nicht abschlagen.“

Herr Ellrich machte ein betrübtes Gesicht, er hatte gehofft, bei dem Ausfluge wenigstens einige Stunden lang ein freier Mann zu sein, nun war es wieder nichts damit.

„Unsere Gesellschaft wird ziemlich zahlreich sein,“ hob er wieder an. „Professor Leutold, die Herren Sonneck und Ehrwald, wir drei und die beiden englischen Familien aus dem Hotel, die sich anschließen wollen. Eine ganze Kavalkade!“

„Und er ist natürlich auch dabei,“ ergänzte Fräulein Mallner, die sich in der letzten Zeit angewöhnt hatte, den Gegenstand ihres Hasses nur mit dem Fürwort zu bezeichnen.

Ellrich schüttelte den Kopf. „Der Doktor? Ich glaube nicht, daß er mitreitet, er weiß ja gar nichts von dem Ausfluge, der erst gestern abend beschlossen wurde.“

„Er weiß alles!“ erklärte das Fräulein düster. „Und er erfährt auch alles. Es nützt gar nichts, wenn ich mit Selma zurückbleibe, dann belagert er uns hier im Garten. Wissen Sie denn schon, welche neue Bosheit dieser Mensch wieder ausgebrütet hat? Da Ehrwald abreist, hat er dessen Zimmer mit Beschlag belegt und siedelt in einigen Tagen über, dann haben wir ihn vom Morgen bis zum Abend hier. Aber wir werden unsere Maßregeln nehmen, Wir werden Selma vor ihm retten, ich verlasse mich ganz auf Sie!“

„Nein, bitte, das thun Sie nicht,“ fiel der kleine Herr in einem Tone ein, den er für sehr energisch hielt, der aber ziemlich kleinlaut war. „Ich – ich halte das wirklich nicht länger aus.“

Das Fräulein blieb mit einem plötzlichen Ruck stehen.

„Was halten Sie nicht aus?“

„Das ewige Aufpassen und Schildwachstehen“ – er nahm einen Anlauf zur Kühnheit – „schließlich bin ich doch nicht deswegen nach Afrika gekommen! Ueberhaupt: der Doktor, ich habe gar nichts gegen ihn, er ist ein netter Mann, Frau Mallner findet das auch und ich glaube, sie will sich gar nicht retten lassen.“

Die kecke Behauptung sollte ihm übel bekommen, er entfesselte damit einen Sturm ohnegleichen. Ulrike geriet außer sich bei der Andeutung einer solchen Möglichkeit und goß die Schale ihres Zorns nicht bloß über Selma und den Doktor, sondern auch über den ganz schuldlosen Ellrich aus.

Da traten zwei wohlbekannte Gestalten in den Garten, der Doktor und Ehrwald, der ihn abgeholt hatte. Sie grüßten ganz unbefangen und „er“ trieb die Bosheit so weit, freundschaftlich an seine Feindin heranzutreten.

„Guten Morgen, Fräulein Mallner! Schon fertig zum Ausfluge? Wir brechen ja erst in einer Stunde auf, ich reite natürlich mit.“

„Das habe ich mir gedacht,“ sagte das Fräulein und warf ihm einen Basiliskenblick zu. Er lächelte sehr vergnügt.

„Ja, ich war sogleich bereit, als mein Freund Ehrwald mich aufforderte. Wie befindet sich Frau Mallner? Hoffentlich gut! Auf Wiedersehen, meine Herrschaften!“

Ulrike würdigte ihn keiner Antwort, sondern ging im Sturmschritt davon und zwang ihren bisherigen Verbündeten mit einem gebieterischen: „Kommen Sie mit!“ ihr zu folgen. Das war aber auch für den sanftmütigen Herrn Ellrich zu viel. Erst wurde er schlecht behandelt und dann befahl man ihn zur Begleitung in solchem Tone, und das noch dazu vor den Ohren der feindlichen Partei, die höhnisch dazu lächelte. Er ging zwar mit, aber nur bis zum Eingang des Hauses, da setzte er sich störrisch auf die Terrasse, behauptete, er sei müde, und wälzte finstere Entschlüsse in seiner sonst so gutmütigen Seele.

„Der Blick hätte mich eigentlich spießen sollen, glücklicherweise bin ich gut gepanzert,“ sagte der junge Arzt lachend, als die beiden außer Hörweite waren. „Es bleibt also dabei, ich nehme Ihr Zimmer, wenn Sie abreisen; übrigens muß die Sache jetzt zur Entscheidung kommen. Mit einer bloßen Belagerung ist die Festung nicht zu nehmen, das sehe ich nachgerade ein. Da heißt es stürmen!“

„Armer Doktor, Ihnen wird es schwer gemacht,“ spottete Ehrwald. „Sie müssen sich Ihr künftiges Eheglück sauer verdienen, ein anderer hätte da längst den Mut verloren.“

„Ja, ich habe mir den Kampf mit dem Drachen auch leichter gedacht,“ meinte Bertram. „Aber ich bin nun einmal entschlossen, den Sankt Georg zu spielen und die gefangene Prinzessin zu erlösen.“

„Haben Sie denn schon Gewißheit, daß man sich von Ihnen erlösen lassen will?“

„Gewißheit? – Nein! Aber es giebt eine Art von Freimaurerei, die sich mit Blicken und Zeichen verständigt, die habe ich mit Erfolg angewandt, auch meist Antwort erhalten. Ich glaube, ich kann den Sturm wagen.“

„Dann hätte Frau Mallner Ihnen aber Gelegenheit zum Alleinsein geben müssen,“ warf Reinhart ein. „So etwas ist doch zu erzwingen, wenn man ernstlich will.“

„Gewiß, aber Selma hat gar keinen eigenen Willen, sie ist so grenzenlos verschüchtert, daß sie es kaum wagt, mir zu antworten, wenn ich in Gegenwart der andern mit ihr spreche.“

Ehrwald warf spöttisch die Lippen auf. „Nehmen Sie es mir nicht übel, Doktor, aber das giebt eine etwas langweilige Ehe. Eine Frau, die überhaupt keinen Willen hat und immer Ja sagt – das hielte ich nicht vier Wochen aus!“

„Das ist Geschmackssache,“ sagte der junge Arzt trocken. „Mir ist es gerade recht, wenn meine künftige Frau keinen anderen Willen kennt als den meinigen. Vorläufig steht sie allerdings noch unter der Schreckensherrschaft von Martinsfelde. Und wenn nun noch das unselige Koffergespenst auftaucht –“

„Koffergespenst? Was meinen Sie damit?“

„Den seligen Herrn Mallner, diesen alten Egoisten, der das arme verwaiste Kind schändlicherweise geheiratet hat, ohne es auch nur zu fragen. Ich möchte ihm noch nachträglich den Hals dafür umdrehen! Er wird wohl seiner liebenswürdigen Schwester ähnlich gewesen sein. Dafür hat sie auch sein Andenken mit in den Koffer gepackt und läßt bei jeder Gelegenheit das Gespenst auftauchen. Die arme Selma wird damit halb tot gequält. Wie oft sich dieser Selige schon in seinem Grabe umgedreht hat, das ist gar nicht mehr zu zählen!“

[119] „Sie reden sich ja in eine förmliche Wut hinein,“ lachte Reinhart. „Machen Sie doch der Sache ein Ende!“

„Das will ich auch und womöglich noch heute. Ehrwald, Sie haben mir damals bei Ihrem Duell einen Gegendienst versprochen, jetzt nehme ich Sie beim Wort! Ich muß Selma allein sprechen und der Ritt nach Karnak bietet vielleicht Gelegenheit dazu. Halten Sie mir die Leibgarde vom Halse, nur eine halbe Stunde lang, mehr brauche ich nicht, um ins Reine zu kommen!“

„Das ist ein schwieriger Auftrag,“ sagte Ehrwald bedenklich, „indessen, ich will es versuchen. Dann müssen Sie aber den sanften Herrn Ellrich auf sich nehmen, ich habe genug mit Fräulein Ulrike zu thun, die fordert den ganzen Mann.“

„Abgemacht, wir teilen uns in die Aufgabe. Unserem Landsmann werfe ich irgend einen Hieroglyphenköder hin. Ich erzähle ihm von einer neuen und höchst merkwürdigen Entdeckung, die Sie gestern in Theben gemacht haben, dann geht er Herrn Sonneck und dem Professor einstweilen nicht von der Seite und ich kann die Zeit benutzen. Da sitzt er ja noch! Ich mache mich sofort an ihn.“

Die beiden jungen Männer trennten sich und Bertram schritt nach der Terrasse. Dort saß Herr Ellrich in der That noch, tiefgekränkt und wehmütig. Es war ihm erst nachträglich recht zum Bewußtsein gekommen, wie schmählich er behandelt worden war, und mit welchem Undank seine Aufopferung belohnt wurde. Welch ein Recht hatte denn diese gewaltsame Landsmännin eigentlich, ihn so zu tyrannisieren, und warum ließ er sich das gefallen? „Ja, warum lasse ich mir das gefallen?“ wiederholte er ganz laut, verstummte aber erschrocken, denn in diesem Augenblick trat Doktor Bertram herzu und redete ihn an.

„Nun, Herr Ellrich, Sie sitzen ja so einsam und melancholisch da! Was haben Sie denn?“

„Mir geht es schlecht,“ versetzte der Gefragte in dumpfem Tone.

„Was? Sie sind doch nicht etwa krank? Lassen Sie mich einmal Ihren Puls fühlen.“

Der kleine Herr wehrte die Hand des Arztes ab und schüttelte traurig den Kopf. „Das ist es nicht. Ich meine nur, ich werde so schlecht behandelt.“

„Sie? Von wem denn?“

Herr Ellrich sandte einen anklagenden Blick zu den Fenstern des ersten Stockes empor, aber trotz dieser etwas verschleierten Antwort wurde er sofort verstanden.

„Von Fräulein Mallner? Nicht möglich, Sie sind ja ihr treuester Bundesgenosse!“

„Ja, das war ich bis jetzt, aber wenn man so behandelt wird!“

Der Doktor zog einen Stuhl heran und ließ sich nieder. „Das ist ja merkwürdig, das müssen Sie mir erzählen,“ sagte er.

Herr Ellrich war gerade in der Stimmung, sein Herz auszuschütten. So begann er denn zu klagen über den unfreiwilligen Verzicht auf die geliebten wissenschaftlichen Ausflüge, über die Tyrannei, der er sich hatte beugen müssen, und kam immer wieder auf die schlechte Behandlung zurück, die er für all diese Mühe und Aufopferung geerntet hatte. Bertram hörte mit unendlicher Teilnahme zu und tröstete ihn liebevoll über sein Mißgeschick.

„Ja, Sie haben mir das Leben recht schwer gemacht in den letzten vierzehn Tagen,“ sagte er, „aber ich habe es Ihnen nie nachgetragen, denn ich wußte, Sie standen unter höherer Gewalt.“

Herr Ellrich fand diese Gesinnung sehr edelmütig, aber das brachte ihn nur noch mehr auf und mit einem Anfall von Heldenmut rief er: „Ich werde aber dies Joch abschütteln – ja, das werde ich!“

„Bravo!“ sagte der Doktor. „Ich habe das längst von Ihnen erwartet. Sie sind die begabtere, die höhere Natur, Sie dürfen sich nicht unterordnen.“

Der kleine Herr war ganz gerührt von dieser Auffassung. Er sah erst jetzt ein, wie unrecht er dem jungen Manne gethan hatte, der nun fortfuhr: „Ich darf wohl annehmen, daß es Ihnen kein Geheimnis mehr ist, warum ich immer wieder versuche, mich den Damen zu nähern. Mein Gott, es ist doch kein Unrecht, wenn man liebt und den Gegenstand seiner Neigung zu besitzen wünscht!“

„Nein, das ist im Gegenteil höchst vernünftig,“ erklärte Ellrich. „Sie und Frau Mallner sind jung, und die Jugend will ihr Recht haben. Ich hätte es Ihnen überhaupt nie bestritten.“

„Aber das ist ja herrlich!“

„Und ich werde ihr jetzt zeigen, daß ich so denke. Ich bleibe von jetzt an neutral. Erklären Sie sich, Herr Doktor, machen Sie Ihren Antrag, heiraten Sie in Gottes Namen! Meinen Segen haben Sie!“

„Danke ergebenst,“ sagte der junge Arzt und wollte dem Segnenden freundschaftlich die Hand schütteln, aber dieser wich erschrocken aus und blickte wieder zu den Fenstern hinauf.

„Um Gottes willen! Wenn sie das sähe –“

„Nun, was thut denn das? Ich denke, Sie wollen das Joch abschütteln?“

„Ja, aber – aber nicht gleich. Ich muß mich dazu doch erst sammeln!“

„Gut, so sammeln Sie sich, und wenn der, die – ich meine, wenn unsere verehrte Landsmännin wieder versucht, Sie schlecht zu behandeln, dann wenden Sie sich nur an mich, ich werde schon mit ihr fertig werden.“

Damit stand Doktor Bertram auf und trat in das Haus. Herr Ellrich blickte ihm bewundernd nach. Das war ein Mann! Der fürchtete sich vor keinem Menschen, nicht einmal vor Fräulein Ulrike Mallner.

Aber auch der junge Arzt war sehr befriedigt von dieser Unterredung, und als er die Treppe zu Ehrwalds Zimmer hinaufstieg, war er mit sich einig, daß der Hieroglyphenköder, mit welchem er auf dem Ausflug Herrn Ellrich unschädlich zu machen gedacht hatte, gar nicht mehr nötig sei.

Eine halbe Stunde später versammelte sich die Gesellschaft zum Aufbruch. Auf dem Platz hinter dem Hotel standen die Reitesel mit ihren Führern, aber es dauerte immer noch eine Weile, bis alles zur Stelle und in Ordnung war. Sonneck half ritterlich seinen beiden Landsmänninnen beim Aufsteigen. Selma schwang sich mit seinem Beistande leicht und gewandt auf das weißgraue Eselchen, das für sie bestimmt war und mit seinem bunten Zaumzeug einen sehr munteren Eindruck machte, dagegen kam ihre Schwägerin erst nach Ueberwindung von allerlei Schwierigkeiten in den Sattel. Zwar stand der große schwarze Esel, der den historischen Namen Ramses führte, wie ein Lamm und der Führer, ein halberwachsener brauner Bursche, mit einem schlauen Gesicht und listigen, kohlschwarzen Augen, zeigte sich ungemein dienstfertig, aber es kostete einige Mühe, der Dame, die zum erstenmal ritt, den Gebrauch des Steigbügels und des Zügels klarzumachen. Endlich thronte sie oben und spannte feierlichst ihren unzertrennlichen Begleiter, den riesigen Sonnenschirm, auf. Sie wollte schlechterdings nicht begreifen, daß dies beim Reiten besser unterbleibe, sondern behauptete, sie werde den Sonnenstich bekommen ohne das gewohnte Schutzdach. Man ließ ihr schließlich den Willen und Sonneck gab das Zeichen zum Aufbruch.

Ehrwald und Doktor Bertram waren bereits im Sattel, sie hielten dicht nebeneinander und sprachen leise und angelegentlich. Eben als der Zug sich in Bewegung setzte, sagte Reinhart: „Also ich nehme die Sache auf mich. Ibrahim ist ein schlauer Bursche, ich kann mich auf ihn verlassen. Benutzen Sie Ihre Zeit gut – und nun vorwärts!“

Die Gesellschaft war ziemlich zahlreich, aber es dauerte nicht lange, so teilte sie sich in zwei Hälften. Sonneck und die englischen Herren mit ihren Damen, die sämtlich gute Reiter waren, hielten es nicht aus, im Schritt zu reiten, sie trabten lustig vorwärts und waren schon nach kurzer Zeit eine ganze Strecke voraus. Professor Leutold dagegen ritt langsam und bedächtig, Herr Ellrich und die beiden Damen desgleichen. Es war nur merkwürdig, daß Ehrwald, sonst stets der erste bei solchen Ausflügen, sich diesmal zum Nachtrab hielt. Er ritt neben Fräulein Mallner und verschwendete seine ganze Liebenswürdigkeit an sie, leider ohne Erfolg. Als Freund des Doktor Bertram war er gleichfalls verfemt und erhielt die unliebenswürdigsten Antworten.

Selma dagegen, die leicht und furchtlos im Sattel saß, war so heiter als es die Gegenwart der gestrengen Schwägerin nur zuließ. Sie trug noch immer schwarze Kleidung, weil ihr keine andere erlaubt wurde, aber der helle Strohhut mit dem weißen Schleier war doch ein Zugeständnis, das man dem Klima hatte machen müssen, und das Gesicht der jungen Frau blickte rosig und lieblich darunter hervor. Sie war vollends aufgeblüht in den letzten Wochen, und heute strahlte ihr ganzes Antlitz vor Freude über dies ungewohnte Vergnügen.

Fräulein Mallner bewachte sie und den Doktor wie ein Argus; die Ruhe des Feindes, der sich selbstverständlich auch im Nachtrab befand, täuschte sie durchaus nicht. Er hatte zwar keinen Versuch gemacht, Selma beim Aufsteigen zu helfen, und jetzt ritt er ganz friedlich neben dem Professor und unterhielt sich mit ihm, aber [122] dahinter barg sich sicher eine neue Heimtücke. Sie saß förmlich dräuend auf ihrem Esel und harrte augenscheinlich nur auf ein Opfer, an dem sie ihren Grimm auslassen konnte.

Den Beschluß des Zuges machte Herr Ellrich, der sich in ziemlich niedergedrückter Stimmung befand. Er hatte zwar gar keine Gewissensbisse wegen seiner Fahnenflucht, aber um so größere Furcht vor der Entdeckung derselben. Er „sammelte“ sich noch immer zu der bevorstehenden Rebellion.

Der Ritt ging durch das weite, offene Land. Zur Linken der Nil, der jetzt, wo die Sonne noch nicht hoch stand, wie ein breites silbernes Band schimmerte, zur Rechten, noch von blauem Morgenduft umwoben, die fernen arabischen Gebirge. Hier und da erhoben sich einzelne Palmengruppen und in der Ferne zeigte sich bereits das Ziel, die Tempelruinen von Karnak. Darüber wölbte sich der Himmel im tiefsten, klarsten Blau und heller Sonnenglanz erfüllte die ganze Landschaft.

„Ein herrlicher Morgen!“ sagte Reinhart zu seiner Nachbarin. „Wir hätten nur etwas früher aufbrechen sollen, die Sonne fängt schon an, sich lästig zu machen, und wir haben heute den dreiundzwanzigsten Dezember – nach deutschen Begriffen ein merkwürdiges Klima!“

„Ein verrücktes Klima ist es!“ rief Ulrike ärgerlich. „Jetzt haben wir in Martinsfelde zwanzig Grad Kälte und dichtes Schneegestöber!“ Sie seufzte, als empfände sie Sehnsucht nach den eben geschilderten Annehmlichkeiten, und fuhr dann zornig fort: „Und das nennt sich nun hier Weihnachtszeit! Aber in diesem Wüstenlande ist ja alles verkehrt, sogar die Jahreszeiten sind aus Rand und Band. Hier schwitzt man schon am frühen Morgen und noch dazu auf einem Esel. Es ist ein schändliches Vergnügen, das Reiten!“ Sie ritt stumm in dräuender Haltung weiter, blickte mit unendlicher Verachtung auf den braven „Ramses“ nieder, der sich diese Geringschätzung durchaus nicht anfechten ließ und ruhig vorwärts trottete. Der kleine braune Führer trabte nebenher und schaute mit seinen listigen schwarzen Augen unverwandt zu Reinhart empor, bis dieser ihm ein paar arabische Worte sagte.

Auf einmal blieb „Ramses“ stehen und war nicht mehr vorwärts zu bringen. Alles Reißen und Zerren half nichts, er schien den weiteren Dienst verweigern zu wollen.

„Oho, was ist denn das? Ibrahim, was hat das Tier?“ rief Ehrwald und griff nun selbst in die Zügel; das hatte aber nur zur Folge, daß der Esel sich in einer ganz merkwürdigen Weise herumdrehte und mit dem Kopf nach rückwärts zu stehen kam. In demselben Augenblick gab ihm Ibrahim einen tüchtigen Schlag und nun lief „Ramses“ allerdings, aber in der verkehrten Richtung; der Junge, anstatt ihn aufzuhalten, rannte mit gellendem Geschrei hinter ihm drein und machte die Sache dadurch nur ärger. Reinhart warf sofort sein Tier herum und galoppierte nach, er erreichte den Flüchtling auch nach wenigen Minuten, aber dieser sah das als eine Aufforderung an, gleichfalls zu galoppieren. Er griff tüchtig aus und wie die wilde Jagd ging es nach Luksor zurück.

Die Zurückgebliebenen hatten natürlich Halt gemacht und Selma rief in tödlichem Schrecken: „Um Gottes willen – Ulrike! – Das Tier geht mit ihr durch!“

„Nicht doch, es galoppiert nur ein wenig,“ beruhigte sie der Doktor, der sofort an ihrer Seite war. „Ehrwald ist ja dabei, da geschieht nichts, wir können ganz ruhig weiter reiten. Nicht wahr, Herr Professor?“

„Jawohl!“ versetzte der Professor in kühlem Tone. „Aengstigen Sie sich nicht, Frau Mallner, wenn Ehrwald dabei ist, hat die Sache keine Gefahr. Sehen Sie, er bringt das Tier ja schon zum Stehen! Wir kommen zu spät nach Karnak, wenn wir uns zu lange aufhalten. Ich reite weiter.“

„Ich auch!“ rief Herr Ellrich kühn. Man sah, allerdings in ziemlich weiter Entfernung, daß die Tiere standen und daß Ehrwald aus dem Sattel sprang, trotzdem weigerte sich Selma, weiter zu reiten, und wollte durchaus warten. Da beugte sich der Doktor zu ihr hinüber und sagte so leise, daß nur sie ihn verstehen konnte: „Machen Sie es uns doch nicht so schwer! Ehrwald opfert sich ja nur auf, für mich – für uns beide.“

Die junge Frau wurde purpurrot, sie fing erst jetzt an, den Zusammenhang zu begreifen, und in höchster Verwirrung stammelte sie: „Wenn nur – wenn nur keine Gefahr dabei ist!“

„Nicht die mindeste, mein Wort darauf. Ehrwald hat die Verantwortung übernommen. Kommen Sie!“

Selma warf noch einen Blick zurück, sie sah, daß Ulrike jetzt mit Hilfe des jungen Mannes abstieg, und nun widerstrebte sie auch nicht länger, der kleine Zug setzte sich wieder in Bewegung.

Inzwischen hatte Fräulein Mallner ihren Wüstenritt mit ihren beiden Begleitern gemacht. Ramses hatte galoppiert, was er nur konnte; zur Rechten rannte Ibrahim und schrie aus vollem Halse: „Yalla! Yalla!“ Zur Linken jagte Reinhart, bereit, jeden Augenblick einzugreifen, wenn die Sache gefährlich wurde, aber er unterschätzte die Energie der Dame, die sich bei diesem Abenteuer durchaus nicht furchtsam, aber um so wütender zeigte. Als nun vollends ihr Sonnenschirm wie ein Luftballon davonflog und sich ausgespannt auf dem Wüstenboden niederließ, da hätte sie beinahe eine wirkliche Gefahr heraufbeschworen, indem sie den unschuldigen Esel zu prügeln begann. Sich mit der Rechten am Sattelknopf festhaltend, puffte sie mit der Linken den armen „Ramses“, der das jedoch übelnahm. Er machte einen so bedenklichen Sprung, daß Ehrwald nichts übrig blieb, als in die Zügel zu greifen und ihn zum Stehen zu bringen.

Sie machten Halt. Ulrike war vorläufig noch atemlos. Ehrwald wetterte und schalt auf arabisch mit Ibrahim, der das anscheinend sehr zerknirscht hinnahm. Aber nach Verlauf von einigen Minuten bekam das Fräulein die Sprache wieder und nun brach das Ungewitter los. „Das ist ja eine heillose Wirtschaft hier in dieser Wüste! Die Sonnenschirme gehen verloren und die Esel gehen durch. Und dieser braune Range rennt und schreit wie besessen, anstatt zuzugreifen, der dümmste Bauernjunge in Martinsfelde hätte sich klüger benommen.“

„Ja, Ibrahim hat vollständig den Kopf verloren, ich habe ihn auch deswegen tüchtig ausgescholten,“ sagte Reinhart, aber nun kam die Reihe an ihn. Ulrike, anstatt sich für die geleistete Hilfe dankbar zu zeigen, fuhr ihn an: „Nun, Sie haben sich auch nicht viel klüger benommen! Sie galoppierten ja eine ganze Weile neben mir, ohne die Hand zu rühren. Warum griffen Sie nicht gleich in die Zügel?“

„Das war mir leider nicht möglich. Aber ich glaube, es ist besser, Sie steigen ab, dem Tiere muß irgend etwas sein, ich werde nachsehen.“

Fräulein Mallner war diesmal ausnahmsweise einverstanden mit dem Vorschlag, sie stieg mit Reinharts Hilfe ab und sah sich nun erst nach der anderen Gesellschaft um. Sie gewahrte mit namenloser Entrüstung, daß man von ihrer Abwesenheit gar keine Notiz nahm, sondern ruhig weiter ritt. Wer weiß, was da geschah!

Ulrike geriet in die äußerste Ungeduld und als die Untersuchung des braven „Ramses“, der jetzt wieder lammfromm dastand, noch immer kein Ende nahm, fuhr sie dazwischen.

„Sind Sie denn noch nicht fertig? Wir müssen aufsteigen, die anderen sind schon weit voraus.“

„Ich fürchte, Sie können den ‚Ramses‘ nicht wieder besteigen,“ erklärte Reinhart mit bedenklicher Miene. „Dem Tiere ist durchaus nichts, aber es scheint bösartige Mucken zu haben, und das kann gefährlich werden. Wir wollen gleich einmal die Probe machen.“

Er setzte sich quer auf den Damensattel und ritt eine kurze Strecke weit, aber unter seiner Hand fing der Esel augenblicklich an zu bocken und vorn und hinten auszuschlagen, die Sache sah äußerst gefährlich aus.

„Ich dachte es mir!“ sagte der junge Mann, indem er wieder herabsprang. „Sie werden den Ausflug aufgeben müssen, Sie hatten ja ohnehin keine Lust dazu.“

Fräulein Mallner sah ihn argwöhnisch an, in ihrer Seele tauchte ein dunkler Verdacht auf, die Sache gehe nicht ganz mit rechten Dingen zu.

„Das würde Ihnen und dem Doktor wohl passen?“ fragte sie höhnisch. „Es fällt mir gar nicht ein, zurückzubleiben. Geben Sie mir Ihren Esel, wir tauschen die Sattel und Sie werden mit dem bösartigen Vieh schon fertig werden.“

„Mein Esel trägt keinen Damensattel, er ist nur für Herren zugeritten,“ behauptete Reinhart mit der größten Bestimmtheit. „Wenn Sie durchaus auf den Ritt bestehen, dann müssen wir Ibrahim nach Luksor zurückschicken und ein anderes Tier holen lassen. Es kann aber eine Stunde dauern, bis er zurückkommt.“

„Und wenn es zwei Stunden dauert, ich will nach Karnak, ich warte!“

Mit dieser energischen Erklärung setzte sich Ulrike zum Schrecken ihres Begleiters mitten in den Wüstensand, gleichzeitig machte sie Ibrahim durch Zeichen begreiflich, er solle ihren Sonnenschirm holen, [123] der in nicht allzuweiter Entfernung lag. Das war nun allerdings eine verzweifelte Lage für Ehrwald, er konnte doch füglich nicht auf und davon reiten und das Opfer seiner Intrigue mutterseelenallein hier zurücklassen, und der unschuldige „Ramses“ war nun einmal für boshaft und gefährlich erklärt worden, man mußte notgedrungen dabei stehen bleiben. Reinhart machte noch einige Versuche, die energische Dame umzustimmen, aber vergebens, sie blieb sitzen, und so ergab er sich denn in das Unvermeidliche. Er sandte Ibrahim mit seinem Esel nach Luksor zurück und schalt ihn der Form wegen noch einmal aus. Der Junge trabte davon, immer noch ganz zerknirscht, mit gesenktem Kopfe, er war aber kaum hundert Schritte weit entfernt, da streichelte er seinen „Ramses“, als wollte er ihn für das ausgestandene Ungemach entschädigen, und lachte wie ein Kobold.

Reinhart überreichte inzwischen mit einer ritterlichen Verbeugung den zurückgebrachten Sonnenschirm, dann setzte er sich gleichfalls in den Wüstensand und sagte: „So, Fräulein Mallner, nun haben wir eine Stunde Zeit – nun wollen wir uns freundschaftlich unterhalten!“ –

Sonneck und seine Begleiter waren längst in Karnak eingetroffen, aber sie warteten auf den Professor, der versprochen hatte, den Führer zu machen, und der denn auch eine Viertelstunde später mit dem übrigen Nachtrab anlangte. Es wurde ihnen zuvörderst die Abwesenheit der beiden Zurückgebliebenen erklärt; sie kamen jedenfalls bald nach und konnten sich dann der Gesellschaft anschließen, die sofort die Wanderung durch die Tempelruinen begann. Aber schon nach wenigen Minuten waren Herr Doktor Bertram und Frau Selma Mallner verschwunden, was freilich nur Sonneck und Herr Ellrich bemerkten. Der erstere lächelte still vor sich hin und der letztere hielt gewissenhaft die versprochene Neutralität ein. Er wich nicht von der Seite des Professors und – ließ der Jugend ihr Recht.

So war mehr als eine Stunde vergangen, die Gesellschaft wanderte in den weit ausgedehnten Tempel- und Säulenhallen umher, staunte die Macht und Größe einer versunkenen Welt an und lauschte andächtig den Erklärungen des Professors. Aber zweie gab es, für die all diese Größe und Weisheit verloren war. Sie hatten weder Auge noch Ohr für die tote, mächtige Vergangenheit, sie hatten nur mit der lebendigen Gegenwart zu thun.

Fern am Rande des Tempels, wo eigentlich gar nichts zu sehen war und wohin sich nur selten der Fuß eines Besuchers verirrte, saß das junge Paar, vor sich die weite, sonnenbeglänzte Landschaft, über sich den tiefblauen Himmel, und auf den alten tausendjährigen Trümmern blühte ein junges neues Menschenglück empor.

Selma saß auf einer umgestürzten Säule und neben ihr Doktor Bertram, der den Arm zärtlich um sie gelegt hatte. Das blonde Köpfchen ruhte an seiner Schulter und die blauen Augen blickten zu ihm empor, aber es standen ein paar Thränen darin.

„Ja, ich bin Dir gut!“ sagte die junge Frau, einfach und innig. „Und ich bin Dir so dankbar für Deine Liebe. Mich hat ja niemand lieb gehabt seit meiner frühsten Kinderzeit, wo die Eltern starben, ich habe es immer nur hören müssen, daß man mir Gnade und Barmherzigkeit erwies, die ich eigentlich gar nicht verdiente, und ich bin so unglücklich gewesen in dem düsteren Hause von Martinsfelde – so grenzenlos unglücklich!“

Bertram streichelte leise das blonde Haar; man hätte nicht geglaubt, daß die Stimme des sonst so übermütigen jungen Mannes einen so ernsten, weichen Klang haben könne wie jetzt, als er antwortete: „Mein armes, süßes Kind! Ich weiß es ja, wie einsam und trostlos Dein Dasein gewesen ist, aber jetzt ist die schlimme Zeit vorbei, jetzt kommt der Sonnenschein. Ich werde es meiner Selma schon zeigen, daß das Leben auch Glück gewährt.“

Das glückselige Lächeln, mit dem Selma zu ihm aufschaute, verriet, wie unbedingt sie dieser Versicherung glaubte, und sich fester an ihn schmiegend, flüsterte sie: „Du sagst ja, ich sei gesund und würde es bleiben. Damals, als ich krank wurde, wäre ich gern gestorben, aber jetzt – jetzt möchte ich so gern leben!“

„Das wollte ich mir auch ausbitten!“ rief der Doktor. „Ich fange ja auch jetzt erst an zu leben. Ich bin allerdings frei gewesen und lustig durch die weite Welt gefahren, aber das Beste hat mir doch gefehlt, das halte ich erst jetzt in den Armen, und nun will ich es auch festhalten, mein Leben lang!“

Damit küßte er seine Braut, das heißt, er fing damit an und hörte vorläufig nicht auf, während er ab und zu ihr leise zärtliche Worte in das Ohr flüsterte, und Selma ließ sich das ohne Widerstreben gefallen, die beiden hatten die ganze Welt vergessen.

„Ich gratuliere von ganzem Herzen!“ ertönte plötzlich Ehrwalds Stimme, der hinter einer Säule auftauchte. „Bitte tausendmal um Entschuldigung, wenn ich störe, aber ich muß das Sturmsignal geben – sie ist im Anzuge!“

„Hat nichts mehr zu sagen, wir sind einig!“ rief der Doktor, indem er freudestrahlend aufsprang. „Ehrwald – hier meine Braut!“

Selma hatte sich gleichfalls erhoben und empfing errötend den wiederholten Glückwunsch Reinharts, der jetzt zum Aufbruch drängte. „Und nun hin zu der Gesellschaft und die Verlobung bekannt gemacht! Sie haben noch zehn Minuten Zeit und es ist am besten, die Sache wird gleich veröffentlicht.“

Bertram war durchaus einverstanden mit diesem Vorschlag, ihm war es nicht entgangen, daß Selma bei der Nachricht von der Ankunft ihrer Schwägerin erschrocken zusammenfuhr. Wenn die Verlobung öffentlich verkündet war, gab es keinen Widerspruch mehr. Sie kehrten alle drei zu der Gesellschaft zurück.

Inzwischen hielt Ulrike Mallner ihren Einzug durch das Thor des Tempels. Der zweite Ritt war ohne Hindernis verlaufen, aber der Ritter, der bisher getreulich bei ihr ausgehalten, hatte sie kurz vor dem Ziele verlassen, um das „Sturmsignal“ zu geben. Er überließ es Ibrahim, ihr aus dem Sattel zu helfen.

Sie brauchte die Gesellschaft nicht erst zu suchen, ein lautes, fröhliches Stimmengewirr zeigte ihr den Weg, aber beim Eintritt in die große Säulenhalle blieb sie stehen, als sei sie, wie die Frau des seligen Loth, in eine Salzsäule verwandelt. Die ganze Gesellschaft drängte sich um einen einzigen Mittelpunkt, das war er, der Doktor, mit Selma an seinem Arme! Alles gratulierte und schüttelte ihnen die Hände und Herr Ellrich, dieser Verräter, war mitten darunter! Ulrike sah es mit einem einzigen Blick, die Schlacht war verloren, der Feind hatte gesiegt!

Er zögerte auch nicht, diesen Sieg zu benutzen. Kaum gewahrte er seine Gegnerin, so ging er mit seiner Braut auf sie zu und sagte mit einer wahrhaft vernichtenden Artigkeit: „Sie finden hier ein Brautpaar, Fräulein Mallner. Selma hat mich durch ihr Jawort sehr glücklich gemacht, wir erlauben uns, auch um Ihren Glückwunsch zu bitten.“

Und Selma, die schüchterne willenlose Selma, schien im Bewußtsein des Schutzes, den sie genoß, auf einmal mutig geworden zu sein. Sie zitterte nicht und sank nicht in den Boden, als sie der Blick ihrer Schwägerin traf, sie bestätigte vielmehr das Unglaubliche, leise aber doch mit ziemlich fester Stimme:

„Ja, liebe Ulrike, ich habe mich soeben verlobt.“

Der selige Martin hatte sich nach der Versicherung seiner Schwester im Laufe der letzten Monate sehr oft in seinem Grabe umgedreht, und zwar pflegte er dies nach derselben Quelle gewöhnlich dreimal hintereinander zu thun. Jetzt hatte das keinen Zweck mehr, er blieb ganz ruhig liegen, seine Rolle als Gespenst war ausgespielt. Sprachlos nahm Ulrike die Erklärung Selmas entgegen.

Glücklicherweise beugte der Professor der peinlichen Scene vor, die kommen mußte, wenn jetzt Ulrike das Wort für ihre Erregung fand. Er machte der jungen Frau scherzhafte Vorwürfe, daß seine altägytischen Erklärungen durch ihre Verlobung einen ganz modernen Schluß erhalten hätten und daß er sich das nicht gefallen lassen könne. Währenddessen fand der Doktor endlich Zeit, Ehrwald heimlich die Hand zu drücken.

„Ich danke Ihnen,“ sagte er leise, „das war ein Freundschaftsstück.“

„Aber das heißeste, das ich je geleistet habe!“ gab Reinhart lachend zurück. „Eine volle Stunde habe ich im Wüstensande gesessen mit dieser liebenswürdigen Dame und mich schlecht behandeln lassen wie Herr Ellrich – die Schuld von damals ist mit Zinsen heimgezahlt.“

Ulrike hatte sich inzwischen einigermaßen gefaßt. Sie wäre am liebsten wie ein Racheengel zwischen die beiden getreten, aber soviel Besinnung besaß sie doch, sich zu sagen, daß, wenn Selma überhaupt den Mut hatte, sich ihrer Bevormundung zu entziehen, sie machtlos war. Doch ein Opfer wenigstens mußte sie haben und so stürzte sie sich auf den armen Ellrich und schleppte ihn bis an den Fuß einer fernen Säule.

„Auf Sie habe ich mich verlassen!“ raunte sie ihm mit halberstickter Stimme zu. „Aber Sie haben mein Vertrauen schmählich getäuscht. Sie haben dabei gestanden und ohne Einsprache alles mit angesehen!“

„Nein, dabeigestanden habe ich nicht,“ erklärte Herr Ellrich, der [124] sich nun endlich genügend „gesammelt“ hatte und kühn die Rebellion begann. „Das haben die Herrschaften ganz allein unter sich abgemacht. Aber gratuliert habe ich, und ich war der erste, der es that!“

Ulrike rang nach Atem, um ihrer Entrüstung freien Lauf zu lassen, da trat Sonneck heran.

„Fügen Sie sich ins Unvermeidliche, Fräulein Mallner,“ sagte er begütigend. „Sehen Sie nur, wie glücklich das junge Paar ist, und gönnen Sie ihm doch dieses Glück! Ich habe es stets für ein Unrecht gehalten, daß Sie so hartnäckig widerstrebten. Ich war von Anfang an auf Seiten des Doktors.“

Ulrike sah ihn an, der Blick sagte deutlich: Auch Du, der Einzige, den ich für einen Menschen gehalten habe! Dieser letzte Schlag machte sie verstummen, sie wandte sich nur und schritt in die tiefste Tiefe der Säulenhalle, aber sie mußte es doch noch mit anhören, welche Rache Herr Ellrich für seine lange Sklaverei nahm. Er trat nämlich in die Mitte des Kreises und rief so laut er nur konnte: „Das Brautpaar soll leben – hoch!“

Und „hoch!“ hallte es von allen Seiten wieder, die ganze Gesellschaft fiel freudig ein, sogar die Eselsjungen draußen, die neugierig hereinschauten, schrieen mit. Sie verstanden zwar durchaus nicht, was da drinnen vorging, aber sie merkten doch, daß es etwas sehr Vergnügliches war.

[133] Im Hause des Herrn von Osmar wurde das Weihnachtsfest gefeiert und er hatte selbstverständlich die drei deutschen Herren dazu eingeladen. Sonneck, der am nächsten Tage seine Leute mit dem Gepäck aus Kairo erwartete, wollte dann unverzüglich aufbrechen, und aus diesem Grunde waren die Einladungen nicht weiter ausgedehnt worden. Man wollte noch einmal im engsten Kreise bei einander sein, bevor der Freund des Hauses auf lange Zeit schied. Man sah ihn freilich diesmal nicht ungern scheiden, denn mit ihm zog auch der Störenfried, der nun einmal sein unzertrennlicher Begleiter war, hinaus in die weite Ferne.

Der Konsul hatte es während der letzten Zeit doch eingesehen, daß die thörichte Schwärmerei seiner Tochter ernster zu nehmen sei als eine bloße Laune, wenn er auch noch immer nicht an eine wirkliche Gefahr glaubte. Daß Zenaide eine geheime Neigung für diesen Reinhart Ehrwald hegte, war nicht zu verkennen, aber Osmar wollte seinen Freund nicht beleidigen, indem er dessen [134] Schützling sein Haus verbot. Ueberdies wünschte er jeden gewaltsamen Schritt zu vermeiden, denn das hätte der Sache eine Wichtigkeit gegeben, die sie nicht haben sollte und durfte, es war am besten, sie einfach totzuschweigen. Der Konsul zweifelte nicht daran, daß seine Tochter sich schließlich doch seinen Wünschen fügen werde; und der Roman nahm von selbst ein Ende, sobald der Held desselben vom Schauplatz verschwand. Zum Glück war der junge Mann taktvoll oder empfindlich genug, den wortlosen Wink zu verstehen, den man ihm gab, und blieb möglichst fern.

Lord Marwood, der sich nun schon mehrere Wochen als Gast in Luksor befand, war freilich mit seiner Bewerbung noch keinen Schritt vorwärts gekommen. Die Hoffnungen, welche er auf das tägliche ungestörte Beisammensein gesetzt hatte, verwirklichten sich nicht. Wenn Zenaide in Kairo ihm gegenüber gleichgültig gewesen war, so zeigte sie jetzt eine entschieden ablehnende Haltung, so daß der junge Lord noch gar nicht versucht hatte, mit einem Antrage hervorzutreten, dessen Mißerfolg er voraussah. Trotzdem dachte er nicht daran, seine Werbung aufzugeben. Francis gehörte zu jenen zähen beharrlichen Naturen, die das, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt haben, um jeden Preis durchführen, sei es auch aus bloßem Eigensinn. Er wußte, welchen mächtigen Rückhalt er an dem Vater hatte, und baute darauf. Mit Ehrwald, den er bei dessen seltenen Besuchen doch immerhin sehen mußte, hatte er sich auf den Fuß eisiger Ablehnung gestellt, die kaum durch die äußeren Formen der Höflichkeit verschleiert wurde, und das war in der That die einzig mögliche Art des Verkehrs zwischen ihnen.

Der Landsitz des Generalkonsuls entsprach ebenso wie sein Haus in Kairo seinem Reichtum, aber hier am Nil herrschte das orientalische Element entschieden vor. Es war ein Sommerpalast, wie ihn die vornehmen Aegypter zu bewohnen pflegen, ein weißes, schimmerndes Gebäude mit luftigen Hallen und Terrassen, von einem förmlichen Walde der schönsten Palmen umgeben. Wie ein Märchenschloß lag es da am hohen Uferrande des Nils und blickte weit hinaus in das Land.

Die große Halle, die den ganzen mittleren Raum des Hauses einnahm, trug gleichfalls ein echt morgenländisches Gepräge. Die Diwans an den Wänden waren mit reichen Teppichen bedeckt, Schaukelstühle, kleine Tische und Sessel aus zierlichem Bambusgeflecht standen überall zerstreut, und in der Mitte sandte eine Fontäne ihren hellen kühlen Strahl empor, von Palmenfächern und blühenden tropischen Gewächsen umgeben. Hier stand auch der Christbaum, eine hohe Tanne, die vom Südabhange der deutschen Alpen stammte, man hatte sie mit der Wurzel ausgehoben und keine Mühe gespart, um sie frisch zu erhalten. Sie hatte die weite Reise über das Meer und den Nil aufwärts gemacht, jetzt stand sie hier im fernen Wüstenlande und breitete ihre dunkelgrünen, harzduftenden Zweige aus, die nach deutscher Sitte mit Lichtern geschmückt waren.

Die kleine Gesellschaft war soeben vom Tische aufgestanden und hatte sich in der Halle niedergelassen; man befand sich im lebhaften Gespräch, nur Zenaide nahm fast gar keinen Anteil daran. Sie lehnte schweigsam und träumerisch in einem Schaukelstuhl, der etwas abseits stand, die kleine Elsa dagegen lief mit lautem Jubel um den Christbaum und staunte die strahlenden Lichter an. Man hatte sie bereits angezündet, obwohl es draußen noch Tag war, aber in dem hohen halbdunklen Raume leuchteten sie schon mit vollem Glanze.

„Sieh Dir den Christbaum an, Reinhart!“ sagte Sonneck halb scherzend. „Wer weiß, wann Du wieder einen zu sehen bekommst. Wir kehren ja jetzt der ganzen europäischen Civilisation auf Jahre hinaus den Rücken.“

„Denken Sie so lange fortzubleiben?“ fragte Lord Marwood in seiner gewohnten kühlen Art.

„Ich habe vorläufig zwei Jahre für unsere Expedition in Aussicht genommen, das heißt, wenn wir ohne Hindernisse und Zwischenfälle unser Ziel erreichen und den Rückzug ebenso bewerkstelligen können. Darauf ist aber nicht zu rechnen bei einem solchen Unternehmen. Wir werden mit den elementaren Gewalten ebenso zu kämpfen haben wie mit der Feindseligkeit der Eingeborenen und der Unzuverlässigkeit unserer eigenen Leute. Ein Weg, den man offen glaubt, verschließt sich oft durch irgend ein zufälliges Ereignis. Wo man vorwärts zu kommen hoffte, wird man tage- und wochenlang aufgehalten, und der Durchzug durch manche Gebiete muß erst erobert werden. Das alles ist unberechenbar, und es kann leicht noch ein Jahr länger dauern, bevor wir zurückkehren.“

Der junge Lord schien diese Auskunft ungemein befriedigend zu finden, mit beinahe heiterer Miene trat er zu der jungen Dame und versuchte eine Unterhaltung anzuknüpfen. Der Konsul aber sagte kopfschüttelnd: „Ein aufreibendes Leben, voll ewiger Kämpfe und Gefahren! Mich soll nur wundern, wie lange Sie es noch aushalten, Sonneck! Ich wäre nicht geschaffen dafür.“

„Man gewöhnt sich eben daran wie an alles, und der wilde Bursche da“ – Sonneck wies auf seinen jungen Gefährten – „der freut sich ja maßlos darauf. Er weiß sich gar nicht zu fassen vor Jubel darüber, daß es nun endlich fortgeht und er die Ferne mit ihren Wundern wie mit ihren Gefahren kennenlernen soll. Nun, sie wird ihm beides nicht schuldig bleiben.“

„Das hoffe ich!“ rief Reinhart aufflammend. „Ich habe es mir auch verdient durch das lange, endlose Warten. Jetzt geht es hinaus – Gott sei Dank!“

Die stürmische Freude, die in den Worten lag, entlockte sogar Herrn von Osmar ein flüchtiges Lächeln. Der junge Mann da mochte ja vielleicht einmal kecke Wünsche und Hoffnungen gehegt haben, aber er hatte wohl längst eingesehen, daß sie sich nicht verwirklichen ließen. Jetzt stand die alte Abenteurerlust wieder bei ihm im Vordergrunde, und die gönnte er ihm von Herzen.

„Ja, so ist die Jugend!“ sagte Professor Leutold ärgerlich. „An den ernsten wissenschaftlichen Zweck denkt sie gar nicht, sie hat nur die Abenteuer der Reise im Kopfe, und je toller es dabei zugeht, um so besser ist es.“

Lord Marwood hatte sich inzwischen Mühe gegeben, die Aufmerksamkeit der jungen Dame zu wecken, aber umsonst. Sie antwortete einsilbig und zerstreut und schien kaum zu hören, was er sagte. Sie war überhaupt heute abend auffallend bleich und still, und ihr Auge verlor sich immer wieder träumend in die Ferne, als sei sie mit ihren Gedanken ganz wo anders.

Da trat Reinhart Ehrwald heran und wandte sich mit einer ganz gleichgültigen Frage an sie. Zenaide schreckte leicht zusammen bei dem Klang seiner Stimme, aber ihr blasses Antlitz gewann einen rosigen Schein, der Blick belebte sich, fort waren Zerstreutheit und Träumerei und auf ihren Lippen erschien jenes Lächeln, das sie so reizend machte. Francis zog finster die Stirn zusammen, er kannte ja diese Zeichen, die er nicht zum erstenmal beobachtete, aber sie erfüllten ihn immer wieder von neuem mit eifersüchtiger Wut.

Eben ging drüben hinter den Palmen des jenseitigen Nilufers die Sonne unter und nun entfaltete sich jenes sinnberückende Farbenspiel, das hier stets den Sonnenuntergang zu begleiten pflegt. Himmel und Erde erglühten in feuriger Pracht, das leuchtete, flammte und blitzte überall und spiegelte sich wieder in den Fluten des Stromes. Es war ein Bild, wie mit Glutfarben gemalt, von fremdartiger, blendender Schönheit.

„Ein seltsames Weihnachtsfest!“ sagte Reinhart, der wie verloren schien in den Anblick. „Im vergangenen Jahre hätte ich es mir nicht träumen lassen, daß ich es hier am Nil verleben würde.“

„Und doch finden Sie auch hier einen Gruß aus der Heimat!“ warf Zenaide lächelnd hin. „Unsere Tanne stammt aus den deutschen Alpen.“

Ehrwald wandte sich um und blickte auf den strahlenden Christbaum.

„Die arme Tanne! Sie steht so fremd hier im heißen Afrika, unter Palmen und Tropenblüten. Es ist, als sehne sie sich nach Eis und Schnee.“

„Ja, das können wir ihr hier freilich nicht schaffen,“ scherzte die junge Dame. „Ich glaube beinahe, Sie sehnen sich auch danach, und wir feiern doch hier ein viel schöneres Weihnachtsfest als droben im kalten Norden, wo es stürmt und schneit. Mich friert schon bei dem bloßen Gedanken daran.“

„Weil Sie es nicht kennen! Das ist ja kein Weihnachten, was Sie hier feiern, unter diesem flammenden Himmel, das ist ein Fest wie jedes andere, eins von den Märchen aus ‚Tausend und eine Nacht‘. In unseren Bergen, da kommt das Christfest mit klingendem Frost, mit sternfunkelndem Himmel und leuchtendem Mondesglanz. Blendender Schnee ringsum, auf den Höhen, in den Thälern, auf den dunklen Tannen, die ganze Welt erstarrt in eisiger Pracht wie ein funkelndes Zauberreich. Aber um Mitternacht, da löst sich der Bann, da ziehen die Glockenklänge über Berg und Thal, das fernste Kirchlein, das kleinste Kapellchen [135] erhebt seine Stimme, um die heilige Nacht zu grüßen, und aus den Tiefen des finsteren verschneiten Waldes, da taucht er wieder auf, der Weihnachtszauber, der uns in unserer Kindheit umspann mit seinen Märchen und Sagen – das muß man erlebt haben, um es zu lieben!“

Zenaides Augen hingen an seinen Lippen, diese halb phantastische, halb leidenschaftliche Sprache fand einen Wiederhall in ihrem Innern. Lord Marwood mußte wieder einmal die Erfahrung machen, daß er gar nicht da zu sein schien für die junge Dame, sobald jener andere in ihrer Nähe war. Trotzdem wich und wankte er nicht von seinem Platze; glücklicherweise that der Professor jetzt eine Frage an Ehrwald, die diesen nötigte, wieder zu den Herren zu treten, und Francis behauptete das Feld. Da kam die kleine Elsa gelaufen, mit einem kleinen Tannenzweig, den ihr Sonneck vom Christbaum gebrochen hatte, und rief fröhlich: „Schau, Tante Zenaide, was ich habe! Ich will in den Garten gehen und es Hassan zeigen. Darf ich?“

„Ja, Elsa, ich gehe mit Dir – komm, mein Kind,“ sagte die junge Dame, indem sie sich rasch erhob. Sie nahm die Hand des Kindes, neigte leicht das Haupt gegen Marwood und schritt über die Terrasse in den Garten. Francis biß sich auf die Lippen, und in seinen matten Augen lag ein beinahe drohender Ausdruck, als er ihr nachblickte. Es war gut, daß dieser Mensch nun endlich ging, sonst ließ man sich doch noch einmal hinreißen ihm gegenüber!

Am Ende des Gartens, weit entfernt von dem Hause, breitete eine mächtige Sykomore ihre dunklen Aeste über einen Ruhesitz. Hier saß Zenaide, sie hatte beide Arme um ihren kleinen Liebling gelegt und das lange zurückgehaltene Weh machte sich jetzt in Thränen Luft. Sie hatte alles gehofft von diesem Aufenthalte in Luksor, wo man sich öfter und zwangloser sehen konnte als in der Stadt, und nun war ihr Reinhart hier so fern gewesen wie nie zuvor. Er war kaum dreimal gekommen in der ganzen Zeit. Wagte er es wirklich nicht, um die reiche, gefeierte Erbin zu werben, oder hatte sie sich getäuscht damals, als er so weich und bittend fragte: darf ich kommen? Jetzt stand die Trennung unmittelbar bevor und er hatte nicht gesprochen!

Das Kind versuchte vergebens, seine junge Beschützerin zu trösten, an der es mit großer Zärtlichkeit hing; es schmeichelte, bat und fragte immer wieder, warum denn die Tante so weine. Da preßte Zenaide die Kleine an sich und flüsterte in ausbrechendem Schmerz und völliger Selbstvergessenheit: „Weißt Du es denn nicht, Elsa? Er geht ja fort und kommt vielleicht niemals wieder!“

Klein-Elsa war ein kluges Kind, sie wußte ganz genau, wer in den nächsten Tagen fortging, und wußte auch, daß mit dem „er“ nicht der Onkel Sonneck gemeint sei. Aber der kurze Waffenstillstand, den sie in jener seltsamen Mittagsstunde mit ihrem alten Gegner geschlossen hatte, war längst schon wieder vorüber. Sie warf daher trotzig das Köpfchen zurück und sagte mit großer Entschiedenheit: „Laß ihn gehen, Tante Zenaide! Du sollst nicht um ihn weinen, ich mag ihn gar nicht!“

Da ertönten Schritte in unmittelbarer Nähe, Zenaide schreckte empor, aber sie hatte keine Zeit mehr, ihre Thränen zu trocknen, denn Ehrwald stand bereits vor ihr. Er wollte rasch näher treten, da warf er einen Blick auf ihr Gesicht und hielt bestürzt inne.

„Mein gnädiges Fräulein – ich bitte um Verzeihung – ich störe wohl?“

Die junge Dame hatte sich rasch gefaßt, sie erhob sich, die Arme noch um die Schultern des Kindes gelegt, und versuchte zu lächeln.

„Nicht doch, ich ich weinte nur, weil ich nun meinen kleinen Liebling verlieren soll, und ich hätte ihn doch so gern behalten. Er soll ja fort, schon in den nächsten Tagen!“

Reinhart sah sie an, er wußte es besser, welcher Trennung diese Thränen galten, aber er gab sich natürlich den Anschein, dem Vorwande zu glauben, und begann ein Gespräch. Sie fanden aber beide den gewohnten Ton nicht, sie hatten etwas ganz anderes auf dem Herzen als die gleichgültigen Worte, die von ihren Lippen fielen, und es traten immer wieder längere oder kürzere Pausen ein.

Die Farbenglut des Sonnenunterganges war verblaßt, nur am westlichen Horizont schimmerte noch tiefer Purpur, und sein letzter Wiederschein glänzte in den Fluten des Nils. Drüben am jenseitigen Ufer schritt langsam ein Zug von Kamelen dahin, auf dem ersten ein Beduine, in weißem wallenden Gewande, die anderen trugen hochgetürmte Lasten. Sie hoben sich scharf und dunkel wie Silhouetten ab von dem lichten Abendhimmel. Auf dem Nil schwamm eine Dahabiye vorüber, das Segel leicht geschwellt vom Abendwinde, während die Ruder sich taktmäßig hoben und senkten. Der Gesang der Schiffer klang herüber durch die Stille, eine einförmige, schwermütige Weise, die vielleicht schon vor mehr als tausend Jahren erklungen war auf den Wogen des alten heiligen Stromes.

„Ich komme auch, um Lebewohl zu sagen!“ hob Reinhart nach einem längeren Stillschweigen wieder an.

Zenaide erbleichte. „Schon jetzt?“

„Ich werde morgen mit Herrn Sonneck den förmlichen Abschiedsbesuch machen, aber da sehe ich Sie nur in Gegenwart Ihres Vaters und des Lord Marwood, und ich wollte Sie vorher noch einmal allein sehen und sprechen.“

Das junge Mädchen antwortete nicht, aber alles Blut drängte stürmisch nach ihrem Herzen. Wollte er jetzt endlich das entscheidende Wort sprechen – endlich?

„Ich bin in der letzten Zeit Ihrem Hause größtenteils ferngeblieben,“ fuhr Reinhart fort. „Sie haben mir einen Vorwurf daraus gemacht, ich weiß es.“

„Wenigstens habe ich es mir nicht erklären können. Warum kamen Sie nicht?“

„Weil ich es nicht ertragen kann, ein unwillkommener Gast zu sein.“

„Unwillkommen – bei mir?“

„Nicht bei Ihnen, aber bei Ihrem Vater!“

„Er hat Sie doch nicht beleidigt?“ Es klang eine geheime Angst in der Frage.

„Nein, dann wäre ich nicht hier. Der Herr Konsul behandelt mich sehr höflich – sonst jedoch war er gütig gegen mich.“

Zenaide schwieg, sie hatte ja auch die wortlose, aber unzweideutige Abwehr ihres Vaters bemerkt und kannte längst seine Pläne hinsichtlich Lord Marwoods, aber sie hatte seinem voraussichtlichen Widerstande nie größeres Gewicht beigelegt, wenn sie auch darauf gefaßt war, für ihre Liebe kämpfen zu müssen. Der Vater liebte seine einzige Tochter über alles, er würde schließlich doch nachgeben.

Die kleine Elsa schien dies Gespräch mit den langen Pausen sehr langweilig zu finden. Ueberdies sah sie, daß Tante Zenaide jetzt vollständig getröstet war, sie ergriff daher ihren Tannenzweig und rief: „Nun will ich gehen und Hassan suchen!“

„Ja, geh, Elsa, wir können Dich jetzt ohnehin nicht brauchen,“ sagte Reinhart und griff scherzend nach dem Blondhaar, das offen über die Schulter des Kindes fiel. Das nahm die Kleine aber gewaltig übel, sie wich zurück und rief zornig: „Laß mich! Du bist schuld daran, daß Tante Zenaide geweint hat. Du bist immer schuld, wenn sie weint!“

„Elsa!“ rief die junge Dame bestürzt, aber die Kleine sprach unerbittlich weiter: „Warum gehst Du fort? Tante Zenaide mag das nicht. Sie will, Du sollst hier bleiben, dann weint sie nicht mehr!“

Sie blitzte ihn noch einmal zornig an mit ihren großen Augen und lief dann fort. Zenaide war in tödlicher Scham und Verlegenheit auf den Sitz niedergesunken und verbarg das Gesicht in den Händen. Reinhart beugte sich tief zu ihr hinab und sagte leise: „Zenaide!“

Sie regte sich nicht, aber er hörte einen Laut, der wie unterdrücktes Schluchzen klang.

„Zenaide – hat das Kind recht?“

Sie ließ langsam die Hände sinken und hob die Augen zu ihm empor, die Antwort stand so deutlich darin, daß wohl jeder andere ohne weitere Erklärung die Geliebte an sein Herz gezogen hätte; der sonst so stürmische Ehrwald that das nicht. Er ließ sich nur an ihrer Seite nieder, aber seine Stimme hatte wieder jenen weichen, verschleierten Ton, den sie nur einmal von seinen Lippen gehört hatte, damals in Kairo, als sie allein waren auf der dunklen Terrasse, unter dem sternfunkelnden Himmel. Jetzt vernahm sie ihn wieder und in die Worte hinein klang jener Gesang vom Nil her, die uralte schwermütige Weise, aber sie tönte leiser und ferner, wie das Schiff immer weiter und weiter dahinzog.

„Zürnen Sie mir, daß ich bisher noch nicht gesprochen habe? Ich sah Sie ja niemals allein hier, aber jetzt, wo die Trennung unmittelbar bevorsteht, habe ich noch eine Frage, eine Bitte auf dem Herzen und ich möchte die Antwort mit mir hinausnehmen in die Ferne. Sie wissen es ja, ich muß fort –“

„Warum müssen Sie? Es zwingt Sie ja niemand dazu!“ unterbrach ihn die junge Dame unbedacht.

[136] Er sah sie groß und erstaunt an.

„Warum? Soll ich etwa hier bleiben?“

Zenaide sah bereits ihre Uebereilung ein. Sie hatte allerdings gemeint, ihr künftiger Gatte brauche nicht erst hinauszuziehen in tausend Gefahren, um sich eine Lebensstellung zu erringen, aber sein beinahe zorniges Erstaunen zeigte ihr, daß sie es nicht wagen dürfte, diesen Punkt wieder zu berühren.

„Ich soll mir auf dieser Reise ja erst die Sporen verdienen,“ begann er von neuem. „Aber Sie haben es vorhin von Sonneck gehört, es kann Jahre dauern, ehe wir zurückkehren, und bis dahin ist der Abwesende wohl längst vergessen.“

„Nein!“ sagte Zenaide leise.

„Wirklich nicht?“

„Nein, Reinhart, ich vergesse Sie nie!“

Die dunklen feuchtschimmernden Augen blickten mit der vollsten Hingebung der Liebe zu ihm auf. Vom Nil her klangen halb verweht die letzten Töne des Gesanges, dann erstarben sie in der Ferne.

Reinhart hatte den Arm um die zarte, bebende Gestalt gelegt, sie ließ es geschehen und ihr Haupt sank an seine Schulter, während er leidenschaftlich flüsterte: „Nun, so laß es mich denn aussprechen und Dir sagen –“

„Zenaide! – Ehrwald!“ tönte plötzlich eine zornige Stimme. Die beiden fuhren auf, wenig Schritte von ihnen entfernt stand Herr von Osmar, der soeben aus dem Gebüsch hervorgetreten war, und sah mit sprühenden Augen auf die Gruppe.

Reinhart faßte sich zuerst, er hatte Zenaide aus dem Arm gelassen und trat rasch auf Osmar zu.

„Herr Konsul, gestatten Sie mir, Ihnen zu erklären –“

„Es bedarf keiner Erklärung, ich sah genug!“ herrschte ihm der erzürnte Vater entgegen. „Sie haben vergessen, in wessen Hause Sie sind – entfernen Sie sich sofort!“

Dem jungen Manne stieg das Blut heiß in die Schläfe bei diesem Tone, aber er richtete sich hoch und fest auf.

„Sie sind im Irrtum, Herr Konsul. Ich weiß sehr gut, wo ich mich befinde, aber ich hatte eine Frage an Fräulein von Osmar zu richten, eine Frage, die ich schon in der nächsten Stunde bei Ihnen wiederholt haben würde. Sie begreifen es wohl, daß ich zuerst Zenaidens Antwort hören mußte.“

Osmar glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen: das war ja eine Werbung in aller Form, so hätte Lord Marwood sprechen dürfen, wenn der Vater ihn zufällig bei seinem Antrage überrascht hätte! Was erlaubte sich denn dieser junge Mensch eigentlich? Aber es galt, sich zu beherrschen, zum Glück war niemand in der Nähe, doch in der Abendstille hörte man deutlich das Lachen und Jauchzen der kleinen Elsa, die nun ihren Spielgefährten glücklich aufgefunden hatte und sich mit ihm umherjagte. Ein lautes, erregtes Gespräch konnte wohl auch im Hause gehört werden, der Konsul dämpfte die Stimme, aber sie klang trotzdem in äußerster Gereiztheit, als er sagte: „Ich ersuche Sie ein für allemal, mich mit solchen Fragen zu verschonen! Zenaide, Du kehrst augenblicklich in das Haus zurück, überlaß mir die Auseinandersetzung mit diesem Herrn da.“

Es war das erste Mal, daß Osmar seiner Tochter gegenüber einen Befehl aussprach, aber er irrte sehr, wenn er auf Gehorsam rechnete. Zenaide hatte ihre anfängliche Bestürzung bereits überwunden und stellte sich nun entschlossen an die Seite des Geliebten, während sie halb angstvoll, halb bittend rief: „Papa, Du beleidigst Herrn Ehrwald! Ich habe ihm das Recht zu einer solchen Frage gegeben und ich werde ihm auch die Antwort geben, die –“

„Du hast noch nicht über Dich zu verfügen,“ schnitt ihr Osmar das Wort ab. „Die Entscheidung steht mir zu und ich denke, Du bist nicht im Zweifel darüber, wie sie lautet. Herr Ehrwald, ich ersuche Sie noch einmal, sich zu entfernen und mein Haus nicht wieder zu betreten.“

Zenaide blickte mit dem Ausdruck flehender Angst zu Reinhart empor. Sie sah es nur zu gut, wie sein ganzes Innere sich aufbäumte bei dieser Behandlung, wie er nur mit dem Aufgebot der äußersten Willenskraft seine Selbstbeherrschung behauptete. Ohne dem Konsul zu antworten, wandte er sich zu ihr.

„Zenaide, Sie werden es begreifen, daß ich dieser Aufforderung unverzüglich nachkomme. Die Art, wie Herr von Osmar die Sache auffaßt, macht jede weitere Auseinandersetzung unmöglich.“

Er wandte sich zum Gehen, aber das junge Mädchen legte beide Hände auf seinen Arm und rief mit verzweiflungsvoller Energie: „Bleiben Sie, Reinhart, mein Vater wird diese Worte, diese Beleidigung zurücknehmen, wenn ich ihm sage, daß ich Sie liebe, daß ich nur Ihnen angehören will und keinem anderen! Du hast es gehört, Papa, ich liebe Reinhart, und wenn er mich zum Weibe fordert, so folge ich ihm, wohin er mich auch führt.“

Sie sprach zu ihrem Vater, aber ihre Augen hingen dabei an dem Geliebten, doch jenes beseeligte Aufflammen, das sie nach dieser Erklärung erwartete, das hätte kommen müssen, hier blieb es aus! Der beleidigte Stolz überwog bei dem jungen Manne, er zog ihre Hand an die Lippen, aber er sprach nicht, sondern blickte stumm und finster zu dem Konsul hinüber, der im ersten Augenblick ganz fassungslos war. Er sah erst jetzt den ganzen Ernst der Sache, die er sorglos genug hatte wachsen lassen, weil er sie nicht für bedrohlich hielt. Jetzt blieb freilich nur noch der Gewaltschritt übrig, den er hatte vermeiden wollen, und er zögerte nicht, ihn zu thun.

Scheinbar ruhig trat er zu seiner Tochter, löste ihre Hände und zog ihren Arm in den seinigen, aber seine Stimme hatte eine eisige schneidende Schärfe, als er sagte: „Mein Kind, Du bist noch sehr jung und unerfahren, es ist nicht schwer gewesen, Dich zu bethören. Zum Glück bin ich noch da und werde Dich davor bewahren, die Beute des ersten besten – Glücksritters zu werden, der mit Deiner Hand Reichtum und Lebensstellung zu erringen versucht!“

Die Worte erreichten nur zu gut ihren Zweck. Ehrwald zuckte zusammen, als habe ihn ein Schlag getroffen, die Glut des Zornes in seinem Antlitz wich einer Totenblässe und mit einem halb erstickten Aufschrei machte er eine Bewegung, als wollte er sich auf den Beleidiger stürzen. Erst Zenaidens Ruf „Reinhart, um Gottes willen!“ brachte ihn wieder zur Besinnung. Er trat zurück, aber es lag ein erschreckender Ausdruck in seinem Gesichte, und als er endlich sprach, hörte man es seiner Stimme an, was die wenigen Worte ihn kosteten:

„Mein gnädiges Fräulein, vergessen Sie, was ich vorhin gesprochen habe, wie ich Ihre Antwort vergessen werde. Ich habe keine Frage und keine Bitte mehr an Sie zu richten – leben Sie wohl!“

Er ging, Zenaide wollte ihm nacheilen, aber der Vater hielt ihren Arm fest und gab sie nicht frei.

„Was hast Du gethan!“ rief sie außer sich.

„Was notwendig war!“ entgegnete Osmar kalt. „Wie notwendig, das sehe ich erst in diesem Augenblicke. Fasse Dich, Zenaide, Kind! Ich habe Dir jetzt einen Jugendtraum zerstören müssen, Du wirst es mir einst noch danken, daß ich es Dir verwehrte, Dich ins Unglück zu stürzen.“

„Danken?“ brach das junge Mädchen verzweiflungsvoll aus. „Das Glück meines Lebens hast Du mir genommen, ich finde es nur bei ihm! Du hast Reinhart bis auf den Tod beleidigt, das vergiebt er Dir nie, aber ich – ich gebe mein Vaterhaus, meinen Reichtum, gebe alles, alles hin, um seinetwillen – wenn er es fordert!“

Der Konsul stand erschreckt und bestürzt vor diesem Ausbruch einer glühenden, wilden Leidenschaftlichkeit, die plötzlich wie mit elementarer Gewalt aus dem Inneren des sonst so sanften, zarten Wesens hervorblitzte. Er kannte seine Tochter gar nicht wieder.

„Zenaide, bist Du von Sinnen?“ rief er, mehr angstvoll als zornig. Sie antwortete nicht, aber sie riß sich los, und auf den Ruhesitz niedersinkend, brach sie in ein lautes, krampfhaftes Weinen aus.

Reinhart schritt inzwischen in stürmischer Eile durch den Garten. Er wollte nur fort von dieser Stätte und ihr auf immer den Rücken kehren. In diesem Augenblick haßte er den Konsul bis aufs Blut und hatte nicht einmal Empfindung für die mutige Hingebung, mit der Zenaide ihre Liebe verteidigt hatte – das ging alles unter in dem erlittenen Schimpf! Mit fest zusammengebissenen Zähnen und einem Gesicht, das den ganzen Aufruhr seines Inneren verriet, eilte er vorwärts, als brenne ihm der Boden unter den Füßen.

Da wurde plötzlich ein Gebüsch ihm zur Seite auseinandergebogen und das Köpfchen der kleinen Elsa lugte hervor. Sie spielte Verstecken mit Hassan; als sie aber den jungen Mann gewahrte, vergaß sie das Spiel, lief auf ihn zu und fragte: „Gehst Du nun doch fort?“

Reinhart blieb stehen, die Kinderstimme schien eine eigentümliche Wirkung auf ihn zu üben. Er strich langsam mit der Hand über die Stirn, aber in seiner Stimme klang die herbste Bitterkeit, als er antwortete: „Ja, ich gehe – und ich komme nie wieder!“

[138] Die Kleine sah fragend zu ihm auf, da hob er sie plötzlich mit beiden Armen hoch empor, wie damals in jener geheimnisvollen Mittagstunde, als die Fata Morgana vor ihnen auftauchte, und flüsterte in einem seltsam leidenschaftlichen Tone: „Und Dich sehe ich auch wohl niemals wieder im Leben, kleine Elsa. Wenn Du heimkommst, dann vergiß nicht den Gruß, den ich Dir aufgetragen habe, den Gruß an die Heimat, hörst Du? Leb’ wohl, Du böses – Du süßes kleines Ding!“

Und rasch, ehe das Kind sich noch sträuben konnte, küßte er es, setzte es dann auf den Boden nieder und stürmte davon.




Es war in den Morgenstunden des nächsten Tages. Zenaide befand sich in ihrem Zimmer, mit Lothar Sonneck, der vor einer halben Stunde gekommen war. Man sah es an ihrem bleichen, überwachten Antlitz, daß sie die Nacht durchweint hatte, und ihr ganzes Wesen verriet eine fieberhafte Erregung.

„Also auch Sie versagen uns Ihren Beistand?“ fragte sie mit schmerzlichem Vorwurf. „Auf Sie hatte ich gebaut, Sie waren meine letzte, meine einzige Hoffnung und Sie wollen uns nicht helfen?“

„Ich kann nicht, Zenaide,“ entgegnete Sonneck ernst. „Ihr Vater würde es als einen Verrat an unserer Freundschaft ansehen, wollte ich heimlich begünstigen, was er offen verbietet – und mit vollem Rechte.“

„Mit vollem Rechte – wo er selbst so ungerecht, so grenzenlos hart ist?“

„Gleichviel, es ist Ihr Vater und Sie müssen sich seinem Willen fügen, für den Augenblick wenigstens.“

„Ich will mich aber nicht fügen!“ rief das junge Mädchen ungestüm. „Ich will mir nicht durch ein bloßes Machtwort mein ganzes Lebensglück zertrümmern lassen. Sie wissen ja, was geschehen ist.“

„Allerdings, und eben deshalb halte ich jedes Eingreifen für nutzlos. Hier ist nichts mehr zu vermitteln.“

„Weil Reinhart bis auf den Tod beleidigt ist? Ich weiß es, und eben deshalb muß ich ihn noch einmal sprechen. Ich muß, koste es, was es wolle, und Sie müssen uns dazu helfen. Wenn unsere Zusammenkunft in Ihrer Gegenwart, unter Ihrem Schutze geschieht, kann sie nicht mißdeutet werden.“

„Aber ich trage die volle Verantwortung dafür!“ fiel Sonneck mit schwerem Nachdruck ein. „Ich wiederhole Ihnen, daß ich das nicht kann und darf. Erzwingen Sie sich von Ihrem Vater die Erlaubnis zu diesem letzten Wiedersehen, und ich bin gern bereit, es unter meinen Schutz zu nehmen, aber heimlich, hinter seinem Rücken – nein!“

„Aber wenn ich Sie bitte!“ Zenaide legte wie beschwörend beide Hände auf seinen Arm. „Wenn ich Sie anflehe in Todesangst? Mein Gott, es ist ja nichts Böses, was ich will! Ich kann Reinhart nicht zumuten, das Haus wieder zu betreten, wo man ihm das angethan hat, und wenn er jetzt geht, mit dieser grenzenlosen Bitterkeit im Herzen, dann geht er für immer. Ich will ihn ja nur noch einmal sehen, ihm sagen, daß ich bei meinem Worte bleibe, trotz allem, was man versucht hat und noch versuchen wird, um uns zu trennen; daß ich sein bin im Leben und Tod! Herr Sonneck, Sie haben mich schon als Kind gekannt, Sie haben mich lieb gehabt und sind mir stets ein väterlicher Freund gewesen, können Sie mir denn wirklich diese erste, diese einzige Bitte versagen?“

Ihre Stimme bebte in angstvollem, rührendem Flehen und aus den Augen, die zu ihm aufblickten, stürzten heiße Thränen. Sonnecks Züge verrieten die mühsam unterdrückte Bewegung, aber er nahm sanft die Hände des jungen Mädchens und schloß sie in die seinigen.

„Halten Sie mich nicht für hart und grausam, Zenaide, wenn ich bei meinem Nein bleibe, ich habe einst eine bittere Lehre erhalten. So wie Sie bat damals mein Freund, der meinem Herzen am nächsten stand, und seine Braut, von der ihn der Wille des Vaters trennte, war mir lieb wie eine Schwester. Ich gab nach, ich führte die beiden heimlich zusammen – und es ist Unheil daraus geworden! Der Vater schleuderte mir den Vorwurf zu, daß ich es verschuldet hätte; ich trug ohnehin genug an meinen Selbstvorwürfen. Einmal habe ich auf solche Weise eingegriffen in fremdes Leben, zum zweitenmal geschieht es nicht wieder, die Lehre war allzu hart.“

Zenaide zog plötzlich ihre Hände aus den seinigen und, sich mit einer jähen Bewegung abwendend, trat sie an das Fenster.

„Nun gut, dann müssen wir uns allein helfen.“

„Was haben Sie vor?“ fragte Sonneck unruhig.

„Nichts – da Sie uns verlassen!“ entgegnete sie herb; aber ihre Züge hatten einen Ausdruck verzweiflungsvoller Entschlossenheit. Lothar trat zu ihr.

„Zenaide, unternehmen Sie nichts Gewaltsames, ich bitte Sie. Ich gehe jetzt zu Ihrem Vater und werde versuchen, es von ihm zu erreichen, daß er dies letzte Wiedersehen gestattet – vielleicht gelingt es mir.“

Zenaide antwortete nicht und schien kaum auf die tröstenden Worte zu hören, mit denen er sich verabschiedete, aber als er gegangen war, schlang sie krampfhaft die Hände ineinander und es brach wie ein Verzweiflungsschrei aus ihrem Innern hervor: „Auch er verläßt mich! Jetzt habe ich niemand als Dich, Reinhart! Rette mich – für Dich!“

Herr von Osmar war gleichfalls in einer gereizten Stimmung, als Sonneck bei ihm eintrat; er sprang hastig von seinem Schreibtisch auf und ging ihm entgegen.

„Gut, daß Sie kommen,“ sagte er mit einer gewissen Unsicherheit. „Wir werden uns doch wohl über den peinlichen Vorfall von gestern abend aussprechen müssen.“

„Ich komme von Zenaide,“ entgegnete Sonneck mit kühler Zurückhaltung. „Sie sandte heute morgen zu mir und bat dringend um meinen Besuch, sonst wäre ich nicht gekommen.“

„Wollen Sie mir etwa Vorwürfe machen?“ fragte der Konsul, dem der Ton und die zurückweisende Haltung des Freundes nicht entgingen. „Ich hätte wohl eher das Recht dazu. Sie wußten jedenfalls um die Sache, warum gaben Sie mir nicht rechtzeitig einen Wink?“

„Sollte das wirklich notwendig gewesen sein? Ich dächte, die Neigung Ihrer Tochter wäre auch Ihnen kein Geheimnis geblieben. Sie mußten gleichfalls darum wissen.“

„Nun ja, aber ich habe das nicht für ernst, nicht für bedrohlich gehalten, und um Ihretwillen, Sonneck, wollte ich keinen Schritt thun, der Sie verletzen konnte. Nun ist mir doch nichts übrig geblieben, nachdem Ihr Schützling sich so weit vergessen hat.“

„Vergessen? Daß ich nicht wüßte!“

Osmar sah ihn befremdet an.

„Ich denke, Sie sind unterrichtet über die Sache. Ehrwald hat eine förmliche Werbung versucht.“

„Allerdings – nun?“

„Sie scheinen das ganz in Ordnung zu finden,“ rief der Konsul verletzt. „Ich muß gestehen, ich war nicht gefaßt auf eine derartige Keckheit des jungen Mannes, dessen einziges Verdienst es ist, Ihr Schützling zu sein. Mit welchem Rechte wagt er es, um meine Tochter zu werben?“

„Mit dem Rechte der Zukunft, die er sich jetzt erobern soll und auch, wenn er am Leben bleibt, erobern wird, dafür bürge ich Ihnen.“

Der ernste Nachdruck, mit dem die Worte gesprochen wurden, machte sichtlich Eindruck auf Herrn von Osmar, aber er zuckte die Achseln.

„Ein Wechsel auf die Zukunft ist immer etwas Ungewisses, im besten Falle wird er erst nach Jahren eingelöst. Ich würde meiner Tochter nie gestatten, sich durch ein übereiltes Versprechen zu binden und ihre ganze Jugend zu opfern; selbst wenn es sich um einen Bewerber aus unseren Kreisen handelte, und nun vollends hier. Wer und was ist denn dieser Ehrwald? Seine Herkunft und seine Vergangenheit sind dunkel. Sie selbst wissen nichts Näheres darüber. Sie brauchen auch nicht danach zu fragen, wenn Sie einen Gefährten für Ihren Zug wählen, wo es nur Kraft und Verwegenheit gilt, aber ich habe denn doch andere Rücksichten zu nehmen bei der Wahl meines Schwiegersohnes.“

Sonneck schwieg, er mußte diesen Standpunkt gelten lassen, und was er von Reinharts Vergangenheit wußte, ermöglichte ihm nicht, den Konsul zu entwaffnen. Endlich sagte er: „Ich bestreite Ihnen sicher nicht das Recht, die Hand Ihrer Tochter zu versagen, aber die Form, in der das hier geschah, war mehr als rücksichtslos. Man weist einen Freier ab, aber man beschimpft ihn nicht.“

„Ich wollte der Sache ein für allemal ein Ende machen,“ erklärte der Konsul, der denn doch die Gerechtigkeit dieses Vorwurfes [139] empfand. „Hätte ich geahnt, daß es je so weit kommen würde, ich hätte längst gehandelt und uns allen diese peinliche Katastrophe erspart. Also Zenaide hat Sie gerufen? Sie rechnet auf Ihren Einfluß bei mir und hat um Ihre Vermittlung gebeten?“

„Nein, aber Sie bat mich, ihr eine geheime Zusammenkunft mit Reinhart möglich zu machen.“

„Das hat sie gewagt?“ fuhr Osmar erschreckt und entrüstet auf.

„Sie hat mich darum angefleht mit einer wahren Todesangst. Ich habe es selbstverständlich verweigert, aber versprochen, mich bei Ihnen zu verwenden, ob Sie nicht doch ein Wiedersehen in meiner Gegenwart –“

„Um keinen Preis!“ fiel ihm der Konsul heftig ins Wort. „Soll diese unselige Neigung etwa neue Nahrung erhalten? Sonneck, ich baue auf Ihre Freundschaft, es handelt sich nur noch um einen einzigen Tag, da Sie morgen aufbrechen! Sorgen Sie dafür, daß Ehrwald nichts Unsinniges unternimmt.“

„Er unternimmt nichts, darauf gebe ich Ihnen mein Wort,“ erklärte Sonneck mit scharfer Betonung. „Sie unterschätzen den jungen Mann, Osmar! Wenn er das wäre, wofür Sie ihn halten, hätte er sich schon damals in Kairo Zenaidens Wort gesichert, er brauchte nur zu sprechen, und, ich sage es Ihnen offen heraus, wenn er jetzt noch will, so erklärt sie sich offen zu seiner Braut, Ihnen und der ganzen Welt zum Trotz. – Beruhigen Sie sich, er will nicht mehr, und nach dem, was gestern geschehen ist, kann ich ihm nur recht geben.“

„Sie meinen also, ich verdanke es nur der Großmut des Herrn Ehrwald, wenn ich meine Tochter überhaupt behalte,“ sagte Osmar kühl. „Freilich, sie ist ja förmlich im Banne dieses Mannes, aber der Bann wird brechen, sobald er fort ist, und dann habe ich ein Mittel in Bereitschaft, diese Kinderei in Vergessenheit zu bringen.“

„Sie meinen die Bewerbung Marwoods. Haben Sie ihm bestimmte Hoffnungen gemacht?“

„Er hat mein Wort, unter dem Vorbehalt von Zenaidens Einwilligung.“

„Osmar – drängen Sie Ihre Tochter nicht zu dieser Verbindung,“ sagte Sonneck langsam. „Es wird ein Unglück daraus!“

„Warum? Marwood ist ein Ehrenmann.“

„Daran zweifle ich nicht, aber er und Zenaide sind Gegensätze, die sich niemals ausgleichen werden. Sie wird unglücklich, muß es werden an der Seite dieses eisigen, hochmütigen Mannes, der für eine Natur wie die ihrige gar kein Verständnis hat, der ihr höchstens eine kühle, matte Alltagsneigung gewährt.“

„Die aber für das Leben auszuhalten pflegt, wo die sogenannte romantische Liebe wie ein Strohfeuer verpufft,“ fiel der Konsul mit voller Schärfe ein. „Zenaide ist dafür geschaffen, eine glänzende Rolle im Leben zu spielen, und ich will mein Kind an dem Platze sehen, der ihm gebührt. Marwoods Name, Vermögen und Familienbeziehungen genügen meinen Ansprüchen, seine Gemahlin wird eine der Ersten in der Gesellschaft sein und er hat mir versprochen, alljährlich einige Monate mit ihr in Kairo zuzubringen. Da kann und wird sie wohl den Jugendtraum verschmerzen.“

„Wahrscheinlich! Aber sie wird noch etwas anderes vom Leben fordern als Glanz und Reichtum, die ihr ja nichts Neues sind – das Glück! Zenaide ist nicht das sanfte, träumerische Wesen, als welches sie sich Ihnen und uns allen zeigt. Tief in ihrem Inneren schlummert eine leidenschaftliche Glut, die gefährlich werden kann, und in den Fesseln einer unglücklichen Ehe wird sie verderblich. Ich bitte Sie noch einmal, erzwingen Sie dies Jawort nicht, Sie könnten es bereuen!“

„Ich denke selbstverständlich nicht daran, meine Tochter zu zwingen,“ erklärte Osmar. „Aber ich bin überzeugt, sie wird vernünftigen Vorstellungen nachgeben, sobald der erste Schmerz der Trennung vorüber ist. Ich kenne auch diese verborgene Leidenschaftlichkeit in ihrem Charakter, ich habe erst gestern abend eine Probe davon erhalten, und gerade deshalb halte ich es für notwendig, sie beizeiten in ruhige und feste Bahnen zu lenken. Wer von uns hat nicht einen Jugendtraum begraben und sich mit dem Leben abfinden müssen, wie es nun einmal ist! Ich kann mein Kind auch nicht davor bewahren, ich habe ja nur sein Glück im Auge.“

Er sprach ruhig, aber mit einer Entschiedenheit, die hinreichend zeigte, daß er entschlossen war, nicht nachzugeben, und daß die Macht der sonst vergötterten Tochter hier ein Ende gefunden hatte. Jetzt fuhr er mit der alten Herzlichkeit fort: „Und nun wollen wir uns die Abschiedsstunde nicht auch noch verbittern mit dieser unseligen Geschichte. Was auch geschehen sein mag, wir bleiben ja doch die alten Freunde.“

Er streckte Sonneck die Hand hin und dieser legte die seinige hinein, aber er murmelte dabei mit einem halbunterdrückten Seufzer: „Arme Zenaide!“

[149] Während im Osmarschen Hause ein tiefer Zwiespalt zwischen Vater und Tochter ausgebrochen war, herrschte auch im Hotel, wo die deutschen Herren abgestiegen waren, seit zwei Tagen erbitterte Fehde.

Fräulein Ulrike Mallner hatte sich von ihrer anfänglichen Betäubung bei jener Ueberraschung in Karnak schnell genug erholt und that nun das Möglichste, um dem Brautpaar das Leben schwer zu machen. Unmittelbar nach der Rückkehr von dem Ausflüge, sobald die beiden Schwägerinnen allein waren, hatte es natürlich einen Sturm gegeben, das heißt, Ulrike stürmte und bot alles auf, die Witwe ihres Bruders zu überzeugen, daß ihre Wiedervermählung nicht viel weniger als ein Verbrechen sei. Selma ihrerseits weinte tapfer drauf los, ließ sich aber durchaus nicht zu dem erhofften Widerruf bewegen und flüchtete unmittelbar nach jener Scene in den Schutz ihres Bräutigams, der der feindlichen Dame denn auch in nachdrücklichster Weise klar machte, daß ihre Macht zu Ende sei. Das wußte Ulrike freilich selbst, aber sie baute auf die Unselbständigkeit ihrer Schwägerin, auf die Macht der langen Gewohnheit. In diesem Falle vergebens! Die junge Frau, die zum erstenmal in ihrem Leben Glück und Liebe kennenlernte, war doch nicht so schwach, sich beides wieder rauben zu lassen, nachdem sie es kaum gewonnen hatte, und blieb fest. Sie wußte zu gut, welch ein Leben ihrer wartete, wenn sie in die alte Sklaverei von Martinsfelde zurückkehrte.

In den Morgenstunden dieses sonnigen Weihnachtstages saß der glückliche Bräutigam auf der Terrasse des Hotels und neben ihm Herr Ellrich, der gleichfalls sehr vergnügt und zufrieden aussah. Er hatte auch alle Ursache, mit seinem Kurswechsel zufrieden zu sein, und brauchte sich nicht mehr über schlechte Behandlung zu beklagen. Der Doktor behandelte ihn sehr gut und nahm ihn bei jeder Gelegenheit in Schutz gegen Fräulein Mallner, die große Lust zeigte, sich an dem Ueberläufer zu rächen.

„Selma kommt noch immer nicht!“ sagte Bertram mit einem ungeduldigen Blick nach den Fenstern hinauf. Wahrscheinlich wird ihr wieder eine Predigt [150] gehalten. Wenn sie in fünf Minuten nicht hier ist, gehe ich hinauf und hole sie!“

„Ja, Fräulein Mallner intrigiert noch immer gegen die Verlobung, die sie nicht hindern konnte,“ bemerkte Herr Ellrich. Der Doktor lachte.

„Nun, ich meinesteils würde ihr dies Vergnügen gönnen, helfen thut es ihr nichts. Aber meine Braut wird in unverantwortlicher Weise damit gequält und das leide ich nicht länger. Ich werde der Sache ein Ende machen.“

„Wie wollen Sie denn das anfangen?“ fragte neugierig der kleine Herr.

„Ganz einfach, wir reisen ab.“

„Mit Fräulein Mallner?“

„Bewahre, wir packen sie auf einen Dampfer und schicken sie direkt nach Martinsfelde, dann haben wir Ruhe vor ihr.“

Herr Ellrich sah mit Bewunderung auf den Mann, der sich ein solches Heldenstück nicht bloß vornahm, sondern zweifellos auch ausführen würde, doch er schüttelte bedenklich den Kopf.

„Aber das geht doch nicht, Sie können doch unmöglich –“

„Es geht alles, wenn man nur ernstlich will!“ unterbrach ihn der junge Arzt. „Aber die fünf Minuten sind jetzt um, nun hole ich meine Braut.“

Die Ausführung dieses Entschlusses blieb ihm erspart, denn in diesem Augenblick erschien Selma in Begleitung ihrer Schwägerin.

Das Gesicht der letzteren zeigte wieder die Gewitterstimmung, in der sie sich jetzt immer befand, sie nahm kaum Notiz von Herrn Ellrich, der sich nur einen scheuen Gruß aus gemessener Entfernung erlaubte, und schritt geradeswegs auf den Doktor zu, aber dieser eilte an ihr vorüber seiner Braut entgegen.

„Guten Morgen, mein Lieb! Und ein frohes, glückliches Weihnachtsfest!“ sagte er zärtlich, indem er sie umfaßte und küßte.

Die junge Frau nahm das mit tiefem Erröten und glücklicher Verwirrung hin, Ulrike aber hob ihre Nasenspitze hoch in die Luft und rief entrüstet: „Herr Doktor – das ist unschicklich!“

„Was ist unschicklich?“ fragte er ruhig.

„Daß Sie Selma hier im offenen Garten und vor Zeugen küssen.“

„Ja, in Martinsfelde würde sich das allerdings nicht schicken,“ versetzte Bertram mit unerschütterlichem Ernst. „Aber wir sind hier am Nil, und bei den alten Aegyptern war es Sitte, daß ein Bräutigam nach öffentlich proklamierter Verlobung seine Braut auch öffentlich küßte. Wir fügen uns nur der Landessitte.“

Fräulein Mallner hielt es unter ihrer Würde, eine Antwort zu geben, sie spannte nur ihren großen Sonnenschirm mit einem so heftigen Ruck auf, daß es krachte.

„Ich habe mit Ihnen zu sprechen,“ begann sie. „Selma weiß bereits, um was es sich handelt.“

„Ja, lieber Adolf, Ulrike möchte Dir einen Vorschlag machen,“ sagte die junge Frau, aber sie sah dabei so ängstlich aus, als fürchtete sie diesen Vorschlag. Der Doktor verbeugte sich.

„Ich stehe ganz zur Verfügung, Sie wissen ja, es macht mir stets außerordentliches Vergnügen, Ihren Wünschen nachzukommen.“

„Ich will nicht stören,“ sagte Herr Ellrich, indem er Miene machte, sich zu entfernen, Ulrike dagegen befahl in ihrem gewohnten Tone: „Du gehst mit ihm, Selma, ich will den Doktor allein sprechen.“

„Bitte, meine Braut steht nicht unter militärischem Kommando,“ sagte Bertram sehr ruhig, aber sehr bestimmt. „Wenn Du zu bleiben wünschest, liebe Selma –“

„Nein, nein, es ist mir lieber, wenn Du die Sache allein mit Ulrike besprichst,“ fiel die junge Frau hastig ein. „Ich plaudere inzwischen mit Herrn Ellrich.“

„Das ist etwas anderes. Herr Ellrich, ich übergebe meinen Schatz feierlichst Ihrer Obhut. Hüten Sie ihn gut, ich rate es Ihnen!“

Er trat wie im Scherze an den kleinen Herrn heran und fuhr dabei leise fort: „Das wird wieder eine hübsche Katzbalgerei werden! Bitte, halten Sie Selma möglichst fern, sie ängstigt sich immer so dabei.“

Ellrich nickte. Er hatte gegen diese Art der Bewachung gar nichts einzuwenden und empfand eine geheime Schadenfreude darüber, daß seine Tyrannin nun endlich auch ihren Meister gefunden hatte. Er schlug der jungen Frau vor, nach dem Dampfer auszuschauen, der heute von Kairo kommen sollte, und führte sie plaudernd nach dem Garten hinunter.

Drüben nahm inzwischen die „Katzbalgerei“, wie Bertram es in seiner drastischen Weise nannte, ihren Anfang. Fräulein Mallner hatte volle zwei Tage gebraucht, um einzusehen, daß sie die Wiedervermählung ihrer Schwägerin in der That nicht hindern konnte.

Für sie war es schon eine unglaubliche Selbstüberwindung, daß sie das als Thatsache anerkannte und sich bequemte, damit zu rechnen. Ihre Einleitung klang denn auch demgemäß.

„Sie bestehen also noch immer auf dieser Verlobung, wie es scheint?“ begann sie im Tone eines Richters, der den Angeklagten zum Geständnisse veranlassen will.

„Ja, es scheint in der That so,“ bestätigte der Doktor, indem er ihr verbindlich einen Stuhl hinschob, auf dem sie denn auch Platz nahm.

„So werden wir wohl das Nötige besprechen müssen. Es giebt da noch vielerlei Bedenken.“

„Gar keine Bedenken giebt es, mein verehrtes Fräulein. Ich heirate Selma, und zwar sobald als möglich, das ist die einfachste Sache von der Welt.“

„Wollen Sie vielleicht als Schiffsarzt heiraten?“ fragte Ulrike höhnisch.

„Warum denn nicht? Wenn in der kleinsten Hütte Raum für ein glückliches Paar ist, weshalb nicht auch in einer Schiffskabine? Ich kann mir eigentlich gar nichts Idealeres denken! Es ist eine Hochzeitsreise in Permanenz, um die Wirtschaft brauchen wir uns nicht zu kümmern und können ganz unserem Glücke leben.“

„Was?“ rief die Dame, indem sie entrüstet vom Stuhle aufsprang. „In einer Schiffskabine wollen Sie wohnen und mit Ihrer Frau fortwährend zwischen zwei Weltteilen hin- und herfahren? Wenn das Ihr Ernst ist –“

„Beruhigen Sie sich, es ist nicht mein Ernst“, unterbrach sie Bertram lachend. „Dergleichen möchte ich meiner Frau denn doch nicht zumuten. Ich werde natürlich meinen Abschied nehmen und mir irgendwo in Deutschland eine Praxis gründen. Wir werden uns für den Anfang freilich einrichten müssen, denn ich habe kein Vermögen und bin ganz auf meinen Beruf angewiesen, aber Selma ist eine anspruchslose Natur und wird sich auch in bescheidenen Verhältnissen glücklich fühlen.“

Das Fräulein sah ihn einige Sekunden lang ganz verblüfft an, brach dann aber mit gewohnter Rücksichtslosigkeit los: „Stellen Sie sich doch nicht so an! Sie müssen es ja doch längst wissen, daß Selma Vermögen hat.“

„Nein, das weiß ich nicht,“ erklärte der junge Arzt. „Ich habe bei unserer Verlobung wirklich vergessen, mich danach zu erkundigen, aber ein Hindernis ist das in meinen Augen nicht. Fürchten Sie nichts, die Partie geht deshalb nicht zurück. Ich bin entschlossen, Selma trotzdem zu nehmen.“

„Ich bitte mir aus, daß Sie ernsthaft sind!“ rief Ulrike scharf. „Wir haben von ernsten Dingen zu sprechen und da brauchen Sie nicht so empörend vergnügt auszusehen.“

„Warum denn nicht, ich bin ja Bräutigam!“ sagte der Doktor mit einem so seelenvergnügten Gesicht, daß seine Gegnerin hätte aus der Haut fahren mögen.

„Es handelt sich um die Vermögensangelegenheit,“ betonte sie. „Selma versteht nicht das mindeste von solchen Dingen, also muß ich mich mit Ihnen auseinandersetzen.“

„Gut, setzen wir uns auseinander. Die Sache ist hoffentlich nicht verwickelter Natur.“

Ulrike hatte sich wieder niedergesetzt und sah ihn mit einem vernichtenden Blick an.

„Nein, leider ist sie das nicht, denn mein seliger Bruder hat es natürlich nicht für möglich gehalten, daß seine Witwe sich wieder verheiraten könnte, sonst hätte er Maßregeln dagegen ergriffen.“

„In welcher Weise?“ fragte Bertram mit unzerstörbarer Ruhe. „Unsere Gesetze gestatten unbedenklich die Wiedervermählung.“

„Das weiß ich, das brauchen Sie mir nicht erst zu sagen!“ grollte das Fräulein. „Aber mein Bruder würde in solchem Falle testiert und seine Frau von der Erbschaft ausgeschlossen haben. Jetzt ist er ohne Testament gestorben und das Vermögen fiel zu gleichen Teilen an uns beide. Die Verwaltung habe ich natürlich [151] allein geführt und ich sage es Ihnen ein für allemal, Martinsfelde behalte ich, die Wirtschaft lasse ich mir nicht nehmen.“

„Ganz einverstanden! Ich wüßte wirklich nicht, was ich als Arzt mit Martinsfelde anfangen sollte, und Selma hat gar keine Neigung für die Landwirtschaft.“

„Nein, sie hat in ihrer Zimperlichkeit und Schwächlichkeit nie dafür getaugt,“ sagte Ulrike verächtlich, aber etwas besänftigt durch die Antwort, die so ganz mit ihren Wünschen übereinstimmte.

„Und nun zu meinem Vorschlag! Sie wollen sich eine Praxis gründen – kommen Sie nach Martinsfelde!“

„Ich – nach Martinsfelde?“ wiederholte Bertram, der so erstaunt war, daß er nicht wußte, was er sagen sollte.

„Ja, wir brauchen dringend einen Arzt in der Umgegend. Die nächste Stadt ist zwei Stunden entfernt und der alte Doktor, der dort seinen Sitz hat, kann die Landpraxis nicht mehr bewältigen. Sie könnten in Martinsfelde wohnen –“

„Und alles bliebe beim Alten! Das würde allerdings ein liebevolles Zusammenleben werden, die reine Idylle. Ich bin tief gerührt von Ihrer Anhänglichkeit an meine Braut, die so groß ist, daß Sie sogar mich in Kauf nehmen wollen, und Selma wird gleichfalls gerührt sein, aber wir danken ergebenst.“

„Sie wollen nicht?“ rief das Fräulein und stampfte mit ihrem Sonnenschirm auf den Boden.

„Unter Ihrem Scepter leben? Nein, mein verehrtes Fräulein. Ich ziehe es denn doch vor, das Kommando in meinem Hause selbst zu führen.“

Ulrike sprang auf. Sie sah den letzten Versuch scheitern, die Oberherrschaft über ihre Schwägerin zu behaupten; mit diesem Menschen war nichts anzufangen!

„So sind wir fertig!“ sagte sie kurz. „Die Abrechnung über Seimas Vermögen und meine Verwaltung werden Sie erhalten, aber ich habe unter diesen Umständen keine Lust, hier zu bleiben und die Wirtschaft daheim drunter und drüber gehen zu lassen. Wenn Selma gesund genug ist, sich zu verloben und zu heiraten, so wird sie wohl auch unser Klima aushalten können. Ich bleibe nicht noch monatelang in diesem elenden Wüstenlande.“

„Dazu liegt auch gar keine Veranlassung vor,“ versicherte der Doktor mit dem liebenswürdigsten Lächeln, „denn wir reisen mit dem nächsten Dampfer ab.“

Fräulein Ulrike, die schon im Begriff war, zu gehen, blieb plötzlich wie an den Boden gewurzelt stehen.

Wer reist ab?“

„Meine Braut und ich. Selma ist allerdings so gut wie genesen, ich halte es aber für unbedingt notwendig, daß sie den ganzen Winter in Aegypten bleibt, damit ihre Gesundheit sich vollständig befestigt. Ich geleite sie nach Kairo zu meinem Kollegen Walter, dessen liebenswürdige Frau sich erboten hat, meine Braut in ihr Haus zu nehmen, bis zum Frühjahr, wo ich sie abhole, und dann heiraten wir ohne Zögern.“

Es war ein bitterer Augenblick für die bisher so unumschränkt regierende Dame, als ihr auf diese Weise ihre vollständige Ueberflüssigkeit klargemacht wurde. Sie hatte geglaubt, einen letzten, entscheidenden Trumpf auszuspielen, als sie mit ihrer Abreise drohte, und mußte es nun erleben, daß man von ihrem Bleiben oder Gehen überhaupt gar keine Notiz nahm.

„Nach Kairo? Zum Doktor Walter?“ wiederholte sie. „Woher wissen sie denn, ob er und seine Frau einverstanden sind? Ihr Brief kann ja noch nicht einmal abgegangen sein.“

„Das ist auch nicht nötig,“ war die ruhige Antwort. „Ich schicke nur ein Telegramm voraus, mit der Nachricht unserer Ankunft. Alles übrige wurde schon vorher abgemacht.“

„Vorher – was soll das heißen? Vielleicht ehe Sie –“

„Ehe ich nach Luksor kam – ganz recht! Ich kam ja mit der ausgesprochenen Absicht, Selmas Hand zu erringen, und glaubte auf Gegenliebe hoffen zu dürfen. Da habe ich beizeiten vorgesorgt.“

Ulrike rang nach Atem. Das war zu viel. „Das ist ja unerhört!“ brach sie los. „Das ist – Sie sind ja ein – ein –“

„O bitte, machen Sie mir keine Komplimente, ich verdiene sie wirklich nicht,“ lehnte der Doktor bescheiden ab. „Sie sehen, es liegt gar kein Grund vor, daß Sie sich noch länger Ihrem Martinsfelde entziehen, reisen Sie in Gottes Namen. Und nun gestatten Sie wohl, daß ich meine Braut aufsuche und ihr mitteile, daß wir alles freundschaftlich geordnet haben.“

Damit verneigte er sich und ging, während Fräulein Ulrike Mallner wie erstarrt stehen blieb.

Als der junge Arzt seine Braut antraf, fand er sie im Gespräch mit Herrn Ellrich und Ehrwald, der sich zu ihnen gesellt hatte. Der letztere gab sich offenbar Mühe, heiter zu erscheinen, aber auf seiner Stirn ruhte eine Wolke und sein Uebermut hatte heute etwas Erzwungenes. Selma dagegen blickte ihrem Bräutigam mit einer gewissen Unruhe entgegen.

„Hast Du mit Ulrike gesprochen?“ fragte sie schüchtern. Der Doktor lächelte und zog ihren Arm in den seinigen.

„Jawohl. Denken Sie sich, meine Herren, Fräulein Mallner machte mir die liebenswürdige Zumutung, mit meiner Frau künftig in Martinsfelde zu wohnen und uns dort gemeinschaftlich mit ihr des Daseins zu erfreuen. Was sagen Sie dazu?“

„Gott bewahre Sie in Gnaden davor!“ rief Herr Ellrich, mit einem solchen Ausdruck des Entsetzens, daß die beiden anderen Herren in lautes Lachen ausbrachen.

„Ich habe gerührt und dankend abgelehnt,“ fuhr Bertram fort, „und dabei zugleich von unserer bevorstehenden Abreise Mitteilung gemacht. Es bleibt also dabei, wir gehen in drei Tagen nach Kairo. Aber wo bleibt der Dampfer, ist er noch nicht in Sicht?“

„Nein, noch immer nicht,“ sagte Reinhart ungeduldig. „Er hätte schon in den Morgenstunden hier sein müssen und gerade heute, wo er unsere Leute bringen soll, verspätet er sich – Verzögerungen bis zum letzten Augenblick!“

„Können Sie es denn gar nicht erwarten, der schnöden Kultur den Rücken zu kehren und sich da draußen in der Wildnis mit Löwen und Tigern herumzuschlagen?“ fragte der Doktor lachend. „Wir haben gar nichts dagegen, wieder in die Kultur zurückzukehren, nicht wahr, Selma?“

In diesem Augenblick erschien eine alte Negerin, die jemand zu suchen schien. Sie hatte Ehrwald kaum erblickt, als sie sich ihm in unterwürfiger Haltung näherte; er sah sie etwas überrascht an.

„Was willst Du, Fatme?“ fragte er auf arabisch.

Fatme antwortete in derselben Sprache und zog einen Brief aus ihrem Gewande hervor, den sie dem jungen Manne übergab. Er trat rasch mit ihr seitwärts, öffnete das Schreiben und durchflog es. Die Antwort darauf schien mündlich erteilt zu werden, denn nach einem kurzen leisen Gespräche verabschiedete sich Fatme mit dem üblichen orientalischen Gruße und Reinhart kehrte zu den anderen zurück.

„Was sind denn das für geheimnisvolle Botschaften?“ neckte der Doktor. „Ehrwald, Ehrwald! Ich fürchte wirklich, mein Beispiel wirkt ansteckend.“

Reinhart lachte, aber es lag eine gewisse Gereiztheit in seinem Tone, als er antwortete: „Warum nicht gar! Dazu wäre auch gerade jetzt Zeit, da wir morgen aufbrechen. Es war eine Nachricht für Herrn Sonneck, ich habe einstweilen in seinem Namen die Antwort gegeben.“

„Da kommt der Dampfer!“ sagte Ellrich und richtete sein Fernglas auf das Schiff, das jetzt in der That sichtbar wurde.

„Endlich!“ rief Reinhart, „und da kommt auch Herr Sonneck!“

Er eilte nach der Terrasse, zu Sonneck, der eben aus dem Osmarschen Hause zurückgekommen war. Wenige Worte genügten zur Verständigung und die beiden Herren schritten nach dem Nil hinunter, um das Schiff zu erwarten, das langsam und ruhig heranzog.




Es war Abend geworden und das Leben und Treiben, mit dem die fremden Gäste aus allen Weltgegenden Luksor zu erfüllen pflegen, war allmählich verstummt. Die Hotels lagen still da, mit geschlossenen Thoren, und auch in der nahen Araberstadt regte sich nichts mehr zu dieser späten Stunde. Durch den schlummernden Ort schritt eine hohe dunkle Gestalt, mit raschem festen Tritt, und schlug den Weg nach den Tempelruinen von Luksor ein, die kaum eine Viertelstunde entfernt lagen. Jetzt trat sie aus dem Schatten einer Mauer hervor in das helle Mondlicht und man sah die Züge Reinhart Ehrwalds.

An dem hohen Uferrande des Nil blieb er wie unwillkürlich stehen, gefesselt von dem Anblick, der sich ihm bot. Der Abend war schon weit vorgerückt, jetzt nahte auf leisen Schwingen die [152] Nacht, eine Vollmondnacht, voll Licht und Glanz. Ringsum war es taghell, die Palmen, die sich hier am Ufer erhoben, wurden voll getroffen von dem weißen Lichte, jedes Blatt der mächtigen Kronen hob sich deutlich ab. Es war dieselbe Stelle, wo Reinhart damals in jener glühenden Mittagsstunde das geheimnisvolle Luftgebild geschaut hatte, wo die alte Wüstensage vor seinen Augen lebendig geworden war. Damals lag die weite Landschaft vor ihm sonnentrunken, im heißen blendenden Tageslicht, jetzt ruhte sie halb verschleiert im bleichen Scheine des Nachtgestirns, wobei alle Formen und Farben sich zu lösen und zu zerfließen schienen. Der Nil war nur eine leise wogende und wallende Silberflut, die gelben kahlen Höhen dort drüben gewannen einen seltsamen, beinahe rosigen Schimmer und über die Wüste, wo damals die Fata Morgana erschienen war, spannen die Mondstrahlen einen silberduftigen Nebel, der die ganze Ferne erfüllte mit einer bläulich schimmernden Lichtflut.

Reinharts Auge hing unverwandt an jenem Punkte. Morgen! Da sollte sich ja endlich der Schleier heben, da sollte die Ferne sich vor ihm öffnen, mit ihren Wundern und ihrem Drohen, die Märchenwelt aus „Tausend und eine Nacht“. Und doch zog in diesem Augenblick durch die Seele des jungen Mannes wie ein Traum die Erinnerung an die ferne nordische Heimat, die jetzt in Eis und Schnee vergraben lag, wo die Glockenklänge durch Berg und Thal zogen und aus dem dunklen tiefverschneiten Walde der Weihnachtszauber auftauchte. Sie gehörten wohl auch in diese Erinnerung, die leuchtenden blauen Kinderaugen, die damals so verwundert und entzückt auf das ferne Wüstenbild geschaut hatten, denn Reinhart sah sie jetzt so deutlich vor sich, als sei das Kind wirklich an seiner Seite.

Auf einmal aber fuhr er auf und besann sich. Welche Thorheit, hier die Zeit zu verträumen, er wurde ja erwartet und sollte einem Rufe folgen, der an ihn ergangen war! Noch einen Blick warf er auf die mondbeglänzte Landschaft, dann wandte er sich ab und schritt rasch weiter.

Auch die Ruinen des Tempels lagen in tiefster Einsamkeit und der Schritt des Wanderers war kaum hörbar auf dem weichen Sande des Bodens. Er war ja nicht zum erstenmal hier, er kannte den Ort und hatte ihn in den letzten Wochen oft betreten, im hellen Sonnenschein, in Gesellschaft Sonnecks und des Professors Leutold. Aber der stürmische Ehrwald mit seinem glühenden Lebensdrang hatte kein rechtes Verständnis gehabt für die tote Pracht einer längst vergangenen Zeit, sie war ihm fremd geblieben.

Reinhart betrat jetzt den weiten Vorhof, der ganz erfüllt war vom Mondenglanz, und sein Blick flog suchend umher. Noch zeigte sich niemand, er war allein und schritt nun langsam weiter nach der anderen Seite, wo er sich in dem Schatten einer Säule barg und zugleich den Eingang des Tempels im Auge behielt. Eine Minute nach der anderen verrann, es wurde eine Viertelstunde daraus und der Fuß des jungen Mannes schlug leise und ungeduldig auf den Boden, aber diese Ungeduld hatte nichts von der sehnenden, hoffenden Erwartung eines Liebenden. Die Wolke von heute morgen ruhte noch immer auf seiner Stirn und es sah nicht aus, als ob er freudig jenem Rufe gefolgt sei.

Da endlich wurde zwischen den Säulen des Einganges eine Frauengestalt sichtbar, sie war ganz eingehüllt in einen orientalischen Burnus von weißem Kaschmir und hatte die Kapuze tief über den Kopf gezogen. Mit flüchtigen Schritten kam sie näher, Reinhart eilte ihr entgegen und in der nächsten Minute schmiegte sich die zarte bebende Gestalt an ihn, als wollte sie Schutz bei ihm suchen.

„Zenaide, was haben Sie gewagt!“ sagte er leise.

Zenaide mochte wohl einen anderen Empfang erwartet haben, betroffen, fast bestürzt blickte sie zu ihm auf. Das klang ja wie ein Vorwurf!

„Hat man uns denn eine Wahl gelassen?“ fragte sie, noch atemlos vom raschen Gange. „Ich habe Sonneck gebeten, angefleht, uns dies Wiedersehen unter seinem Schutze zu gewähren! Er verweigerte es mir, er wollte nicht einmal die Botschaft an Sie übernehmen und ich wußte doch, daß Sie darauf warteten und harrten –“

„Nein,“ unterbrach sie Reinhart düster. „Ich habe nichts mehr erwartet nach dem, was gestern abend geschehen ist.“

„Nichts mehr? So wären Sie gegangen, ohne mir Lebewohl zu sagen, ohne mich auch nur zu sehen? Reinhart, das ist unmöglich!“

„Rechten Sie mit denen, die es mir unmöglich gemacht haben,“ sagte er herb. „Oder glaubten Sie, ich würde das Haus wieder betreten, aus dem man mich so fortgewiesen?“

„Nein, nein, das mutete ich Ihnen nicht zu!“ fiel sie heftig ein, „aber ich hoffte, durch Sonneck Nachricht zu erhalten. Er hatte keinen Auftrag, nicht ein Wort brachte er mir von Ihnen. Ich harrte vergebens bis zum Mittag, da griff ich zum letzten Mittel und sandte Ihnen Fatme mit dem Briefe. Ich wußte es, Sie würden dem Rufe folgen.“

„Ihrem Rufe – gewiß! Aber Sie hätten nicht diesen Ort und diese Stunde wählen sollen. Wir sind hier nicht sicher vor Überraschungen. Wie oft werden die Ruinen im Mondschein von Fremden aufgesucht. Wenn Sie gesehen würden!“

„Daran habe ich nicht gedacht, als ich hierher kam,“ sagte Zenaide mit einem Vorwurf, den sie nicht zu unterdrücken vermochte, aber Reinhart schien ihn nicht verstehen zu wollen, denn er entgegnete ernst: „So muß ich es thun – um Ihretwillen! Hier können wir nicht bleiben, es ist taghell und jeder zufällig Eintretende erblickt Sie sofort. Kommen Sie, Zenaide!“

Er führte sie nach dem Säulengange, der im tiefen Schatten lag, Zenaide folgte, aber es legte sich wie ein Eiseshauch auf ihre heißen Empfindungen. Sie hatte so viel gewagt, hatte in Todesangst geharrt auf den Augenblick, wo es ihr möglich wurde, unbemerkt das Haus zu verlassen. Wie gejagt war sie hierher geeilt, in der Erwartung, der Geliebte werde ihr entgegenstürzen, sie stürmisch an seine Brust schließen und ihr überschwenglich danken für diesen Beweis ihrer Liebe, und nun? Er hatte wohl den Arm um sie gelegt, aber nur, um sie zu schützen, und war nur ängstlich bestrebt, sie vor unberufenen Augen zu verbergen, ein Wort der Zärtlichkeit hatte er nicht für sie!

Seltsam, Zenaide empfand diese Sorge für ihren Ruf, diese Rücksicht des Mannes, der sonst keine Rücksichten kannte, fast als eine Beleidigung. Wie konnte er in diesem Augenblick überhaupt an etwas anderes denken als an das Wiedersehen! Sie fragte nichts nach der ganzen Welt, was brauchte er danach zu fragen!

Und er bediente sich noch immer des fremden kalten „Sie“ und zwang sie damit zu der gleichen Anrede. Sie hatte ja doch gestern, in jenem seligen Augenblick, wo sie in seinen Armen ruhte, das erste Du aus seinem Munde gehört.

Keines von den beiden sprach, während er sie tiefer hineinführte in die Ruinen, und je weiter sie schritten, desto weiter schien die Welt da draußen zurückzuweichen und zu versinken und eine andere Welt voll von Wundern und Geheimnissen that sich vor ihnen auf. Wohl herrschte Oede und Verfall in diesen Hallen, Säulengängen und Tempelgemächern, die sich endlos ausdehnten. Halbversunkene Mauern, zerstörte Altäre, umgestürzte Säulen gaben Zeugnis davon, daß auch dieser Bau nicht für die Ewigkeit geschaffen war, aber was der helle Sonnenschein dem Auge unbarmherzig enthüllte, das verschleierte und verklärte das Mondlicht. In seinem Scheine ragten all diese Hallen und Säulen so mächtig auf, wuchsen so riesengroß empor, als hätten nicht Menschen-, sondern Geisterhände sie gefügt. Jahrtausende waren vorübergezogen und sie standen noch immer da und ragten hinein in die Gegenwart als ein übermächtiges Denkmal der Vergangenheit.

In dem zweiten Vorhofe des Tempels blieb Reinhart stehen, hier waren sie weit genug vom Eingange entfernt und keine Ueberraschung war zu fürchten. Ringsum strebte ein Wald von Säulen empor und dazwischen erhoben sich Riesengestalten von Stein, uralte Götterbilder und die Statuen von Königen, die einst hier gelebt und geherrscht hatten. Sie alle waren überflutet von dem weißen Lichte, das diese ganze Tempelwelt erfüllte. Es lag blendend hell auf dem Boden, es stahl sich in das tiefste Dunkel der Gänge und trieb dort zwischen den Säulen sein phantastisches Spiel, es floß nieder an den Wänden, deren Bilder und Hieroglyphen noch deutlich erkennbar waren. Und das Dach dieser weiten Halle war das weite Himmelsgewölbe, mit seinen mattfunkelnden Sternbildern.

Ringsum herrschte das tiefe Schweigen der Einsamkeit. Das Ohr fing keinen Laut auf, und doch regte sich überall geheimnisvolles Weben und in dem bleichen Lichte schienen die Steinbilder Leben zu gewinnen. Es war, als regten sie sich, als löste die [154] Vollmondnacht den tausendjährigen Bann, der sie gefangen hielt, als wollte all diese tote Größe und Herrlichkeit noch einmal zum Leben erwachen.

Reinhart brach zuerst das Schweigen, er mochte es doch wohl fühlen, wie erkältend auf Zenaide sein Empfang gewirkt haben mußte, denn in seiner Stimme lag etwas wie Abbitte, als er sagte: „Ich danke Ihnen, Zenaide, daß Sie mir dies Lebewohl ermöglichten. Ich konnte und durfte es nicht erzwingen, nach der Art, wie meine Werbung aufgenommen wurde, das sehen Sie doch ein?“

Zenaide sah das allerdings nicht ein, aber es bedurfte nur dieses weichen bittenden Tones, um sie zu entwaffnen. Ihr Vater hatte recht, sie war gänzlich im Bann dieses Mannes; sobald er ihr nur Liebe zeigte, flog ihre ganze Seele ihm wieder zu.

„Sie sind tödlich gekränkt!“ sagte sie leise. „Ich begreife es nur zu sehr und kann Ihnen ja nur sagen, daß es mich ebenso schwer getroffen hat, daß ich es im tiefsten Innern mitempfinde. Deshalb kam ich her und nun –?“ sie vollendete nicht, aber ihr Auge suchte mit banger Frage das seinige.

„Nun müssen wir uns Lebewohl sagen!“ ergänzte er mit schwerer Betonung.

„Heute schon, Reinhart? Ich dachte, erst morgen.“

„Morgen? Das ist unmöglich! Unsere Leute sind endlich heute mittag eingetroffen und nun dürfen wir keinen Tag mehr verlieren. Wir wollen bei Tagesanbruch fort, da kann ich mich auch nicht eine Minute frei machen, und ein Aufbruch wie der unsrige, mit einer ganzen Karawane, vollzieht sich überhaupt nicht unbemerkt. Die sämtlichen Gäste des Hotels werden da sein, um uns ihre Abschiedsgrüße und Wünsche für die Expedition mitzugeben, ganz Luksor wird zusammenströmen, so etwas ist ja ein Ereignis für den Ort.“

Zenaide warf die Kapuze ihres weiten Burnus zurück, die bisher ihr Haupt verhüllte. Der Mond beleuchtete voll ihr Antlitz, es war bleicher als sonst, aber es trug den Ansdruck einer beinahe triumphierenden Entschlossenheit.

„Ich weiß es und ich will Sie auch nicht allein sprechen, Reinhart. Mein Vater glaubt, daß dieser Aufbruch unsere Trennung besiegeln werde, und gerade er soll uns vereinigen!“

Ehrwald sah sie betroffen und fragend an.

„Ich verstehe Sie nicht. Was wollen Sie thun, Zenaide?“

„Alles, alles will ich thun um Deinetwillen!“ brach sie leidenschaftlich aus. „Kein Machtwort meines Vaters soll mich von Dir reißen, Du wirst mich Deiner würdig finden! Morgen früh werde auch ich da sein und Abschied von Dir nehmen, aber offen, vor aller Welt! Man wird erfahren, daß wir uns verlobt haben, und Du wirst vor all den Zeugen Deine Braut zum Lebewohl in die Arme schließen. Dann gehe ich zu meinem Vater und sage ihn, was geschehen ist, und dann kann er uns nicht mehr trennen!“

Sie sprach mit glühendem, stürmischem Triumph, so erfüllt und hingerissen von ihrem kühnen Plane, daß sie Reinharts Schweigen gar nicht einmal bemerkte. Das glückliche, siegesgewisse Lächeln lag noch auf ihren Lippen, als sie leiser, aber mit vollster Innigkeit fortfuhr:

„Du siehst, wir brauchen uns hier nicht so ängstlich zu bergen vor fremden Augen. Wenn wir überrascht werden, nun, dann erfährt man schon heute, was morgen jeder wissen wird, und einem Brautpaar wird man wohl auch das Recht eines einsamen Spazierganges am letzten Abende vor der Trennung zugestehen.“

Reinhart schwieg noch immer, er hatte keine einzige Silbe erwidert, und jetzt fragte er langsam:

„Und Herr von Osmar?“

„Mein Vater wird einwilligen, er muß es; wenn ich diesen Schritt thue, dann bleibt ihm keine Wahl mehr.“

„O ja, er wird einwilligen!“ sagte Ehrwald mit schneidender Bitterkeit, „und dabei aus tiefster Seele den Glücksritter verwünschen und verachten, der klug genug war, sich noch im letzten Augenblick seine ‚Beute‘ zu sichern. Soll ich mir das vielleicht zum zweitenmal sagen lassen?“

„Reinhart!“

„Nein, beim Himmel, das thue ich nicht! Es war genug und übergenug an dem einen Mal!“

Er wandte sich ungestüm ab, Zenaide stand völlig fassungslos da. Sie hatte nicht einen Augenblick daran gezweifelt, daß er ihren Plan, der ja unfehlbar zum Ziele führen mußte, mit leidenschaftlichem Entzücken begrüßen würde, und nun nahm er ihn so auf! Die Eiseshand legte sich wieder kalt auf ihr heiß klopfendes Herz.

„Hast Du denn nur Sinn für die Beleidigung?“ fragte sie mit bebender Stimme. „Gilt Dir unsere Liebe nichts dagegen? Ich gebe Dir ja alles, alles! Mein ganzes künftiges Leben lege ich in Deine Hand – ist Dir das nicht genug?“

Reinhart wandte sich um, er sah das Weh in dem schönen Antlitz, sah die heiß aufquellenden Thränen in den dunklen Augen, und in aufflammender Reue ergriff er die Hände des jungen Mädchens und preßte seine Lippen darauf.

„Vergieb! Ich bin undankbar und verdiene Deine Liebe nicht. Ich fühle die ganze Größe des Opfers, das Du mir bringen willst, aber ich kann es nicht annehmen!“

Zenaide zuckte zusammen, wortlos, aber in tödlichem Schrecken blickte sie ihn an, während er fortfuhr:

„Ich sollte gehen und Dich allein lassen in einem Kampfe, wo ich Dir nicht zur Seite stehen kann? Ich soll es geschehen lassen, daß Dir täglich wieder der schmachvolle Verdacht zugeflüstert wird, während ich fern bin? Und wenn ich zurückkehre – ich kann mir da draußen auf unserem Zuge einen Namen und eine Lebensstellung erringen, aber Reichtümer und ein Adelswappen sind da nicht zu erobern, und das fordert Dein Vater ja doch nun einmal von dem, der um seine Tochter wirbt. Ich habe das nicht in die Wagschale zu legen, ich bleibe ihm nach wie vor der Abenteurer, der nur die Erbin erbeuten will, erst recht, wenn er von uns zur Einwilligung gezwungen wird.“

„Immer diese unseligen Worte!“ rief Zenaide verzweiflungsvoll. „Kannst Du sie denn gar nicht vergessen?“

„Nein!“ war die finstere Antwort.

„Aber um meinetwillen! Mein Vater glaubt ja selbst nicht daran, er sprach es ja nur aus, um uns zu trennen. Reinhart – um meinetwillen!“

„Nein, Zenaide, ich kann nicht!“

„Dann liebst Du mich nicht!“ brach sie mit vollster Heftigkeit aus. „Dann hast Du mich nie geliebt!“

„Soll ich um meiner Liebe willen Erniedrigung dulden?“ fragte er herb. „Könnte ich Dich losreißen von allem, was Dich jetzt umgiebt, und Dich mit mir nehmen, ich würde die Probe auf Deine Liebe wagen! Du weißt ja, daß das unmöglich ist, und das Haus Deines Vaters betrete ich nie wieder, auch in Jahren nicht. Ich,“ er richtete sich hoch empor und in seinen Augen sprühte es wild auf, „ich hasse ihn nun einmal bis aufs Blut, denn er hat mir einen Schimpf angethan, den ich nicht rächen kann! Er ist Dein Vater, ihn klage an, nicht mich, er hat mit jenen Worten unserer Liebe das Urteil gesprochen!“

Zenaide war unwillkürlich zurückgewichen vor diesem Ausbruch eines maßlosen Hasses, der ihrem Vater galt, dem Manne, der bisher doch nur Zärtlichkeit, ja Vergötterung für sein einziges Kind gehabt hatte. Sie sah es deutlich, die Liebe war machtlos dagegen, aber sie fühlte auch, daß die wahre Liebe anders gesprochen hätte.

Es war eine Stunde, wo zwei Menschenschicksale sich trennen sollten für immer, und sie war doch so märchenhaft schön, als könnte sie nur Segen und Glück bringen. Der Mond stand jetzt hoch am Himmel und seine Lichtflut ergoß sich bis in die fernsten Räume. Ein breiter leuchtender Streif fiel in den dunklen Säulengang und die steinernen Riesengestalten waren wie gebadet in den Strahlen. Sie blickten starr und düster nieder auf die beiden Menschenkinder, die ihr Glück und Leid hineintrugen in die alte tausendjährige Opferstätte, wo das Leben längst verstummt war, und doch regte sich jetzt wieder jenes geheimnisvolle Weben. Es war wohl nur ein Windhauch, der von der Wüste oder vom Nil herüberkam und sich hier verlor, aber es zog wie ein Raunen und Flüstern durch die Tempelhallen. Vielleicht ein Nachhall jenes Liedes, das so alt ist wie die Menschheit selbst: es ward schon damals vernommen, als man sich noch vor den Götterbildern niederwarf und sich dem Scepter der Pharaonen beugte, und heute erklang es den Kindern der Gegenwart – das Lied vom Scheiden und Meiden!

Es war eine lange, schwere Pause eingetreten, Zenaide lehnte am Fuße der Ramsesstatue, sie war totenbleich und wandte jetzt [155] langsam das Antlitz dem jungen Manne zu, der finster vor sich niederblickte.

„Also – Du giebst mich auf?“ fragte sie leise.

„Ich nicht, Zenaide,“ entgegnete er dumpf. „Aber frage Dich selbst, ob irgend ein Verhältnis zwischen mir und Deinem Vater möglich ist.“

„Mein Vater?“ wiederholte sie mit aufquellender Bitterkeit. „Nun ja, er ist trennend zwischen uns getreten, aber ich habe dennoch den Weg zu Dir gefunden und ich zeigte Dir auch den Weg, der uns trotz alledem vereinigt hätte – Du aber willst ihn nicht gehen!“

„Du thust mir unrecht,“ fiel Reinhart heftig ein. „Ich wiederhole es Dir, ich darf Dein Opfer nicht annehmen, um Deinetwillen nicht.“

„Wenn Du mich liebtest, würdest Du es ebenso freudig annehmen, wie ich es Dir biete, da giebt es kein Abwägen und kein Bedenken. Ich war bereit, alles zu wagen, mich an Deine Brust zu werfen und offen vor aller Wett zu bekennen, daß ich Dir allein angehören will, Du bist es, der das zurückweist – also müssen wir wohl scheiden!“

Ehrwald stand wie im inneren Kampfe da. Es wurde ihm ja nicht leicht, das holde Wesen aufzugeben, das ihm eine so grenzenlose Hingebung zeigte. Noch einmal stand er am Scheidewege. Ein heißes Liebeswort aus vollem Herzen, ein Ausbreiten der Arme und das Mädchen war trotz alledem sein, die Augen, die so angstvoll, so flehend die seinigen suchten, schienen dies Wort von ihm zu fordern – aber es wurde nicht ausgesprochen, der Groll war stärker als die Liebe.

„Ja, wir müssen,“ sagte er endlich düster. „Das Schicksal trennt uns unerbittlich für immer.“

Zenaide richtete sich empor, noch zuckte das Weh um ihre Lippen, aber ihr tief verletzter Stolz bäumte sich jetzt auch empor, als der Mann, der sonst alles erstürmte und erzwang, sich so ruhig einem „Schicksal“ beugte, dem sie zu trotzen bereit war.

„So leb’ wohl!“ sagte sie tonlos.

Reinhart zog sie noch einmal in seine Arme und drückte seine Lippen auf ihre Stirn.

„Leb’ wohl, Zenaide! Vergiß, daß ich in Dein Leben getreten bin und Dir Schmerz gebracht habe – ich werde Dich nie vergessen!“

Sie antwortete nicht, sondern machte sich los aus seinen Armen und wandte sich zum Gehen. Vielleicht hoffte sie, er werde ihr nachstürzen, sie zurückhalten, aber er verharrte unbeweglich an seinem Platze und blickte ihr nach. Er sah, wie die weiße Gestalt über den Tempelhof schritt, wie sie in den breiten Mondesstreif trat, der den Säulengang erhellte, und zuletzt im Schatten dieser Säulen verschwand.

War es wirklich sein Glück, das ihm da entschwand? Hatte er es von sich gestoßen?

Reinhart war allein mit den starren Riesenbildern und wieder erhob sich jenes Raunen und Flüstern, das wie aus Geistermunde zu kommen schien, aber eine Antwort auf jene Frage gab es nicht! – –




Der Tag war soeben angebrochen, und an dem Ufer von Luksor war die ganze Bevölkerung des Ortes und der größte Teil der hier weilenden Fremden trotz der frühen Stunde versammelt. Es galt einen Anblick, den man nicht oft hatte, den Aufbruch eines Entdeckungszuges in das Innere von Afrika unter einem der berühmtesten Führer. Es war in der That eine ganze Karawane; einen Teil der Leute hatte man erst hier angeworben, die andern waren gestern aus Kairo gekommen, und was noch fehlte, das sollte an Ort und Stelle ergänzt werden, sobald man erst die bekannten Gegenden hinter sich ließ und in das eigentliche Innere eindrang.

Sonneck hatte beschlossen, den Weg, der noch einige Tagereisen nilaufwärts ging, zu Lande zu machen. Die Leute und die Reit- und Lasttiere, welche man mitnahm, waren schon über den Strom gesetzt und eben stieß das Boot ab, in dem sich der Führer mit seinem jungen Gefährten befand. Es war schon völlig hell, aber noch lag die Landschaft grau und farblos da, nur im Osten kündete ein roter Schein, der immer größer und dunkler wurde, den nahenden Sonnenaufgang.

Während Sonneck freundlich die Grüße erwiderte, die man vom Ufer aus den Scheidenden nachwinkte, stand Ehrwald aufrecht im Boote, den Blick gleichfalls nach dem Ufer zurückgewandt, aber sein Auge hing an dem weißen palastähnlichen Hause, das sich dort aus den Palmen erhob und in welchem noch alles in tiefem Schlafe zu liegen schien.

„Nun, Reinhart, willst Du nicht noch einmal grüßen?“ fragte Sonneck. „Professor Leutold und Doktor Bertram winken uns ja fortwährend.“

Reinhart schreckte wie aus einem Traume auf, rasch zog er sein Tuch hervor und erwiderte die Grüße, aber dann kehrten seine Augen wieder zu jenem Punkte zurück und glitten von da zu den Tempelruinen hinüber, die jetzt, wo das Boot die Mitte des Stromes erreichte, sichtbar wurden. Auch sie lagen öde und grau da in dem fahlen Morgenlichte, so ganz anders als in dem träumerischen verklärenden Mondesglanz, der sie gestern abend erfüllte.

Sonneck mochte wohl ahnen, was den jungen Mann so ernst und schweigsam machte bei diesem doch so lang und heiß ersehnten Aufbruch, obwohl ihm Reinhart nichts von der letzten Zusammenkunft mitgeteilt hatte. Aber er berührte die Sache mit keinem Worte. Sie war zu Ende, mußte zu Ende sein, wozu sie wieder berühren?

Das Morgenrot leuchtete hell und heller auf, schon stand der ganze Osten im Purpurscheine und in seinem Abglanz gewann auch die Landschaft Licht und Farbe, es floß wie ein Hauch von Glut und Leben darüber hin.

Jetzt landete das Boot und die beiden Herren sprangen an das Ufer, von dem lauten Zuruf ihrer Leute begrüßt. Es war ein malerisches, bewegtes Bild, all diese schwarzen und braunen Gestalten der Eingeborenen, meist prächtige Erscheinungen, in allen möglichen Trachten, die sich um den Führer drängten. Ein riesiger Neger hielt zwei Pferde am Zügel, die für die beiden Europäer bestimmt waren, kraftvolle, feurige Tiere, ein Geschenk des Herrn von Osmar an seinen Freund. Sonneck stand wie ein Feldherr inmitten seiner Truppe, befehlend und ordnend, Reinhart war bald hier bald dort. Es kostete immerhin einige Mühe, Ordnung in dem Gewühl zu schaffen.

Endlich war alles bereit, der Führer setzte sich an die Spitze des Zuges und nun schwang sich auch sein junger Begleiter in den Sattel und ritt an seine Seite.

Der ganze Himmel loderte jetzt in blutroter Pracht, die Sonne sandte ihren Flammengruß voran und die Erde empfing ihn in leuchtenden Morgengluten. Die Höhenzüge am Ufer des Nils standen im roten Feuerschein, während die Wogen des alten heiligen Stromes sich purpurn färbten, und wie auf flammendem Hintergrunde erhob sich drüben der Tempel mit seinen Säulen und seinen Riesenbildern. Dort über der fernen Wüste schoß es jetzt empor wie feurige Lohe und mitten darin zuckte ein Blitz auf – der erste Sonnenstrahl – dann stieg es langsam auf und schwebte immer höher, das leuchtende Gestirn, das die Alten als einen Gott verehrten.

„Nun, Reinhart, bist Du jetzt endlich zufrieden?“ fragte Sonneck, sich zu seinem jungen Gefährten wendend. „Jetzt sind wir auf dem Wege, nun geht es hinein in die ersehnte Ferne.“

Reinhart hatte sich hoch im Sattel aufgerichtet, kein Blick flog mehr zurück nach den Stätten, die man soeben verlassen hatte, er schaute nur vorwärts und sein ganzes Wesen schien wieder aufzuflammen in stürmischer Lebensfreude, in glühendem Freiheitsdurst, als er rief:

„Ja, es geht vorwärts – der Sonne entgegen! Schelten Sie nicht, Herr Sonneck, aber ich kann jetzt nicht im Schritt reiten, nur auf eine Viertelstunde lassen Sie mich voranjagen, ich muß hinaus!“

Sonneck schüttelte lächelnd das Haupt.

„Nun, so reite, Du Ungestüm! Wirst endlich auch wohl müde werden. Jage voran, wir holen Dich schon noch ein.“

Mit einem Jubelruf ließ Reinhart seinem Roß die Zügel und es stob dahin wie vom Winde getragen. Der Sand wirbelte auf unter seinen Hufen und der Reiter jagte hinein in den flammenden, leuchtenden Morgen, hinein in das Wunderreich der Fata Morgana!

[165] Der Mai war gekommen und die Frühlingsstürme brausten um die Gipfel des Hochgebirges, die noch ihr Schneegewand trugen. Der Winter war diesmal ungewöhnlich hart und lang gewesen und auch jetzt wich er nur langsam und zögernd dem erwachenden Frühling.

In der kleinen Bergstadt, die, von einem alten, einst befestigten Schlosse überragt, so malerisch inmitten des Thales lag, grünten schon die Linden, aber die Häuser und Villen des nahen Badeortes waren noch größtenteils geschlossen. Kronsberg war früher wenig bekannt gewesen, es lag tief im Herzen des Gebirges, abseits von all den großen Touristenwegen, und die nächste Eisenbahnstation war volle drei Stunden entfernt. Da kamen nur selten Fremde in das abgeschiedene Städtchen. Man hatte zwar in unmittelbarer Nähe desselben eine Heilquelle entdeckt und infolgedessen war ein kleiner Badeort entstanden, er wurde aber wenig besucht. Im Hochsommer pflegten ein paar hundert Kurgäste zu kommen, die teils in dem neuen Badehause, teils in der Stadt selbst wohnten. Es herrschten die allereinfachsten Verhältnisse und in weiteren Kreisen wußte man kaum etwas davon.

Da hatte sich vor etwa zehn Jahren ein junger aber sehr tüchtiger Arzt in Kronsberg niedergelassen. Die Heilquelle hatte seine Aufmerksamkeit erregt, er behauptete, sie habe eine ganz bedeutende Zukunft, da auch die klimatischen Verhältnisse die günstigsten seien, und in der That nahm der kleine Kurort unter seiner Leitung einen ungeahnten Aufschwung.

Doktor Bertram, der eine junge Frau mitbrachte, hatte von seiner früheren Stellung als Schiffsarzt her Bekanntschaften und Verbindungen an allen Ecken und Enden der Welt und wußte sie für seine neue Heimat zu interessieren. Ein Buch, das er über die Kronsberger Quellen geschrieben und an die bedeutendsten Aerzte gesandt hatte, lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit darauf, und ein paar glückliche und erfolgreiche Kuren begründeten den Ruf des aufstrebenden Badeortes wie den des jungen Doktors. Die herrliche Lage und die an sich schon heilkräftige Alpenluft thaten das übrige. Die Gäste strömten immer zahlreicher herbei und bald erhob sich vor den Thoren der Stadt eine ganz neue Ortschaft, wo im Sommer ein reges Badeleben herrschte.

Ueberdies kam den Kronsbergern noch ein ganz besonderer Umstand zu Hilfe. Die Fürstin des Landes war seit Jahren leidend, das Uebel widerstand allen Kuren und Bädern und drohte jetzt eine sehr gefährliche Wendung zu nehmen. Da beschloß der Leibarzt, dem Doktor Bertram gleichfalls sein Buch zugesandt hatte, einen Versuch mit den Kronsberger Quellen zu machen, die bei ähnlichen Zuständen angewendet wurden, und der Erfolg war ganz überraschend. Das Leiden der fürstlichen Frau besserte sich bedeutend und die Wiederholungen der Kur in den nächsten Jahren beseitigten es beinahe ganz. Schließlich wurde das Schloß, das sich über der Stadt erhob, aber von seinem bisherigen Besitzer nie benutzt worden war, von seiten der fürstlichen Familie angekauft und eingerichtet, um bei der regelmäßigen Wiederkehr einen eigenen Wohnsitz zur Verfügung zu haben.

Damit war der Eintritt Kronsbergs in die Reihe der großen Kurorte entschieden. [166] Der Ruf seiner Heilquellen wurde in alle Welt hinausgetragen und der alljährliche Besuch des Hofes zog eine Menge der reichsten und vornehmsten Familien hierher. Das kleine, weltabgeschiedene Bergstädtchen hatte sich im Laufe eines Jahrzehnts zu einem Badeorte ersten Ranges aufgeschwungen. Es verdankte dies schnelle Emporblühen allerdings in erster Linie der Energie und der unermüdlichen Thätigkeit des Doktor Bertram, der denn auch eine Hauptperson in Kronsberg war. Er nahm in allen Kurangelegenheiten die erste Stelle ein, obgleich sich ihm nach und nach ein Dutzend Kollegen zugesellt hatte, und genoß in dieser Eigenschaft auch den Vorzug, in Gemeinschaft mit dem Leibarzt die alljährliche Kur der Fürstin zu leiten. Selbstverständlich wollten die vornehmsten Kurgäste nun auch von ihm behandelt sein, er galt überhaupt für einen der tüchtigsten und erfolgreichsten Aerzte. Seine Beziehungen zum Hofe hatten ihm auch bereits Titel und Orden eingetragen – kurz die Kronsberger hatten alle Ursache, ihrem Hofrat Bertram dankbar und auf ihn stolz zu sein, und das waren sie denn auch im vollsten Maße.

In einiger Entfernung von der Stadt, auf einer mäßigen Anhöhe, lag eine kleine Besitzung, ganz einsam, denn der Badeort mit seinen Villen und Anlagen zog sich drüben an der anderen Seite des Thales hin. Aus dunklen Tannenwipfeln blickte das hohe Giebeldach eines altertümlichen Hauses hervor, das offenbar aus dem vorigen Jahrhundert stammte. Es mochte wohl ursprünglich eine Art Jagdhaus gewesen sein, dessen Besitzer hier in der wald- und wildreichen Alpengegend dem Weidwerk oblagen, denn ein mächtiges in Stein gemeißeltes Hirschgeweih über dem Eingang deutete noch auf eine solche Bestimmung hin. Eine breite, niedrige Steintreppe mit halb eingesunkenen moosbewachsenen Stufen führte zu einer kleinen Terrasse und zu der Hauptthür, deren schwere eichene Flügel augenblicklich offen standen. Man sah eine tiefe gewölbte Flurhalle, zu deren beiden Seiten die Zimmer lagen, während im Hintergrunde eine gewundene Treppe mit geschnitztem Geländer in den oberen Stock führte. Das Haus hatte, obwohl sich hier und da Anzeichen des Verfalls kundgaben, doch etwas Vornehmes, freilich auch etwas Düsteres.

Die Lage war sehr schön, man übersah von hier aus das ganze Thal mit den umliegenden Hochgipfeln und der Stadt im Vordergrunde. Ein umfangreicher schattiger Garten zog sich an der Berglehne hin, aber er machte gleichfalls einen düsteren Eindruck mit seinen hohen, alten Bäumen und dem dichten dunklen Gesträuch, das hier üppig wucherte; es fehlte jeder Blumenschmuck. Eine ziemlich hohe Mauer schloß die Besitzung nach allen Seiten hin ab, nur durch das eiserne Gitterthor hatte man einen Blick auf das Haus, und das Ganze machte den Eindruck vollster Abgeschlossenheit.

Zur Rechten der Eingangshalle befand sich das Wohn- und Empfangszimmer, ein großes Gemach, mit dunkelgrünen Vorhängen an den Fenstern, die von den Tannen draußen dicht beschattet wurden, und altertümlichen Möbeln, deren Polster dasselbe dunkle Grün zeigten. An den Wänden hingen nur ein paar alte sehr wertvolle Kupferstiche in geschnitzten Rahmen, sonst fehlte es an jedem Ausschmuck: keine Blumen, nichts von all den zierlichen Kleinigkeiten, welche die Wohnränme erst freundlich und behaglich machen.

In dem Lehnstuhl am Fenster saß ein alter Herr, der offenbar schon über die Siebzig hinaus war, eine hagere, gebeugte Gestalt mit spärlichen weißen Haaren und tief eingesunkenen Zügen, die einen ungemein herben, verbitterten Ausdruck hatten. Nur die Augen waren noch scharf und klar und gaben Zeugnis davon, daß in diesem gebrechlichen Körper noch volle geistige Frische wohnte.

Ihm gegenüber saß Doktor Bertram, der sich in den zehn Jahren nicht allzuviel verändert hatte. Aus dem jungen, übermütigen Schiffsarzt war freilich ein stattlicher Mann geworden, der Fremden gegenüber auch das ernste gesetzte Wesen zeigte, das seine jetzige Stellung ihm zur Pflicht machte, aber in den Augen blitzte noch immer der alte lustige Uebermut und das ganze Aussehen des nunmehrigen Hof- und Sanitätsrates bewies ja auch zur Genüge, daß er mit sich und mit der ganzen Welt außerordentlich zufrieden war.

„Ich kann Ihnen nur wiederholen, was ich nun schon seit Jahr und Tag predige,“ sagte er soeben. „Luft und Bewegung, soviel Ihre Kräfte es nur erlauben, und vor allen Dingen Zerstreuung, damit Sie nicht den lieben langen Tag und auch noch die halbe Nacht hindurch über Ihren verwünschten Büchern sitzen. Aber Sie machen sich ja ein besonderes Vergnügen daraus, immer das Gegenteil von dem zu thun, was ich verordne. Ich habe noch nie einen so widerspenstigen Patienten gehabt wie Herrn Professor Helmreich!“

„Ich gehe täglich in den Garten,“ erklärte der Professor ärgerlich über die Strafpredigt, die ihm gehalten wurde, „und die Luft habe ich aus erster Hand, sobald ich nur das Fenster öffne.“

„Jawohl, die schönste Moderluft, die Sie mit einer förmlichen Kunst gezüchtet haben hier in unseren gesegneten Alpen. In Ihren Garten fällt schon längst kein Sonnenstrahl mehr und die Tannen wachsen Ihnen nachgerade zu den Fenstern hinein. Warum lassen Sie nicht endlich einmal lichten? Ich sollte nur ein paar Tage hier Herr und Meister sein, die Hälfte von all dem Baum- und Strauchzeug ließe ich niederschlagen.“

„So lange ich lebe,“ fiel Helmreich mit vollster Gereiztheit ein, „wird kein Baum angerührt, kein Strauch ausgerodet. Das leide ich ein für allemal nicht!“

„Nun dann behalten Sie in Gottes Namen Ihren Rheumatismus,“ versetzte Bertram trocken. „Wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen.“

Er stand auf und machte Miene, zu gehen. Nunmehr schien es dem alten Herrn doch geraten, einzulenken, er sagte in nachgiebigerem Tone: „Das Studieren dürfen Sie mir nicht verbieten. Es ist das einzige, was mir das Dasein noch erträglich macht. Wenn Sie mir meine Bücher nehmen, nehmen Sie mir die Lebenslust.“

„Das weiß ich,“ entgegnete der Arzt ernster. „Deshalb bestehe ich auch nicht darauf, daß Sie das Studium aufgeben, obwohl es das Beste für Ihren Zustand wäre. Aber schonen sollen Sie sich und Ihren dreiundsiebzig Jahren nicht mehr zumuten, als was Sie in der Vollkraft des Lebens geleistet haben. Hier im Hause kommen Sie nicht los von den Büchern, deshalb müssen Sie täglich auf ein paar Stunden hinaus. Wenn Ihnen das Gehen beschwerlich fällt, so fahren Sie doch aus.“

„Ausfahren?“ wiederholte der Professor, förmlich beleidigt von diesem Vorschlag. „Wohin denn? Wohl auf die Promenade Ihres vielgerühmten Kurortes, damit die alberne Gesellschaft dort noch etwas mehr zum Gaffen hat?“

„Was haben Sie denn eigentlich gegen den Kurort? Die Saison dauert kaum drei Monate, während der ganzen übrigen Zeit leben wir in unserem Hochalpenthal abgeschieden wie die Trappisten und stecken acht Monate lang im Schnee wie die Eskimos – mehr können Sie doch wirklich nicht verlangen!“

„Und wahrend des Sommers sitzt dafür die halbe Welt in Kronsberg, und der Hof auch noch dazu!“ grollte der Professor. „Nicht einen Schritt kann man aus dem Hause thun, ohne auf Menschen zu stoßen, in seinen eigenen vier Pfählen ist man nicht sicher vor ihnen.“

Bertram lachte, es war noch das alte frische Lachen, das auch der jetzige Hofrat nicht verlernt hatte.

„Nun, ich dächte, Sie verstehen es schon, sich ungebetene Gäste vom Leibe zu halten. Erstens haben Sie Haus und Garten wie eine Festung mit einer Mauer umzogen, damit nur ja kein Mensch einen Blick hineinwerfen kann, zweitens haben Sie sich den „Wotan“ angeschafft, dies Ungetüm, das auf jeden Fremden losstürzt, der sich nur dem Gitterthore naht, und schließlich taucht noch der alte Bastian auf, mit seiner unverwüstlichen Grobheit und seiner unumstößlichen Ueberzeugung, daß die Gäste überhaupt nur da sind, um hinausgeworfen zu werden. Wenn man die drei Instanzen glücklich durchgemacht hat, dann kommt erst das Hauptverfahren, dann kommen Sie, Herr Professor, und daß das gerade keine Herzerquickung ist, haben die paar armen Kurgäste erfahren müssen, die auf die unselige Idee gerieten, hier oben die Aussicht zu bewundern! Sie schlagen noch jetzt drei Kreuze bei der Erinnerung daran.“

„Das ist ja sehr freundlich von Ihnen, mir dergleichen ins Gesicht zu sagen!“ rief Helmreich grimmig. „Denken Sie vielleicht, es macht mir Vergnügen, fortwährend Ihre Strafpredigten anzuhören und mich in all meinen Gewohnheiten maßregeln zu lassen? Wenn Sie nicht mein Arzt wären –“

„Dann hätten Sie mich auch schon längst hinausgeworfen! Genieren Sie sich nicht, Herr Professor, wir stehen ja auf dem Standpunkt gegenseitiger Offenheit! Eben deshalb bestehe ich jetzt im vollen Ernste darauf, daß Sie meine Verordnungen befolgen; geschieht es nicht, dann komme ich nicht wieder, Sie mögen noch so oft schicken – nun machen Sie, was Sie wollen!“

Der alte Herr brummte etwas Unverständliches, aber er [167] widersprach wenigstens nicht und Bertram schien das für eine Zustimmung zu nehmen, er griff nach seinem Hute.

„Die neue Arznei werde ich Ihnen heute nachmittag herüberschicken, und nun noch eins. Elsa ist ja so lange nicht bei meiner Frau gewesen. Sie haben es ihr doch hoffentlich nicht verboten, unser Haus ist ja das einzige, das sie besuchen darf.“

„Sobald die Saison anfängt, lasse ich Elsa nicht mehr nach dem Bade hinüber,“ erklärte der Professor. „Ich will es nicht, daß sie von den Herren Kurgästen in der unverschämtesten Weise angestarrt wird.“

„Nun, das kann ich den Kurgästen eigentlich nicht verdenken,“ lachte der Hofrat. „Sie ist schon des Anschauens wert und dies unschuldige Vergnügen können Sie den jungen Herren immerhin gönnen.“

„So?“ rief Helmreich erbost. „Sie finden es wohl auch ganz in der Ordnung, daß im vorigen Sommer ein paar von den jungen Laffen mein Haus ausgekundschaftet haben und um die Mauern herumgeschlichen sind? Aber Bastian kam ihnen bald auf die Spur und hat sie gründlich heimgeschickt.“

„Kann ich mir denken,“ sagte Bertram ruhig. „Also deshalb erscheint Ihre Enkelin jetzt nur noch mit der Leibgarde, dem Bastian rechts und dem Wotan links? Mit den beiden Ungetümen zur Seite ist sie freilich sicher, da wagt es keiner, sie auch nur anzusehen! Adieu, Herr Professor, und wenn Sie nächstens einmal Selbstschüsse in Ihren Garten legen wollen, dann benachrichtigen Sie mich gefälligst davon, damit ich bei meinen ärztlichen Besuchen nicht Leib und Leben riskiere.“

Damit ging er. Der Professor sah ihm grollend nach, er verabscheute diesen jovialen Ton, wußte aber längst, daß der Hofrat sich darin keine Vorschriften machen ließ. Dieser schritt inzwischen durch den Garten und wurde als wohlbekannter Hausarzt von den beiden „Ungetümen“ natürlich nicht belästigt. Er gelangte unangefochten ins Freie und schlug den Weg nach der Stadt ein: da kam ihm von dort ein Herr entgegen, der grüßend stehen blieb.

„Ah, Herr Sonneck!“ rief Bertram ihm die Hand entgegenstreckend. „Wo steckten Sie denn heut’ morgen? Ich habe Sie ja nicht gesehen?“

„Ich machte direkt von der Quelle einen Morgenspaziergang in die Berge,“ entgegnete Sonneck, den Händedruck erwidernd. „Jetzt will ich zu Professor Helmreich; Sie kommen wohl eben von ihm?“

„Jawohl, ich habe wieder einmal versucht, ihm den Kopf zurechtzusetzen, natürlich umsonst! Er ist vollständig zum Hypochonder geworden und spinnt sich immer mehr in seine Grillen und Marotten ein. Ich bin froh, daß Sie da sind, Sie bringen ihn mit Ihren Erzählungen wenigstens stundenweise auf andre Gedanken. Sie und ich, wir sind ja überhaupt die einzigen, denen sich das verwunschene Schloß da droben öffnet.“

„Nun, ich habe mir den Eingang auch halb und halb erzwingen müssen,“ erklärte Sonneck mit einem flüchtigen Lächeln. „Der Professor war nichts weniger als entgegenkommend, als ich ihn im vorigen Sommer aufsuchte; aber er wollte dem Schüler und Freunde, der ihm einst so nahe gestanden hatte, doch nicht geradezu die Thür weisen. Da ich mich nicht an seine ablehnende Haltung kehrte und regelmäßig wiederkam, gewöhnte er sich schließlich an meine Besuche und ich glaube, im Winter hat er sie beinahe vermißt.“

„Das schien mir auch so; man muß den Alten förmlich zwingen zu dem, was ihm gut thut. Heute ist er wieder in seinen galligsten Launen. Sie werden Ihre Not mit ihm haben. Ich habe mich wie gewöhnlich mit ihm gezankt und ihm derb die Wahrheit gesagt, aber helfen wird es schwerlich. Mich dauert nur das arme Kind, die Elsa, sie ist ja wie lebendig begraben in dem düsteren Hause und bei diesem unvernünftigen Großvater, der alles haßt, was Leben und Freude heißt.“

„Sie hat ja nie die Lebensfreude gekannt,“ sagte Sonneck mit einem halbunterdrückten Seufzer, „oder doch nur als Kind gekannt und längst vergessen. Da scheint sie jetzt kaum etwas zu vermissen.“

„Ja, sie ist gut dressiert,“ stimmte der Hofrat ärgerlich bei. „Das war freilich nicht anders möglich bei einer solchen Erziehung. Der Alte ist ein Tyrann in seinem Hause und wehe dem, der sich nicht unbedingt seinem Willen beugt! – Doch nun zu Ihnen, Herr Sonneck, wie steht es mit Ihrem Befinden?“

„Ganz erträglich, lieber Hofrat. Ich fühle mich in den vierzehn Tagen, daß ich hier bin, schon bedeutend wohler und Sie wissen ja am besten, wie schlimm es mit mir stand, als ich im vorigen Jahre zu Ihnen kam. Ich setze meine ganze Hoffnung auf die Kronsberger Quellen.“

„Das dürfen Sie auch!“ sagte Bertrain zuversichtlich. „Nach dem Erfolge, den wir im vergangenen Jahre erzielten, hoffe ich das allerbeste von der jetzigen Wiederholung der Kur. Sie müssen freilich auch diesmal den ganzen Sommer hierbleiben, unsere Alpenluft ist die beste Arzenei für Sie.“

„Das weiß ich und habe mich schon darauf eingerichtet, aber ich möchte eingehender mit Ihnen darüber sprechen. Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie ein Stück Weges begleite?“

„Selbstverständlich! Zu dem alten Isegrim da drüben kommen Sie noch immer früh genug,“ rief der Hofrat, und beide Herren traten gemeinschaftlich den Rückweg an.

Sonneck zog bei dem scharfen Winde den Mantel fester um die Schultern. Man sah es ihm an, daß er nicht mehr die frühere eiserne Gesundheit besaß, und er hatte auch sichtbar gealtert in den zehn Jahren. Die sehnige, einst so kraftvolle Gestalt hatte eine müde Haltung und in dem Antlitz stand ein unverkennbarer Leidenszug eingegraben. Das Haar war ergraut und der Ernst, der von jeher in den tiefen grauen Augen lag, war zur Düsterheit geworden. Aber trotzdem war in der ganzen Erscheinung noch etwas, das auf den ersten Blick fesselte und sie weit über das Gewöhnliche hinaushob. Wer in das tiefgebräunte und durchfurchte Gesicht dieses Mannes blickte, der fühlte es, auch ohne ihn zu kennen, daß er einem bedeutenden Menschen gegenüberstand.

„Ich möchte eine ernste Frage an Sie richten,“ hob er wieder an. „Es handelt sich für mich darum, gewisse Bestimmungen zu treffen und vielleicht einen weittragenden Entschluß zu fassen, deshalb wollte ich –“

„Nur nichts von Afrika!“ unterbrach ihn der Hofrat mit voller Entschiedenheit. „Ich habe es Ihnen nie verhehlt, daß von einer Rückkehr dorthin keine Rede sein kann. Das Tropenklima und die Ueberanstrengungen Ihrer Reisen haben Ihnen das Leiden zugezogen und es war ernst genug, als Sie herkamen. Sie sind ja in den letzten zwanzig Jahren kaum dreimal in Europa gewesen und dann immer nur auf wenige Monate. Sie haben sich entschieden zu viel zugemutet und hätten weit früher in die Heimat zurückkehren müssen.“

Ueber Sonnecks Züge flog ein schwermütiges Lächeln, als er entgegnete: „Das brauchen Sie mir nicht erst zu sagen, das fühle ich selbst und habe es eigentlich schon längst gefühlt, schon damals, als ich bei der Rückkehr von meinem großen Zuge in das Innere von Afrika so schwer erkrankte. Aber ich sträubte mich noch jahrelang dagegen, meinen Lebensberuf aufzugeben und meine übrigen Tage in Unthätigkeit hinzubringen. Ich raffte mich immer wieder auf und versuchte zu erzwingen, was sich doch nicht erzwingen ließ, bis ich schließlich zusammenbrach. Die letzte Krankheit ist mir eine harte Lehre gewesen. Ich habe mich jetzt vertraut gemacht mit der Notwendigkeit und bin entschlossen, in Deutschland zu bleiben.“

„Bravo! Auf der Grundlage können wir weiter verhandeln. Also, was wollten Sie wissen?“

„Ob es sich für mich überhaupt noch lohnt, Entschlüsse zu fassen und mein Leben neu zu gestalten, mit einem Worte, ob mein Leiden heilbar ist oder nicht. Seien Sie offen gegen mich, ich habe dem Tode so oft ins Auge gesehen und hänge so wenig mehr am Leben, daß mich ein Todesurteil aus Ihrem Munde sehr ruhig lassen würde. Ich fürchte nur eins – daß der Spruch auf lebenslängliches Siechtum lauten könnte. Jedenfalls will ich Gewißheit darüber haben, also sagen Sie mir die volle Wahrheit!“

„Fürchten Sie nichts, der Spruch lautet auf Gnade,“ sagte Bertram ernst. „Im Herbste, als Sie von uns gingen, konnte und wollte ich mich darüber noch nicht aussprechen, ich mußte erst den Winter abwarten, den ersten, den Sie wieder in Europa zubrachten. Jetzt habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß Ihr Leiden zu heben ist; Sie müssen nur Geduld haben und nicht erwarten, daß die Kronsberger Quellen in ein paar Monaten wieder gut machen, was ein zwanzigjähriger Aufenthalt in den Tropen verschuldet hat. Die alte eiserne Kraft und Gesundheit werden Sie freilich nie zurückgewinnen, das sage ich Ihnen offen, und von schweren körperlichen oder geistigen Anstrengungen kann auch in Zukunft keine Rede mehr sein. Wenn Sie aber in Europa bleiben und Ihr Leben so regeln, wie Ihre jetzigen Kräfte es nun einmal verlangen, hoffe ich, Ihnen die Herstellung verbürgen zu können.“

Ein tiefer befreiender Atemzug hob die Brust Sonnecks und [168] in seinen bleichen Zügen stieg eine leichte Röte auf, während er wie unwillkürlich den Blick nach dem alten Hause zurückwandte, das hinter ihnen lag.

„Sie sprechen mir also das Leben und bedingungsweise auch die Gesundheit zu?“ fragte er leise. „Das ist mehr, als ich hoffte; aber wenn ich daraufhin den Versuch mache, noch einmal – zu leben, so schiebe ich Ihnen die Verantwortung zu.“

„Das thun Sie nur getrost!“ lachte der Arzt. „Selbst wenn der Entschluß, von dem Sie vorhin sprachen, auf eine Heirat hinauslaufen sollte – ich nehme kein Wort zurück.“

„Aber lieber Hofrat!“

„Nun, das wäre doch am Ende nichts Ueberraschendes, da Sie sich jetzt entschlossen haben, in Deutschland zu bleiben. Bei Ihnen machen die grauen Haare nichts aus! Sie mit Ihrem Weltruf und Ihrer Persönlichkeit können noch um die Jüngste werben, ohne einen Korb befürchten zu müssen. Ich glaube, die meisten unserer Damen würden sich eine Ehre daraus machen, die Gattin des berühmten Sonneck zu heißen!“

„Nur keine Komplimente,“ wehrte der andere ab. „Vor allen Dingen machen Sie mich gesund!“

„Ich werde nicht ermangeln, schon um der Reklame willen für unser Kronsberg! Wir haben schon Ihre Hoheit die Fürstin hergestellt; wenn wir nun noch eine Wunderkur an unserem ersten Afrikaforscher vollbringen, dann ist der Weltruf unserer Quellen fertig. Vorläufig bleiben Sie also bis zum Herbste hier, und ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß Sie sich nicht gerade als Verbannter fühlen werden. Die Saison läßt sich ungewöhnlich gut an, die meisten Wohnungen sind bereits bestellt und, wie es scheint, kommt diesmal alle Welt nach Kronsberg. Für den Augenblick sind allerdings erst einige Familien da – wir stecken ja noch halb im Schnee – aber schon in der nächsten Woche haben wir einen interessanten Kurgast zu erwarten – englische Hocharistokratie – Lady Marwood!“

„Marwood?“ fuhr Sonneck lebhaft auf. „Doch nicht etwa –“

„Eine frühere Bekannte von Ihnen – jawohl! Die Tochter unseres einstigen Generalkonsuls in Kairo, der vor fünf Jahren starb; Sie waren ja, soviel ich weiß, befreundet mit ihm. Ich habe damals in Luksor die junge Dame einigemal gesehen und dort verlobte sie sich auch mit dem englischen Lord. Es war gerade an dem Tage, wo Sie mit Ehrwald zu Ihrem großen Zuge in das Innere aufbrachen!“

„Gerade an dem Tage!“ wiederholte Sonneck langsam. „Ich weiß es, Osmar hat es mir später erzählt.“

Es lag ein eigentümlich schwerer Klang in den Worten. Bertram bemerkte das nicht und sprach unbefangen weiter.

„Als ich im April wieder nach Kairo kam, um meine Braut abzuholen, wurde gerade die Vermählung gefeiert, mit unglaublicher Pracht. Die ganze Stadt sprach von nichts anderem und gleich darauf reisten die Neuvermählten nach England ab. Ich hörte aber später, die Ehe sei durchaus nicht glücklich, die junge Frau war viel mehr in Kairo bei dem Vater als in England bei dem Gemahl und schließlich hieß es sogar, sie hätten sich ganz getrennt.“

Sonneck gab keine Antwort auf die letzte Bemerkung, er fragte nur: „Wo ist denn Lady Marwood jetzt?“

„In Rom, wenigstens kam ihre Bestellung von dort. Sie hat hier eine ganze Villa gemietet und bringt, wie es scheint, einen förmlichen Hofstaat mit, Equipagen und Dienerschaft. Nun, die Erbin des Osmarschen Vermögens kann sich das immerhin leisten, ganz abgesehen von dem Reichtum ihres Gemahls. Sie werden sie doch aufsuchen?“

„Gewiß, ich bin ja ein alter langjähriger Freund ihres Vaters gewesen. Doch nun muß ich umkehren, ich will noch zu Helmreich.“

Die beiden Herren schüttelten sich die Hände und trennten sich. Bertram setzte seinen Weg nach der Stadt fort, aber dabei sagte er halblaut, mit gutmütigem Spott: „Er behauptet, ein Todesurteil aus meinem Munde würde ihn sehr ruhig lassen, und dabei flammte er förmlich auf, als ich ihm das Leben zusprach. Ja ja, wir hängen doch alle an dieser erbärmlichen Welt und diesem ‚jämmerlichen‘ Leben, wie der Alte da oben es nennt! Ich meinesteils befinde mich in dieser Welt ganz außerordentlich wohl.“

[181] Es mochte etwa vierzehn Jahre her sein, daß sich Professor Helmreich in Kronsberg niedergelassen hatte, das damals noch ein ganz unbedeutendes Bergstädtchen war. Er hatte einen Sommer lang dort gewohnt, angeblich um seine Gesundheit in der Alpenluft zu kräftigen, und dann schon im Herbste die Besitzung Burgheim erworben, die gerade zum Verkauf stand.

Man erfuhr bald, daß er einen nicht unbedeutenden wissenschaftlichen Ruf besaß und an einer großen Universität einen philosophischen Lehrstuhl bekleidet, sein Amt aber schon vor einigen Jahren niedergelegt habe. Der Professor hatte beim Abschluß des Kaufes erklärt, er habe seine Stellung aufgegeben, um ganz seinen Studien zu leben und ein größeres wissenschaftliches Werk in ungestörter Ruhe zu vollenden. Weiter verlautete nichts, aber das erklärte auch vollständig die Zurückgezogenheit des Gelehrten, der sich hartnäckig von jedem Verkehr abschloß. Er widmete in der That seine ganze Zeit seinen Studien, die er mit einer wahren Leidenschaft trieb, und das Ergebnis derselben waren denn auch mehrere philosophische Werke, die in den betreffenden Kreisen sehr geschätzt, im Publikum aber kaum dem Namen nach bekannt waren.

Vor zehn Jahren hatte er dann seine Enkelin, nach dem jähen Tode ihres Vaters in Kairo, zu sich ins Haus genommen, aber die Ankunft des damals achtjährigen Kindes hatte nicht das Geringste an den einsiedlerischen Gewohnheiten des Großvaters geändert. Die Kleine wurde zu demselben Leben verurteilt, das er selbst führte, und grundsätzlich von jedem Umgange mit Altersgenossen ausgeschlossen. Helmreich hatte sie sogar selbst unterrichtet, nur um zu verhindern, daß sie in der Schule mit andren Kindern in Berührung kam. So wuchs denn die kleine Elsa heran, in dem alten düsteren Hause, ohne Spielgefährten, ohne Kinder- und Jugendfreuden, immer nur auf den Verkehr mit dem strengen, finsteren Großvater angewiesen, der nach und nach ganz zum Sonderling geworden war.

Sonneck hatte, als er sich von dem Hofrat trennte, den Rückweg nach Burgheim angetreten. Er erreichte eben das Thor und wollte es öffnen, als ein wütendes Gebell ertönte und ein riesiger Hund, der aus dem Garten hervorstürzte, sich drohend hinter dem Gitter aufrichtete, ihm den Eingang zu verwehren.

[182] „Ruhig, Wotan – ich bin es!“ rief der Gast. Wotan hörte kaum die bekannte Stimme, als sein Gebell sich in freudiges Gewinsel verwandelte. Es war ein prächtiges Tier, riesengroß und offenbar auch riesenstark; das dichte dunkelgraue Fell war hier und da mit schwarzen Streifen gezeichnet, der mächtige Kopf, den eine förmliche Mähne schmückte, hatte etwas wolfsartiges, aber das eben noch so zornige Tier schmiegte sich jetzt schmeichelnd und wedelnd an den Eintretenden und ließ es sich nicht nehmen, ihn nach dem Hause zu begleiten.

Das Gebell des Hundes hatte inzwischen noch einen zweiten Wächter herbeigezogen. Am Fuße der Steintreppe tauchte ein alter aber noch rüstiger Mann auf, eine kräftige Gestalt, in Lodenjacke und Kniehosen, mit einem verwitterten, griesgrämigen Gesicht. Er schien Diener und Gärtner in einer Person zu sein und nicht übel Lust zu haben, den schweren Spaten, den er in der Hand hielt, gegen den Eindringling zu brauchen. Beim Anblick desselben wurde seine grämliche Miene zwar nicht freundlicher, aber doch minder grimmig. Er zog den Hut und ließ ein brummiges „Grüß Gott!“ hören. Dann gab er den Eingang frei und ging, um eilig das Gitterthor zu schließen, das halb offen geblieben war. Sonneck mußte unwillkürlich lächeln, die „Instanzen“ blieben auch ihm nicht erspart. Er hatte dem Alten flüchtig zugenickt und trat nun in das Haus.

Der Professor befand sich jetzt in seinem Arbeitszimmer, das ebenso groß, aber womöglich noch düsterer war als das Wohngemach und auf der anderen Seite der Flurhalle lag. Hier sah man nur Bücher und nichts als Bücher, die ganze umfangreiche Bibliothek Helmreichs war in diesem Raume untergebracht. Die offenen Schränke nahmen die ganzen Wände bis hinauf zur Decke ein und ließen gar keinen Platz für andere Gegenstände. Am Fenster stand ein großer Schreibtisch, der mit Papieren, Büchern und Manuskripten förmlich belastet war, und davor ein hoher Lehnstuhl, mit schwarzem Leder überzogen. Beide zeigten die Spuren langjähriger Benutzung, sonst fehlte auch hier jeder Zimmerschmuck und damit jede Behaglichkeit. Dort, wo der Schreibtisch stand, hatte man allerdings einen Teil der Tannenzweige draußen entfernt, um Licht für die Arbeit zu schaffen, dafür drängten sie sich vor dem anderen Fenster um so dichter zusammen, so daß in diesem Teile des Zimmers eine halbe Dämmerung herrschte.

Professor Helmreich saß in dem Lehnstuhl und vor ihm auf einem niedrigen Sessel ein junges Mädchen, das ihm aus einem Buche vorlas, sich aber beim Eintritt des Gastes sofort erhob.

„Guten Tag, Fräulein Elsa!“ sagte dieser, ihr die Hand reichend. „Wie geht es, Herr Professor? Leider, wie ich eben hörte, nicht zum besten, ich bin gerade dem Hofrat begegnet.“

„Jawohl, er hat mich wieder einmal gequält mit seinen Verordnungen und Befehlen,“ murrte der Professor. „Helfen kann er mir natürlich nicht. – Nehmen Sie Platz, Lothar! Du kannst jetzt gehen, Elsa.“

„Ich muß Dir erst Deinen Wein bringen, Großvater,“ erinnerte das junge Mädchen.

„Laß mich in Ruhe, ich mag nicht!“

„Aber der Hofrat hat mir eigens aufgetragen, Dir vormittags –“

„Den Hofrat soll der Kuckuck holen – ich will nicht, sage ich Dir!“

Elsa schwieg bei dieser unfreundlichen Abweisung und blickte nur wie Hilfe suchend zu Sonneck hinüber, der denn auch nicht zögerte, für sie das Wort zu ergreifen: „Ich denke, Sie wollen sich arbeitsfähig erhalten für Ihr letztes großes Werk,“ sagte er ruhig. „In Ihrem Alter geht das nicht ohne solche Kräftigung, das müssen Sie sich doch selbst sagen.“

„Der Hofrat hat mir ja das Arbeiten verboten,“ grollte Helmreich, den der Besuch des Arztes offenbar in die übelste Laune gebracht hatte.

„Nicht verboten, nur beschränkt, und da hat er recht. Nehmen Sie sich an mir ein Beispiel! Glauben Sie, daß es mir, der nie gewußt hat, was Schonung heißt, jetzt leicht wird, mich all den Vorschriften der Kur zu fügen? Ich trage eben der Notwendigkeit Rechnung, das müssen wir alle.“

Die ruhige Bestimmtheit dieser Worte verfehlte nicht ihren Eindruck auf den alten eigensinnigen Mann, er machte eine ungeduldige, aber doch zustimmende Bewegung.

„Nun denn, meinetwegen – gieb das Zeug her!“

Elsa trat an einen kleinen Tisch, der an dem anderen Fenster stand, und goß aus einer Karaffe schweren dunklen Wein in das bereitstehende Glas. Sonnecks Blick hing dabei unverwandt an dem jungen Mädchen, das er einst als Kind in den Armen gehalten und nun erst nach zehn langen Jahren wiedergesehen hatte.

Von dem Kinde war freilich nichts mehr zu entdecken in dieser hohen, schlanken Mädchengestalt, aber sie hatte auch keinen Zug mehr von dem kleinen sonnigen Wesen, das einst so süß schmeicheln und so trotzig aufflammen konnte, wenn es gereizt wurde. Schön war Elsa von Bernried allerdings geworden. Was damals noch in der Knospe schlief, das entfaltete sich jetzt in der vollen, rosigen Frische der Jugend, aber es lag etwas eigentümlich Kaltes, Ernstes in der ganzen Erscheinung, und das jugendliche Antlitz hatte einen Ausdruck, der beinahe herb erschien. Und doch war das Mädchen kaum achtzehn Jahr alt.

Das blonde Haar war im vollsten Widerspruch mit der herrschenden Mode einfach gescheitelt und legte sich in zwei schweren, goldig schimmernden Flechten um den Kopf, den sie wie ein Kranz schmückten. Das war aber auch der einzige Schmuck, denn weder das graue Hauskleid, noch das glatte weiße Schürzchen zeigten auch nur das Geringste von jenem zierlichen Tand, mit dem die Jugend sich so gern schmückt, sie waren von höchster Einfachheit. Auch die Bewegungen Elsas hatten, trotz aller Anmut, etwas Einförmiges, Abgemessenes und ihr auffallend schweigsames und zurückhaltendes Wesen vollendete noch das Befremdende des ganzen Eindrucks, der so vollständig im Widerspruch mit der Schönheit und dem Alter des Mädchens stand.

Sie brachte jetzt das gefüllte Glas dem Großvater, der es widerwillig genug nahm und dann kurz und herrisch seinen früheren Befehl wiederholte: „Und nun geh’, wir wollen allein sein!“

Elsa gehorchte schweigend, sie schien vollständig an diese Behandlung gewohnt zu sein. Sonnecks Augen folgten ihr auch jetzt, als sie das Zimmer verließ, dann sagte er halblaut: „Sie haben sich eine sehr gehorsame Enkelin erzogen, Herr Professor.“

„Nun ja, es hat auch Mühe genug gekostet,“ entgegnete Helmreich kühl. „Sie ahnen nicht, was ich im Anfang für Not hatte mit dem verzogenen kleinen Geschöpf, das gewohnt war, überall seinen Willen zu haben, und gar nicht wußte, was Gehorsam ist. Es zeigte bei jeder Gelegenheit einen Trotz und eine Leidenschaftlichkeit, die gar nicht zu bändigen waren. Nun, ich habe sie gebändigt, aber ich mußte zu den allerschärfsten Mitteln meine Zuflucht nehmen. Ja, Lothar, da runzeln Sie nun wieder die Stirn, ich weiß es längst, daß Sie meine ganze Erziehungsweise für eine Grausamkeit halten. Sie haben mir das oft genug zu verstehen gegeben, aber ich habe es erfahren, wohin es führt, wenn man ein Kind verwöhnt und vergöttert, wenn man ihm jeden Wunsch erfüllt, jede Freiheit gestattet. An mir hat sich das schwer genug gerächt – das Ende war Unheil und Schande.“

„Schande haben Sie an Ihrer Tochter nicht erlebt, die Ehe von Elsas Eltern war eine völlig korrekte!“ warf Lothar mit Nachdruck ein. „Sie ließen sich ja nach jener Flucht trauen, freilich ohne den Segen des Vaters.“

Helmreich lachte herb und höhnisch auf.

„Jawohl, ohne den Segen des Vaters! Das heißt, sie lief bei Nacht und Nebel davon mit ihrem Geliebten und die ganze Universität zeigte mit Fingern auf ihren Rektor, dem das seine Tochter anthat! Schweigen Sie mir davon, ich kann noch jetzt nicht daran denken, aber ich will es nicht zum zweitenmal erleben! Deshalb habe ich Elsa so und nicht anders erzogen.“

„Und dabei haben Sie ihre eigentliche Natur vollständig gebrochen – freilich, das wollten Sie ja!“

„Ganz recht, das wollte ich, denn darin lag die größte Wohlthat für das Mädchen. Ich weiß es nur zu gut, von wem diese ‚Natur‘ stammte, dieser störrische Eigenwille, diese maßlose Leidenschaftlichkeit, die sich gegen alle Schranken und Pflichten aufbäumt. In dem achtjährigen Kinde schon verriet sich das Blut des Vaters, dieses Buben, der mir die Tochter stahl –“

„Ludwig von Bernried ruht seit zehn Jahren im Grabe, lassen Sie ihn ruhen!“ unterbrach ihn Lothar ernst; aber die Mahnung fruchtete nichts bei dem Erregten, er fuhr mit bitterem Spott fort: „Sie haben ihn wohl sehr betrauert, Ihren Busenfreund, und er hat doch auch Sie betrogen, damals als Sie die Hand boten zu jener Zusammenkunft – Lothar, das habe ich Ihnen auch heute noch nicht verziehen!“

[183] „Ich glaubte, es handelte sich um einen Abschied, Bernried hatte mir sein Wort gegeben.“

„Und es dann gebrochen! Der ehrlose Verräter!“

Sonneck erhob sich plötzlich und trat dicht vor ihn hin.

„Nicht weiter, Herr Professor, wenn Sie mich nicht forttreiben wollen! Ludwigs Wortbruch hat mich damals schwer genug getroffen, viel schwerer als Ihre Vorwürfe, aber er hat gebüßt mit einem verfehlten Leben und einer bitteren Todesstunde. Der Tod löschte seine Schuld – ich dulde es nicht, daß er noch im Grabe geschmäht wird!“

Die Worte wurden mit einer solchen Entschiedenheit gesprochen, daß der alte verbitterte Mann davor verstummte, er lehnte sich finster in seinen Stuhl zurück.

„Nun so lassen Sie auch die alten Erinnerungen,“ murrte er. „Sie wissen es ja, ich kann sie nicht vertragen.“

„Habe ich diese Erinnerungen wachgerufen? Sie sind es, der sich in unaufhörlicher Selbstquälerei damit martert. Brechen wir ab davon, Sie wollten ja schon gestern etwas Wichtiges mit mir besprechen, waren aber zu unwohl, um eine längere Unterhaltung zu führen.“

„Ganz recht, und der Anfall hat mir gezeigt, daß ich nicht mehr viel Zeit zu verlieren habe, wenn ich Verfügungen treffen will. Meine Tage sind gezählt.“

„Der Hofrat meint, daß eine nahe Gefahr nicht vorhanden sei,“ warf Sonneck ein, indem er wieder seinen Platz einnahm. Der Professor zuckte verächtlich die Achseln.

„Jawohl, das hat er mir auch gesagt, er wollte mich wahrscheinlich trösten damit. Lächerlich! Als ob es ein Vergnügen wäre, diesen elenden, gebrechlichen Körper noch ein paar Jahre länger mit sich herumzuschleppen. Und was das Leben selbst betrifft, dies erbärmliche Dasein, das nichts als Not und Elend bringt, das habe ich schon seit zwanzig Jahren satt. Ich möchte nur mein letztes großes Werk noch abschließen und das ist in ein paar Monaten gethan, dann mag die Geschichte ein Ende nehmen, je eher desto besser!“ Es lag eine so herbe Bitterkeit in dem Ausbruch, daß man wohl sah, dem Manne war es ernst mit seiner Verachtung des Lebens.

Lothar wußte das längst und hatte es auch längst aufgegeben, dagegen anzukämpfen, jetzt aber mahnte er in vorwurfsvollem Tone: „Und Ihre Enkelin?“

„Elsa? Ja, darüber wollte ich eben mit Ihnen reden. Burgheim ist immerhin etwas Wert, besonders seit der – berühmte Weltkurort da drüben seine Arme immer weiter ausstreckt. Es ist schuldenfrei und wird, wenn es nach meinem Tode verkauft wird, Elsa ein bescheidenes Los sichern. Aber wohin mit dem Mädchen? Ich stehe mit niemand mehr in Verkehr und habe all meine früheren Beziehungen abgebrochen.“

Sonneck hatte schweigend zugehört, ohne ihn zu unterbrechen, jetzt fragte er ruhig: „Wollen Sie mir Elsas Zukunft anvertrauen?“

„Ihnen?“ Helmreich sah ihn erstaunt an. „Ich denke, Sie gehen nach Afrika zurück, sobald Sie völlig wiederhergestellt sind?“

„Nein, ich bin entschlossen, in Deutschland zu bleiben, wenn auch der Entschluß kein freiwilliger ist. Hofrat Bertram hat mir keinen Zweifel darüber gelassen, daß ich das Tropenklima ein für allemal meiden muß, wenn ich überhaupt noch auf Leben und Gesundheit rechnen will. Ich besitze ja keine Reichtümer, aber doch immerhin genug, um ganz unabhängig leben zu können. Ich werde mich also irgendwo in Deutschland niederlassen.“

Das finstere Gesicht des Professors hatte sich bei dieser Erklärung mehr und mehr aufgehellt und jetzt richtete er sich mit ungewohnter Lebhaftigkeit auf.

„Da nehmen Sie mir eine drückende Sorge vom Herzen, Lothar; auf diesen Ausweg hatte ich gar nicht gehofft. Jetzt kann ich bei meinem Tode alle Verfügungen in Ihre Hände legen und meine Enkelin Ihrer Vormundschaft übergeben. Sie sind ja alt genug, um ihr Vater sein zu können – nun erschrecken Sie nur nicht, ich meine das nicht buchstäblich! Ich werde Ihnen selbstverständlich nicht zumuten, sich eine solche Last aufzubürden.“

Lothar hatte in der That bei dem Worte „Vater“ eine ablehnende, halb unwillige Bewegung gemacht, jetzt aber flog ein Lächeln über seine Züge, während er halblaut wiederholte: „Eine Last? Halten Sie es wirklich dafür?“

„Ein Mädchen ist immer eine Last!“ sagte Helmreich in herbem Tone. „Denken Sie etwa, daß es mir leicht geworden ist, in meinem Alter noch ein Kind, ein heranwachsendes Mädchen in das Haus zu nehmen und da noch den Erzieher zu spielen? Mir blieb keine Wahl, denn erzogen mußte das kleine Geschöpf doch werden; aber Sie sollen natürlich kein Opfer bringen, sondern nur dafür sorgen, daß Elsa in irgend einer stillen bescheidenen Familie untergebracht wird. Ich werde sofort meinem Testament die nötigen Bestimmungen wegen Ihrer Vormundschaft hinzufügen und Ihnen unbeschränkte Vollmacht geben, dann ist die Sache erledigt.“

In den Worten lag keine Spur von Herzlichkeit oder wirklicher Fürsorge, sie zeigten deutlich, daß der Großvater seine Enkelin in der That nur als eine Last betrachtete. Er war offenbar froh, einer Sorge überhoben zu sein, die ihn weit mehr gestört und geärgert als bekümmert hatte. Sonneck erhob sich und seine Stimme verriet den kaum verhehlten Unwillen, als er entgegnete: „Herr Professor, Sie haben sehr wenig Herz für Ihre Enkelin, sie hat es von jeher bei Ihnen büßen müssen, die Tochter ihres Vaters zu sein.“

„Nur keine Predigten, das verbitte ich mir!“ fuhr Helmreich gereizt auf. Dann lenkte er ein und sagte milder: „Wollen Sie etwa schon wieder fort? Ich wollte Ihnen erst noch eine Stelle aus meinem neuesten Kapitel vorlesen.“

„Später – möchte ich bitten. Jetzt will ich Elsa aufsuchen, ich habe mit ihr zu sprechen.“

„Worüber denn?“ grollte der Professor. „Es soll wohl wieder allerlei Verhaltungsregeln für mich geben, die dieser Hofrat ausgeheckt hat? Der Mensch ist mir unerträglich mit seiner ewigen Rechthaberei!“

Lothar antwortete nicht, sondern wandte sich mit einem kurzen „Also auf Wiedersehen!“ nach der Thür und verließ das Zimmer, während Helmreich zur Feder griff und an dem Manuskripte, das vor ihm auf dem Schreibtische lag, mit der Durchsicht fortfuhr.

Elsa befand sich im Wohnzimmer; sie saß am Fenster, mit einer Handarbeit beschäftigt, als Sonneck eintrat und einen Augenblick lang auf der Schwelle stehen blieb. Das düstere Gemach sah heute an dem trüben Sturmtage noch düsterer und unwohnlicher aus als sonst, das einzig Lichte war der blonde Kopf des jungen Mädchens, der sich über die Arbeit beugte.

„Bleiben Sie sitzen, Elsa,“ sagte Lothar, rasch zu ihr tretend, als sie sich erheben wollte. „Ich habe etwas Ernstes mit Ihnen zu besprechen, wollen Sie mich anhören?“

Elsa sah ihn groß und erstaunt an, sie war es nicht gewohnt, daß man etwas mit ihr besprach, und noch weniger daß man erst fragte, ob sie es auch hören wolle. Sie verriet aber nicht die mindeste Neugier, sondern neigte nur bejahend das Haupt und wartete schweigend auf eine Erklärung.

Es vergingen jedoch einige Sekunden, ehe Sonneck sprach. Der Mann, der die halbe Welt kannte und gewohnt war, mit den verschiedensten und bedeutendsten Persönlichkeiten zu verkehren, schien seltsamerweise hier befangen zu sein. Er suchte offenbar nach einer Einleitung, aber die helle Röte in seinem Antlitz, der gepreßte, etwas unsichere Klang seiner Stimme verrieten eine mühsam niedergehaltene Erregung, als er endlich begann: „Ihr Großvater ist recht leidend gewesen in der letzten Zeit und darunter müssen auch Sie leiden, nicht wahr? Er ist eben krank, und ein Kranker quält oft wider Willen seine ganze Umgebung, selbst das, was ihm lieb ist.“

„Der Großvater hat mich nicht lieb,“ sagte das junge Mädchen herb.

„Elsa!“

„Nein, Herr Sonneck, er hat mich nie lieb gehabt, auch damals nicht, da ich als kleines Kind zu ihm kam, und mein Papa –“

Sie brach plötzlich ab und preßte die Lippen zusammen, als sei ihr das Wort wider Willen entflohen.

„Nun?“ fragte Sonneck nach einer Pause. Das Mädchen schwieg und beugte sich wieder über die Arbeit.

„Sie wollten von Ihrem Vater sprechen, Elsa. Erinnern Sie sich seiner noch?“

Sie schüttelte langsam verneinend den Kopf. „Nein, bisweilen ist es mir wohl, als wollte sein Bild auftauchen, allein es ist ganz nebelhaft und unbestimmt, und wenn ich versuche, es festzuhalten, dann zerfließt es ganz. Sprechen durfte ich ja nie von dem Papa und auch niemals nach ihm fragen; der Großvater hat mich stets hart gescholten und gestraft, wenn ich das that.“

„Gestraft? Wenn ein Kind nach seinem Vater fragt! Das ist ja –“ Lothar hatte eine sehr harte Aeußerung auf den Lippen, [186] unterdrückte sie aber; er konnte den alten tyrannischen Mann doch nicht vor seiner Enkelin anklagen, und so sagte er ernst: „Zu mir dürfen Sie von ihm sprechen, Elsa. Ich war der Jugendfreund Ihres Vaters, er ist mir einst sehr teuer gewesen und ich stand auch an seinem Sterbebette. Das Leben hatte ihm in den letzten Jahren viel Bitteres gebracht und es gab nur eins, was ihn hier zurückhielt – sein Kind, das er nun allein und frendlos zurücklassen mußte. Ich konnte die schwere Sorge nicht von ihm nehmen, denn ich hatte ja keine Heimat und stand unmittelbar vor meinem großen Zuge in das Innere Afrikas, der jahrelang dauerte – es hat mir damals wehe genug gethan!“

Elsa hatte die Hand an die Stirn gelegt, als wollte sie sich auf etwas besinnen, doch gelang es ihr offenbar nicht und sie fragte nur leise: „Mein Papa ist schon lange, sehr lange tot? nicht wahr?“

„Seit zehn Jahren, und zwei Monate später traten Sie die Reise nach Deutschland an. Erinnern Sie sich gar nicht mehr der großen fremden Stadt auf afrikanischem Boden? Der schönen, jungen Dame, zu der ich Sie nach dem Tode Ihres Vaters brachte? Des breiten, mächtigen Nilstroms mit den hohen Palmen und der fernen Wüste? Sie waren doch damals bereits acht Jahr und in dem Alter pflegt man sonst schon Eindrücke aufzunehmen.“

Das junge Mädchen hörte aufmerksam zu, aber es war nur jene Aufmerksamkeit, mit der man einem fremden wundersamen Märchen lauscht. Sonnecks Worte berührten augenscheinlich keine Saite in ihrer Erinnerung. „Ich habe das alles wohl noch gewußt, als ich hierher kam,“ erwiderte sie wie entschuldigend. „Hofrat Bertram sagt es wenigstens: ich bin jedoch einmal lange und schwer krank gewesen, und als ich wieder gesund wurde, hatte ich alles vergessen – alles!“

Das klang nicht bitter und nicht traurig, sondern nur gleichgültig. Sonneck unterdrückte einen Seufzer.

„Nun, so wollen wir es auch ruhen lassen,“ entgegnete er. „Ihr Großvater erträgt es ohnehin nicht, wenn von den alten Erinnerungen die Rede ist, und wir haben allen Grund, ihn zu schonen. Sie wissen es ja längst, Elsa, daß seine Krankheit ernster Natur ist, und wenn auch keine nahe Gefahr droht, so fühlt er es doch selbst am besten, daß ihm keine lange Lebensdauer mehr beschieden ist. Er hat vorhin ausführlich mit mir darüber gesprochen und wünscht für den Fall seines Todes, Sie meinem Schutze zu übergeben – sind Sie damit einverstanden?“

Es flog etwas wie ein heller Schein über die Züge des jungen Mädchens und ohne Zögern und Bedenken antwortete sie: „O gewiß, Herr Sonneck! Sie sind immer so gut gegen mich gewesen.“

Lothar nahm ihre Hand und schloß sie fest in die seinige, seine Stimme gewann einen weichen bebenden Klang, als er weiter sprach: „Und wenn ich dies Recht nun für immer in Anspruch nehmen wollte – für das ganze Leben? Wenn ich Ihnen jetzt sagen würde, was mir damals verwehrt war, als ich die kleine Waise aus den Armen des toten Vaters nahm. Komm an mein Herz! Ich will Dich schützen und behüten bis zu meinem letzten Atemzuge. Du sollst das Glück, der Sonnenschein meines Hauses sein, und alles, was ich bin und habe, soll Dein sein! – Was würden Sie mir antworten?“

Er beugte sich in atemloser Erwartung vor, aber die Antwort klang seltsam kühl und ernst auf die leidenschaftliche Frage.

„Ich würde Ihnen gewiß sehr dankbar sein und mir alle Mühe geben, Ihre Güte zu verdienen. Ich habe ja so manches gelernt und führe den Haushalt des Großvaters schon seit Jahren, da könnte ich mich gewiß auch in Ihrem Hause nützlich machen.“

Lothar ließ plötzlich ihre Hand fallen und stand heftig auf.

„Nützlich machen? Glauben Sie denn, daß ich eine Haushälterin aus Ihnen machen will? Kind, Sie verstehen mich nicht!“

Die großen Augen des Mädchens hingen wieder fragend und erstaunt an seinem Gesichte. Sie verstand ihn in der That nicht und begriff seine unwillige Abwehr so wenig wie vorhin seine hervorbrechende Zärtlichkeit. Sonneck sah, daß er deutlicher sprechen mußte.

„Sie sind im Irrtum, Elsa,“ sagte er, an ihren Stuhl tretend, und legte leise den Arm auf die Lehne desselben. „Sie sehen in mir nur den väterlichen Freund, der Ihnen eine Zuflucht in seinem Hause bietet – es ist etwas anderes, was ich von Ihnen fordere, etwas ganz anderes. Freilich, Sie halten es wohl nicht für möglich, daß der Mann, dem die Jugend längst versunken ist, es noch wagt, um Glück und Liebe zu werben, um ein holdes junges Wesen zu werben, das erst eintreten soll in das Leben. Es ist eine Thorheit, ich weiß es und habe den ganzen Winter lang mit mir gekämpft, ob ich überhaupt nach Kronsberg zurückkehren, Sie wiedersehen solle, allein die Sehnsucht war mächtiger als alle Vernunft. Komme was da will, ich muß wenigstens Gewißheit haben!“

Elsa schien jetzt endlich zu begreifen, um was es sich handelte, sie machte eine Bewegung, aber es war ein vielleicht unbewußtes, scheues Zurückweichen. Lothar sah das, seine Hand glitt langsam von der Lehne des Sessels nieder und er trat zurück.

„Soll ich schweigen? Sagen Sie ein Wort und – ich gehe für immer.“

„Nein, nein! Es war nur – ich wollte Sie nicht beleidigen, gewiß nicht!“ Das klang fast wie die Abbitte eines Kindes. Sonneck lächelte flüchtig und traurig.

„Beleidigen! weil Sie erschrecken, wenn ein Mann mit grauen Haaren Ihnen von Liebe spricht? Ich hätte freilich früher daran denken sollen, aber in den Jahren, wo die Jugend noch schwärmt und träumt, da verließ ich bereits Europa und ging hinaus in ein Leben, das mir gar keine Möglichkeit ließ, an ein häusliches Glück zu denken. Ein halbes Menschenalter lang bin ich umhergeschweift da draußen in der weiten Ferne, mein Frühling und mein Sommer sind darüber vergangen und Liebe und Glück sind mir ferngeblieben. Jetzt, im Herbst meines Lebens, tauchen sie endlich vor mir auf – zu spät! Ist es wirklich zu spät, Elsa? Das sollst Du mir sagen. Ich stelle trotz alledem die entscheidende Frage an mein Schicksal, an Dich! Willst Du mein Weib sein, mein geliebtes, angebetetes Weib? Sprich – ich lege mein ganzes Geschick in Deine Hände.“

Es war keine stürmische, leidenschaftliche Werbung, aber aus jedem Worte sprach eine grenzenlose Zärtlichkeit und Innigkeit. Elsa hörte zu mit einem starren, ungläubigen Staunen, sie konnte es noch immer nicht fassen, daß der Mann, der ihr stets so hoch und fern gestanden hatte, zu dem sie nur mit scheuer Ehrfurcht aufblickte, ihr jetzt von Liebe sprach, daß er sie zum Weibe begehrte. Als er geendet hatte, saß sie noch immer da, die verschlungenen Hände im Schoße, und regte sich nicht.

„Hast Du kein Wort für mich?“ mahnte er endlich in bebender Unruhe. „Sprich, und wenn es ein Nein ist, ich will es tragen, aber gieb mir Gewißheit!“

Elsa hob das Auge zu ihm empor, nur eine Sekunde lang, dann streckte sie die Hand aus und legte sie wortlos in die seinige.

„Heißt das – Ja?“ fragte er in aufflammender Hoffnung.

„Ja!“ sagte das junge Mädchen ruhig und einfach.

Da leuchtete es auf in den Zügen Lothars, ein Strahl unendlichen Glückes brach daraus hervor. Er schloß seine junge Braut in die Arme und nun strömte eine Flut von Zärtlichkeit über sie hin, die das so einsam und liebeleer aufgewachsene Mädchen wie ein Traum umfing. Sie sah es jetzt zum erstenmal, daß diese tiefen grauen Augen, die ihr immer bisher so düster erschienen, sehr schön waren; freilich leuchteten sie auch heute zum erstenmal in diesem sonnenhellen Glanze. Das ganze Wesen des sonst so ernsten, ruhigen Mannes war wie verklärt von Glück.

„Meine Elsa!“ sagte er leise, und seine Stimme zitterte in tiefster Bewegung. „Habe Dank für dieses Ja, tausendfachen Dank – Du ahnst es nicht, wie unaussprechlich glücklich Du mich gemacht hast!“

–       –       –       –       –       –       –       –       –       –       –       –       –

Professor Helmreich hatte sich weiter in sein Manuskript vertieft und alles andere darüber vergessen, als Lothar Sonneck mit seiner jungen Braut am Arme eintrat und sie zu dem Großvater führte. „Herr Professor, Sie haben mir vorhin erklärt, daß Sie Elsas Zukunft mit vollem Vertrauen in meine Hand legen,“ sagte er. „Ich nehme Sie beim Wort und bitte um Ihren väterlichen Segen für meine Braut und mich.“

Helmreich fuhr vom Stuhle auf und starrte die beiden an, als traute er seinen Augen und Ohren nicht. „Lothar, ich glaube, Sie haben den Verstand verloren!“ rief er in seiner rücksichtslosen Art.

„Sie meinen, weil der Altersunterschied zwischen uns so groß ist?“ fragte Lothar mit ruhigem Ernst. „Den kenne ich am besten, aber er geht nur meine Elsa allein an, und sie hat mir trotzdem ihr Jawort gegeben. Wir warten nur auf das Ihrige, das Sie uns doch wohl nicht verweigern?“

[187] Der Professor begriff jetzt erst, daß es mit der Sache ernst sei, aber er fand sich merkwürdig schnell darein, denn er erkannte, daß sie für ihn im höchsten Grade wünschenswert sei.

„Heiraten wollen Sie das Mädchen!“ sagte er. „Hm, die Geschichte ist im Grunde gar nicht so unsinnig, wie sie auf den ersten Blick aussieht. Wenn Sie sich ein Heim gründen wollen, müssen Sie natürlich auch eine Hausfrau haben. Es wirtschaftet sich schlecht mit Fremden, das habe ich erfahren, und Elsa versteht etwas vom Haushalt. Im Grunde haben Sie ganz recht, Lothar, und mir kann es nur recht sein, wenn ich das Mädchen geborgen weiß an Ihrer Seite. Sie haben mein Wort.“

Er sah die ganze Sache offenbar nur vom Nützlichkeitsstandpunkte an und setzte es als selbstverständlich voraus, daß auch Sonneck keinen anderen Beweggrund habe für seine Werbung. Elsa schien die unglaubliche Herzlosigkeit, die darin lag, kaum zu fühlen, um so mehr wurde Lothar durch sie verletzt, seine Stirn zog sich finster zusammen.

„Herr Professor, Ihre Enkelin wartet auf den Glückwunsch des Großvaters,“ mahnte er in einem Tone, der Helmreich doch daran erinnerte, daß er in diesem außergewöhnlichen Fall auch etwas Besonderes thun müsse, und so entschloß er sich denn dazu.

„Komm her, Elsa,“ sagte er. „Du weißt, ich halte nicht viel von den Menschen, aber der da, Dein künftiger Gatte, der ist einer von den Besten, einer von den wenigen, mit denen es sich lohnt zu leben. Du kannst stolz darauf sein, daß er Dich gewählt hat, und ich hoffe, Du wirst Dich dankbar dafür erweisen und im vollsten Maße Deine Pflicht thun.“

Die Worte hatten wohl einen Anflug von Wärme, aber doch nur, soweit sie Sonneck betrafen, für seine Enkelin hatte der Professor nur eine Mahnung an ihre künftigen Pflichten. Sie erwiderte keine Silbe darauf, sondern trat zu dem Großvater und empfing einen Kuß auf die Stirn, den ersten seit Jahren. Dann wandte sie sich wieder zu Sonneck, der sie in die Arme schloß, als wollte er sie schützen vor dem alten harten Manne, dem tiefe Verbitterung nicht einmal die Liebe für das einzige Kind seiner Tochter übrig gelassen hatte. Lothars tiefe graue Augen blickten wieder in die ihrigen so voll unendlicher Zärtlichkeit; jedoch Elsa hatte es noch nicht gelernt, diese Sprache zu verstehen.

(Fortsetzung folgt.)