Die Gartenlaube (1896)/Heft 2

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[21]

Nr. 2.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (1. Fortsetzung.)


Erlauben Sie, daß wir uns Ihnen vorstellen, Herr Doktor! Sie sind zwar ein Arzt, aber Herr Sonneck sagt, Sie wären trotzdem ein guter Mensch, und ich hoffe, daß er recht hat, Sie sehen wirklich nicht schlimm aus.“

Doktor Walter, dem diese merkwürdige Anrede galt, verneigte sich leicht vor den beiden Damen, die soeben in sein Sprechzimmer getreten waren, und erwiderte, ein Lächeln unterdrückend:

„Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich in der That nicht schlimm bin. Sie scheinen das leider bei meinen sämtlichen Kollegen vorauszusetzen.“

„Ich habe meine Erfahrungen!“ sagte die Dame mit Nachdruck. „Aber, wie gesagt, Sie sehen ganz menschenfreundlich aus, und überdies sind Sie ein Deutscher, da werden sie Ihre Landsmänninnen, zwei verlassene, hilflose Frauen, die nach diesem schändlichen Wüstenlande verschlagen sind, nicht schlecht behandeln.“

Die Bezeichnungen „verlassen“ und „hilflos“ paßten eigentlich


Pestalozzi unter den Waisenkindern von Nidwalden.
Nach einer Originalzeichnung von E. Klimsch.

[22] nicht zu der Persönlichkeit der Sprechenden, die schon in vorgerückten Jahren stand. Sie war schwarz gekleidet und trug einen ungeheuren Sonnenschirm in der Hand, sah aber nichts weniger als hilfsbedürftig aus. Es war eine lange, hagere Gestalt, mit scharfen Zügen und sehr energischem Gesichtsausdruck. Ihre junge Begleiterin, ein zartes kleines Wesen, mit einem lieblichen, etwas blassen Gesicht, blondem Haar und hellen Augen, war gleichfalls in Trauer gekleidet. Sie sah ungemein schüchtern und ängstlich aus und hielt sich dicht an der Seite ihrer Gefährtin, als müßte sie Schutz bei derselben suchen.

„Es ist durchaus nicht meine Gewohnheit, meine Patienten schlecht zu behandeln,“ erklärte der Doktor, der Mühe hatte, ernst zu bleiben, „also, meine gnädige Frau –“

„Unvermählt!“ unterbrach ihn die Dame in einem beinahe entrüsteten Tone.

„Ich bitte um Entschuldigung. Also, mein Fräulein, womit kann ich Ihnen dienen?“

Das Fräulein sah ihn noch einmal scharf an, wie um sich zu versichern, ob es ihm mit der zugesagten guten Behandlung ernst sei, schien dann aber in der That Vertrauen zu fassen und begann nun in aller Form die Vorstellung.

„Mein Name ist Mallner, Fräulein Ulrike Mallner, aus Martinsfelde in Hinterpommern. Mein seliger Bruder war Gutsbesitzer, vor zwei Jahren ist er gestorben und dies hier ist seine Witwe, Frau Selma Mallner, geborene Wendel. Vor acht Tagen sind wir in Kairo angekommen und wir wären wie verraten und verkauft hier, wenn sich Herr Sonneck nicht unserer angenommen hätte. Wir wohnen in dem gleichen Hotel und er ist der einzige Mensch dort, unter all den Engländern und Amerikanern, er hat uns zu Ihnen geschickt. So, Herr Doktor, nun wissen Sie Bescheid und nun geben Sie uns Ihren ärztlichen Rat!“

„Sehr gern,“ entgegnete Walter, während er mit einem etwas verwunderten Blick die junge Witwe streifte, die höchstens zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt sein konnte. „Wenn Sie mir nur erst sagen wollten, wem ich diesen Rat geben soll und wer von Ihnen eigentlich die Patientin ist.“

„Nun Selma natürlich,“ sagte Fräulein Mallner, in deren Schätzung der Arzt offenbar bedeutend sank, weil er das nicht gleich herausfand. „Sie hustet und deshalb mußten wir nach Afrika schwimmen. Wenn man in meiner Jugendzeit den Husten hatte, trank man Brustthee und das half immer; jetzt wird man nach allen möglichen Weltteilen geschickt und das hilft natürlich nicht, denn wir sind schon eine volle Woche hier und Selma hustet noch immer! Die Aerzte wissen ja gar nicht mehr, was sie alles erfinden sollen, um die arme Menschheit zu plagen –“

„Aber Ulrike, ich bitte Dich!“ mahnte die junge Frau leise und ängstlich und zupfte ihre Schwägerin am Kleide; diese nahm sich denn auch zusammen und lenkte ein.

„Ja so! Nun Sie sind natürlich nicht gemeint, Herr Doktor, Sie dürfen mir das nicht übelnehmen, denn –“

„Die Anwesenden sind immer ausgenommen!“ ergänzte Walter, dem die Sache außerordentlichen Spaß machte. „Seien Sie unbesorgt, mein Fräulein, Ihnen nehme ich nichts übel. Jetzt aber möchte ich doch einiges Nähere wissen. Seit wie lange sind Sie leidend, gnädige Frau, und wie äußert sich dies Leiden?“

Er wandte sich direkt an die junge Frau und diese machte auch einen schüchternen Versuch, zu antworten, aber die Schwägerin schnitt ihr ohne weiteres das Wort ab.

„Bei Selmas Lunge ist etwas nicht in Ordnung,“ erklärte sie. „Der rechte Flügel oder der linke oder alle beide, ich weiß das nicht mehr so genau, genug, irgend etwas ist los mit den Flügeln. Es heißt, sie hätte sich bei der Pflege meines Bruders überanstrengt. Er war jahrelang krank und wir haben zwei Aerzte gehabt, aber helfen konnten sie ihm natürlich nicht. Die Aerzte können ja alles mögliche, nur nicht ihre Patienten gesund machen. Beruhige Dich, Selma, Du hörst es ja, der Herr Doktor nimmt nichts übel.“

Walter verlor diesem letzten Ausfall gegenüber denn doch einigermaßen die Geduld. Er hatte eine scharfe Antwort auf den Lippen, aber die Augen der jungen Frau waren so bittend und ängstlich auf ihn gerichtet, daß er beschloß, die rücksichtslose Dame von der komischen Seite zu nehmen. Sie ließ sich auch in ihrem Redefluß durchaus nicht stören.

„Unser Hausarzt hatte sich in den Kopf gesetzt, daß ein Klimawechsel notwendig wäre, und wollte uns durchaus nach Italien schicken. Ich lachte ihn natürlich aus und wir blieben, wo wir waren. Wir haben die gesundeste Luft in Martinsfelde, nie mehr als sechzehn Grad Kälte im Winter, und das bißchen Sturm von der See ist nicht der Rede wert! Aber Selmas Husten wurde immer ärger und da ließ ich mir unglücklicherweise beikommen, eine sogenannte Autorität zu fragen, den Geheimrat Felder aus Berlin, der auf einem Nachbargute bei Verwandten zum Besuche war. Er kam, untersuchte und dann sagte er kurz und bündig: Nach Kairo!“

„So, Geheimrat Felder hat Sie hergeschickt!“ schaltete der Doktor ein. Fräulein Ulrike nickte grimmig mit dem Kopfe.

„Ja, der! Die große Autorität hat uns auf dem Gewissen! Ich dachte, mich sollte der Schlag treffen, und sträubte mich mit Händen und Füßen, aber da wurde die Autorität grob – so grob ist noch niemand zu mir gewesen – und sagte mir ins Gesicht, wo die Mittel so reichlich vorhanden wären, könnte von einer Weigerung überhaupt nicht die Rede sein. Unser Hausarzt stand ihm natürlich in allen Stücken bei und schließlich drohten sie mir, meine Schwägerin auf eigene Hand nach Kairo zu schicken. Da blieb mir denn nichts anderes übrig als zu packen. Wir reisten ab, schwammen über das Mittelmeer und nun“ – sie trat einen Schritt vor und sah den Arzt herausfordernd an – „nun sind wir da!“

„Das sehe ich,“ sagte Walter ruhig. „Und da Sie nun meinen Rat wünschen, so werde ich Frau Mallner zuvörderst untersuchen, dann wird sich das weitere finden. Ich bitte hier einzutreten, gnädige Frau!“

Er öffnete die Thür des Nebenzimmers, ließ die junge Frau vorangehen und wollte folgen, war aber genötigt, ihrer Schwägerin den Weg zu vertreten, die schon auf der Schwelle stand.

„Ich gehe mit,“ erklärte sie sehr entschieden.

„Bitte, Sie bleiben hier,“ versetzte der Doktor noch weit entschiedener und schlug ihr die Thür vor der Nase zu.

„Einer wie der andere!“ sagte Ulrike entrüstet und setzte sich so nachdrücklich in einen Armstuhl, daß dieser in allen Fugen krachte.

Zum Glück blieb sie nicht lange ihren grollenden Gedanken überlassen, denn der arabische Diener öffnete die Thür des Vorzimmers und ließ Sonneck ein, der sich mit freundlichem Gruße näherte.

„Ah, Fräulein Mallner! Sie haben von meiner Empfehlung Gebrauch gemacht, wie ich sehe. Wo ist denn Ihre Frau Schwägerin?“

Das Fräulein begrüßte den Landsmann, der offenbar hoch in ihrer Gunst stand, wie einen guten Kameraden, indem sie ihm derb die Hand schüttelte, und deutete dann auf die geschlossene Thür.

„Da drinnen, bei dem Doktor! Er will ihre Lunge untersuchen und mich hat er ohne weiteres ausgesperrt. Ihr vielgerühmter Doktor Walter ist auch kein weißer Rabe, trotz all seiner Höflichkeit und Liebenswürdigkeit. Sobald der Arzt zum Vorschein kommt, wird er grob – so sind sie alle!“

„Ja, so sind sie nun einmal,“ stimmte Sonneck lächelnd bei. „Ich kann Ihnen aber die Versicherung geben, daß Frau Mallner sich in den besten Händen befindet. Doktor Walter hat einen ganz bedeutenden Ruf und gilt für eine Autorität –“

„Bleiben Sie mir mit den Autoritäten vom Leibe!“ rief Ulrike zornig. „Ich habe genug an dem Berliner Geheimrat. Wenn mein seliger Martin wüßte, daß ich mit seiner Frau hier in Afrika umherlaufe, er würde sich im Grabe umdrehen, dreimal hintereinander!“

„Frau Mallner hat wohl sehr jung geheiratet?“ fragte Sonneck, während er neben der erzürnten Dame Platz nahm.

„Mit siebzehn Jahren. Wir hatten sie als Kind in das Haus genommen, als arme Waise, weil wir mit ihren Eltern weitläufig verwandt waren, und als sie herangewachsen war, setzte mein Bruder es sich auf einmal in den Kopf, sie heiraten zu wollen. Ich sagte anfangs Nein.“

„Und Sie hatten natürlich die entscheidende Stimme im Hause,“ warf der Zuhörer mit kaum verhehltem Spotte ein.

„Natürlich, Martin that nichts ohne meine Zustimmung, aber er grämte sich, denn er hatte sich im vollen Ernste verliebt in das junge Ding, trotzdem er längst graue Haare hatte. Er war auch schon lange kränklich, ich hatte die Gutswirtschaft fast allein in Händen und konnte nicht auch noch Krankenpflegerin sein. Ich überlegte mir also die Sache noch einmal und fand, daß es schließlich das beste sei, ihm den Willen zu thun.“

„Und das junge Mädchen hat gleichfalls eingewilligt?“

[23] „Eingewilligt?“ wiederholte Ulrike mit unermeßlichem Erstaunen. „Nun, ich hoffe, sie hat Gott auf den Knien gedankt für das große Glück, das er einer armen Waise zu teil werden ließ! Sie war auch anfangs ganz bestürzt, als wir ihr die Sache ankündigten, und weinte – vor Freude natürlich! Leicht hat sie es freilich nicht gehabt in ihrer dreijährigen Ehe. Mein seliger Martin war kein geduldiger Kranker, da hieß es Tag und Nacht auf den Beinen sein, und im letzten Jahre ist sie überhaupt nicht aus dem Krankenzimmer herausgekommen. Ich war im ganzen mit ihr zufrieden, sie that, was sie konnte.“

„Und dann erkrankte die junge Frau infolge der Ueberanstrengung?“ Es lag ein tiefes Mitleid in der Frage; das Fräulein zuckte verächtlich die Schultern.

„Jawohl, solch ein schwächliches Ding kann ja gar nichts aushalten! Es war nicht so arg mit Selmas Krankheit, sie war bald wieder auf den Beinen, aber der Husten blieb. Das dauerte Jahr und Tag, und dann kam die große Autorität, der Geheimrat, und da war’s aus, rein aus, wir mußten nach Kairo!“

Es sprach eine so grimmige Verzweiflung aus den letzten Worten, daß Sonneck ein Lächeln nicht unterdrücken konnte.

„Sie scheinen das als ein großes Opfer zu betrachten,“ bemerkte er. „Aber Sie haben mir ja selbst erzählt, daß Martinsfelde ganz einsam liegt und Sie fast gar keinen Verkehr dort haben. Da müßte es doch eine Freude sein für Sie und besonders für die junge Frau, einmal in die weite Welt hinauszukommen und fremde Länder und Menschen zu sehen.“

„Für Selma?“ wiederholte Fräulein Mallner in gedehntem Tone. „Nun, ich wollte ihr nicht raten, Geschmack daran zu finden! Denken Sie, ich werde der Witwe meines Bruders erlauben, in der Welt umherzureisen? Einmal habe ich nachgegeben, weil es hieß, ihr Leben stände auf dem Spiel, aber zum zweitenmal geschieht es nicht wieder. Im Frühjahr reisen wir nach Martinsfelde zurück, mit oder ohne Husten! Dahin gehört Selma und da soll sie bleiben, ihr Leben lang!“

Sie stieß zur Bekräftigung der Worte nachdrücklich ihren Schirm auf den Boden. In diesem Augenblick trat der Arzt mit seiner Patientin wieder ein, begrüßte Sonneck und wandte sich dann zu der harrenden Dame, die ihn mit einem erwartungsvollen „Nun?“ empfing.

„Ich schließe mich ganz der Meinung meiner Kollegen an,“ erklärte er. „Der Winteraufenthalt in Aegypten ist unbedingt notwendig für Frau Mallner. Augenblicklich ist sie noch sehr angegriffen von der Reise, ich werde sie deshalb einige Wochen lang hier in Kairo behandeln und später nach einer der großen Nilstationen, wahrscheinlich nach Luksor, schicken.“

„Schicken Sie uns doch lieber gleich zu den Botokuden!“ rief das Fräulein wütend. „Selma, Du bringst mich noch um mit Deinem Husten, nach Afrika hast Du mich schon damit gebracht!“

„Ich kann ja nicht dafür, liebe Ulrike,“ bat die junge Frau so demütig, als habe sie wirklich ein Unrecht begangen. „Du weißt, ich habe es nicht gewollt.“

„Nein, Du wolltest es nicht,“ grollte das Fräulein, „aber die Aerzte wollten es, diese Autoritäten, diese –“ sie verschluckte die ferneren Liebenswürdigkeiten und sah den Doktor nur mit einem vernichtenden Blicke an, was dieser in großer Gemütsruhe ertrug.

„Wenn Ihnen der Aufenthalt hier so unangenehm ist, so ließe sich ja wohl ein Ausweg finden,“ bemerkte er kühl. „Es wird nicht schwer sein, eine ältere deutsche Dame ausfindig zu machen, die die Stelle einer Gesellschafterin bei Frau Mallner übernimmt. Ich mache mich anheischig, das zu vermitteln. Also reisen Sie in Gottesnamen zurück nach Ihrem Hinterpommern, mein Fräulein, Ihre Schwägerin ist hier ganz gut aufgehoben.“

„Ohne mich?“ rief Ulrike starr vor Erstaunen und Empörung. „Ohne mich? Ja, was denken Sie sich denn eigentlich, Herr Doktor? Mein seliger Bruder hat mir auf dem Sterbebette seine Frau übergeben und mir das Versprechen abgenommen, nicht von ihrer Seite zu weichen, und Sie muten mir zu, sie allein zu lassen hier in dem fremden Weltteil! Oder mochtest Du das etwa, Selma?“

„O gewiß nicht,“ versicherte die junge Frau, mit einem halb furchtsamen, halb dankbaren Aufblick zu der gestrengen Schwägerin. „Ich habe ja niemand als Dich auf der Welt, Ulrike! Laß mich nicht allein!“

„Sei ruhig, ich bleibe bei Dir,“ erklärte das Fräulein gnädig und warf einen triumphierenden Blick auf den Doktor, der nur die Achseln zuckte.

„Wenn Frau Mallner Ihr Bleiben wünscht, habe ich natürlich nichts dagegen einzuwenden. Also ich komme übermorgen zu Ihnen, gnädige Frau, und bitte, einstweilen meine Verordnungen pünktlich zu befolgen. Ihnen aber, mein Fräulein, möchte ich zu bedenken geben, daß Ihre Schwägerin eine sehr zarte Natur ist, die der äußersten Schonung bedarf. Auf Wiedersehen, meine Damen!“

Er begleitete die beiden Damen bis zur Thür und kehrte dann zu Sonneck zurück, der ein schweigsamer Zuhörer geblieben war.

„Das ist ja eine merkwürdige Praxis, die Sie mir da zugewiesen haben,“ sagte er lachend. „Dies streitbare Fräulein aus Hinterpommern, das mit allen Aerzten in wütender Fehde lebt und unsereinem fortwährend Injurien ins Antlitz schleudert, ist wirklich ein Original.“

„Das ist sie,“ stimmte Sonneck bei. „Sie steht auch fortwährend auf dem Kriegsfuße mit dem Direktor unseres Hotels und der arabischen Dienerschaft. Ich habe da schon verschiedenemal Frieden stiften müssen und die arme kleine Frau scheint sich willenlos ihrem Scepter zu beugen. – Ist der Fall ein schwerer?“

„Nein, durchaus nicht. Ich habe der jungen Frau die besten Hoffnungen geben können und hoffe, sie vollständig herzustellen. Aber über einen anderen Fall kann ich Ihnen leider nichts Tröstliches berichten. Sie wollen doch wohl hören, wie es mit Herrn von Bernried steht?“

„Allerdings, deshalb komme ich zu Ihnen. Nun?“

„Sein Zustand ist hoffnungslos. Ich sah und wußte es schon gestern, als ich die Untersuchung im Hospital vorgenommen hatte, und als ich heute morgen wieder bei ihm war, sah ich, daß auch ein Hinfristen nicht möglich ist. Ich gebe ihm höchstens noch vierundzwanzig Stunden und wahrscheinlich geht es noch weit schneller zu Ende, denn die Kräfte sinken ungemein rasch.“

„Also doch!“ murmelte Sonneck, und als verließe ihn plötzlich die Selbstbeherrschung, trat er rasch an das Fenster und preßte die Stirn gegen die Scheiben.

„Sie nehmen tieferen Anteil an dem Manne,“ sagte Walter nach einer kurzen Pause. „Ich sah es schon gestern bei unserem Gespräch. Haben Sie ihn früher gekannt?“

Sonneck wandte sich um und man las es in seinen Zügen, wie tief ihn der Ausspruch getroffen hatte.

„Ja, Doktor, wir sind einst Freunde gewesen, Jugendfreunde – bis etwas geschah, was uns trennte. Erlassen Sie es mir, Ihnen das zu erzählen, ich kann es nicht über mich gewinnen in dieser Stunde und ich will nichts aussprechen, was wie eine Anklage klingt. Wir haben uns lange Jahre hindurch nicht wiedergesehen, bis ich ihm vor einigen Wochen hier in Kairo begegnete. Von seinem äußeren Leben erfuhr ich genug, er ist ja bekannt in der ganzen Sportswelt, aber Sie scheinen ihn doch näher gekannt zu haben. Ich hörte, Sie seien früher oft in sein Haus gekommen.“

„Allerdings, denn ich habe Frau von Bernried bis zu ihrem Tode behandelt. Sie war schon krank, als sie vor drei Jahren hierherkamen, und siechte langsam dahin. Man sah es noch, daß sie sehr schön gewesen war, und es heißt ja auch, Bernried habe um ihretwillen mit seiner Familie gebrochen.“

„Ja, er warf damals alles hin, um seiner Leidenschaft zu folgen. Wenn sie nur wenigstens stand gehalten hat! War die Ehe glücklich?“

„Ich glaube kaum. Ein Mann vergiebt es der Frau selten, wenn er um ihretwillen Reichtum und Lebensstellung opfern muß. Mag sie noch so schuldlos daran sein, sie muß das früher oder später büßen, wenn die Leidenschaft verraucht ist. Als ich Bernried kennenlernte, war er schon tief verbittert, zerfallen mit sich und der Welt, angewidert von dem Leben, das doch seine einzige Hilfsquelle war. Ich fürchte, die arme Frau hat das oft entgelten müssen. Wahrhaft geliebt hat er wohl nur eins auf Erden – sein Kind!“

Sonneck erwiderte nichts, er nickte nur stumm, als habe er diese Auskunft erwartet, während der Arzt fortfuhr:

„Wie oft habe ich später versucht, ihn zu bestimmen, die Kleine irgend einer deutschen Familie zur Erziehung anzuvertrauen. Was sollte denn aus ihr werden, wenn sie den größten Teil des Tages einer unwissenden Bonne überlassen blieb, während der

[24]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Das Fest der Heiligen drei Könige.
Nach einem Gemälde von C. Cap.

[25] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [26] Vater sich in den Spielklubs und auf den Rennplätzen umhertrieb. Aber alle Vorstellungen waren umsonst, er behauptete, nicht leben zu können ohne die Nähe des Kindes, an dem er mit unsinniger Zärtlichkeit hing. Ich glaube, er hatte ein instinktmäßiges Gefühl, daß diese Nähe allein noch ihn vor dem Schlimmsten, vor dem völligen Sinken bewahrte, und klammerte sich daran wie an einen Rettungsanker.“

„Ich war heute morgen in seinem Hotel, um nach dem Kinde zu sehen,“ sagte Sonneck gepreßt. „Ich hörte aber, Sie seien bereits dagewesen und hätten es mit sich genommen.“

„Ja, ich habe die Kleine zu meiner Frau gebracht, die von jeher eine große Zuneigung für sie hegte, und einstweilen bleibt sie bei uns. Kennen Sie die Verhältnisse näher? Bernried war in dieser Hinsicht sehr verschlossen und sprach nie von seiner Familie, und doch wird man sich an sie wenden müssen.“

„Von den Bernrieds ist nichts zu erwarten,“ erklärte Sonneck mit Bestimmtheit. „Sie haben sich dieser Heirat von Anfang an mit vollster Feindseligkeit gegenübergestellt und das Kind gilt in ihren Augen ebensowenig für ebenbürtig wie die Mutter. Es ist ein hochmütiges, ahnenstolzes Geschlecht. Ich werde dem Großvater der Kleinen, dem Professor Helmreich, Nachricht geben, der jetzt in Kronsberg lebt. Aber vielleicht trifft Bernried selbst noch irgend eine Bestimmung. Ist er bei Besinnung?“

„Bis jetzt nur auf Minuten, aber ich glaube, daß vor dem Tode noch einmal volle Klarheit eintreten wird. Das geschieht oft in solchen Fällen und dann wird er zweifellos nach seinem Kinde verlangen.“

Sonneck schien einige Sekunden lang mit sich zu kämpfen, dann sagte er: „Darf ich ihn sehen?“

„Wenn Sie es wünschen, gewiß. Eine Aufregung ist hier nicht mehr zu fürchten und vielleicht ist Ihr Kommen noch eine letzte Freude für den Mann, um den sich sonst wohl keiner kümmern wird. Ich fahre heute gegen Abend noch einmal hinaus nach dem Hospital, Sie brauchen mich dort nur aufzusuchen. – Aber jetzt kommen Sie mit hinunter in den Garten, meine Frau ist dort mit der kleinen Elsa, ich möchte Ihnen das Kind zeigen.“

Als die Beiden die Treppe hinunterschritten, begegnete ihnen Reinhart Ehrwald, der beim Doktor ein Zusammentreffen mit Sonneck verabredet hatte und ebenfalls kam, um zu hören, wie es mit dem Manne stehe, dem die gestrige Niederlage so verhängnisvoll geworden war. Er schloß sich auf die Einladung des Doktors den Herren an.

Der Garten des Walterschen Hauses lag wie eine kleine grüne Oase mitten in dem Häusermeer der Stadt. Hier duftete und blühte alles in tropischer Fülle und Pracht und der zierlich gedeckte Frühstückstisch gab dem Orte etwas ungemein Trauliches und Behagliches. Eine Dame war eben beschäftigt, den Thee zu bereiten, und ein kleines Mädchen von sieben oder acht Jahren jagte sich im lustigen Spiel mit einem winzigen weißen Hündchen umher.

„Da bringe ich Dir die beiden Wüstenhelden!“ sagte der Doktor scherzend, indem er mit seinen Gästen an den Tisch trat. Frau Walter, eine noch junge Frau mit feinen, anmutigen Zügen, begrüßte die beiden Herren, die sie bereits kannte, mit einfacher Liebenswürdigkeit und lud sie freundlich ein, an dem Frühstück teilzunehmen.

„Ich kann leider noch nicht den mindesten Anspruch auf den Titel machen, den mir der Herr Doktor giebt,“ sagte Ehrwald, indem er den angebotenen Platz einnahm. „Ich habe vorläufig nur den guten Willen, ihn zu verdienen.“

„Und die nötige Tollkühnheit dazu, das haben wir gestern bei dem Rennen gesehen,“ ergänzte Walter und wandte sich dann zu dem Kinde, das sein Spiel unterbrochen hatte und neugierig herbeikam, um die Fremden anzuschauen.

„Komm her, Elsa, und gieb diesem Herrn die Hand, es ist ein Freund Deines Papas!“

Die Kleine gehorchte und bot Sonneck zutraulich das Händchen. Es war ein allerliebstes kleines Geschöpf, schlank und zierlich wie eine Elfe, mit einem rosigen Kindergesicht, aus dem ein Paar großer dunkelblauer Augen hervorblickte. Das blonde Haar, das einen leicht rötlichen Schimmer hatte, fiel offen über Hals und Schultern, deren zarte Farbe es nicht verriet, daß das Kind schon mehrere Jahre lang unter der afrikanischen Sonne lebte. Sein weißes Kleidchen war reich mit Spitzen besetzt und an seinem Halse funkelte ein Medaillon von feinster arabischer Goldarbeit. Das ganze kleine Wesen war Lust und Leben, und als es jetzt, erhitzt vom Spiel, mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht strich und die Fremden anlachte, da sah es so reizend aus, daß Sonneck es mit einer fast leidenschaftlichen Zärtlichkeit an sich zog und küßte.

Klein-Elsa ließ sich das ruhig gefallen und mit jener Wichtigkeit, mit der Kinder eine Neuigkeit erzählen, sagte sie: „Mein Papa ist verreist, aber er kommt bald zurück, sehr bald, und dann bringt er mir etwas Schönes mit, sagt der Onkel Doktor. Du kennst auch den Papa?“

„Ja, mein Kind,“ entgegnete Sonneck, und sich niederbeugend, setzte er so leise, daß nur das Kind ihn verstehen konnte, hinzu: „Ich habe Deinen Papa einst lieb gehabt, sehr lieb!“

Elsa sah ihn an, es war, als habe sie eine Ahnung davon, was in diesen Worten lag, denn plötzlich bot sie, ohne jede Aufforderung, dem fremden Manne den kleinen roten Mund zum Kusse dar.

„Nun will ich aber auch eine Hand und einen Kuß haben, kleine Landsmännin,“ sagte Ehrwald. „Ich will nicht leer ausgehen, komm zu mir!“

War es der übermütige, etwas befehlende Ton, oder mißfiel dem Kinde sonst etwas an dem jungen Manne, genug, es rührte sich nicht.

„Nun, Elsa, willst Du dem Herrn Ehrwald nicht auch die Hand geben?“ mahnte Frau Walter, aber Elsa schüttelte den Kopf und ließ ein sehr entschiedenes „Nein!“ hören.

Jetzt legte sich Sonneck ins Mittel und redete der Kleinen freundlich zu, aber vergebens. Sie glitt von seinen Knien auf den Boden nieder und stand nun da wie ein vollendeter Trotzkopf. Sie stampfte mit dem Füßchen und wiederholte mit vollster Heftigkeit:

„Nein! Ich will nicht! Ich will ihn nicht küssen!“

„Ei, wie feindselig!“ spottete Reinhart. „Da werde ich mir den versagten Kuß wohl erobern müssen.“

Er streckte die Arme nach dem Kinde aus, aber dies entglitt ihm blitzschnell und lief in den Garten. Der junge Mann sprang ihm nach und nun begann eine förmliche Jagd zwischen den Bäumen und Gebüschen.

Klein-Elsa machte es ihrem Verfolger schwer genug. Wie ein Pfeil schoß sie vor ihm hin, tauchte dann plötzlich im Gebüsch unter, kam an einer ganz anderen Stelle wieder zum Vorschein und entwischte ihm immer wieder, wenn er sie zu fassen glaubte. Das weiße Röckchen und die blonden Haare flatterten, während das Kind wie ein großer weißer Falter durch die blühenden Gesträuche huschte, und Ehrwald hatte so viel Mühe, es zu fangen, wie nur irgend ein Schmetterlingsjäger. Endlich aber erreichte er es doch und trug es zu dem Tische zurück.

„Da habe ich sie!“ rief er triumphierend und hielt seine Beute mit beiden Armen hoch empor. „Willst Du mich nun küssen, Elsa? Ja oder nein?“

„Nein!“ rief die Kleine zornig, während sie vergebliche Versuche machte, sich zu befreien. „Laß mich los! Du sollst mich loslassen!“

„Erst den Kuß!“ lachte Reinhart, und ohne sich an das Sträuben seiner kleinen Gefangenen zu kehren, drückte er einen Kuß auf das widerstrebende Gesichtchen.

Das Kind schrie auf, so laut und angstvoll, als habe man ihm irgend ein Leid angethan. Dann aber ballte es die kleine Faust und schlug dem jungen Manne so nachdrücklich in das Gesicht, daß er es betroffen, fast bestürzt aus seinen Armen gleiten ließ. Diesmal machte Elsa keinen Versuch, zu flüchten, sie stand regungslos da, aber all die sonnige Liebenswürdigkeit war plötzlich wie ausgelöscht in dem Wesen des Kindes. Die Hände waren noch geballt, die Zähne zusammengebissen, und das waren auch keine Kinderaugen mehr, die zu Reinhart aufblickten. Es sprühte darin seltsam, beinahe unheimlich, er mußte unwillkürlich an die Augen Bernrieds denken, als dieser gestern seinen Gegner maß, während er jene letzte verzweifelte Anstrengung machte, die ihm den Tod bringen sollte.

„Aber Elsa, wie kannst Du so unartig sein! Was soll der fremde Herr von Dir denken?“ rief Frau Walter. Da regte sich das Kind, es lief zu ihr, barg den Kopf in ihrem Schoß und [27] begann laut und bitterlich an zu weinen, sein ganzer Körper bebte in krampfhaftem Schluchzen.

„Das ist die Erziehung, oder vielmehr der Mangel an Erziehung von seiten des Vaters,“ sagte Walter, aber Sonneck schüttelte leise den Kopf.

„Nein, Doktor, es ist das Blut des Vaters, das sich in dem Kinde verrät. Gerade so wild und maßlos bäumte sich Bernried auf, wenn ihm von Menschen oder Verhältnissen ein Zwang geschah, und seine Tochter hat diese unselige Charakteranlage geerbt, wie man sieht!“

„Wenn ich nur wüßte, was mit Elsa in der nächsten Woche geschehen soll,“ nahm Frau Walter wieder das Wort, während sie sich bemühte, das noch immer schluchzende Kind zu beruhigen. „Wir haben einen Besuch in Ramleh versprochen, wo in der Familie eines uns befreundeten Landsmannes eine Hochzeit gefeiert wird, und mein Mann hat sich mit Mühe für acht Tage frei gemacht. Mitnehmen können wir die Kleine nicht und ebensowenig sie allein unserer arabischen Dienerschaft überlassen. Ich weiß für den Augenblick wirklich niemand –“

„Ueberlassen Sie das mir,“ fiel Sonneck rasch ein. „Ich werde Fräulein von Osmar bitten, sich des Kindes anzunehmen, und bin überzeugt, sie thut es mit Freuden.“

„Das wäre freilich ein Ausweg. Aber der Konsul? Wird es ihm recht sein?“

„Gewiß, er läßt seiner Tochter volle Freiheit in solchen Dingen. Ich verbürge mich für seine Zustimmung.“

„Es wäre nur für acht Tage, dann hole ich mir meinen kleinen Liebling wieder. Am liebsten behielte ich ihn ganz, aber das wird wohl nicht möglich sein.“

„Nein, gnädige Frau, denn der Großvater, Professor Helmreich, wird das Kind jedenfalls beanspruchen. Das düstere Haus des alten, strengen Mannes wird freilich ein trauriger Aufenthalt sein für das sonnige kleine Wesen, aber er überläßt seine Enkelin schwerlich fremden Händen.“

Er hatte mit gedämpfter Stimme gesprochen, um von der Kleinen nicht gehört zu werden, aber diese achtete gar nicht auf das Gespräch. Sie hatte sich nach und nach beruhigt und tröstete sich jetzt mit einem Stück süßen Backwerks, das sie gewissenhaft mit dem bittenden Hündchen teilte.

(Fortsetzung folgt.)


Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Straßenbahn mit Gasbetrieb.

Kampf auf der ganzen Linie! – Auf der einen Seite heißt die Losung „Gas“, auf der andern „Elektrizität“.

Zunächst entbrannte der Kampf auf dem Gebiete der Beleuchtung und es schien fast, als sollte die Elektrizität jeden Mitbewerb aus dem Felde schlagen; jedoch, dank der Einführung der Regenerativlampen und insbesondere des Auerschen Glühlichtes, hat das Gas sein bisheriges Ansehen gerettet und ist wieder zu Ehren gekommen.

Nunmehr warf sich der Kampf zwischen denselben Gegnern auf den Betrieb der für den Kleinverkehr von Tag zu Tage wichtiger werdenden Straßenbahnen. Die Vorzüge des elektrischen Betriebes waren so einleuchtend, daß diese Bahnen im Siegeszuge sich des ganzen Verkehrs bemächtigen zu wollen schienen.

Inzwischen hatten sich jedoch auch die Gasmotoren zu einer hohen Stufe der Vollkommenheit ausgebildet. Kein Wunder, daß man daran dachte, diese billige und bequeme Betriebskraft auch für den Straßenbahnbetrieb zu verwenden. Unterstützt wurde dies Bestreben dadurch, daß man schon früher gelernt hatte, das Gas zu komprimieren und dadurch in einem verhältnismäßig kleinen Raume aufzuspeichern. Mit Hilfe solcher Gasspeicher waren schon seit geraumer Zeit die Eisenbahnwagen mit Leuchtgas versehen worden. Eine Erfindung von Julius Pintsch in Berlin, dessen sog. Druckregulator, ermöglichte es, das Gas mit vollkommen gleichmäßigem Druck austreten zu lassen. Durch geschickte Vereinigung dieser bereits bekannten und bewährten technischen Einrichtungen gelang es nun – jedoch auch erst nach vielen mühsamen Versuchen – dem Ingenieur Lührig in Dresden, einen brauchbaren Gasmotorwagen zu erbauen. Leider erlebte er nicht mehr die Freude, sein Werk vollendet zu sehen – im Juli 1893 verschied er inmitten der Bestrebungen, seine Erfindung zu verwerten. Aber seine Arbeit war nicht vergebens gewesen.

Wagen der Dessauer Gasbahn.

Im März 1894, nachdem schon vorher in Dresden vielversprechende Versuche mit dem Gasmotorwagen gemacht worden waren, trat die „Dessauer Straßenbahn-Gesellschaft“ mit dem zur Ausführung genügenden Kapital zusammen. Mit der Anlage einer Strecke von 4,4 Kilometern wurde der Anfang gemacht und die Bahn bewährte sich so, daß schon bald eine Erweiterung derselben erforderlich wurde. Auch die schwere Probe, die ein strenger lange dauernder Winterfrost jeder Straßenbahn auferlegt, hat die Dessauer Bahn gut bestanden.

Die Wagen unterscheiden sich im Aeußern nur wenig von den gewöhnlichen Straßenbahnwagen, wie dies auch unsere Abbildung zeigt. Unterhalb des Wagens, und zwar neben und zwischen den Radachsen, liegen drei cylindrische Behälter, die den Gasvorrat aufzunehmen bestimmt sind. Das Gas wird auf einen Druck von 6 Atmosphären zusammengepreßt, so daß die Behälter die sechsfache Menge Gas aufnehmen können, als ohne Preßpumpe möglich wäre. Die Preßpumpen sind in einem besonderen, kleinen und unscheinbaren Gebäude untergebracht, wo sie durch einen Gasmotor betrieben werden. Dieser füllt einen oder mehrere Vorratsbehälter, aus dem das Gas mittels eines beweglichen Schlauches in die Gasbehälter des Wagens gefüllt wird. Die hierzu erforderliche Arbeit ist in einigen Minuten vollendet, alsdann ist der Wagen zur Fahrt bereit; er bedarf erst nach vollendeter Reise einer erneuten Füllung. Bis dahin ist er von der Gasleitung unabhängig.

Zu dem Betriebe werden reichlich stark – auf sieben Pferdekraft – bemessene Motoren verwendet. Ihre beiden Cylinderkolben wirken auf eine gemeinsame Kurbelwelle. Die Zündung des Gases geschieht auf elektrischem Wege, also in der sichersten Weise. Der Motor liegt völlig versteckt unter einer Sitzreihe und ist vom Innenraume des Wagens vollständig getrennt. Sein Schwungrad ist in der Abbildung durch die geöffnete und nur nach außen zu öffnende Wagenthür erkennbar. Aus Gründen der öffentlichen Sicherheit ist dem Wagen eine Geschwindigkeit von höchstens 12 Kilometern in der Stunde vorgeschrieben; es würde jedoch nicht schwer fallen, diese Geschwindigkeit aufs Doppelte zu steigern.

Die Wagen haben 12 Sitzplätze, 14 Stehplätze und 2 Plätze für die Bedienungsmannschaft, können also 28 Personen befördern. Die Kraft der Maschine gestattet jedoch, unbeschadet der Geschwindigkeit Anhängewagen zu benutzen.

Für die bevorstehende Erweiterung sind etwas größere Wagen in Aussicht genommen.

Der bisherige Betrieb der Dessauer Bahn ist durchaus günstig verlaufen; die unvermeidlichen Kinderkrankheiten, wie sie bei einer so vollständig neuen und allerersten Anlage stets vorkommen, sind glücklich überwunden. Die Anlage- und Betriebskosten stellen sich – bei vorhandenem Gaswerke, was jetzt wohl in einigermaßen verkehrsreichen Orten als vorhanden angenommen werden kann – erheblich billiger als bei allen andern Betrieben. Die vielen Klagen über Verunstaltung des Straßenbildes durch die elektrischen Leitungen fallen fort. Gasexplosionen, wie sie ängstlichen Gemütern vielleicht vorschweben, sind bei den Gasbahnen kaum denkbar. Ein Uebelstand, wenn er auch gering erscheint, ist das Rütteln des Wagens während des Haltens, wobei die Maschine langsam in Bewegung bleiben muß. Es ist jedoch nicht zu bezweifeln, daß dieser Uebelstand seine baldige Hebung finden wird. – Die in Dessau zum erstenmal vorgeführte, echt deutsche Erfindung hat in technischen Kreisen großes Interesse hervorgerufen und viele Nachfragen wegen Neuanlagen von Straßenbahnen mit Gasbetrieb, ja auch Bestellungen auf dieselben herbeigeführt.

Die böse Konkurrenz hat also hier – hoffen wir zu allseitigem Vorteil – einmal wieder gute Folgen gehabt: „besseres Licht“ und „billige Fahrgelegenheit“. A. Hollenberg.     


[28]

Pestalozzi.

Zum 12. Januar 1896.
Von Professor Theobald Ziegler (Straßburg i. E.).
(Mit dem Bilde S. 21.)

Am 12. Januar feiern wir die 150jährige Erinnerung an den Geburtstag Pestalozzis. Die 150jährige! – sie begeht man nur in Ausnahmefällen, in weiteren Kreisen nur bei den allergrößten Menschen. Liegt hier ein solcher Ausnahmefall vor? Gehört Pestalozzi zu unseren Allergrößten? Ich denke entschieden: ja!

Sieht man freilich auf das Leben des Mannes, so ist es ein Leben voll Enttäuschungen und ein Leben auch voll von Mißgriffen gewesen. Erst wollte er Theologie studieren, dann als Advokat dem unterdrückten Volke in seiner schweizerischen Heimat Hilfe und Rettung bringen, und schließlich wurde er Landwirt. Aber unpraktisch, wie er war, litt er auf seinem Gut, dem Neuhof bei Birr am Fuße des Brauneggberges, bald genng Schiffbruch: und als er hier inmitten aller seiner eigenen Not seinen wahren Beruf entdeckte und eine Armenschule gründete, mißlang auch das. Und ebenso folgte auf den großen und glücklichen Griff, den er mit seinem Volksbuch „Lienhard und Gertrud“ (1781) that, rasch wieder Rückschlag und Niedergang: die lehrhaften Fortsetzungen der Schrift fanden wenig Anklang und sein tiefstes Werk „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“ (1797) hielten die meisten seiner Zeitgenossen, wie er selbst klagt, „für einen Gallimathias“; es schien, als könne und wolle ihn niemand verstehen.

Aber sein Tag sollte dennoch kommen! Noch bei seinen Lebzeiten erkannte man ihn in seiner ganzen großen Bedeutung unter allen Verhüllungen und Entstellungen des eigenen Mißgeschicks und des Mißerfolgs bei anderen, und es erkannten ihn, der nun ganz einfach und schlicht Schulmeister, nichts als Schulmeister werden wollte, gerade auch die edelsten und feinsten Geister seiner Zeit. Und daß es solche Männer damals auch im Rate der Völker und Fürsten gab, das ist sein und unser Glück gewesen. Erst war es sein Landsmann Stapfer, der Unterrichtsminister der verjüngten helvetischen Republik, der ihm zu Stans im Erzichungshaus der durch die Revolution und ihre blutige Niederwerfung zu Waisen gewordenen Kinder von Nidwalden die Gelegenheit verschaffte, zu zeigen, was er konnte, und noch vorher selbst erst zu lernen, was er wollte. Und Stapfer verlor auch dann den Glauben an Pestalozzi nicht, als auch dieses Unternehmen nach kurzem Bestand (vom Januar bis Juni 1799) scheiterte, sondern überwies ihm für die Fortführung seines Werkes die Hintersassenschule zu Burgdorf, die nun der Baum wurde, „dessen Aeste sich über den Erdkreis ausbreiten und unter dessen Schatten die Völker der Erde ohne Ausnahme ruhen“ sollten.

Wichtiger jedoch als das Schicksal der Pestalozzischen Anstalten erst in Burgdorf, dann in Münchenbuchsee und Yverdon, die nach raschem Aufblühen bei der völligen Regierungsunfähigkeit Pestalozzis und den beständigen Streitigkeiten unter seinen Mitarbeitern immer wieder dahinsiechten und dem Untergang verfielen, ist für uns heute und hier ein anderes – die Verpflanzung der Pestalozzischen Ideen nach Deutschland und der Einfluß, den sie auf uns geübt haben und immer noch ausüben.

Und so denken wir zuerst an das, was Pestalozzi dem deutschen Volke in seinen schwersten Stunden – nach der Schlacht von Jena – gewesen ist. Auch da war es ein Staatsmann, der größten einer, der Freiherr vom Stein, der zur Wiederaufrichtung Preußens aus tiefem Fall und zu dem großen Kampf, den er gegen die Gewaltherrschaft Napoleons vorbereitete, auf diesen „Schulmeister“ zurückgriff und in seinem Werk und Wirken das Mittel zur Rettung, die tiefste und gründlichste Hilfe in der Not erkannte; der Gedanke, daß die Erziehung durch eine auf die innere Natur des Menschen gegründete Methode jede Geisteskraft von innen heraus entwickeln müsse, leuchtete ihm ein. Denn just das brauchte in diesem Augenblick das preußische Volk, die Entbindung aller geistigen und sittlichen Kräfte zur Selbsthilfe. Daher die Befreiung des erbunterthänigen Bauernstandes, die Einführung der Selbstverwaltung, die Wehrbarmachung des ganzen Volkes, und Hand in Hand damit die Idee der Pestalozzischen Pädagogik: die gesunkene Menschheit vom Verderben emporzuheben durch Weckung und Stärkung ihrer besten, echt menschlichen Kräfte, ihr zu helfen durch Erziehung zur Rettung aus eigener Kraft. Denn daß Pestalozzis Art zu erziehen in der That „die Selbständigkeit des Geistes erhöhe, den religiösen Sinn und alle edleren Gefühle der Menschen errege, das Leben in der Idee befördere und den Hang zum Leben im Genuß mindere und ihm entgegenwirke“, davon war dieser preußische Minister mit seinen hohen Gedanken von den sittlichen Kräften im Volk und Staat aufs tiefste überzeugt. Und in diesem selben Sinn hatte ja auch schon Fichte in seinen „Reden an die deutsche Nation“ auf Pestalozzi hingewiesen und ihn mit Luther zusammengestellt als einen, an dem „die Grundzüge des deutschen Gemütes aufgezeigt und der erfreuende Beweis geführt werden könne, daß dieses Gemüt in seiner ganzen Wunder wirkenden Kraft in dem Umkreis der deutschen Zunge noch walte bis auf diesen Tag.“

Nun aber das ungeheure Glück, daß in diesem Augenblick auch das preußische Unterrichtswesen in die Hände von Männern gelegt werden konnte, die ebenso hoch und rein empfanden wie Stein und Fichte und darum Pestalozzis hohen und reinen Ideen dasselbe feine Verständnis entgegenbrachten wie jene: Nicolovius, der schon seit 1791 ein Freund Pestalozzis war, Süvern, der es jetzt wurde, und über beiden der neue Chef der preußischen Unterrichtsverwaltnng, Wilhelm v. Humboldt, der nun zeigen sollte, was die höchste individuelle Bildung, gestellt in den Dienst des Ganzen, für dieses wert sei und leisten könne. Und so wurde denn alsbald eine Reihe von jungen Männern, die Schulmeister werden wollten, von der preußischen Regierung nach Yverdon geschickt, um bei Pestalozzi zu lernen, wie man in den Kindern Kraft wecke und Kraft entbinde, wie man unterrichte und erziehe zugleich: und nach Königsberg berief man – freilich keine ganz geschickte Wahl – den Pestalozzianer Zeller, daß er dort ein Lehrerseminar und eine Musterbildungsanstalt nach der neuen Methode einrichte und in besonderen Kursen Geistliche und Lehrer in dieselbe einführe.

Es ist klar, daß an der Erhebung und an den Siegen Preußens in den Jahren 1813 bis 1815 die Pestalozzische Schule noch wenig Anteil haben konnte, aber es war doch derselbe Sinn und Geist, der in ihr waltete und der im Felde draußen die Schlachten schlug, der Geist eines sich seiner Kraft bewußt gewordenen und sie zur Selbsthilfe anspannenden Volkes. Das zeigte sich auch daran, daß die Pestalozzischen Ideen damals nicht beschränkt blieben auf die Neugestaltung der Volksschule, sondern dem Schul- und Bildungswesen überhaupt zu gute kommen sollten; auch auf den Universitäten und in den Gymnasien galt es, Kraft zu wecken, Menschen zu bilden und Menschen zu begeistern und mit Geist zu erfüllen!

Dieses großen Zusamenhangs zwischen allen den verschiedenen Stufen und Stätten wahrer Menschenbildung war sich Pestalozzi selbst am deutlichsten bewußt. In einem berühmt gewordenen Gleichnis hat er sich darüber ausgesprochen und den Mangel an einem solchen Zusammenhang als ein Grundgebrechen seiner Zeit beklagt. Das ganze Erziehungswesen, sagt er, „kam mir wie ein großes Haus vor, dessen oberstes Stockwerk (d. h. die Universität) zwar in hoher vollendeter Kunst strahlt, aber nur von wenigen Menschen bewohnt ist; in dem mittleren (dem Gymnasium) wohnen dann schon mehrere, aber es mangelt ihnen an Treppen, auf denen sie auf eine menschliche Weise in das obere hinaufsteigen könnten, und wenn etwa einige Gelüste zeigen, in ihrem Notzustand etwas tierisch in dieses obere Stockwerk hinaufzuklettern, so schlägt man ihnen, wo man das sieht, ziemlich allgemein auf die Finger und hier und da wohl gar einen Arm oder ein Bein, das sie bei diesem Hinaufklettern anstrengten, entzwei: im dritten unten (der damaligen Volksschule) wohnt dann endlich eine zahlreiche Menschenherde, die für Sonnenschein und gesunde Luft vollends mit den obern das gleiche Recht hat: aber sie wird nicht nur in ekelhaftem Dunkel fensterloser Löcher sich selbst überlassen, sondern man macht ihnen durch Binden und Blendwerk die Augen sogar zum Hinausgucken in dieses obere Stockwerk untauglich“.

[29]

Katzenfuge.
Nach dem Gemälde von C. Reichert.

[30] Aber auch Wilhelm v. Humboldt sah in seinem Bemühen um die Gründung der Berliner Universität und in seinem Eintreten für die Einführung des neuhumanistischen Geistes in unsere Gymnasien nur eine besondere Anwendung dessen, was Pestalozzi für die ganze Volkserziehuug verlangte: Kraftentwicklung; und in dem von Süvern ausgearbeiteten Entwurf eines allgemeinen Schulgesetzes für Preußen fand die Forderung dieses Zusammenhanges zwischen den verschiedenen Bildungs- und Schulstufen ihren ganz bestimmten Ausdruck.

Als aber die Schlachten geschlagen und die Fremdherrschaft gebrochen war, da wurden allmählich die dunklen Geister in Deutschland Meister, von denen einer, der bekannte reaktionäre Staatsrechtslehrer Ludwig von Haller, über Pestalozzi schrieb: „Die Methode Pestalozzis sei dahin berechnet, den Zöglingen Gleichgültigkeit und Abneigung gegen die christliche Religion, Haß gegen alle natürlichen Oberen, Unzufriedenheit mit den sozialen Zuständen und revolutionäre Gesinnungen einzuflößen.“ Und so dämpfte man wie überall so auch hier den Geist und ließ das Beste von dem, was Pestalozzi gedacht und erstrebt hatte, unausgeführt. Allein die Schätze, die bei ihm zu holen waren, waren auch in dieser Verengung und Beschränkung noch groß genug; wenigstens in der deutschen Volksschule ging der Same, den er ausgestreut hatte, auf und trug reiche Früchte; Männer wie Dinter, Diesterweg und viele andere in allen deutschen Ländern und Staaten haben seinem Geiste hier den Weg gebahnt und zum Sieg verholfen. Seine Bedeutung lag nun bis auf weiteres darin, daß durch ihn die deutsche Volksschule einen Inhalt erhielt, der ihr bis dahin noch abgegangen war.

Die deutsche Volksschule ist nicht das Kind der Kirche – weder der alten katholischen des Mittelalters noch der jüngeren protestantischen der Reformationszeit, sondern sie ist eine Schöpfung des Staates. Wohl hat Luther auf die Notwendigkeit einer allgemeinen Schulbildung für alle, Arme und Reiche, Mädchen und Knaben, hingewiesen; aber zur Wirklichkeit wurde diese Forderung erst, als der Staat diese allgemeine Elementarbildung erzwang. Mit diesem staatlichen Schulzwang ging Weimar im Jahre 1619 allen anderen deutschen Staaten voran, Preußen folgte erst 1717 nach und das Generallandschulreglement Friedrichs des Großen mußte im Jahr 1763 die allgemeine Schulpflicht aufs neue einschärfen. Aber was helfen Schulen ohne den rechten Meister der Schule, ohne Lehrer, die Schule halten können? Was hilft der Schulzwang, ohne daß gleichzeitig von seiten des Staates für Lehrerbildung gesorgt wird? Auch das hat der Staat im 18. Jahrhundert als Pflicht anerkannt: 1732 wird in Stettin das erste preußische Lehrerseminar eingerichtet und unter Friedrich dem Großen fällt es der von Hecker gestifteten Realschule in Berlin zu, „die Landschulen in den Königlichen Aemtern mit guten Subjektis aus dem Seminario zu versorgen“. So war der Rahmen geschaffen, die Volksschule war da; aber sie hatte für ihren Unterricht noch keinen genügenden Inhalt und noch keine richtige Methode; die Bemühungen des wackeren Erbherrn von Rochow blieben infolge des Widerstandes der agrarischen Junker vereinzelt, und die Experimente der Philanthropinisten waren nicht auf die Volksschule berechnet. Durch Pestalozzi kam nun mit einem Schlage beides, Inhalt und Methode. In der Schrift „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ (1801) deckte er die Gebrechen des bisherigen Unterrichtsbetriebes auf: das Buchstabenwesen, das Reden ohne Anschauung, „das Maulbrauchen und die Mauldrescherei“ – das ist es, „was die letzte Spur des Flammengriffels auslöscht, womit die Natur ihren Geist in unserem Busen zeigen will.“ Darum weg damit! Und im Gegensatz dazu weist er dann hin auf die Anschauung und Bethätigung der Sinne und verlangt überall das Zurückgehen auf Selbsterlebtes, Selbstempfundenes. Indem er sich aber bemüht, die elementarsten und natürlichsten Gesetze für den Gang des Unterrichts aufzufinden, glaubt er in Schall, Form und Zahl die von der Natur selbst anerkannten Ausgangspunkte aller Elementarbildung entdeckt zu haben. So wollte er die Erziehung – wie er selbst ungeschickt genug sagt: mechanisieren; richtiger hieße es: sie psychologisieren. Die zunächst sichtbaren Wirkungen dieser psychologischen Begründung der Unterrichtsmethode waren aber neben der Betonung der Anschauung in allen Fächern die Aufnahme von Gesang und Zeichnen in den Kreis der Schulfächer und die erstmalige sichere Fundamentierung des bis dahin noch fast völlig vernachlässigten Rechenunterrichts.

So wurde Pestalozzi der große Organisator der Volksschule, und durch den Anschluß an ihn wurde die deutsche Volksschule eine Pestalozzischule. Deshalb hat auch im Jahre 1846 vor allem die deutsche Lehrerwelt Pestalozzi gefeiert – als den großen Volksschulpädagogen. Das war nicht falsch; denn das war Pestalozzi. Aber es war zu eng; denn er war mehr; und es war zu wenig, wenn das Fest nur seitens der Volksschule und ihrer Vertreter begangen wurde. Damit verkannte man ja seine große Lehre von der Notwendigkeit des Zusammenhangs aller Schulen und Bildungsstufen, die er aufgestellt und die die preußischen Schulräte und Minister in der ersten Begeisterung so ganz begriffen und so freudig erfaßt hatten. Man verkannte sie aber deswegen, weil man das Tiefste in Pestalozzis Wesen und Wirken überhaupt nicht mehr begriff und ganz auch noch nie begriffen hatte, das Soziale.

Völlig zwar war auch diese Seite zu Anfang nicht übersehen worden; das bewies in der Schweiz die pädagogische Kolonie des Freiherrn von Fellenberg in Hofwyl, und bewies in Deutschland die Gründung der ersten Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder durch Johannes Falk im Jahr 1813. Als 1839 der Pcstalozzianer Fröbel den ersten Kindergarten einrichtete, da wirkte auch dabei das soziale Pathos mit; und daher war auch das Verbot dieser Kindergärten durch Preußen im Jahre 1851 nicht so gar verwunderlich, wenn es unter anderem damit motiviert wurde, daß dieselben sozialistisch seien. Darin lag doch eine ganz richtige Witterung von dem wahren Wesen des Pestalozzischen Geistes. Denn daran ist kein Zweifel: Pestalozzi ist erfüllt von sittlich sozialen Ideen, seine Pädagogik ist Sozialpädagogik, und man thut ihm kein Unrecht, wenn man ihn nicht nur um seines vernachlässigten und saloppen Aeußeren willen und wahrlich nicht um ihn zu tadeln – den großen Proletarier unter den Pädagogen nennt.

Und eben diesen, den Proletarier, den Bannerträger eines sittlich sozialen Geistes, feiern wir dieses Mal im Zeitalter der sozialen Frage, weil und soweit diese eine sittliche und eine Erziehungsfrage ist. Ihn jammerte des Volkes: das ist der tiefste Ausgangspunkt für seine pädagogische Reform; in diesem Sinn wurde er Sozialist mit einem Herzen voll Liebe und Hilfsbereitschaft, und als das einzige Mittel zu helfen erschien ihm eine Volkserziehung von unten auf und von innen heraus, bei der es galt, die gebundenen Kräfte zur Selbsthilfe zu entwickeln und zu entfesseln. Darum gründete er schon auf dem Neuhof seine erste Armenschule: mit den 50 Zöglingen derselben wollte er im Sommer das Gut bebauen und im Winter Baumwolle verarbeiten, und während der Arbeit und durch sie sollten dann die religiösen, ethischen und intellektuellen Kräfte dieser vernachlässigten Bettelkinder geübt und dieselben dazu erzogen werden, um „die Pflicht in ihrem ganzen Umfang über den Hang in allen seinen Richtungen herrschend zu machen“; die Liebe aber sollte der gute Geist des Hauses sein.

So fand er, der zunächst wohl nur daran gedacht hatte, seine Anstalt durch die Arbeit der Kinder aus sich selbst heraus zu erhalten, wie Saul, der ausgezogen war, um seines Vaters Eselinnen zu suchen, ein Königreich, das neue Reich einer wahrhaft sozialen Pädagogik; denn dabei ging ihm das Verständnis für den Wert der Arbeit und der Gedanke auf, sie für die Erziehung nutzbar zu machen und zu organisieren, als Idee, als die große Aufgabe und als der Leitstern seines Lebens und Wirkens. Durch Arbeit wird man erzogen zur Arbeit, durch sie werden alle physischen und psychischen, die intellektuellen und die moralischen Kräfte entwickelt und entfesselt: der Zweck der Verstandesbildung wird in der Arbeit gefördert, weil bei ihr Natur und Naturgesetz zu unmittelbarer Anschauung kommt, ein Selbsterlebtes und Erfahrenes wird. Und ebenso hat der sittlich soziale Gedanke vom Wert der Arbeit als einer Menschen verbindenden Macht in diesem Selbsterlebten seinen Ursprung. Nur denke man dabei nicht an etwas Großes und Besonderes, sondern ganz einfach an das Zusammenarbeiten der Kinder mit der Mutter im Haus. Die Mütter – in ihre Hände legt Pestalozzi die erste Bildung des Volkes! Die Wohnstube ist die erste Erziehungsstätte, durch die Mutter wird sie zu einem wahren Heiligtum; denn sie gleicht „der Sonne Gottes, die vom Morgen bis zum Abend ihre Bahn geht: dein Auge bemerkt keinen ihrer Schritte und dein Ohr hört ihren Lauf nicht; aber bei ihrem Untergang weißt du, daß sie wieder aufsteht und fortwirkt, die Erde zu erwärmen, bis ihre Früchte reif sind“. So wird durch ihr Walten das bloß äußerliche Thun der Arbeit [31] zu einem innerlich sittlichen. „Sie spinnen so eifrig, als kaum eine Taglöhnerin spinnt; aber ihre Seelen taglöhnern nicht“, heißt es von Gertrud und ihren Kindern. Dieser große Gedanke, daß man mitten in der schweren Arbeit des Tages vor allem müsse Mensch bleiben können, das ist wirklich der Schlüssel zur Lösung der sozialen Frage, das ist ihr sittliches Postulat!

Wie ganz erfüllt aber Pestalozzi von sozialen Ideen war, das zeigt sein Buch „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“, in dem er seine Gedanken über Eigentum und Erwerb, über Regierung und Recht, über Staat und Religion, über Freiheit und Gesellschaft mit aller Kühnheit entwickelt hat. „Gehört,“ so fragt er hier, „unseren Mitmenschen, die mit gleichen Naturrechten wie wir geboren und den Besitzern der Erde mit gleichen Ansprüchen ins Angesicht sehen, gehört diesen Staatsbürgern, die jede Last der gesellschaftlichen Vereinigung siebenfach tragen, keine ihre Natur befriedigende Stellung in unserer Mitte? Fürchtet euch nicht, Besitzer der Erde, es ist hierin wahrlich mehr um Grundsätze als um Almosen, mehr um Rechtsgefühl als um Spitäler, mehr um Selbständigkeit als um Gnaden zu thun!“ Dabei klingt vieles revolutionär, aber stets handelt es sich um eine Revolution in den Ideen und Grundsätzen, um die sittliche Revolution des Menschen als Grundlage einer sozialen Reform der Einrichtungen. Wir aber begreifen nun, warum ihn damals so wenige verstanden und das ganze Buch für einen „Gallimathias“ angesehen wurde. Es war die Stimme eines Propheten, freilich damals noch eines Propheten in der Wüste.

Wir wissen aber heute allerdings auch, daß die Verhältnisse, aus denen heraus Pestalozzi redete, nicht genau mehr die unsrigen sind: er denkt vor allem an die Hausindustrie und daher kann er mitten in der Arbeit die Wohnstube zum Ausgangspunkt und die Mutter zur Mittlerin der neuen sozialen Erziehung machen. Heute ist die Hausindustrie fast völlig erdrückt von den Riesenarmen der Maschinenarbeit in den Fabriken. Aber sind dadurch Ziel und Aufgabe andere geworden? Oder gilt es nicht vielmehr noch jetzt und immer mehr jetzt, aus „Händen“ Menschen zu bilden und sie aufhören zu machen, auch geistig zu tagelöhnern? Und ist es nicht erst recht unsere Pflicht, die Mütter wieder zu Müttern werden zu lassen und sie ihrer Familie d. h. ihrer nächsten und höchsten Aufgabe zurückzugeben? Nur die Mittel werden heute vielfach andere, kompliziertere sein müssen. Gewiß würde Pestalozzi in vielen Veranstaltungen unserer Tage auf dem Gebiet der Gesetzgebung sowohl als der Erziehung Verwirklichungen seiner Ideale und Forderungen freudig begrüßen; aber er würde anderseits auch finden, daß noch immer zu viel Tagelöhnersinn und zu wenig Liebe in der Welt sei.“ Und in der Pädagogik würde er – darin hatte schon Fichte mit seinem Vorwurf recht – sich nicht darauf beschränken dürfen, nur den „äußerst vernachlässigten Kindern aus dem Volke die notdürftigste Hilfe zu leisten“, sondern er müßte auch oben Hand anlegen, weil auch in den beiden oberen Stockwerken viel zu einseitig nur an Berufsbildung und viel zu wenig an Menschenbildung gedacht wird und weil das Ideal der allgemeinen Elementarbildung, der wahrhaft allgemeinen Volksschule als einer Schule für alle, auch heute noch nicht verwirklicht ist.

Fraglos sind wir über Pestalozzi hinausgeschritten in der Technik der Volksschulpädagogik; da ist manches von dem, was er ersonnen hat mit heißem Bemühen, inzwischen veraltet. Obgleich auch hier zweierlei noch immer von ihm zu lernen ist: derselbe Mann, der sich hinreißen ließ, zu sagen, er wolle die Erziehung „mechanisieren“, hat allem Mechanischen entgegen die Liebe als den Grund und Kern aller Erziehung erkannt; und daß die Aufgabe der Volksbildung zu den schwierigsten und wichtigsten gehört, das wird von unserem heutigen Staat weder durch genügende finanzielle Aufwendungen, noch durch ausreichende Fürsorge für eine fortschreitende Hebung und Besserung der Lehrerbildung anerkannt; in beidem standen die leitenden Männer Preußens vor achtzig und mehr Jahren unter dem mächtigen Einfluß Pestalozzis höher als die meisten Regierenden von heute. Nicht hinausgeschritten aber sind wir, sondern eben jetzt wachsen wir langsam erst hinein und heran an das Centrum der Pestalozzischen Idee von einer wahrhaft sozialen und humanen Aufgabe der Erziehung. Wir haben sie erfaßt, aber noch nicht durchgeführt, überall sind es Forderungen, Ideen, Ideale, in Wirklichkeit aber höchstens erst Anfänge und Versuche.

Und darum ist es kein müßiges Rückwärtssehen und Ausruhen im stolzen Bewußtsein des schon Erreichten, wenn wir am 12. Januar Pestalozzis Andenken feiernd erneuern, sondern ein Gelöbnis mehr und ein ernstes Mahnen. Einst war er uns Deutschen der Mithelfer zur nationalen Erneuerung unseres Volkstums und Staates; dann wurde er der Begründer eines inhaltlich wertvollen und methodisch sich aufbauenden Kinderunterrichts; heute ist er einer der tiefgründigsten Führer bei unserem Bemühen um eine wahrhaft soziale Gestaltung der äußeren und inneren Formen unseres gesellschaftlichen Lebens. Sorgen wir dafür, daß ihn unsere Kinder und Enkel, wenn sie im Jahre 1946 den Tag aufs neue festlich begehen, gerade dafür zu segnen und zu feiern Grund haben!


Vielliebchen

Novelle von Ernst Eckstein.

     (Schluß.)

3.

Während der nächsten Zeit war Marie eifrig damit beschäftigt, an dem Vielliebchen-Geschenk zu arbeiten. Große perlengestickte Brieftaschen waren damals sehr in der Mode. Und da eine Brieftasche ihr eine ganz besonders passende Gabe für einen Gelehrten schien, so war sie gleich am folgenden Morgen in das erste Galanteriewarengeschäft von Glaustädt gewandert, um etwas recht Vornehmes und Apartes für den Mann ihrer Neigung auszuwählen.

Das Wetter war trübe und kalt geworden; aber im Herzen Mariens blühte und leuchtete es wie ein sonniger Maimorgen. Sie hatte sich nämlich nach reiflicher Ueberlegung für einen Plan entschieden … Die Worte, die der Professor in der Geißblattlaube gesprochen, waren ja fast ein halbes Geständnis … Lotichius glich an Scheu und Befangenheit wirklich ein bißchen dem italienischen Dichter: man mußte ihm nachhelfen, so schwer es auch hielt, mit den althergebrachten Anschauungen weiblich-strenger Zurückhaltung brechen zu sollen. Wäre nicht der Rittmeister Scholl dazu gekommen, wer weiß, ob sich nicht alles von selbst gemacht hätte? Die Situation war so günstig und die Stimmung des liebenden Mannes schien so gehoben! Jetzt aber war dieser Augenblick unwiederbringlich versäumt. Da galt es zu handeln, ehe es zu spät ward.

Ganze Nachmittage lang saß Marie in ihrem Stübchen und stickte, bis ihr die Augen schmerzten. Es waren die kleinsten Glasperlen, die es gab, und ein sehr verwickeltes, schwieriges Muster; aber die fertige Arbeit würde auch eine köstliche Wirkung ausüben. Schlanke lichtgrüne Vergißmeinnichtstauden, die den Vordergrund bildeten, hoben sich mit ihren blauen und blaßroten Kelchen von dem Hintergrund einer verschleierten Landschaft ab. Das Muster war allerdings nur dann vollständig erkennbar, wenn man es weit von dem Auge entfernt hielt. Aber gestickt würde das deutlicher werden. Und auf jeden Fall gab sich das Ganze als ein wunderbar abgetöntes, farbenglitzerndes Mosaik. Für die Rückseite war ein gleichfalls in Perlen zu stickender Streifen mit der Aufschrift: „Guten Morgen, Vielliebchen!“ bestimmt. Unter die Aufschrift kam noch Datum und Jahreszahl. Schon die Mühsamkeit dieser großartigen Perlenarbeit mußte dem teuren Manne verraten, daß die Stickerin ihre sehnende Seele mit einstickte. So beschenkte man nur den Einen, dem man mit jeder Faser des Herzens zu eigen war. Und dann …

Flammende Glut stieg ihr ins Antlitz, wenn sie sich dieses „Dann“, das ihren tollkühnen Plan bedeutete, klar ins Bewußtsein rief. Sie schreckte wohl noch für kurze Momente zurück. Aber auch nur für kurze Momente. Sie wußte ja ganz genau, daß ihr nichts anderes übrig blieb, wenn sie nicht etwa die Freundschaftsdienste Feodors in Anspruch nehmen wollte. Vor Feodor aber schämte sie sich; das wäre ihr noch hundertmal peinlicher und demütigender gewesen … Nein, unter keiner Bedingung!

Feodor, der sich für die Brieftaschenstickerei außerordentlich interessierte, verfolgte mit Genugthuung ihren raschen Fortgang. Doch war er zugleich erstaunt und verstimmt darüber, daß der [32] Professor, der doch sonst häufig genug im Hause vorsprach, all’ die Tage her nicht das Mindeste von sich hören ließ.

„Was ist das nur mit unserem Lotichius?“ fragte er, als er sich wieder einmal auf den gepolsterten Rundstuhl neben die Tante setzte, während das junge Mädchen, über den Stickrahmen gebeugt, Perle an Perle reihte. „Weshalb kommt er nicht mehr?“

„Wer kann das wissen!“ sagte Marie.

Feodor trommelte mit der Hand auf den Tisch.

„Rätselhaft!“ meinte er achselzuckeud. „Früher sagte er doch wenigstens ’mal guten Tag, wenn er in sein Kolleg ging. Jetzt aber macht er, scheint’s, absichtlich einen Umweg.“

„Er wird seine Gründe haben,“ versetzte Marie ruhig.

Dann schaffte sie weiter, während der Junge stirnrunzelnd hinaus auf die Straße sah. Das Ausbleiben des Professors verursachte ihr keinerlei Unruhe mehr. Sie wußte, in welchem Irrtum er lebte und wie bald dieser Irrtum sich aufklären würde. Sie hatte ja ihren Plan … Wie sonderbar von Professor Lotichius, sie mit dem Rittmeister Scholl in Verbindung zu bringen, der ihr so vollständig gleichgültig war! Ach, daß einem die liebsten Menschen selbst dann nicht ins Herz sehen können, wenn soviel davon abhängt! Aber Geduld! Sie hatte ja ihren Plan …

Als Feodor nach etlichen Tagen wieder bei Tante Marie anklopfte, fand er die Thür von innen verriegelt. Das junge Mädchen rief ihm erschreckt zu: „Wer ist da? Du, Feodor? Ich kann niemand herein lassen, ich bin beim Anziehen.“

„So spät noch?“

„Ja. In einer halben Stunde komm wieder. Ich habe Dich dann um etwas zu bitten.“

„Gut! Also in einer halben Stunde!“

Was Fräulein Marie da vom Anziehen behauptete, war eine Notlüge. Sie saß vielmehr in vollständiger Haustoilette vor dem krummfüßigen Pfeilertischchen und schrieb einen Brief ins Reine, den sie vorher mit Anstrengung all ihres Scharfsinnes und Taktgefühls aufgesetzt hatte. Nach langer Mühe war sie mit dem Entwurf zustande gekommen. Der Brief war an Professor Lotichius gerichtet und enthielt, wenn auch nicht das unmittelbare Geständnis ihrer Neigung, so doch Worte und Wendungen, die den Professor über den wahren Sachverhalt nicht im Zweifel belassen konnten. Insbesondere war sein Irrtum bezüglich des Rittmeisters in diesem Briefe zerstört und die Bemerkung hinzugefügt, einen wie hohen Wert die Briefschreiberin darauf lege, daß gerade er, Professor Lotichius, sich in diesem Punkte nicht täusche. Lotichius mußte, wenn er dies Schreiben las, sofort die Ueberzeugung gewinnen, seine Werbung würde mit überquellender Herzensfreude angenommen und durch die Liebe eines ganzen Lebens belohnt werden. Und doch hatte Marie es fertig gebracht, dieser Enthüllung jeden Stachel der Unweiblichkeit zu nehmen und das Ganze mehr in dem Licht eines unfreiwilligen Sichverratens als in dem einer berechneten Kundgebung erscheinen zu lassen.

Nachdem sie die Reinschrift beendet hatte, steckte sie den Brief in ein schmales Couvert, verschloß es und schob es in die versteckteste Falte der gestern fertig gewordenen Brieftasche.

„Also doch wie die Frau Anselmo Colombis!“ dachte sie lächelnd. „Nun denn in Gottesnamen! Ich konnte nicht anders!“

Nach Verlauf einer halben Stunde kam Feodor.

„Du hast Dich ja heute besonders schön gemacht,“ sagte er mit einem zärtlichen Blick auf das lichte Alpakakleid. In Wahrheit jedoch war es nicht das Alpakakleid, was diesen Eindruck hervorrief, sondern der unbeschreibliche Hauch banger Glückseligkeit, der auf dem Antlitz des jungen Mädchens wie ein goldrosiger Schein lag.

„Feodor,“ sprach Marie ein wenig unsicher, „die Brieftasche ist vollendet. Willst Du mir nun den großen Gefallen thun, sie dem Professor persönlich in seine Wohnung zu bringen?“

„Gern! Was thäte ich nicht für meine bildhübsche Tante! Aber laß nun erst einmal sehen, wie sich das Ding macht!“

Er griff danach. Fräulein Marie wehrte ihm ängstlich.

„Ja nicht so anfassen! Das hellgraue Leder ist so furchtbar empfindlich.“

„Na, na, na!“ lachte Feodor. „Ich bin doch kein Kind, das mit Obst oder Honigfingern herumläuft. Aber ganz wie Du willst. Ich respektiere Dein Heiligtum. Rück’ es mir selber zurecht! Ich beschaue es mir dann in hochachtungsvollster Entfernung.“

Marie Sanders schob ihm die Tasche hin. Sie hatte rosenfarbiges Seidenpapier daruntergelegt und that jetzt wirklich, als ob sie selber sich scheue, das Kunstwerk anzutasten.

„Großartig!“ sagte Feodor. „Und eine Arbeit …! Na, wenn unser Professor jetzt noch immer nichts merkt …“

„Also Du findest mein Geschenk nicht zu geringfügig?“

„Hör’ mal! Geringfügig! Ein Prachtstück ist’s! Geradezu ersten Ranges!“

„Nun, das freut mich! Sei jetzt so gut und zünde mir dort ’mal das Licht an!“

„Ach, Du willst es wohl einsiegeln?“

„Natürlich. Das schickt sich doch so.“

Sie wickelte nun das Seidenpapier um die Tasche herum und verpackte das Ganze in einen weißen Konzeptbogen, den sie mit etlichen Siegeln und der Adresse versah. Links unten vermerkte sie: „Absenderin – Marie Sanders.“

Mit diesem Paketchen beladen schritt Feodor nach der Wohnung seines gelehrten Freundes. Da Professor Lotichius abwesend war, nahm die Wärterin, sichere Bestellung verheißend, das Geschenk in Empfang. Noch an dem nämlichen Abend traf ein Couvert mit einer Visitenkarte von Professor Lotichius ein. Auf der Visitenkarte stand unter dem Namen: – „dankt herzlich für das ausgezeichnet schöne Vielliebchen.“

Dann verstrichen wieder acht Tage, ohne daß Professor Lotichius was von sich hören ließ.

Am neunten erschien er zur landesüblichen Besuchsstunde im schwarzen Gehrock, um sich von der Familie Merck zu verabschieden. Seine Uebersiedlung nach Bonn sollte noch um ein paar Wochen früher erfolgen, als er vorausgesetzt hatte. Er dankte der Frau Justizrätin – ihr Gemahl war verreist – mit stammelnden Worten für die freundschaftliche Aufnahme, die er in ihrem gastfreien Hause genossen habe, und bat um die Erlaubnis, ihr und ihrer Schwester zum Andenken je eine griechische Gemme überreichen zu dürfen. Dann zog er zwei kleine Olivenholzschächtelchen aus der Tasche, in denen die beiden Gemmen auf lichtblauer Watte lagen, stellte die Schächtelchen halbzugeklappt auf den Tisch und überließ das Weitere, auch die Führung der Konversation, den Damen.

Marie, die seit der Absendung ihrer Brieftasche unausgesetzt zwischen Hoffnung und Trostlosigkeit hin- und hergeschwankt hatte, glaubte die sonderbar zurückhaltende Art des Professors nicht mehr mißdeuten zu dürfen. Während Frau Merck die sehr kunstvollen Gemmen bewunderte und ihr tiefstes Bedauern über den Weggang eines so werten Freundes aussprach, rief sich Marie mit fiebernder Bangigkeit jedes Wort ihres Schreibens ins Gedächtnis zurück. So streng sie auch richtete: ihr Brief enthielt nichts, was das Feingefühl eines wahrhaft liebenden Mannes hätte verletzen können. Es war also nur eins möglich: Feodor und sie selber hatten sich in der Beurteilung des Professors schmählich getäuscht. Er liebte sie nicht, verstand daher auch nicht ihre Motive und mußte nun diese Zeilen für die empörendste Aufdringlichkeit halten!

Es fiel ihr unendlich schwer, die Viertelstunde, die der Besuch dauerte, in gebührender Selbstbeherrschung zu überstehen. Als Professor Lotichius endlich mit einem traurigen Blick von ihr Abschied genommen, mit einem Blick, den sie als den unwillkürlichen Ausdruck seines Mißvergnügens darüber ansah, daß er sich in der Schätzung ihres Charakters so stark verrechnet hatte: da eilte sie hinaus in ihr Stübchen, warf sich langwegs auf das Bett und weinte zum Herzbrechen. Das Bitterste war ihr vielleicht in diesem Augenblicke der Umstand, daß sie auf Gottes Welt niemand in ihren Gram einweihen konnte. Selbst Feodor, der doch in anderer Beziehung ihr Mitwisser war, durfte von diesem Brief nichts erfahren. O, wie sie in ihrer hellen Verzweiflung den Knaben haßte, der ihr die unsinnige Anekdote von Anselmo Colombi erzählt hatte! Ihr erster Instinkt hatte doch recht behalten! Jede Unweiblichkeit, selbst wenn sie sich in das zarteste Kleid hüllte, strafte sich selbst. Ohne diesen abscheulichen Brief wäre ihr Leben zwar lichtlos und arm geblieben, aber doch nicht so im innersten Kern gebrochen! Jetzt, so schien es, fehlte ihr jeder Halt, jegliche Fähigkeit, ihr elendes Dasein noch weiter zu schleppen. Sie entbehrte jetzt nicht nur der Liebe, sondern sie hatte bei all’ ihrer Qual auch noch die Achtung des Mannes verloren, des einzigen Mannes, an dessen Achtung ihr wahrhaft gelegen war.

Und sie weinte, weinte, bis ihr in bleiernem Schlafe die Sinne schwanden. – – –

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Copyright 1895 by Franz Hanfstaengl in München.
Die Klosterbiene.
Nach dem Gemälde von E. Grützner.

[34]
4.

Vierzig Jahre waren ins Land gegangen. Marie Sanders war unvermählt geblieben; ebenso wie Professor Lotichius, der mehr und mehr der äußeren Welt abstarb, sich ganz in die Tiefen seiner archäologischen Forschung vergrub und nur noch eins pflegte: die merkwürdige Freundschaft zu Feodor. Feodor selbst hatte vor drei Decennien sich in Glaustädt als Rechtsanwalt niedergelassen, ein hübsches, liebenswürdiges Mädchen geheiratet und etliche Zeit danach die schon lebhaft blühende Praxis durch die seines allzufrühe verstorbenen Vaters vergrößert. Er bewohnte am Nördlinger Thor ein schönes geräumiges Haus, wo auch die alte Justizrätin, die sich mit ihrer Schwiegertochter genau so kameradschaftlich nett gestellt hatte wie einst mit ihrem lustigen Unterprimaner, ein stilles, beschauliches Heim gefunden. Tante Marie aber war schon bald nach dem Wegzuge des Professors als Gesellschafterin einer entfernten Verwandten auf Reisen gegangen und hatte sich später, um ihrem Thätigkeitsdrang Genüge zu leisten, eine Stellung als Vorsteherin eines Dienstbotenheims geschaffen. Sie schrieb nur selten; dann aber strömte aus ihren Briefen stets der Hauch einer seltsamen Schwermut, die zu der scheinbaren Freudigkeit, mit der sie sich ihrem Beruf widmete, nicht recht passen wollte. Feodor hatte die Angelegenheit mit dem Professor niemals wieder erwähnt. Er kam sich wohl selber dabei etwas beschämt vor. Schließlich, wenn der Professor nicht wollte: zwingen konnte man ihn ja nicht; und es gab ja ganz merkwürdige Menschenkinder, die sich trotz aller Neigung und Sympathie zu keinem Entschlusse aufraffen können, weil sie gleichsam für ein ewiges Junggesellentum prädestiniert sind. Jedenfalls hielt es der ehemalige Liebesvermittler für zweckmäßig, den unangenehmen Zwischenfall totzuschweigen.

Da eines Tages, als Feodor, dessen Bart hier und da schon ergraut war, beim Frühkaffee saß und sich mit seiner gutherzigen Frau über die Schulstreiche seines ältesten Enkels besprach, kam ein Brief aus Bonn, dessen Adresse nicht von Lotichius herrührte. Lorenz, der langjährige Famulus des Professors, machte in diesem Schreiben die traurige Mitteilung, sein teurer Herr sei infolge eines Gehirnschlages plötzlich verstorben. In Anbetracht der ihm bekannten freundschaftlichen Beziehungen des Herrn Rechtsanwalts zu dem Verblichenen habe Lorenz geglaubt, dies ohne Verzug melden zu sollen. Er fügte noch die Bemerkung hinzu, daß der Herr Rechtsanwalt Feodor Merck, wie er, Lorenz, dies aus dem Munde des Verewigten wisse, schon vor Jahren durch letztwillige Verfügung des Herrn Professors zum Haupterben ernannt sei.

Feodor Merck war aufs tiefste erschüttert. Er dankte dem Famulus telegraphisch. Zum Begräbnis konnte er leider nicht abkommen. Doch schickte er einen prachtvollen Kranz aus Epheu, Lorbeer und Immergrün.

Nach Verlauf einiger Wochen begab sich Feodor Merck behufs Antritts der Erbschaft nach Bonn. Er wußte, Lotichius war nicht reich, kaum wohlhabend gewesen. Das hinterbliebene Vermögen mit Einschluß des Mobiliars konnte nur von geringem Wert sein. Auch der litterarische Nachlaß hatte wohl nur wissenschaftliche, nicht materielle Bedeutung. Feodor nahm sich vor, mit der Sichtung und Bearbeitung dieser archäologischen Ausbeute einen befreundeten jungen Gelehrten zu beauftragen, falls Lotichius hier nicht anders verfügt hätte. Von den Möbelstücken wollte er einiges zur Erinnerung an sich nehmen, andres dem Famulus schenken, den Rest aber unter der Hand verkaufen lassen.

Von Wehmut erfüllt, betrat er das Arbeitszimmer des großen Gelehrten und ging hier sofort ans Werk, die Manuskripte und Briefschaften, die wohlverwahrt in den Fächern des alten Schreibtisches lagen, einigermaßen zu registrieren und in Pakete zu schnüren. Er fand da zunächst eine Unmasse von kleinen aufgeklebten Notizen, Excerpten und fragmentarischen Aufsätzen, alles Vorarbeiten zu dem großartigen Buch „Griechische Plastik“, mit dem Lotichius sich seit Jahren beschäftigt hatte. Außerdem noch fünf oder sechs Monographien, zum Teil beinahe fertig und nur noch einer letzten feilenden Hand bedürftig, zum Teil doch in ihren Grundzügen feststehend, klare, scharfumrissene Entwürfe, die sich dem Meister während der Arbeit an seinem Hauptwerk abgesplittert, zu deren Förderung er indessen nicht Zeit gefunden. Links oben, in einem besonderen Schubfach, ziemlich bunt durcheinander, lagen die Korrespondenzen vieler Jahrzehnte, meist Zuschriften hervorragender Berufsgenossen, dazwischen auch hier und da ein Familien- und Freundesbrief. Feodor nahm diese Briefschaften stoßweise heraus, umschnürte sie und ließ sie dann von dem Famulus einpacken. Zu Hause in aller Ruhe wollte er zusehen, was von diesen meist schon vergilbten Blättern des Aufhebens wert sei, das übrige aber verbrennen. Hier in Bonn, angesichts der verschiedenartigen sonstigen Obliegenheiten fehlte ihm Zeit und Stimmung.

Nachdem er die Briefe sämtlich herausgenommen, fand er im Hintergrund des Gefaches, von braunem Papier umhüllt, ein etwa handhohes Paket. Er öffnete dieses Paket. Es waren dünne, meist unscheinbar gebundene Notizbücher. Er klappte das oberste auf und las in den festen, klaren Schriftzügen des Professors: „Tagebuch meiner griechischen Reise.“ Auf dem Deckel des zweiten stand: „Pompejanische Studien.“ Dann auf dem dritten: „Einnahme- und Ausgabeverzeichnis“ …

Mit einem Male glaubte sich Feodor wieder in die Zeit seiner Primanertage versetzt, jener glücklichen Zeit, da Professor Lotichius im Elternhause des Knaben als häufiger Gast verkehrte. Er sah sich wieder in der besonnten Geißblattlaube neben der jugendlich schönen Tante sitzen, und dann droben in ihrem traulichen Stübchen, wo sie mit freudeglühenden Wangen ihr liebes Gesicht über den Stickrahmen beugte. Unter dem „Einnahme- und Ausgabeverzeichnis“ des Heimgegangenen lag nämlich die Brieftasche, die ihm Tante Marie vor jetzt nahezu einundvierzig Jahren zum Vielliebchen geschenkt hatte. Gleich auf den ersten Blick erkannte Feodor das sehr eigenartige Perlenbild, das er ja damals in der Entstehung mit so großer Aufmerksamkeit verfolgt und sich genau eingeprägt hatte. Das waren die hellgrünen Vergißmeinnichtstauden mit den bläulichen und rötlichen Blumenkelchen, und die seltsam verschleierte Mosaiklandschaft im Hintergrunde. Zu allem Ueberfluß stellte er auch das Vorhandensein des Perlenstreifens auf der Rückseite mit Datum und Jahreszahl fest. Welch’ eine mühsame Arbeit war das gewesen! Und wie hübsch und sorgfältig ausgeführt! Noch heute riß sie ihn zur Bewunderung hin, obschon sie ihm ganz eigentümlich altmodisch vorkam und gleichsam verschossen. Aber die zierlichen Perlen hatten doch ganz gewiß nichts an ihrer Farbenpracht eingebüßt. Das Ganze wirkte nur jetzt so fremdartig, so verjährt.…

Schwermutsvoll über die Flucht der Zeit nachdenkend, drehte Feodor Merck die Brieftasche langsam zwischen den Fingern. Ein wunderbares Verhängnis, daß diese beiden Menschen so einsam durchs Leben gegangen waren, ohne sich gegenseitig zu finden! Wie Feodor all’ die Einzelheiten sich ins Gedächtnis zurückrief, mußte er trotzdem seine Auffassung von damals für richtig halten. Der gereifte Mann bestätigte aus innigster Ueberzeugung die Ansicht des Knaben: Professor Lotichius war von dem Zauber Mariens aufs tiefste berührt worden. Er hatte sie wahrhaft geliebt. Und dennoch war er ohne ein Wort der Erklärung von Glaustädt weggegangen und hatte auch später geschwiegen, bis das verwundete Herz Mariens sich nach und nach auf sich selber zurückzog und endlich dem Leben abstarb.…

Nun, jetzt wohnte ja längst eine genügsame Ruhe in dem Gemüt der Gealterten. Sie war still und tapfer ihren lichtlosen Weg gegangen und hatte sich allgemach mit diesem Schicksal ausgesöhnt.

Da zuckte ihm plötzlich der Gedanke durchs Hirn: diese Brieftasche bekommt Tante Marie! Vielleicht gewährt es ihr doch eine Art von Genugthuung, wenn ich ihr sage, wie sorgfältig der Verewigte ihr Geschenk aufgehoben, und wie er es gleichsam für sie, die Geberin, hier zwischen den wertvollen Tagebüchern aus seiner Jugendzeit hinterlegt hat.

Er klappte die Brieftasche auf, um zu sehen, ob die mit hellroter Schnur eingehefteten Blätter irgend etwas enthielten, was für ihn von Belang sei. Aber das Ganze schien vollständig unberührt. Wie er die Blätter so zwischen Daumen und Zeigefinger auf- und abgleiten ließ, sah er auch nicht den Schimmer einer Notiz. So wickelte er die Tasche denn sorgfältig ein und schob sie in seinen Rock.


5.

Marie Sanders erhielt am vierzehnten März eine Postsendung aus Bonn, der ein liebenswürdiges Schreiben ihres Neffen, des Rechtsanwalts Doktor Feodor Merck, beilag. Mit herzlichen Grüßen überschickte er ihr als wehmütig schönes Andenken an Professor Lotichius die perlengestickte Brieftasche von damals … Tante Marie wußte ja … Und Feodor hoffte, daß es ihr einige Freude bereiten [35] würde, aus dem Zustand der Brieftasche zu erkennen, wie sehr Professor Lotichius ihre Gabe in Ehren gehalten.

Marie Sanders zählte jetzt einundsechzig Jahre. Das reiche goldblonde Haar von einst war schneeweiß geworden, das mildvornehme Gesicht hatte noch eine entfernte Ähnlichkeit mit dem des zwanzigjährigen Mädchens; besonders um Stirne und Augen. In diesen freundlichen Zügen lag nichts Altjüngferliches, Verstimmtes oder Vergrämtes: nur ein Hauch herbstlicher Trauer, die schweigsame Elegie eines späten Oktobertages, wenn sich die Stürme beruhigt haben und im aufsteigenden Abendnebel nur leise das dürre Laub raschelt. Marie Sanders hatte sogar im Ausdruck des wohlwollenden Mundes etwas Frauenhaftes und Mütterliches.

Als sie den Brief ihres Neffen gelesen, flog ein seltsames Zucken über ihr Antlitz. Was sie in jener fernen Zeit durchgemacht hatte – die Schmerzen ihres verwundeten Stolzes, das tiefe Leid über die unerwiderte Neigung – war längst vergessen. Nur das Liebe und Gute schien ihr treu im Gedächtnis zu haften. Jetzt war ihr zu Sinne, als kehre ihr mit dem Geschenk von damals ein lebendiges Stück ihrer begrabenen Jugend zurück. All’ die beglückenden Träume, die sie während der Zeit des Hoffens und Harrens bis zum Abschied des teuren Mannes gesponnen hatte, tauchten von neuem farbenprächtig in ihrer schauernden Seele auf, ohne den herben Beigeschmack der Enttäuschung. Die Morgenröte der ersten und einzigen Liebe warf einen warm verklärenden Strahl auf dieses längst schon abgeschlossene Frauendasein.

Mit zitternder Hand wickelte sie die Brieftasche aus der Umhüllung. Beim Anblick der unvergessenen Stickerei quollen ihr zwei funkelnde Thränen unter den Wimpern hervor. Sie drückte den Mund auf die hell schimmernden Perlen wie der Gläubige auf ein Reliquienstück. Dann musterte sie noch einmal, in unsagbare Empfindungen versenkt, die blühenden Blumenstauden mit der halb nur erkennbaren Landschaft dahinter, die ihr jetzt vollends verschwamm; denn sie weinte, ohne daß sie es wußte.

Endlich zog sie das Taschentuch, trocknete ihr beströmtes Antlitz und die brennenden Lider und seufzte aus tiefster Brust.

Welch ein seltsames Geschöpf sie doch war! Als sie die Nachricht von seinem Tod erhielt, war sie verhältnismäßig so ruhig gewesen! Sie hatte ja kaum je wieder etwas von ihm gehört; denn Feodor vermied es ja absichtlich, ihn zu erwähnen, und sie selbst getraute sich nicht, nach ihm zu fragen. Der Tod hatte für sie überhaupt nichts Schreckhaftes. Ja, der Gedanke, daß er sein ruhmreiches Leben nun so plötzlich beschloß, ohne die Leiden und Gebrechlichkeiten des Greisenalters kennenzulernen, flößte ihr eine gewisse Genugthuung ein. Sie war also rasch mit sich fertig geworden. Jetzt aber, da ihr die Brieftasche hier den Traum ihrer Jugend zurückführte, war sie kaum noch fähig, dem Ansturm dieser Erinnerungen stand zu halten.

Schamhaft zögernd fing sie jetzt an, in dem Notizheft, das mit dem hellroten Band in der Brieftasche befestigt war, langsam zu blättern. Auch sie war erstaunt, sämtliche Seiten vollständig unbenutzt zu finden. Das Herz bebte ihr wieder. So wenig also hatte er von ihr wissen wollen, daß er ihr schönes Geschenk nicht einmal in Gebrauch nahm! Die Auslegung, die Feodor sich gegeben, der gerade darin eine besondere Ehrung, eine Art heiliger Scheu erblickte, kam ihr nicht in den Sinn. Vollständig unbenutzt! Also einfach beiseite gelegt! Doch nein! Hier auf der letzten Seite stand ja wirklich eine blaßgraue Bleistiftnotiz …

Sie beugte sich vor, um zu lesen. Und wie sie las, ward ihr Gesicht totenblaß und ihre Hände begannen zu schlottern, so daß sie ein paarmal aufhören mußte, wie um neue Kräfte zu sammeln.

Die Bleistiftnotiz lautete:

„Diese Brieftasche empfing ich kurz vor Beendigung meines Aufenthaltes in Glaustädt als Vielliebchen von Fräulein Marie Sanders. Wehe mir, daß ich dies unvergleichliche Mädchen jemals kennengelernt! Ich liebe sie bis zum Wahnsinn. Trotzdem werde ich ehestens erleben müssen, daß sie das Weib eines andern wird. Wie mochte ich thörichter Mann auch nur minutenlang hoffen, sie, die Gefeierte, Glänzende, Herrliche, werde sich jemals zu mir, dem unscheinbaren Gelehrten, herablassen können! Sie bekundet nur freundschaftliche Teilnahme, Mitleid vielleicht, aber sonst nichts. Mit diesem Geschenk begrabe ich all’ meine Hoffnungen. Ich halte es unter Verwahrung wie ein kostbares Kleinod. Nach meinem Tod erst soll Marie aus diesen Zeilen erfahren – wenn sie es überhaupt erfährt – was sie dem Trostlosen und Vereinsamten während der glücklichen Tage in Glaustädt gewesen ist. 0 Edwin Lotichius.“

Die Brust des gealterten Fräuleins keuchte. Feodor hatte also doch tiefer geschaut als sie! Es war also dennoch kein Irrwahn gewesen! Aber wenn er sie wirklich geliebt hatte, wie war es dann möglich …? Unwillkürlich griff ihre bebende Hand in die Falte, wo sie damals den Brief an Lotichius verborgen hatte. Eiskalt lief es ihr über den Rücken und wie vernichtet sank sie in ihren Lehnstuhl.

Ihr Brief steckte da noch – unberührt und uneröffnet.…

Der Schlag war zu furchtbar. Marie Sanders verlor das Bewußtsein.


6.

Als sie wieder erwachte, sah sie Feodor an ihrem Lager stehen. Aber es war nicht der Rechtsanwalt mit dem halb schon ergrauten Bart, sondern der blühende, jugendstrahlende Unterprimaner … Und das war auch ihr hübsches, niedliches Mädchenzimmer im Hause der Schwester, nicht die einsame Stube des alten, weißhaarigen Fräuleins. Marie hatte das alles geträumt, alles, alles … „Gott sei Dank!“ wollte sie rufen. Aber da fiel ihr ein, daß die Hauptsache ja doch Wirklichkeit war. Lotichius hatte sich heute verabschiedet: morgen in aller Frühe wollte er seine Reise nach Bonn antreten. Keine Silbe hatte er auf ihren Brief erwidert. Ihr Leben war doch verloren …

Und nun weinte sie wieder.

„Tante, sei doch vernünftig!“ murmelte Feodor und ergriff ihre Hand. „In zwanzig Minuten geht es zu Tische. Was soll denn Mama denken?“

„Ach, Feodor, Feodor!“ schluchzte sie laut. „Ich habe so gräßlich geträumt. Es liegt noch auf mir wie die Last einer furchtbaren Schuld …“

Und hingerissen von dem Bedürfnis, ihr krankes Herz auszuschütten, erzählte sie alles bis ins kleinste.

Die Augen Feodors leuchteten.

„Das ist wie ein Finger des Schicksals! Ich bin fest überzeugt: Du hast wahr geträumt bis auf den Ausgang. Bisher wolltest Du nicht, daß sich Dein unkluger Neffe einmischte. Jetzt, bei allem, was heilig ist, lass’ ich mir’s nicht mehr verbieten!“

Somit rannte er weg. Um einen Vorwand brauchte er nicht verlegen zu sein. Bei dem Abschiedsbesuch des Professors war er, Feodor, leider nicht dagewesen. Und verabschieden mußte er sich ja doch von dem trefflichen Freund.

„Wie gefällt Ihnen die Brieftasche?“ fragte er nach einer Weile. „Die von Tante Marie, mein’ ich?“

„Ausgezeichnet!“

„Ich glaube, es liegt eine Widmung darin …“

„Ach? Eine Widmung? Da muß ich doch gleich einmal nachsehen …“

Also es war in der That, wie die Tante geträumt hatte! Der Brief Mariens steckte noch uneröffnet in der festschließenden Falte! Und daher das unendliche Weh der beiden in heißer Liebe entbrannten Herzen!

O, diese Gelehrten!

Feodor eilte jetzt schleunigst heim und überließ den Professor seinem glückseligen Schicksal.

Wenige Stunden danach aber kam ein flammender, leidenschaftlich beredter Brief.…

Und am Abend erschien der Professor selbst, ganz verwandelt in Miene und Haltung, ein Herzenseroberer, ein Stürmer, ein Triumphator!

Und zu Anfang Dezember fand in dem nämlichen Saale, wo Lotichius und Fräulein Marie das denkwürdige Vielliebchen miteinander gegessen hatten, die Feier der Hochzeit statt. Feodor Merck dichtete zu dieser Feier einen schwungvollen Hymenäus. Es kamen darin etliche Anspielungen auf Anselmo Colombi vor, die nur der junge Poet und die glückstrahlende Braut verstanden. Später dann, als sie mit ihrem Lotichius allein war, hat sie in herzklopfender Generalbeichte auch ihm das volle Verständnis dafür erschlossen. Da freute er sich, einen so hochberühmten Thorheitsgenossen zu haben. Er hätte sich sonst zeitlebens für den schrecklichsten Esel Europas gehalten, und das ist doch schwer zu vereinigen mit der Amtswürde eines ordentlichen Professors der Archäologie zu Bonn am Rhein.


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Blätter und Blüten.

Das Goethe-Schillerfest in San Francisko. Vor zwei Jahren, bei der glänzenden Feier des „Deutschen Tages“, während der California Midwinter-Ausstellung, faßten unsere Landsleute in San Francisko den Entschluß, dem großen Dichterpaar Goethe und Schiller ein Denkmal am Gestade des Stillen Oceans zu errichten. Als Standort für dasselbe wurde der schöne Golden Gate-Park in Aussicht genommen und als Vorbild sollte das berühmte Doppelstandbild von Ernst Rietschel in Weimar dienen. Die Kosten für diese Ehrung deutschen Geistes in dem fernen Lande, das so vielen Deutschen zur neuen Heimat geworden ist, wurden auf 10000 Dollar (etwa 40000 Mark) veranschlagt. Um diese Summe aufzubringen, beschloß man, in den Tagen vom 5. bis 11. November vorigen Jahres in San Francisko ein deutsches Volksfest im Stile jener Wohlthätigkeitsbazare abzuhalten, wie sie sich auch bei uns für ähnliche Zwecke eingebürgert haben. Dasselbe fand unter reger Beteiligung der Bevölkerung von San Francisko statt und nahm einen überaus glänzenden Verlauf. Zum Festplatz wurde der Mechanics-Pavillon ausersehen – ein riesiges Holzgebäude, das Aehnlichkeit mit einer Eisenbahnhalle hat. Während sieben Abenden entfaltete sich hier ein farbenprächtiges, lebensvolles Treiben, denn, abgesehen von Gesang- und Turnvereinen, waren 1500 Deutsche daran beteiligt, Scenen aus den Werken unserer berühmtesten Dichter aufzuführen und die zahlreichen Bazare zu leiten. Eine große Anzahl von Pavillons und Aufbauten führte den Beschauern denkwürdige Stätten vor, die auf die unsterblichen Schöpfungen Goethes und Schillers und ihr Leben Bezug haben: da waren der Palast der Prinzessin Turandot, der Tempel der Iphigenie, der Hungerturm, die Räuberhöhle etc. zu schauen, und es fehlte auch ein „Café Marbach“ nicht, dessen Vorderseite in gelungenem Gemälde Schillers Geburtshaus zeigte (vergl. unsre Abbildung).

Das Café Marbach beim Goethe-Schillerfest in San Francisko.

Dazwischen bewegte sich eine bunte kostümierte Menge: Faust, Gretchen und Mephisto, Königin Elisabeth und Don Carlos, Soldaten und Heerführer aus Wallensteins Lager, die Gestalten aus Schillers „Glocke“ traten den Teilnehmern leibhaftig entgegen. Reizend war auch die „Taubenpost“, die von weiß gekleideten mit Tauben geschmückten jungen Damen, oen „Taubenmädchen“, besorgt wurde und allerlei launige Briefe an die Besucher des Festes vermittelte. Der schöne Einklang, der in dem buntbewegten Treiben sich bemerkbar machte, die Pracht der Kostüme und die musterhafte Ordnung nötigten auch den englisch-amerikanischen Mitbürgern die vollste Anerkennung ab. Wie wir erfahren, soll der Reinertrag des Volksfestes gegen 6000 Dollar ergeben haben; damit ist die Errichtung des Denkmals, das die deutsche Dichtkunst am Stillen Ocean ehren soll, wesentlich gesichert. Möge der noch fehlende Rest bald aufgebracht werden und das Denkmal sich bald erheben zum Zeugnis, wie unsere Landsleute jenseit des Meeres neben aller politischen Treue für ihre neue Heimat am deutschen Volkstum festhalten. Zur Erinnerung an das Fest ist auch ein Album mit schönen Illustrationen und Beiträgen hervorragender deutscher Dichter und Schriftsteller erschienen. *     

Das Fest der Heiligen drei Könige im 17. Jahrhundert. (Zu dem Bilde S. 24 und 25.) In dem Hause des altberühmten Druckers Plantin in Antwerpen ist das Fest der Heiligen drei Könige herangekommen. Draußen ist’s ein heller Wintertag, und die lichte Schneelandschaft schimmert durch die kleinen Scheiben hinein in das Wohngemach des alten Patrizierhauses, in dem sich die Familie zum Mahle versammelt hat. Im Kamin zwar glimmen keine Kohlen, aber durch die offene Küchenthür prasselt es lustig herüber, und der Urgroßvater schaut aus seinem Bilderrahmen über der Thür heute froher hernieder als sonst. Seit jenen Tagen, wo ein dreißigjähriger Glaubenskrieg durch ganz Westeuropa tobte, ist’s doch beträchtlich besser geworden, überall herrscht Wohlstand und fleißiger Friede. Haus und Einrichtung sind zwar unverletzt durch die Kriegsstürme gegangen und die Urenkel essen noch an demselben Tische wie dereinst ihr Ahn und Urahn und lehnen an demselben Kaminsims mit der Aufschrift: Oost . West . E huis best – (Osten – Westen - daheim ist’s am besten!), aber unter den fortwährenden Kriegsunruhen hatten doch Geschäft und Reichtum gelitten. Sohn und Enkel haben aber das alte Druckerhaus wieder emporgebracht, und die kleinen blonden Lockenköpfe können frohgemut der Zukunft entgegenschauen. Augenblicklich machen ihnen freilich die stattlichen Pfefferkuchentafeln, die das Dreikönigsfest gebracht hat, einen tieferen Eindruck als alle Zukunftsaussichten, und ihre ganze Aufmerksamkeit wird von den drei Königen gefesselt, die ihren Sang absingen. „Daar kwamen drie koningen met eene ster“, das klingt den Kleinen zwar vertraut genug, aber der Sternträger in der Mitte ist ihnen doch nicht recht geheuer. Der mit seinem schwarzen Gesicht und seinem weißen Turban ist ja der König von Mohrenland, wo die Menschen alle Heiden sind und zum Frühstück kleine Kinder fressen. Aber die Fiedel klingt und dazu tönt der Sang in seiner halb ernsten, halb lustigen Weise, und die drei Könige blicken drein, als wollten sie die Welt zu einer neuen Religion bekehren, und die Erwachsenen lauschen, und über dem ganzen Zimmer liegt die Weihestimmung, die alle ernsten volkstümlichen Feste begleitet. A. T.     

Katzenfuge. (Zu dem Bilde S. 29.) Nicht allen erscheint die musikalische Neigung der Katzen in gleichem Grade abscheulich wie dem geplagten Mann in Vater Lichtwers Ballade, dem sie das nächtliche Lied anstimmen, das „Stein’ erweichen, Menschen rasend machen kann“. Unter denen, die an den zierlich anmutigen Bewegungen der Katzen, ihrer im Verkehr mit Menschen doch wenig geräuschvollen Zuthunlichkeit besonderes Gefallen finden, sind Musiker keine Seltenheit. Ein Musiker des vorigen Jahrhunderts, Domenico Scarlatti, hat sich sogar von seiner Hauskatze, als sie einst, über die Tasten seines Klaviers schleichend, eine interessante Tonfolge anschlug, zu einem besonderen Musikstück, die „Katzenfuge“, anregen lassen, und noch heute giebt es manchen musikalischen Katzenfreund, der diese Notenblätter gelegentlich hervorsucht, um seinen Lieblingen ein Extragaudium zu bereiten. Kein Wunder, wenn diese nach solchem Genuß, in Abwesenheit ihres freundlichen Herrn, selber darangehen, dem geheimnisvollen Instrument ähnliche Genüsse zu entlocken. Gewiß wird sich der glückliche Besitzer dieser jugendlichen vierbeinigen Konzertgeber bei der Rückkehr nicht so cholerisch gebärden wie der Hausherr im obigen Gedicht, welcher beim wütenden Losschlagen auf die Katzen sein Mobiliar zertrümmert und mit dem Verlust von „zwei Reihen Zähne“ die Erfahrung bezahlt, daß „blinder Eifer schadet nur“. Er wird sich im Gegenteil daran ergötzen, wie durch Miezels Wandelgänge auf den Tasten und Pussys begleitende Arie Scarlattis Katzenfuge um einige echt katzenmäßige Kadenzen bereichert wird.

In welchem Lebensalter ist der Mensch am stärksten? Wie alle Organe unseres Körpers, haben auch die Muskeln die Zeit ihrer Entwicklung, ihrer Blüte und ihres Verfalls. Die physische Kraft des Menschen steigt bis zu einem gewissen Lebensjahre, um darauf wieder zu sinken. Von Forschern auf dem Gebiete der Menschenkunde wurde die Kraft der Muskeln mit Hilfe eigenartiger Dynamometer (Kraftmesser) an Tausenden von Personen gemessen und auf diese Weise konnte ermittelt werden, wann wir in der Fülle unserer Kraft stehen. Für die Männer der weißen europäisch-amerikanischen Rasse ergaben sich dabei folgende Werte. Die „Hubkraft“ eines Jünglings von 17 Jahren beträgt im Durchschnitt 128 kg; im 20. Lebensjahre steigt sie auf 147 kg, um im 30. und 31. Lebensjahre mit 164,2 kg ihren Höhepunkt zu erreichen. Von da ab sinkt sie allmählich, beträgt aber noch im 40. Lebensjahre 161 kg. Ist erst das 50. Lebensjahr überschritten, dann geht es rascher abwärts, bis je nach der persönlichen Anlage des Einzelnen die Altersschwäche eintritt. Neger und Mulatten zeigen einen ähnlichen Entwicklungsgang ihrer Muskelkraft, bei den nordamerikanischen Indianern tritt dagegen die volle Kraftentfaltnng etwas später ein; sie befinden sich im 35. bis 44. Lebensjahre auf der Höhe der Kraft. *      




Inhalt: Fata Morgana. Roman von E. Werner (1. Fortsetzung). S. 21. – Pestalozzi unter den Waisenkindern von Nidwalden. Bild. S. 21. – Das Fest der Heiligen drei Könige. Bild. S. 24 und 25. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Straßenbahn mit Gasbetrieb. Von A. Hollenberg. Mit Abbildung. S. 27. – Pestalozzi. Zum 12. Januar 1896. Von Professor Theobald Ziegler (Straßburg i. E.). S. 28. Mit Abbildung S. 21. – Katzenfuge. Bild. S. 29. – Vielliebchen. Novelle von Ernst Eckstein (Schluß). S. 31. – Die Klosterbiene. Bild. S. 33. – Blätter und Blüten: Das Goethe-Schillerfest in San Francisko. Mit Abbildung. S. 36. – Das Fest der Heiligen drei Könige im 17. Jahrhundert. S. 36. (Zu dem Bilde S. 24 und 25.) – Katzenfuge. S. 36. (Zu dem Bilde S. 29.) – In welchem Lebensalter ist der Mensch am stärksten? S. 36.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 2. 1896.


Bruch eines Wasserleitungsrohres in Berlin. Am 18. Dezember vorigen Jahres, zwischen 4 und 5 Uhr morgens, platzte ein Hauptrohr der Wasserleitung in der Britzerstraße in Berlin. Mit unbändiger Gewalt brach das Wasser in einem 5 m hohen Strahl empor und ergoß sich rasch über die angrenzenden Straßen. In kürzester Zeit waren Teile der Britzer- und Skalitzerstraße, sowie das Elisabethufer regelrecht überschwemmt. Am schlimmsten wurden durch diese Katastrophe die Kellerbewohner der bedrohten Häuser heimgesucht. Nur notdürftig gekleidet, mußten sie ihre Wohnungen räumen, Hab und Gut im Stiche lassen und waren froh, daß sie das nackte Leben retten konnten. Die Feuerwehr wurde alarmiert, und man setzte die städtischen Wasserwerke telegraphisch in Kenntnis von dem Unfall. Die Wasserleitung wurde abgestellt, und Dampfspritzen konnten nunmehr die überschwemmten Keller auspumpen. Der Schaden, der inzwischen angerichtet wurde, war jedoch ein beträchtlicher, viele Waarenvorräte wurden vernichtet. Von der Wucht des ausströmenden Wassers gab schon ein Blick auf die Bruchstelle einen deutlichen Beweis; hier hatte sich ein Kessel von 5 m Durchmesser und 3 m Tiefe gebildet.

Bruch eines Wasserleitungsrohres in Berlin.
Nach dem Leben gezeichnet von E. Thiel.

Die Krankenhausanlage in Dar-es-Salaam. Dar-es-Salaam, einer der wichtigsten Hafenorte von Deutsch-Ostafrika, blüht unter der deutschen Herrschaft zu einer immer größeren, durch saubere Neubauten geschmückten Stadt auf. In Dar-es-Salaam, an dem Ufer des Indischen Ozeans, soll sich auch ein deutsches Krankenhaus erheben, zu dessen Aufführung der Reichstag die nötigen Mittel bewilligt hat. Nachdem das Terrain gerodet und die Fundamente ausgehoben worden, begann man am 31. Oktober v. J. mit dem Mauerwerk und hofft den Bau bis Ende dieses Jahres fertigzustellen. Wir bringen schon heute eine Abbildung des Krankenhauses nach den von Herrn Baudirektor Wiskow ausgeführten Plänen. Den Bau flankieren zwei etwa 21 m hohe Türme, welche die für die Anlage vorgesehenen großen Wasserbehälter aufnehmen. Luftige Hallen umgeben das Gebäude sowohl im Erdgeschoß wie auch im Stockwerk. Im Erdgeschoß befinden sich die Verwaltungsräume, Apotheke, Badeanstalt u. s. w., in dem Stockwerk dagegen die Krankenzimmer und Krankensäle. Die Küche wird aus hygieinischen Gründen in einem Nebengebäude untergebracht werden. Ein Windmotor soll die Pumpwerke für die Wasserversorgung der Anlage in Bewegung setzen, auch für eine zweckmäßige Kanalisation der Abwasser wird Sorge getragen werden. Möge das Krankenhaus nach seiner Vollendung dazu beitragen, daß unsern Landsleuten in der ostafrikanischen Kolonie, die so oft von Krankheiten heimgesucht werden, bei besserer Pflege auch eine raschere Gesundung zu teil wird!

Krankenhausanlage in Dar-es-Salaam.
Nach einer Zeichnung von Alfr. Lipowsky.

Unser Obstgarten im Winter. Bald wird die Hauptkraft des Winters gebrochen sein und mit dem Nahen der milderen Jahreszeit wird der Obstgärtner eine Reihe wichtiger Aufgaben zu erfüllen haben. Unsere Leser, die über einen Obstgarten verfügen, seien hiermit an dieselben kurz erinnert. Der Saft fängt im Februar an zu steigen. Die Zeit des Schnitts beginnt. Bei jungen Obstbäumen werden die Leittriebe um ein Drittel oder um die Hälfte gekürzt, ältere, mindestens vier Jahre alte befreit man nur von den zu dicht stehenden Zweigen. Bei alten Bäumen sind manchmal dicke Aeste wegzunehmen, um Luft zu schaffen. Veredelungen, die im Februar gemacht werden, wachsen sicherer als die späteren. Reiser zum Veredeln werden frisch geschnitten von gesunden Bäumen, welche reichlich gute Früchte bringen. Im allgemeinen wird darauf viel zu wenig geachtet; zum späteren Veredeln lassen sich jetzt auch Reiser schneiden. – Zusammengebündelt und dann an schattiger Stelle bis zur Hälfte in die Erde eingegraben – mit den Schnittwunden nach unten – halten sie sich gut. Die Pflanzung beginnt bei mildem Wetter. An den Spalierwänden wird die Erde 1 m breit und 50 bis 60 cm tief rigolt und stark mit Kalk und verrottetem Dünger gemischt. Die Bäume bekommen eine etwas schiefe Stellung nach der Mauer geneigt – des besseren Anbindens wegen. Das Anwachsen wird durch Komposterde um die Wurzeln gefördert. Auf nassen Grundstücken erhöht man an der Pflanzstelle den Boden 50 cm und 2 bis 3 m breit, setzt darauf den Baum wie auf ebener Erde, um die schädliche Feuchtigkeit fernzuhalten. Alle frisch gesetzten Bäume sind stark zurückzuschneiden. Sie behalten nur zwei bis drei Knospen. Zum Anwachsen ist festes Stehen notwendig. Man muß die Erde fest andrücken und nachher noch tüchtig einschlämmen, damit sie sich um die Wurzeln legt. Ein Pfahl ist nicht immer erforderlich. Bäume ohne Pfahl wachsen im allgemeinen besser. – Zur Anzucht von Obstwildlingen macht man Aussaaten von Apfel- und Birnenkernen. Kleine 1,20 m breite Beete, auf denen sechs Furchen gezogen werden, sind dazu am besten. Auch Pfirsichkerne werden gelegt. Sie müssen bisher in mäßig feuchtem Sande aufbewahrt sein. Vorsichtiges Anschlagen der Steine ohne Verletzung des Kerns erleichtert das Keimen. Die Pfirsichzucht aus Steinen ist besonders empfehlenswert, da viele Sämlinge gute Früchte bringen und nicht umveredelt zu werden brauchen.

Hauswirtschaftliches.

Ledertücher richtig zu reinigen. Jede Hausfrau weiß zum Putzen ihrer Fenster und zum Abreiben ihrer Möbel das weiche Ledertuch nach Verdienst zu würdigen, trotzdem behilft man sich vielfach mit anderen, weniger guten weichen Tüchern als Ersatz, weil die Hausfrauen das Hartwerden der Ledertücher nach der Wäsche fürchten. Lediglich falsche Reinigungsart liefert aber dieses trübselige Ergebnis, richtig gewaschene und getrocknete Ledersachen bleiben ganz weich. Hauptsache ist dabei das Trocknen und Zupfen nach der Wäsche. Alte Ledertücher werden mit Seife eingerieben, in eine schwache Lösung lauwarmen Sodawassers gethan, zugedeckt und auf warmer Herdstelle einige Stunden zum Weichen hingestellt, wobei man acht geben muß, daß das Wasser nicht erkaltet, sonst werden die Tücher hart, daß es aber auch nicht heiß wird, sonst wird das Leder brüchig. Nach dem Einweichen werden die Tücher in dem Wasser gut hin und her gespült, bis sie rein erscheinen. Erst dann wird eine neue Lösung von warmem Sodawasser und Seifenschaum hergestellt und hierin die Tücher gut durchgespült. Man drückt sie zwischen den Händen möglichst fest aus, legt sie zwischen grobe Tücher, klopft die Flüssigkeit, die noch in ihnen ist, so weit dies angeht, heraus und hängt sie zum schnellen Trocknen im Sommer in die Sonne, im Winter in die Nähe des Ofens, wobei man sie öfter zurecht zieht. Sind sie nun trocken, so bürstet man sie kräftig auf beiden Seiten, zieht sie nochmals hin und her und wird jetzt mit Freude bemerken, daß die Tücher wieder ebenso weich und rein sind wie in neuem Zustande. L. H.     
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