Die Gartenlaube (1896)/Heft 24
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Nr. 24. | 1896. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Der laufende Berg.
Silberne Fäden, schimmernd in der Morgensonne, gaukelten durch die stille, von keinem merklichen Windhauch bewegte Luft; langsamen Fluges kamen sie aus dem Thal heraufgezogen, in dessen sonniger Tiefe das Dorf mit seiner Kirche und den hundert Häusern gleich einem weitschichtig ausgekramten Spielzeug zwischen den herbstlich gefärbten Berggehängen lag. Alles in eine Flut von Licht und Farbe getaucht. Der vergoldete Knauf des Kirchturms strahlte in hellem Feuer, die alten Schindeldächer schillerten wie silbergrauer Sammet und auf den neuen Häusern leuchteten die frischen Ziegel wie Metall in der Rotglut. Die welkenden Obstbäume waren anzusehen, als trügen sie keine Blätter mehr, sondern nur eine Menge kleiner, rotwangiger Früchte, und das nach allen Herbststürmen noch verbliebene Laub der Buchen und Ahornbäume spielte in zartgetöntem Wechsel zwischen brennendem Gelb und tiefem Purpur. Das gegen Süden blickende Berggehänge mit seinen steilen Wiesen und zerstreuten Wäldchen war von goldiger Morgensonne übergossen, das jenseitige noch von blauem Frühschatten
[390] umwoben und über der in der Ferne sich verlierenden Flucht der Felswände, in deren Schattendunkel keine Form sich klar unterscheiden ließ, hoben sich die vom ersten dünnen Schnee überhauchten Kuppen und Zinnen mit feinen Linien in das wolkenlose Blau des Himmels.
Wie im Märchen die Gestalt der guten Fee von einem wundersamen Zauberschleier umflossen ist, so war dieses weite, farbenschöne Bild der Landschaft übersponnen von einem immerwährenden Flimmern und Geglitzer; es ging von jenen weißen Sommerfäden aus, welche zu Abertausenden die reine, linde Luft durchgaukelten; bald waren es nur winzige Dingerchen, die einem schwebenden Fünklein glichen, bald wieder lange fast endlos scheinende Fadenschlangen, welche stiegen und sanken, sich spielend rollten, große Schlingen bildeten und sich langsam wieder streckten. Dieses fliegende Wunder in den Lüften hatte all die kleinen Vögel in seltsame Erregung versetzt; mit lautem Gepisper flatterten sie ab und zu, stachen auf die schwebenden Fünklein nieder, als ob es Mücken wären, haschten die schwimmenden Fäden und huschten mit dem erbeuteten Schatz wieder in den Schatten der Bäume zurück. Alle Hecken und Gesträuche waren überzogen von dem blitzenden Gespinst; auf den welken Wiesen lag es umher und schimmerte; an kahlen Bodenstellen, von denen der Rasen in langen Wulsten niedergebrochen war, glitzerten die weißen Fäden, als träte pures Silber in feinen Adern aus der verwundeten Erde hervor; und an ein Fichtengehölz, das sich aus breiter Schlucht gegen die höheren Berge emporzog und einen seltsam müden Anblick gewährte – fast den Anblick eines an Dürre sterbenden Waldes – war das leuchtende Gespinst in solcher Menge angeflogen, daß die schräg durcheinanderstehenden Fichten einer Schar geplünderter Weihnachtsbäume glichen.
Draußen auf den offenen Halden lag, obwohl der Oktober schon begonnen hatte, die Morgensonne mit linder Wärme. Doch im Schatten des Waldes hauchte eine empfindliche Kühle, und an dem welken Kraut des Bodens hing noch der graue Reif der vergangenen Nacht. Der Wald schien öde zu sein, und dennoch herrschte in ihm eine merkwürdige Unruhe. Heiser kreischende Rufe und erregte Stimmen klangen von den bewohnten Gehängen herüber, dumpf hallten zwischen den Bäumen die schweren Schläge wieder, mit denen irgendwo auf den Halden Pfähle in den Boden getrieben wurden, und überall im Walde ließ sich ein seltsam gedämpftes Rauschen und Gurgeln vernehmen wie von reichlich strömendem Wasser. Es hatte in der vergangenen Woche stark geregnet und hoch droben in den Felswänden schmolz die Sonne den früh gefallenen Schnee; aber nirgends im Walde rann oder sickerte ein Tropfen, alle Wasserrinnen und die tief ausgewaschenen Furchen der Gießbäche lagen trocken. Und dennoch dieses rastlose Gurgeln und Geriesel! Es klang wie versunken, tief aus der Erde herauf.
Schwere Steine rollten, und zu dem lauten Hall, mit dem sie gegen die Stämme schlugen, gesellte sich das Klirren eines eisenbeschlagenen Bergstockes.
Ueber den Waldhang kam auf steilem Pfad ein Jäger herabgestiegen – kein Berufsjäger, wie die Kleidung verriet, sondern einer, der die Jagd zu seinem Vergnügen betrieb; nur der verwitterte Rucksack, das grüne Filzhütchen mit der Spielhahnfeder und die schweren Nagelschuhe erinnerten an die landesübliche Jägertracht; doch statt der Joppe trug er einen Flaus aus braunem Velvet, dazu eine grüne Weste mit silbergefaßten Hirschgranen und eine graue Tuchhose, die unter den Knieen von Ledergamaschen umschlossen war; eine neue englische Expreßbüchse, die wohl den Erlös eines Ochsengespannes gekostet hatte, vollendete die Ausrüstung dieses Bauern, der sich als Gutsbesitzer fühlte. Er mochte einige Jahre über dreißig zählen und man sah es ihm an, daß er einmal ein hübscher Bursch gewesen war; noch heute stand ihm der schwarze Schnurrbart gut zu Gesicht und ein Zug behaglichen Wohlwollens spielte um die vollen Lippen; aber die derben Wangen zeigten jene feinen rötlichen Aederchen, die an Mengen fleißig vertilgten Rotweins denken lassen, und die unruhig schwimmenden Augen verrieten, daß Toni Purtscheller auch den Jähzorn zu seinen Untugenden zählte.
Er hatte auf seinem Wege ein mühsames Niedersteigen; immer wieder fand er den Pfad von klaffenden Spalten unterbrochen; wohin er den Fuß setzte – überall lag der Boden locker und rutschte unter seinem Tritt, und rings um ihn her war aller Grund in einer steten, leisen Bewegung; in das sachte Knirschen, das aus der Erde quoll, mischte sich manchmal ein dumpfer Knall – da war unter dem Boden eine starke Baumwurzel entzweigerissen.
Eine breite, frisch geöffnete Kluft versperrte den Pfad und Purtscheller mußte einen mühsamen Umweg machen. Als er den Steig wieder erreichte, blieb er stehen, legte das Kinn auf den vorgestemmten Bergstock und betrachtete den Wald. Einzelne Bäume waren schon gefallen, viele andere standen schief und hingen mit den Wipfeln über Kreuz und an mancher noch aufrecht stehenden Fichte verriet ein rötlicher Behauch der Nadeln, daß ihre Wurzeln seit geraumer Zeit schon außer Nahrung waren.
„Da kann’s noch ein schönes Unglück absetzen! Der ganze Berg is im Laufen!“
Mit sorgenvollem Unmut folgten seine Blicke den gähnenden Bodenspalten und glitten über all die gestürzten und krankenden Bäume. Es war ja sein eigener Wald, den er sinken und sterben sah.
Schwer atmend nickte er vor sich hin und murmelte: „Da verlier’ ich wieder ein’ ordentlichen Brocken Geld!“ Eine Furche grub sich zwischen seine Brauen, er schob verächtlich die Lippen vor und richtete sich auf. „Ach, was! Der Purtscheller halt’ so was aus!“ Nun lächelte er wieder und folgte dem Pfad.
Als er den Grund der Schlucht erreichte, hörte er zwei lustige Stimmchen und helles Kinderlachen. Verwundert blickte er auf und gewahrte zwischen den schiefen Bäumen ein kleines Bürschlein und ein noch kleineres Mädchen, die wie die Kinder armer Stadtleute gekleidet waren und unter Lachen und Jauchzen ein seltsames Spiel betrieben; sie suchten locker hängende Kanten des Moosgrundes auf, kletterten auf die unterhöhlte Stelle, trampelten und stampften mit den Füßchen und schaukelten sich so lange, bis der Klumpen Erde mit ihnen niederbrach. „Hopsala hüo!“ schrieen sie dann mit fidelen Stimmchen, überkugelten sich, von Sand umwirbelt, und sprangen lachend auf, um das Spiel von neuem zu beginnen.
„Kinderln! Kinderln!“ rief ihnen Purtscheller gutmütigen Tones zu. „Gebts obacht! Der ganze Boden is lebendig! Da kann ein Malör passieren, eh’ man sich umschaut! G’scheit sein, Kinderln! G’scheit sein!“
Die beiden Knirpse standen verlegen, faßten sich bei den Händchen und machten scheue Augen.
Kaum aber hatte Purtscheller den Rücken gewandt und etwa hundert Schritte sich entfernt, da hörte er hinter sich schon wieder den jauchzenden Kinderschrei: „Hopsala hüo!“
Er schüttelte den Kopf, sah über die Schulter zurück und lächelte. „Merkwürdig! Kein Unglück so groß … ein Kind kann noch eine Freud’ dran finden!“ Den Ellbogen auf den Lauf seiner Büchse gestützt und den Kopf auf die Seite geneigt, schritt er weiter. Als der Wald zu Ende ging und hinter ihm die lustigen Stimmchen der Kinder verklangen, philosophierte er vor sich hin: „Könnt’s nur einer ’s ganze Leben lang so halten, wie’s die Kinder machen! Lachen zu allem, was kommt! In jedem Schatten noch ein Lichtl finden!“ Er schmunzelte und drehte den Schnurrbart, als hätte er seine Freude daran, daß ihm ein so guter Gedanke gekommen war.
Noch deutlicher als im Walde zeigte sich auf dem offenen Berghang das Bild einer rastlos fortschreitenden Zerstörung: alle Wiesen verwüstet und überschüttet von kiesigem Erdreich, das aus höheren Lagen niedergeglitten war, Hunderte von Rissen und Klüften zogen sich nach allen Seiten, weite Strecken des ebenen Wiesengrundes waren senkrecht zu tiefen Gruben eingesunken, und in diesen von bröckelnden Erdwänden umgebenen Löchern standen schlammige Pfützen, aus denen quirlende Luftblasen aufstiegen.
Wirre Stimmen klangen, und über einen steilen, von grauen Furchen durchrissenen Wiesenhang sah Purtscheller ein Dutzend Leute emporsteigen, darunter einige, welche schwarze Röcke trugen.
„Natürlich! Die studierten Herren müssen ihre Nasen ’neinstecken! Bin neugierig, was die auskochen.“
Aus dem Tone dieses Selbstgespräches klang ein recht zweifelhafter Respekt vor den Männern der Wissenschaft. Aber in Purtscheller war die Neugier wach geworden – vielleicht gesellte sich dazu auch die Meinung: „Wo um das Wohl und Wehe des Dorfes geredet wird, muß ich dabei sein! Ich bin der Purtscheller!“ – und so suchte er raschen Schrittes die Leute einzuholen.
Es waren fünf Herren aus der Stadt, mit Brille oder goldenem Kneifer, bejahrte Männer mit ernsten Gesichtern; sie [391] hatten Pläne bei sich, in welche sie mit Farbstiften die Bewegungslinien des ins Laufen geratenen Berghanges einzeichneten; drei Geometergehilfen waren mit Wasserwage, Meßlatte und Erdbohrer emsig bei der Arbeit. Der Pfarrer des Dorfes, der Bürgermeister und zwei Gemeinderäte begleiteten die Kommission, um die kurzen, knapp gestellten Fragen mit redseligem Eifer zu beantworten. Und hinter ihnen, als dreizehnter, folgte in bescheidener Entfernung ein alter Bauer, um den sich niemand kümmerte. Er war nicht, wie die anderen, aus dem Dorfe heraufgekommen – drüben auf einem nahen Wiesenhang stand sein kleines Heimwesen, das der unheimliche Bergrutsch zu verschlingen drohte. Und als er die Herren gesehen hatte, war er von der Rettungsarbeit weggelaufen, um ein Wort des Trostes zu hören, einen Schimmer von Hoffnung für sein versinkendes Häuschen zu empfangen.
Seine ganze Kleidung bestand aus einem mürben Rupfenhemd und einer blauen, schon verwaschenen Leinwandhose, welche Häubchen an den Knien hatte und deren Bund von den Hosenträgern zu Zacken ausgedehnt war. Alter und schwere Arbeit hatten seinen müden Körper gebeugt – er stand mit hängenden Knien und seitlich geneigtem Kopf. Die weißen Haare waren glatt in die Stirn gestrichen – ein von zahllosen Furchen und Fältchen durchschnittenes Sorgengesicht mit rotgeränderten, kummervoll blickenden Augen. Er hatte die dürren, schwieligen Hände auf dem Rücken liegen, seine Finger zitterten, und fortwährend bewegte er die welken Lippen, als möchte er eine Frage stellen und fände nicht den Mut dazu.
Da klang hinter ihm die Stimme Purtschellers: „Grüß Gott, Simmerauer! Was is denn los da?“
Der Alte blickte auf, und da er kein Käpplein abzuziehen hatte, strich er mit der Hand übers weiße Haar. „Die gealogisch Kammissoni is da!“ erwiderte er – ganz leise, als hätte er Sorge, daß jedes laute Wort den wichtigen Vorgang stören könnte.
„So, so?“ Breitspurig, im Vollgefühl seiner Persönlichkeit, ging Purtscheller auf die Herren zu und lüftete ein klein wenig das grüne Hütchen. „Grüß Gott, Ihr Herren miteinander! Fleißig bei der Arbeit, ja?“
Der Pfarrer dankte für den Gruß, der Bürgermeister und die beiden Gemeinderäte zogen höflich den Hut; doch von den fremden Herren schien es keiner zu beachten, daß sich die Gesellschaft um eine so bedeutungsvolle Persönlichkeit vermehrt hatte – sie waren gerade mit einer Erdprobe beschäftigt, die der Bohrer aus der Tiefe des Grundes emporgehoben hatte.
Purtschellers Gesicht färbte sich dunkelrot, und seine Augen funkelten; diese Mißachtung seiner Person hatte ihn beleidigt. Einer der Gemeinderäte merkte das und machte einen schüchternen Versuch, dem Purtscheller-Toni zu dem ihm gebührenden Respekt zu verhelfen. Aber die gelehrten Herren waren über den breinassen Lehm, den der Bohrer gefördert hatte, in eine so lebhafte Debatte geraten, daß sie für nichts anderes Ohr und Auge hatten.
Eine Weile stand Purtscheller schweigend und kaute am Schnurrbart; dann plötzlich wandte er der Gesellschaft ohne Gruß den Rücken und stapfte über den Hang hinunter; lachend, doch mit hellem Aerger in der Stimme, rief er über die Schulter zurück: „Gelt, Bürgermeister? Wenn’s ans Zahlen geht, nachher kannst mich auch auf der Seiten stehen lassen! Mich geht ja die ganze G’schicht’ nix an! Mein Haus und Hof is net in G’fahr!“
Der Bürgermeister machte große Augen. „Aber geh, Toni, was hast denn?“
„Ja, ja! Is schon gut! Ein andersmal!“ Purtscheller winkte dem alten Simmerauer. „Komm, Michel, uns zwei kann man da net brauchen!“
Man sah es dem Alten an, daß er gern geblieben wäre; aber er brachte es doch auch nicht fertig, zu der ehrenvollen Erlaubnis, den Herrn Purtscheller ein Stücklein Weges begleiten zu dürfen, seinen weißen Kopf zu schütteln. So hielt er sich humpelnd an der Seite des Jägers; dabei blickte er aber immer wieder über die Schulter zurück und lauschte, ob er von den verhallenden Stimmen nicht doch ein tröstendes Wörtlein noch erhaschen könnte.
Die leuchtenden Fäden flogen den beiden entgegen, hafteten an ihrem Gewand und legten sich über ihre Gesichter. Besonders auf den alten Simmerauer hatten sie es abgesehen. Immer wieder mußte er solch ein schimmerndes Ding von seinen Lippen oder von seinen Augen lösen. Aber diese zähe Mühe machte ihn nicht unwillig. „Schauen S’ nur, Herr Purtscheller, wie alles glitznet!“ sagte er mit seiner müden Stimme. „So hat der Altweibersommer noch nie net g’sponnen, seit ich leb’! Sechzig Jahr’ lang! Aber so was hab’ ich noch nie net g’sehen!“
„Wenn die Spinnfäden so fliegen, sagt man, das bedeutet ein’ harten Winter!“
Der Alte seufzte. „So ein Glück! Ja! So ein Glück, wenn käm’!“
„Freilich! Wenn’s ein’ richtigen Frost machen thät’, da möcht’ der Berg ’s Laufen bald aufhören.“
„Was sagen S’, Herr Purtscheller, was er auf einmal für G’schichten macht! So ein närrischer Berg! So viel tausend Jahr’ hat er ein’ Fried’ geben! Und über Nacht fangt er solche Sachen an! Wie ein alter Mensch, der sein ganz’ Leben lang vernünftig und nüchtern war … und jetzt hat er den ersten Rausch!“ Michel wandte das Gesicht und drohte mit erhobenem Finger zu den grauen Felswänden hinauf. „Alterl! Alterl! das is net recht von dir! Das hat dir auch net der liebe Herrgott ein’geben! Na! Da hast auf’n Teufel g’hört!“ Seine kummervollen Augen irrten über das verwüstete Gehäng. „Und gar kein G’nügen hat er nimmer! Die besten Wiesen frißt er, den schönsten Wald streicht er wie Butter aufs Brot und ein Häusl ums ander’ schluckt er! Vor acht Tag’ is dem Pichler ’s seinige g’fallen, gestern is ’s Häusl vom Mitterhuber eing’sunken bis ans Dach, daß die armen Leut’ durch’n Rauchfang haben ’rausschliefen müssen! Und’s meinige …“ Die Stimme brach ihm. Er faßte Purtschellers Arm und deutete mit zitternder Hand ins Thal hinunter. „Sehen S’ den Kirchturmknopf? Wie er glänzt in der Sonn’?“
„Ja, Michel! Warum fragst denn?“
Es zuckte um die Lippen des Alten, als er mühsam Wort um Wort vor sich hinstieß: „Den Kirchturmknopf … über’m Wald da drunten … gestern am Abend hab’ ich ihn von meiner Hausthür aus noch glänzen sehen … aber heut … heut in der Fruh … da is er verschwunden g’wesen!“
„Michel!“
„Und der Wald da drunten is doch net g’wachsen über Nacht? Und die Kirch’ im Ort, die hat sich doch auch net vom Fleckl g’rührt? … Also?“
„Jesus Maria! Michel! Um so viel is Dein Häusl g’sunken in der Nacht?“
„’s Häusl net! Aber der Boden, wo ’s draufsteht, mit’m Garten, mit die Aepfelbäum, mit allem!“
Purtscheller schwieg und betrachtete den Alten in Mitleid und ehrlicher Sorge. Dann blies er die Backen auf, als wäre ihm schwül geworden, und sagte: „Michel! … Wenn’s krumm geht und Du brauchst was … schenier’ Dich net und komm zu mir! Für so ein’ braven Menschen, wie Du einer bist, für so ein’ hab’ ich allweil offene Händ’!“
Ein dankbarer Blick leuchtete aus Michels Augen zu Purtscheller auf; doch er schüttelte den weißen Kopf. „Vergelt’s Gott tausendmal für den guten Willen! Aber betteln thu’ ich net! Ich glaub’ noch net dran, daß mein Häusl nunter muß! Ich hilf mir schon noch! Ich selber! Ja! Und einer, das weiß ich, einer hilft mit!“ Sein Blick suchte den blauen, leuchtenden Himmel.
Sie mußten eine breite und tiefe Erdspalte überklettern, welche den Wiesenhang quer durchrissen hatte.
Als der Blick in das Thal vor ihnen wieder offen lag, sagte Michel: „Schauen S’ nur, wie die weißen Mauern vom Purtschellerhof schön raufleuchten! Sie haben’s halt gut! Der Purtschellerhof braucht sich vor keiner Nacht net fürchten!“
„Ja! Mein Haus steht fest! Da wackelt nix! Das hat g’sunden Felsboden und dicke Mauern! Da kann der Berg laufen, wie er mag!“ Purtscheller nickte lächelnd und blickte mit stolzem Behagen auf seinen stattlichen Hof hinunter, der, von einem baumreichen Wiesgarten umzogen, mit seinen Ställen und Scheunen wie ein Dörflein inmitten des Dorfes lag. Aber aus diesem stolz zufriedenen Gefühl heraus erwachte in Purtscheller der Gedanke, daß es doch eigentlich recht grausam wäre, sich seines reichen, ungefährdeten Besitzes zu freuen, während man den Jammer sah, der so deutlich aus Michels Blick und Zügen redete. Da wäre wohl ein tröstender Zuspruch viel eher am Platze. „Ja, schau, mußt mich net beneiden um mein Glück! Weißt, jeder Mensch hat Sorgen, der reiche gerad’ so wie der ärmste! Kannst mir’s glauben, Michel … ich bin der Purtscheller … aber mir steigen oft vor [392] lauter Sorgen d’ Haar’ am Kopf auf wie Besenstiel’! Was mir ein einzig’s Jahr Verdruß und Aerger bringt, so viel is ja Dir Dein ganz’ Leben lang net über’n Hals kommen! So ein weitschichtigs Anwesen tragt freilich, aber es frißt auch! Und manches Jahr heißt’s draufzahlen, daß man schwarz werden könnt’! Und schau, unsereiner hat Verpflichtungen auf alle Seiten! Da heißt’s allweil: zahlen, zahlen und zahlen. Die Jagd is frei … wer muß s’ denn pachten? Der Herr Purtscheller! Schreiben s’ in der Stadt ein Trabrennen aus … wer muß mitlaufen lassen? Der Herr Purtscheller! Halten s’ ein Scheibenschießen ab … wer muß den Ehrenpreis stiften? Der Herr Purtscheller! Jeder Tag bringt was anders! Ich sag’ Dir’s, Michel, ich brauch’ meine g’schlagenen zwölf- bis fufzehntausend Markln im Jahr! So viel hat ja kein Minister in der Stadt! Das is ein g’höriger Brocken Geld! Und der muß herg’schafft werden! Geh’s, wie’s will!“
„Mar’ und Josef!“ Der Simmerauer schlug die Hände über den Kopf zusammen, und im Schreck über die Sorgen, die der arme Purtscheller zu tragen hatte, vergaß er für einige Sekunden seines eigenen Jammers.
„Und solche Sachen, weißt’, die packen ein’ und lassen ein’ gleich gar nimmer aus! Schau nur an: so notwendig hätt’ ich heut in der Früh ein bißl auf die Felder nachschauen sollen. Aber na! Da kommt der Jagdg’hilf’ und meld’t, der starke Hirsch wechselt über die Grenz’ aus, wenn er net bald g’schossen wird! Was will ich machen? Muß ich halt ’nauf!“
„So? So? Auf den starken Hirschen haben S’ g’jagt? Ja, der hat arg g’schrieen in die letzten Nächt’!“
„Hast ihn g’hört?“
„Freilich! Ich hab’ ja seit Wochen schier kein’ Schlaf nimmer! Jede Nacht fahr’ ich zwanzigmal auf und greif’ in der Finstern an d’ Wand hin, ob s’ noch da is! … Haben S’ ihn ’kriegt, den Hirschen?“
„Na! Rein umsonst bin ich droben g’wesen! … Aber was ich sagen will: im Hölzl drüben hab’ ich Deine Enkerln ’troffen! Solltest die Kinder in so einer Zeit doch net so umeinanderlaufen lassen. Wie leicht kann ihnen was passieren!“
Michel schüttelte den Kopf. „Kinder haben ein’ guten Schutzengel! Wir daheim müssen am Häusl arbeiten den ganzen Tag … und da springen s’ einem allweil zwischen die Füß’ umeinander. Ich hab’s auch net gern, wenn die armen Hascherln die ganze Zeit unseren Jammer mit anschauen müssen! So was macht ihnen ’s G’müt krank. Und Kinder sollen lustig sein … die harte Zeit kommt eh’ noch früh g’nug! Da laß ich s’ lieber umeinanderlaufen. Und ’s Hölzl drüben is noch am sichersten … da halten d’ Würzen fest. Mein’ gute Alte in ihrer Sorg’ freilich, die sagt allweil …“ Er verstummte. Die zitternden Hände auf den Rücken legend, blieb er stehen und blickte mit feuchten Augen zu einem nahen Bauernhäuschen hinüber, dessen verschobenes Dach auf schiefen und halb geborstenen Mauern saß.
Undeutlich hörte man die erregten Stimmen der Leute, von denen die einen das Thürgebälk und die Fensterstöcke aus der Mauer brachen, während andere das armselige Hausgerät auf einen Leiterwagen luden, vor welchem ein klapperdürres Rößlein mit einer schwerfälligen weißen Kuh zusammengekoppelt war.
„Der erbarmt mich aber! Der arme Gaßner!“ nickte Michel mit erloschener Stimme vor sich hin. „Jetzt muß er Auszug halten! Traut sich nimmer schlafen unter ’m Dach!“
„Der is g’scheit, Michel! Der bringt beizeiten in Sicherheit, was zum Forttragen is, und baut sich drunten im Ort ein neu’s Häusl auf festem Boden. Ich mein’, es wär’ am besten, Du thätst es ihm nachmachen! Sag’ Ja, Michel, und ich hilf Dir dazu!“
Wortlos, fast unwillig schüttelte der Alte den Kopf.
„Schau, Michel, nimm Vernunft an!“ sagte Purtscheller mit ehrlicher Herzlichkeit und legte dem Simmerauer den Arm um die Schulter. „Weißt, so ein Berg, wenn er einmal ’s Laufen anfangt, der giebt kein’ Fried nimmer, eh’ net alles drunten is! Sei g’scheit, Michel, fang’s Ausräumen an, und drunten baust Dir wieder. Von mir kriegst den Baugrund … für ein Vergeltsgott und ein’ Schoppen Tiroler … dem Purtscheller kommt’s auf so ein lumpigs Tagwerk net an! Und zum Bau gieb ich Dir tausend Mark auf ewige Hypothek! Geh her, Alter, und schlag’ ein!“
„Dank schön, Herr Purtscheller … Sie meinen ’s gut … aber der Michel muß bleiben! Ah na! Der Michel kann net fort!“
„Möcht’ wissen, warum net? Was der Gaßner da drüben fertig bringt, das wird bei Dir auch noch möglich sein!“
Der Simmerauer fuhr sich mit langsamer Hand über das weiße Haar und atmete tief. „Der Gaßner! O mein! Der Gaßner! Der kann leicht ausräumen! Der kann sich leicht ein anderes Heimatl suchen! Aus der Fremd’ is er her’zogen und hat das Häusl ’kauft … aber das müssen S’ ja wissen! Es is ja ’s Häusl, in dem Ihr Frauerl auf d’ Welt kommen is! Vor vierzehn Jahr’ erst hat er’s ’kauft, der Gaßner! Vierzehn Jahr’! O mein! Der hat sich noch gar net eing’lebt d’rein! Aber ich? Na! Ich kann net fort! Ich bin ang’wachsen! Mein Vater, mein Ahnl und Urahnl is schon g’sessen an dem Tisch, wo ich heut’ noch sitz’! Da bin ich Kind g’wesen, da hab’ ich mein Katherl heimg’führt, da hab’ ich Glück und Sorgen übertaucht, bis aus ’m lustigen Micherl schön langsam der alte Michel ’worden is mit seine weißen Haar! Und ich soll fortkönnen? Na, lieber Herr! Jeder Stein am Häusl is ein Stückl von mir, jeder Span an der Thür, an Tisch und Bank und an die Fensterkreuz is lebendigs Holz und hat Würzen in meiner Seel’. Mein Häusl bin ich! Und mein Häusl is alles, was ich hab’! Sonst hab’ ich nix! Und wenn sich der Mensch auf ’n Schragen legt und macht seine Augen zu … ein bißl was muß doch bleiben von ihm! Ein bißl was muß er doch übrig lassen für seine Kinder … sonst is ja sein Leben für gar nix g’wesen! Na! Na, Herr Purtscheller! Ich kann net fort! Noch allweil glaub’ ich net d’ran … aber wenn’s schon so sein muß, daß der Berg mein Häusl schluckt … in Gottes Namen, so muß ich mit ’nunter. Soll er mich halt mitschlucken! Ueberleben thät ich’s eh net! Mein Häusl und ich, wir zwei halten z’samm’!“
Ein Knirschen quoll aus der Erde, und neben den beiden öffnete sich eine braune Spalte, während der Rasen unter ihren Füßen sich senkte und in langsames Gleiten geriet.
„Da! Er lauft schon wieder!“ sagte der Simmerauer ruhig und wischte sich mit den Fäusten die Thränen von den Backen, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Purtscheller war bleich geworden und hatte im ersten Schreck einen langen Sprung gemacht – wie eine Katze, der man kaltes Wasser über den Pelz gegossen; doch während er umherstarrte und nach einem sicheren Flecklein suchte, käm die laufende Erde schon wieder in Stillstand.
„Ich dank’ schön!“ stammelte er. „Da is ein unguts Bleiben!“
„Sind S’ erschrocken, gelt? Ja, im Anfang is mir’s auch so ’gangen, aber jetzt bin ich schon g’wöhnt dran!“ Michel hob den Kopf und lauschte – von einem nahen Gehänge, das hinter verwüsteten Haselnußstauden verborgen lag, klang der dumpfe Hall schwerer Schläge. „Hören S’ ihn, wie er drauf los arbeit’! Das is mein Bub’!“
„Is denn der Mathes daheim?“
„Ja! Den hat mir der liebe Herrgott g’schickt zur Hilf! Gestern haben s’ ihn auslassen von die Manöver; am Abend is er dag’wesen! Und ich sag’ Ihnen: ’s blaue Röckl, ja, aber d’ Uniformhosen hat er nimmer ’runter bracht! Gleich hat er ’s Arbeiten ang’fangt, und die ganze Nacht durch hat er g’schafft … und ’s Madl hat ihm g’holfen, ja!“ Ein Schimmer müder Freude huschte über das verhärmte Gesicht des Alten. „Mein Vronerl! Ja! An der is ein richtigs Mannsbild verloren ’gangen! Die ander’ … freilich die ander’ … Gott gieb ihr die ewige Ruh’ … die hat mir viel Sorgen g’macht!“ Er wischte mit dem Arm über die Stirne, wie einer, der sich den Schweiß abtrocknet, und nickte in schmerzlichem Sinnen vor sich hin.
Drüben über dem Thal hatte die steigende Sonne nun auch den Weg in die schattigen Felswände gefunden, und einzelne Zacken und Schrofen tauchten gleich funkelnden Erzgebilden aus dem bläulichen Dunkel hervor. Immer lustiger flogen die silbernen Fäden, frischer zog der Wind aus der Tiefe empor über die zerrissenen Wiesengehänge, man hörte das dumpfe Rauschen des Wassers, das in der Thalsohle mit wildem Ungestüm aus dem Innern des unterhöhlten Berges hervorströmte, und immer lauter klang vom Häuschen des Simmerauer das Dröhnen der schweren Schläge, untermischt mit dem verschwommenen Klang erregter Stimmen.
Da fuhr der Alte aus seinen Gedanken auf. „Na! Na! Bin ich aber einer! Da steh’ ich und plausch’ und flenn’ ein Stückl ums ander’ … und meine armen Leut’daheim, die müssen schaffen, daß ihnen die heißen Tropfen über d’ Nasen kugeln!“ Hastig warf er noch einen suchenden Blick über das Gehäng empor – doch die Herren der Kommission waren schon längst über den Wiesengrat hinweggestiegen. „Ich bin einer! Na! Na! Ich bin aber
[393][394] einer!“ In Kummer schüttelte er über sich selbst den Kopf, und mit Nicken und Humpeln fiel er in hurtigen Gang.
Purtscheller, der seit der kleinen Schlittenfahrt, die er mit dem gleitenden Rasen gemacht hatte, merkwürdig still geworden war, folgte zögernd, als trieben ihn Mitleid und Neugier wider Willen hinter dem Alten her. Aber Michel kam immer weiter voraus, und als Purtscheller die Hecke der Haselnußstauden erreicht und eine Lücke des Buschwerkes durchschritten hatte, war von dem Alten nichts mehr zu gewahren.
Betroffen verhielt Purtscheller den Fuß und blickte um sich. Sonst hatte man das Häuschen des Simmerauer von dieser Stelle aus doch immer gesehen, schmuck und freundlich, mit dem hübschen Gärtlein und dem sauber gehaltenen Schuppen? Und jetzt war alles verschwunden! Nur ein niederes Gewirre von Apfelbaumzweigen mit welken Blättern ragte über eine nahe, scharf gezogene Bodenkante empor – und zwischen dem grauen Astwerk schimmerte das Gesims eines weiß getünchten Rauchfangs.
„O du lieber Herrgott!“ stotterte Purtscheller. „Das Häusl muß ja schon um fünf, sechs Meter g’sunken sein!“
Er eilte vorwärts. Nun hielt er vor einem fast senkrecht abfallenden Erdrutsch und ihm zu Füßen lag das kleine Heimwesen des Simmerauer, das noch vor einem Monat mit der Wiese, auf welcher Purtscheller stand, in gleicher Höhe gelegen hatte.
Der ganze Grund, welcher Michels Häuschen mit Garten und Scheune, mit einem abgeernteten Getreidefeld und einem schmalen Kartoffelacker trug, hatte sich im Umkreis von ein paar hundert Schritten vom höheren Berghang losgelöst und war der „laufenden“ Erde des tiefer liegenden, vom Wasser unterhöhlten Wiesengehänges nachgesunken. Das hatte sich nicht gewaltsam vollzogen, sondern ganz allmählich, mit schleichender Bewegung. An der Abrißstelle, über welche Purtscheller niederblickte, war oben die kahle Erde schon ausgetrocknet, während sie unten noch frisch und feucht war. Ein plump gefügter Verhau aus Baumstämmen und verflochtenem Astwerk stützte die Böschung und sollte ein Nachgleiten des höheren Bodens verhindern – ein Rettungsversuch, welcher anzusehen war, als wollte eine Kinderhand den tollen Lauf eines scheu gewordenen Pferdegespanns aufhalten.
Am Fuß der Böschung sickerte durch das Rutengeflecht ein schlammiges Wasser hervor, das den sonst so freundlich gepflegten Garten mit seinen Kohlbeeten und Blumenrabatten versumpfte, sich in breiten Pfützen um die Wurzeln der trauernden Obstbäume sammelte und den Hofraum, das Stoppelfeld und den Kartoffelacker in zähen Morast verwandelte. Doch all diese Verwüstung hatte ein lächelndes Gesicht. Der blaue Himmel spiegelte sich in dem stehenden Wasser, das Sonnenlicht übergoldete mit seinen zitternden Reflexen den nassen Schlamm – und wohl gefährdet, doch scheinbar noch unberührt von der schleichenden Zerstörung, erhob sich inmitten dieses leuchtenden Grundes das kleine, schmucke Haus. Die weißgetünchten Mauern schimmerten wie frische Leinwand, die Glasscheiben blitzten zwischen den grüngestrichenen Läden, rot blüten die Nelkenstöcke auf allen Fenstergesimsen und auf der kleinen, schon altersgrauen Holzgalerie des Giebelstübchens, an allen Kanten des Daches glitzerten die angeflogenen Fäden, und auf der Höhe des Firstes glomm ihr Schein wie ein Elmsfeuer, das bei Tage brennt.
Doch diesem freundlich stillen Anblick widersprach das unruhige Leben, von dem das kleine Haus umgeben war. Die Hühner, welche das Waten im Schlamme satt bekommen hatten, waren auf die Obstbäume geflogen, saßen mit erregtem Gackern im Gezweig oder putzten das durchnäßte Gefieder; zwei Ziegen, das zottige Fell mit Kot behangen, schleiften meckernd ihre langen Stricke durch die Pfützen, und eine braune Kuh, welche neben der Scheune angebunden war, stand mit gespreizten Füßen, hielt den Schweif gestreckt und brüllte. Ahnte das Tier die Gefahr, die unter ihm in der sinkenden Erde drohte? Oder war es nur in scheue Unruh’ geraten durch den Hall der wuchtigen Schläge, mit denen ein junger Bursch, der die blaue Soldatenhose trug, einen schweren, übermannshohen Pfahl in den Boden trieb?
Das war der Mathes – eine hager und sehnig aufgeschossene Gestalt, an der nichts Weiches und Schmiegsames war, alles herb und eckig; kurzgeschnittenes Blondhaar umschimmerte den Kopf, und stille, blaue Augen glänzten in dem ernsten, schmalen Gesicht, welches glatt rasiert war, jetzt gerötet von der anstrengenden, rastlosen Arbeit, Stirne, Wangen und Hals überronnen von glitzernden Schweißperlen. Wie wenig er seiner Schwester glich! Niemand hätte ihn für den Bruder des Mädchens gehalten, das nicht weit von ihm vor einem Holzblock stand und mit emsigen Beilhieben einen hohen Pfahl zuspitzte. Eine schmucke Dirn’ von strotzender Gesundheit und kräftiger Jugendfrische; alle Formen voll gerundet und schier ungebärdig unter dem Zwang der schon zu knapp gewordenen Kleidung; die Lippen von heißem Rot, die Wangen brennend, die dunklen Augen von hellem Feuer, und die schön gewölbte Stirn umringelt von den wirren Härchen, die aus dem aufgesteckten Nest der schweren, braunen Flechten losgesprungen waren. Unermüdlich schwang sie das Beil, warf den gespitzten Pfahl beiseite und griff nach einem anderen. Sie stand mit nackten Füßen im Schlamm, hatte das dunkelgrüne Röcklein geschürzt und – da ihr bei der Arbeit schwül geworden war – halb das gestrickte Leibchen geöffnet, dessen schwarze Wolle in Sonne und Regen schon zu einem bräunlichen Filz verwittert war. Der eine der beiden kurzen, straff gespannten Hemdärmel war bei einem ungestümen Hieb, den Vroni geführt hatte, zerrissen, und zwischen den Leinwandfetzen schimmerte der Oberarm mit reinem Weiß hervor, während die frei getragenen Unterarme dunkel gebräunt waren.
Wie Mathes dem Vater, so war Vroni der Mutter nachgeraten, die vor dreißig Jahren als das schönste Mädchen des Dorfes gegolten hatte. Von dieser einstigen Schönheit war freilich nicht mehr viel an dem gealterten Weiblein zu gewahren, das gebeugt vor dem Sägbock stand und frischgefällte Stangen zu langen Pfählen entzwei sägte. Die dünn gewordenen grauen Zöpfe hingen lose um das geduldige, bei Sorgen und Arbeit welk gewordene Gesicht, in welchem nur die guten, dunklen Augen noch einen letzten Schimmer vom Glanz der längst entschwundenen Jugend bewahrt hatten. Immer wieder seufzte Mutter Katherl, während sie die Säge zog. Die Arbeit ging ihr langsam und mühselig von der Hand – und wenn der abgesägte Pfahl zu Boden rollte, wenn sie keuchend eine neue Stange auf den Sägebock gehoben hatte, richtete sie sich auf, um den schmerzenden Rücken ein bißchen rasten zu lassen, und immer glitten dabei ihre Augen mit sorgenvollem Blick über das kleine Haus.
Nun zog sie wieder geduldig die in einer Gabel hängende Säge hin und her und war so vertieft in die Arbeit, daß sie ihren Mann nicht kommen hörte – sie fühlte nur plötzlich, wie er sie sanft beiseite schob, während er ihr die Säge aus der Hand nahm.
„Geh, Katherl, setz Du Dich ein bißl nieder! Laß mich wieder schaffen!“
Sie nickte nur und wollte zur Hausbank gehen; doch auf halbem Weg kehrte sie wieder um und fragte flüsternd: „Hast was g’hört von die Stadtherrn?“
Michel schüttelte den Kopf und sägte; erst nach einer Weile sagte er leis: „Nix! Gar nix! Allweil studieren s’ noch und graben dem Berg in die Darm’ nunter … und wissen net, was s’ sagen sollen.“
Seufzend ging Mutter Katherl zur Hausbank und säuberte die Hände an der blauen Schürze. Aus einem irdenen Krug, der auf der Bank stand, füllte sie ein Glas mit Milch. Das war seit Tagen das einzige Getränk in der Simmerau – Bier ist teuer und das Wasser, das eine Woche lang im Brunnen versiegt war, stand wohl seit zwei Tagen wieder hoch im Schacht, aber es war verschlammt und ungenießbar.
Ueber einen der Balken, welche kreuz und quer die aufgeweichte Erde durchzogen, ging Mutter Katherl zu Vroni hinüber und reichte ihr das Glas. „Da, Mädl, trink’ wieder ein Schlückl, es muß Dich ja dursten!“
„Ah na! Dank’ schön! Es is net so arg!“
„No freilich, brennt Dir ja ’s ganze G’sichtl! Geh, sei g’scheit und trink’!“
Vroni trieb mit festem Schwung das Beil in den Hackstock, um die Hand frei zu bekommen, und leerte das Glas. „Vergelt’s Gott, Mutterl!“
Da hörte sie vom Verhau herüber ein Geraschel der Aeste und das Kollern fallender Erdbrocken – Purtscheller, der über die steile Böschung niedersteigen wollte, war fehlgetreten und hatte sich nur durch einen raschen Griff nach den verflochtenen Zweigen vor einem Sturz in den Schlamm bewahrt. Nun kam er lachend aus dem Garten hervorgewatet und balancierte sich über einen [395] der umherliegenden Balken, in der einen Hand die Büchse, in der anderen den Bergstock.
Vroni und ihre Mutter boten ihm verwundert ein Grüß Gott, und Michel, ohne die Säge rasten zu lassen, stotterte: „Jesses! Der Herr Purtscheller! Auf den hab’ ich ganz vergessen!“
Nur Mathes schwieg. Beim Anblick des Jägers war ein jähes Erblassen über seine heißen, erschöpften Züge gegangen. Aber jetzt war sein Gesicht schon wieder ruhig – nur noch ein schmerzliches Lächeln lag um seine schmalen Lippen, als er die Arbeit wieder aufnahm.
Niemand hatte diese flüchtige Bewegung des Burschen gewahrt, außer der Mutter, die ihm gerade das Glas mit der Milch hatte reichen wollen.
„Mathes? … Was hast denn?“
Wortlos schob er mit dem Ellbogen das Glas von sich und arbeitete weiter.
(Fortsetzung folgt.)
Rätselhafte Blitzerscheinungen.
Es sei uns gestattet, wieder einmal die Aufmerksamkeit des weiten
Leserkreises der „Gartenlaube“ auf eine rätselhafte Naturerscheinung
zu lenken, deren Erklärung bis jetzt der Wissenschaft
noch nicht gelungen ist. Wir thun dies nicht nur, um diesen und
jenen zu belehren, sondern vielmehr, um die Laienwelt zur Beobachtung
der Natur im Dienste der Wissenschaft anzuregen.
Seit den denkwürdigen Untersuchungen, welche Benjamin Franklin um die Mitte des vorigen Jahrhunderts über die atmosphärische Elektricität anstellte, ist es bekannt, daß der Blitz, den man früher für eine Explosion brennbarer Luft hielt, ein elektrischer Funke von riesiger Größe ist. Man hat später die Breite, Länge und Dauer des Blitzes zu messen gesucht und einige Forscher haben gefunden, daß Blitze mitunter einen Durchmesser von zwei Metern haben können, während die Länge der Blitzbahn in einigen gut beobachteten Fällen sogar auf 47 und 60 km geschätzt wurde! Jüngst hat man auch die mechanische Kraft eines Blitzstrahls, der in ein Wohnhaus einschlug, aus der von ihm bewirkten Schmelzung von Drahtnägeln zu berechnen versucht und ist zu dem Ergebnis gelangt, daß jenem Wetterstrahl eine Kraft von nicht weniger als fünfzigtausend Pferdekräften zukam! Wie gewaltig aber auch die Ausdehnung des Blitzes sein kann, überraschender ist noch die Schnelligkeit, mit der sich dieses überwältigende Naturereignis abspielt. Der Blitz vergeht, ehe man ihn sieht, denn er dauert meistens nicht länger als 1/1000 Sekunde.
Diese Eigenschaften der furchtbaren Gewitterentladungen, die jedem geläufig sind, sind jedoch nicht allen Blitzerscheinungen gemeinsam. Es treten mitunter während der Gewitter sonderbare elektrische Erscheinungen auf, die in ihrer zerstörenden Wirkung dem Blitze gleich sind, aber durchaus nicht mit blitzartiger Geschwindigkeit verlaufen; sie spielen sich nicht in Tausendsteln einer Sekunde, sondern in der langen Zeitspanne von vollen Sekunden, ja selbst Minuten ab; sie bewegen sich so langsam, daß man ihre Bahn genau verfolgen kann. Da sie zumeist in Gestalt feuriger Kugeln auftreten, hat man sie globuläre Blitze oder Kugelblitze genannt.
Schon der berühmte englische Naturforscher Robert Boyle, der im siebzehnten Jahrhundert lebte, berichtete von einem solchen Blitze. Am 24. Juli 1681 fiel laut seiner Mitteilung in das Schiff „Albermarle“ plötzlich eine feurige Kugel. Man suchte sie mit Wasser und Stockschlägen zu löschen, aber sie verzehrte sich selbst und ließ einen starken Geruch nach Kanonenpulver zurück. Zur Zeit Boyles, da man Blitze als entzündete Gase deutete, erschien ein derartiger Blitz durchaus nicht unmöglich; später konnten die Gelehrten eine solche Erscheinung mit Hilfe ihrer Kenntnisse von der Elektrizität nicht erklären, der Kugelblitz paßte nicht in die neue Lehre hinein und man wollte ihn verleugnen. Es erzählte ein Laie, daß während eines Gewitters plötzlich eine feurige Kugel in seinem Zimmer erschienen war und langsam zum Kamin hinauswanderte. Da meinten die Physiker, der Laie sei wohl das Opfer einer Sinnestäuschung gewesen, und erklärten einfach, daß es die sogenannten Kugelblitze gar nicht gebe. Aber die feurigen Kugeln kamen immer wieder zur Erscheinung, wurden von mehreren Personen zugleich gesehen, zuverlässige Beobachter bestätigten ihr Vorkommen, und da mußte man doch zugeben, daß sie keine Sinnestäuschung, sondern wirkliche Erscheinungen seien. Das bequeme Leugnen mußte aufhören und die Wissenschaft schritt an den schwierigen Versuch der Erklärung.
Bevor wir auf Ergebnisse dieser Arbeiten eingehen, wollen wir jedoch einige gut beobachtete Fälle dieser Art schildern.
In der Genfer physikalischen Gesellschaft berichtete Dr. A. Wartmann über einen Kugelblitz, den er während eines sehr heftigen Gewitters am 20. Dezember 1888 beobachtet hatte. An jenem Tage fuhr Wartmann um 6½ Uhr abends im Gewitter von Versoix nach Genthod. Am Wege von Malagny erklärte der Kutscher, er wisse nicht, wo er sei. Der Mann wurde von den überaus häufigen Blitzen geblendet. Dr. Wartmann stieg auf den Bock und nahm die Zügel. Er befand sich gerade an der Einfahrt zu einer Besitzung, als er eine sehr helle und andauernde Lohe wahrnahm. In der Meinung, es sei ein Brand, wendete er sich um und sah beiläufig 300 m entfernt eine Feuerkugel von etwa 40 cm Durchmesser, die in der von ihm eingeschlagenen Fahrtrichtung vielleicht 20 m über dem Boden mit der Geschwindigkeit eines Raubvogels zog und keine Lichtspur hinter sich ließ; in dem Augenblick, wo die Kugel den Wagen zu Wartmanns Rechten um 24 m überholt hatte, platzte sie mit schrecklichem Knall. „Es schien mir,“ lautet der Schluß des Berichtes, „als seien feurige Linien davon ausgegangen; wir fühlten eine heftige Erschütterung und blieben einige Sekunden geblendet. Sobald ich wieder etwas unterscheiden konnte, sah ich, daß die Pferde sich unter rechtem Winkel gegen den Wagen gedreht hatten, mit der Brust in der Hecke, mit herabhängenden Ohren und allen Zeichen heftigen Schreckens dastanden.“ Zu gleicher Zeit wurde an einem 1½ km entfernten Orte ein Pächter unterwegs von einem violetten Lichtschein eingehüllt. Er hörte einen heftigen Knall und wurde 3 m weit vom Wege auf einen feuchten Rasen geworfen; er kam ohne weiteren Schaden mit dem Schrecken davon.
Am 1. Juli 1891 traf ein Kugelblitz das Häuschen eines Zimmermanns in einem Dorfe bei Schlieben. Der Mann schlief mit einem Kinde in einem Bette, an der gegenüberliegenden Wand seine Frau mit einem andern Kinde in einem zweiten Bette, davor stand die Wiege mit dem jüngsten. Bei Ausbruch des Gewitters hatte sich der Mann angekleidet und mit dem bei ihm schlafenden Kinde auf den Bettrand gesetzt, während seine Frau liegen blieb. Plötzlich kam mit mächtigem Gepolter eine runde Feuerkugel vom Ofen auf sein Bett gesprungen, daß dasselbe gleich zusammenbrach. Dann rollte sie so langsam nach der Wiege und dem Bette seiner Frau hin, daß der Zimmermann in Angst um die Seinen fast ebenso schnell an die Wiege gesprungen war. Hierauf verschwand die Kugel mit fürchterlichem Krachen durch die Wand oder Dielung, ohne zu zünden. Wunderbarerweise wurde keine der fünf Personen verletzt oder auch nur betäubt. Alle klagten über Taubheit und Kopfschmerzen wegen des „dicken Schwefeldunstes“, der in dem Zimmer sich verbreitet hatte, waren aber sehr schnell wieder völlig wohl. Man fand am Schornstein und Ofen Beschädigungen, die von dem Blitz herrührten.
Schlimmer hat ein Kugelblitz im Schulhause zu Bouin im Departement Loire gewütet, der in dem Augenblick erfolgte, als die Schüler eben ihr Nachmittagsgebet hersagten. Der Blitzschlag machte sich zuerst dadurch bemerklich, daß Kalk, Holz und Steine unter die Kinder fielen, die ein lautes Geschrei erhoben. Darauf rollte ein kleiner Feuerball unter die Bänke an dem Lehrer vorüber, der unter der Lampe saß, und drei Schüler wurden getötet. Der Feuerball nahm seinen Weg ins Freie durch eine Fensterscheibe, in welche er ein rundes Loch bohrte, ohne sie sonst zu beschädigen, während alle übrigen Scheiben zertrümmert wurden.
Am 2. Januar 1890 zeigte sich ein Kugelblitz in einer elektrotechnischen Anlage zu Pontevedra in Spanien. Um 9 Uhr 15 Minuten abends sah man bei klarem Himmel einen Feuerball von der Größe einer Orange auf die Leitungsdrähte fallen. Man konnte nicht feststellen, wie er fiel und woher er kam; die Drähte entlang wanderte er ziemlich langsam zur Centrale, hob den Stromunterbrecher und schlug in die Dynamomaschine, welche im Gang war. [396] Vor den Augen des Mechanikers und der erschrockenen Arbeiter sprang der Ball zweimal von der Dynamomaschine auf die Leitung und wieder zurück; dann fiel er und platzte, teilte sich in viele Funken ohne einen Unfall zu bewirken. Während des Schlages flackerten die elektrischen Lampen, an dem Stromunterbrecher wurden die dicken Kupferplatten an einigen Stellen geschmolzen und geschweißt.
Höchst bemerkenswert ist das Erscheinen zahlreicher Kugelblitze während eines Wirbelsturmes, der am 18. August 1890 im Departement Ille et Vilaine in Frankreich niederging. Ein Bauer aus Vizy wurde auf dem Felde von dem Orkan überrascht und sah eine Feuerkugel, die mit rasender Schnelligkeit herabstieg. Vom Schreck ergriffen, warf er sich sofort zur Erde. Die leuchtende Kugel schlug auf den Boden, zersprang mit einem Krach und bedeckte den Mann mit Staub. Einwohner von Vers l’Eau und von Samiset haben kopfgroße, lebhaft rote Kugeln gesehen, die sich langsam auf einige Scheunen zu bewegten, das Heu in Brand steckten und dann verschwanden. In Saint-Claude drang eine große Anzahl von Feuerkugeln durch Schornsteine oder Ofenthüren in die Wohnungen ein. Dieselben bewegten sich hier langsam hin und her und gelangten durch Fenster, Thüren oder Mauern ins Freie, mehr oder weniger große Verwüstungen hinterlassend. Die Luft in den Wohnungen erschien gleichfalls mit Schwefel- oder Pulvergeruch durchsetzt.
Besonders günstig für die Beobachtung der Kugelblitze ist das Hochgebirge. Alluard, der Direktor des Observatoriums am Puy de Dôme, teilte mit, daß man dort nicht selten zur Zeit eines Gewitters Mengen kleiner Feuerkugeln auf den Rücken des Berges auffallen sehen, kann. Im Hochgebirge wurde auch am 28. Juni 1885 auf dem Säntis vom Pfarrer Studer eine der merkwürdigsten Blitzerscheinungen beobachtet. Vorausschicken müssen wir, daß auf dem 2504 m hohen Säntis im Jahre 1882 eine meteorologische Hochstation errichtet wurde, die mit dem Thale durch eine Telephonleitung verbunden war. Die Nacht hatte bereits begonnen, als Studer und seine Begleiter noch auf der Wanderung inmitten eines heftigen Gewitters begriffen waren. Auf einmal erblickten sie hoch auf einem Bergkamme, der sich links von der Säntisspitze gegen den Altmanngipfel hinzieht, aufflackernde Flämmchen, vermischt mit kleinen gelblichen Kugeln. Letztere liefen scheinbar an einem Draht, oder Seil dahin, näherten sich gegenseitig, explodierten und fielen nieder. Auf demselben Bergkamme schwebte eine einzelne feurige Kugel von der scheinbaren Größe einer Bombe, oder eines kleinen Mondes in flachem parabolischen Bogen hin und her, etwa mit der Geschwindigkeit eines geworfenen Balles, nur daß die Bewegung stets gleichmäßig war. Die Erscheinung dauerte einige Minuten. Da erfolgte auf einmal ein furchtbarer Krach, der den ganzen Berg in seinen Grundfesten zu erschüttern schien, und ein Feuerwerk „von noch nie gesehener Großartigkeit“ überraschte die Zuschauer; die ganze Telephonleitung des Säntis, soweit sie dem Auge erreichbar war, stand im hellsten Lichte. Dabei leuchtete nicht allein der Leitungsdraht, sondern es flatterten von ihm feurige Flammen zur Erde nieder, die so aussahen, als ob man auf den glühenden Draht feurige Wäschestücke aufgehangen hätte. Plötzlich aber fiel die gesamte „Blitzwäsche“ zu Boden, der Draht war geschmolzen und die Zuschauer starrten geblendet in die vollste Finsternis.
Ueber das Wesen dieser eigenartigen elektrischen Entladung ist man bis heute noch nicht im klaren. Es ist allerdings einigen Forschern wie Planté und F. v, Lepel gelungen, mit Hilfe besonders starker elektrischer Maschinen im Laboratorium kleine Feuerkügelchen zu erzeugen, die sich nach Art der Kugelblitze einige Zeit hin und her bewegten und dann verschwanden. Auf Grund dieser Wahrnehmungen stellte man die Behauptung auf, daß die Kugelblitze aus erhitzten Gasen der Luft und des Wassers bestehen sollen. Diese Erklärung ist jedoch keineswegs genügend, sie giebt uns durchaus nicht völligen Aufschluß über die sämtlichen bei Kugelblitzen beobachteten Erscheinungen. Darum müssen die Untersuchungen fortgesetzt werden. Wünschenswert ist es vor allem, daß ein zahlreicheres Material über die Kugelblitze gesammelt werde. Wer darum vom Zufall begünstigt einen Kugelblitz gesehen hat, sollte seine Wahrnehmungen aufzeichnen und einer unserer meteorologischen Zeitschriften, wie z. B. der Monatsschrift „Das Wetter“, die vom Prof. Dr. R. Aßmann in Berlin W., Schinkelplatz 6, herausgegeben wird, einreichen. Die Redaktion der „Gartenlaube“ ist gleichfalls bereit, derartige Mitteilungen entgegenzunehmen und für deren zweckmäßige Veröffentlichung Sorge zu tragen.
Das Kaiser Wilhelm-Denkmal auf dem Kyffhäuser.
Der Kyffhäuser, der in mächtiger Höhe über der „goldenen Aue“ thront, von dessen Zinnen der Blick den waldreichen Harz und das grüne Thüringen umspannt, trug bis jetzt auf seinem Haupte, gleich einem verwelkten Lorbeerkranz, die Trümmer einer kaiserlichen Burg, die von dem Glanze des alten Reiches und von dessen Niedergang erzählten – die Neuzeit hat ihm eine neue herrliche Krone aufs Haupt gedrückt: ein Denkmal, wie es sinnreicher in deutschen Landen nicht errichtet werden konnte.
[397]
[398] Der Deutsche Kriegerbund hat es gestiftet und die deutsche Kunst setzte ihr bestes daran, um auf jener denkwürdigen Höhe eine der größten Wandlungen in der Geschichte Deutschlands würdig und bedeutend darzustellen. Kaiser Wilhelm I., dem Begründer des neuen Deutschen Reiches, sollte es geweiht sein; zahlreiche deutsche Meister rangen um die Palme, die nach schwieriger verantwortungsreicher Prüfung dem genialen Entwurf von Bruno Schmitz zuerkannt wurde. (Vergl. „Gartenlaube“, Jahrg. 1892, S. 160[WS 1]). Fünf Jahre dauerte die Arbeit; mit Erlaubnis des Grundherrn vom Kyffhäuser, des Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt, wurden in der Nähe der Baustelle mächtige Steinbrüche angelegt, die das nötige Baumaterial lieferten; nun steht das Kunstwerk vollendet da, und am 18. Juni, dem Tage von Waterloo, soll es eingeweiht werden.
Schon in seiner äußeren Gestaltung übertrifft es an Größe alle Bau- und Kunstwerke ähnlicher Art. Seine Anlage, welche den Flächenraum von 2500 qm einnimmt, hat eine Längenausdehnung von 131 m bei einer Breite von 96 m und besteht aus der großen Ringterrasse, der Hoch- und Turmterrasse und dem Turm.
Die Ringterrasse bildet in der Horizontalprojektion einen Halbkreis mit 96 m Durchmesser und stellt sozusagen den Vorhof des ganzen Baues dar. Sie ist rings herum mit einer schön ausgeführten Schutzmauer umgeben, denn das Gelände fällt stellenweise so steil ab, daß hier ein Schutz höchst notwendig erscheint.
Ueber der Ringterrasse erhebt sich die Hoch- und Turmterrasse, zu welcher breite Treppen führen, welche durch eine Bogenhalle voneinander getrennt sind. Durch diese dreifache Bogenhalle tritt man in den Burghof ein, wo sich im Hintergrunde das in Stein gehauene Bild des alten Barbarossa von Nikolaus Geiger befindet. Die Hoch- und Turmterrasse ist mit der Bogenhalle und dem Burghof 90 m lang und 61 m breit; sämtliche Fundamente ruhen auf festem Fels und reichen noch viele Meter unter die Sohle der Terrasse.
Der Turm, der eigentliche Träger des Denkmals, ist viereckig, nach oben sich verjüngend, und trägt auf seinem Haupte eine gewaltige Kaiserkrone, welche auf acht massiven Rippen ruht und einen Durchmesser von 3½ m, sowie eine Höhe von 6,60 m hat; Oberhalb des Barbarossabildes nun erhebt sich, scheinbar aus dem Turm herausreitend, das Reiterstandbild Kaiser Wilhelms, von Emil Hundrieser in Charlottenburg entworfen und in Kupfer ausgeführt, das einen gewaltigen Eindruck macht. Alle Künstelei ist glücklicherweise daran vermieden: das ist der Kaiser, wie er war und wie seine alten Krieger ihn im Geiste noch vor Augen haben, derselbe Kaiser und Held, der sie einst von Sieg zu Sieg führte, der, jahrhundertealte Schmach rächend, den Erbfeind zu Boden schlug und endlich wieder die alten, uns ehemals geraubten Lande dem neuen Deutschen Reiche zurückgab. So steht er hoch oben, den Gipfel des sagenumwobenen Kyffhäuserberges weit überragend, und blickt nach Osten der aufgehenden Sonne entgegen und unter ihm rauschen und brausen die Wipfel der alten Eichen und Buchen.
Innerhalb des Turmes zu ebener Erde befindet sich ein kreisrunder, mit einem Kegel- oder Trichtergewölbe überspannter Raum mit vier Absiden und einem Durchmesser von 10 m, und mitten auf diesem aus meterstarken Quadersteinen ausgeführten Gewölbe ruht eine starke Säule, um welche sich die über vier Stockwerke bis zur Krone führende spiralförmige, massive Steintreppe windet.
So steht der aus dem Gestein des alten Kyffhäuserberges errichtete imposante Bau fest und stolz und Stein auf Stein unzertrennlich ineinander gefügt da – ein Sinnbild des neuen Deutschen Reiches und ein Denkmal für den, der es geschaffen; aber es ist auch gleichzeitig ein Ehrendenkmal für alle diejenigen, welche die Mittel dazu spendeten, den Bau erdachten und ausführten. Es ist bereits oben gesagt, daß der Entwurf des Bauplanes vom Architekten Bruno Schmitz in Berlin herrührt, die Ausführung desselben war dem Maurermeister Reichenbach in Frankenhausen übertragen und wurde vom Architekten Lindemann beaufsichtigt. Von seiten des Denkmalsausschusses war es der Professor Dr. Westphal aus Berlin, welcher den Bau unausgesetzt in seinen Fortschritten verfolgte; er hat auch als der Vater des Gedankens zu dem ganzen Unternehmen zu gelten und wird bei der Einweihung des Denkmals die Festrede halten.
Dieses Fest wird in seinem Verlauf sicher den Charakter einer großen nationalen Feier annehmen. Der Kaiser hat den Tag selbst bestimmt und seine Anwesenheit zugesagt; und es werden sich, wie bereits festgestellt ist, gegen dreißigtausend alte Krieger aus allen Teilen des Deutschen Reiches hier versammeln, um ihrem königlichen Führer zum Sieg ihre unvergängliche Liebe zu bekunden und an seinem Denkmal seinem Enkel das Gelübde felsenfester Treue feierlichst zu erneuern. Mit Recht sagt das Programm über die Einweihungsfeier des Kaiser Wilhelm-Denkmals, daß dieser Tag der größte Ehrentag sein wird, den das deutsche Kriegervereinswesen bis jetzt erlebt hat.
Ueber den Verlauf der Einweihungsfeier werden wir einen besonderen Bericht bringen, möchten aber zum Schluß noch allen denen, welche mit der Ortslage nicht vertraut sind, einen Fingerzeig geben, wie sie am besten und bequemsten an den Kyffhäuser gelangen. Derselbe liegt bekanntlich im nördlichen Thüringen und wird durch das Helmethal, welches die „goldene Aue“ genannt wird, vom Südharz getrennt; der waldgekrönte Bergzug zwischen den beiden größeren Städten Nordhausen und Sangerhausen, von welchem bisher der einsame alte Turm melancholisch herabblickte und der jetzt von dem majestätischen Kaiser-Denkmal gekrönt wird – das ist der Kyffhäuser. Wer von Westen kommt und Nordhausen passieren muß, steigt auf der Station Berga-Kelbra aus und beginnt von hier seine Kyffhäuserbesteigung unter Mitnahme der Rothenburg. Wer jedoch von Süden über Erfurt, oder von Osten über Sangerhausen zu reisen hat, der fährt mit der Bahn nach Frankenhausen, von wo aus er mit Omnibus direkt zum Kyffhäuser fahren oder, was bei weitem vorzuziehen ist, auf schattigen Waldwegen mühelos und bequem zu Fuß dem herrlichen Ziele zuwandern kann. Hermann Ferschke.
Fata Morgana.
(Schluß.)
Im Garten der Bertramschen Villa gingen Selma und ihre Schwägerin, die in der nächsten Woche nach Birkenfelde übersiedeln wollte, im Gespräch auf und nieder. Es herrschte heute ausnahmsweise Stille in ihrer Umgebung, denn die drei Jungen befanden sich im Hause bei ihrem Vater und halfen ihm bei den Vorbereitungen zu einer kleinen Abschiedsfeier, die dem „afrikanischen Onkel“ galt. Auf diese Weise hatte auch Achmet Ruhe, der ein noch gesatteltes Reitpferd am Zügel auf und ab führte, offenbar, um es abzukühlen, denn das Tier dampfte und trug alle Spuren eines heftigen Rittes. In Kronsberg wurden während des Sommers stets Reitpferde gehalten, zur Verfügung für die vornehmen Kurgäste, und Ehrwald ritt täglich einige Stunden, wenn er hier war. Auch heute war er dieser Gewohnheit treu geblieben und eben erst nach Hause gekommen.
„Die Kronsberger Gäule werden froh sein, wenn dieser Wüstenmensch erst fort ist,“ bemerkte Ulrike in ihrer gewohnten liebenswürdigen Ausdrucksweise. „Und ihre Herren erst recht, er reitet ihnen ja die Tiere zu Schanden. Da ist er nun wieder wie toll umhergejagt, man sieht es dem armen Geschöpfe an.“
„Ja, Ehrwald kann nicht leben, wenn er nicht täglich ein paar Stunden im Sattel ist,“ sagte Selma. „Er ist allzusehr daran gewöhnt, sein Beruf bringt das so mit sich.“
„Dann soll er aber reiten wie ein Christenmensch und nicht seine wilden afrikanischen Gewohnheiten mit hierherbringen,“ grollte Ulrike, bei der Reinhart nun einmal nicht zu Gnaden angenommen wurde. „Viel Vergnügen habt Ihr übrigens in der letzten Zeit nicht gehabt von eurem ‚berühmten Gast‘. Er geruhte immer übler Laune zu sein, und vollends heute, als er von Burgheim kam und gleich darauf fortritt, machte er ein Gesicht wie zehn Donnerwetter.“
„Ich finde auch, daß er seit einiger Zeit verstimmt ist,“ pflichtete die Frau Hofrätin bei. „Aber das begreift sich, es ist der Abschied von Sonneck, der ihm schwer wird und auf ihm lastet.“
[399] „Ein Glück, daß wir den behalten!“ sagte Fräulein Mallner, für die Lothar Sonneck immer noch der „einzige Mensch“ auf der Welt war und blieb. „Diesen Ehrwald gönne ich den Wilden von ganzem Herzen. Der gehört mit seinen halsbrecherischen Gewohnheiten überhaupt nach Afrika, wo er überall den Herrn und Meister spielen und Menschen und Tiere malträtieren kann. Zu einem Wüstenhäuptling hat er das Zeug, aber nicht zu einem vernünftigen Menschen wie Herr Sonneck, der sich gescheiterweise hier in Deutschland zur Ruhe gesetzt hat. Er kommt doch heut’ abend?“
„Gewiß, er hat es versprochen, aber Elsa werden wir leider nicht sehen; sie ließ mir durch meinen Mann sagen, daß sie heute bei Lady Marwood sein werde.“
Ein lautes Hallo verkündete, daß man drinnen mit den Vorbereitungen fertig war. Die drei Jungen kamen schleunigst herbeigestürzt, um das zu verkünden und die Mama und die Tante aufzufordern, sich die Herrlichkeit anzuschauen. Die beiden Damen ließen sich denn auch dazu bereit finden und die ganze Gesellschaft verfügte sich in das Haus.
Ehrwald befand sich unterdessen in seinem Zimmer, wo schon alles für die Abreise gepackt stand. Man sah es ihm an, daß er sich mit der Ermüdung nicht die Ruhe erjagt hatte, und doch galt es, heute abend bei dem letzten Zusammensein mit Lothar eine ruhige Stirn zu zeigen. Aber das Schwerste war ja überstanden, nun mußte auch dies Letzte noch ertragen werden!
Da ließ sich draußen ein eiliger Schritt hören, die Thür wurde aufgerissen und Hofrat Bertram erschien, mit einem ganz verstörten Gesicht.
„Da sind Sie ja, Ehrwald!“ rief er hastig. „Wir müssen sofort nach Burgheim, eben kam ein Bote von dort. Es ist ein Unglück geschehen – mit Sonneck.“
Reinhart, der eben im Begriff war, noch einige Papiere in die Reisemappe zu legen, ließ diese fallen und fuhr auf.
„Lothar? Was ist mit ihm? Was ist geschehen?“
„Er hat die Pistole probieren oder reinigen wollen, Sie wissen ja, das Geschenk für Sie. Das unselige Ding war vermutlich doch nicht entladen, oder es ist sonst etwas damit passiert. Genug, Sonneck hat einen Schuß in die Brust erhalten, wahrscheinlich schwer, denn er liegt besinnungslos, der Bote meint gar – er läge im Sterben.“
Ehrwald stand wie erstarrt.
Der Mann, der doch mit Schrecknissen aller Art vertraut war, schien wie gelähmt durch die Nachricht. Aber was sich in seinen Zügen ausprägte, war mehr als Schreck, die Ahnung von etwas Entsetzlichem, Ungeheurem.
„Ich lasse eben anspannen,“ fuhr Bertram fort. „In zehn Minuten wird der Wagen da sein, wir fahren bei Lady Marwood vorüber und nehmen Elsa gleich mit. – Mein Gott, Ehrwald, Sie sind ja wie vernichtet! Vielleicht ist die Nachricht übertrieben, man muß nicht gleich das Schlimmste fürchten! Jedenfalls müssen wir auf der Stelle hinaus!“
Die letzten Worte brachten Ehrwald zur Besinnung, er stürzte an das Fenster, riß es auf und rief dem Neger zu, der eben das Pferd aus dem Thore führte: „Zurück mit dem Pferde, Achmet – ich brauche es! Kommen Sie nach, Bertram, jagen Sie, was die Tiere laufen können! Ich muß voran!“
Damit eilte er auch schon die Treppe hinunter in den Garten, riß Achmet die Zügel aus der Hand und warf sich auf das Roß. Das Tier, erschöpft von dem vorhergehenden scharfen Ritte, wollte den Gehorsam versagen, aber der Reiter trieb es wie wahnsinnig an. Im rasenden Galopp ging es durch den Kurort, über die Brücke, an der Stadt vorüber und den Weg nach Burgheim hinauf. Vor dem Gitterthor sprang Ehrwald aus dem Sattel, überließ das Tier sich selber und stürmte in das Haus.
In seinem Zimmer lag Sonneck auf dem Sofa, das Haupt mit Kissen gestützt, regungslos mit geschlossenen Augen und ohne Lebenszeichen, während sich der alte Bastian und eins der Mädchen mit allerlei Hilfeleistungen um ihn bemühten. Unter dem geöffneten Rock war das blutgetränkte Hemd sichtbar; es war offenbar noch nicht gelungen, das Blut zu stillen. Reinhart war an das Lager geeilt; ohne sich mit einer einzigen Frage aufzuhalten, entfernte er die Tücher und begann die Wunde zu untersuchen, während Bastian unaufgefordert berichtete, was er wußte.
Er hatte im Garten den Schuß gehört und war sofort hinaufgeeilt, da fand er den Herrn in seinem Blute. Herr Sonneck hatte noch die Kraft gehabt, ein paar Worte zu sprechen und das Unglück zu erklären, ehe er das Bewußtsein verlor. Demnach hatte er die Pistole reinigen wollen, sie hatte sich entladen, und die Kugel, die noch im Lauf steckte, traf ihn gerade in die Brust.
Ehrwald hörte das an, ohne ein Wort zu sprechen. Seit er die Wunde gesehen hatte, war sein Gesicht fast so farblos wie das des Schwerverletzten, aber er that mit gewohnter Geistesgegenwart, was der Augenblick forderte. Er schickte das Mädchen fort, um Wasser zu holen, befahl Bastian, die Hausapotheke herbeizuschaffen, und inzwischen legte er mit dem, was gerade zur Hand war, einen Notverband an.
Der Schmerz bei Berührung der Wunde erweckte Sonneck aus seiner Bewußtlosigkeit, er schlug langsam die Augen auf.
„Reinhart – Du?“ fragte er leise.
„Sprich nicht, rege Dich nicht, sonst fließt das Blut wieder,“ sagte Reinhart mit fliegendem Atem, während er den Verband vollendete, aber der Verwundete machte eine matte, abwehrende Bewegung.
„Laß – es ist umsonst! Eine Unvorsichtigkeit – die Waffe entlud sich – ich wußte nicht –“
Er verstummte, denn Ehrwald hatte sich über ihn gebeugt und seine Augen bohrten sich förmlich ein in das Antlitz des Freundes. Es stand eine furchtbare Frage in diesem Blick voll stummer Todesangst, wenn sie auch die Lippen nicht aussprachen, und Sonneck schien das zu fühlen.
„Fasse Dich,“ murmelte er. „Sei ein Mann!“
„Lothar!“ schrie Reinhart plötzlich auf, es war ein Ruf der wildesten Verzweiflung. „Lothar!“
Sonneck zuckte leise zusammen bei dem Tone und wandte den Kopf seitwärts.
„Laß mich – Du thust mir wehe!“
Da sank Ehrwald in die Knie und brach in ein lautes Weinen aus. Er hatte die Thränen nicht gekannt seit seinen Knabenjahren, und es lag etwas Erschütterndes in diesem Weinen des sonst so eisernen Mannes.
„Mein armer Junge!“ sagte Lothar weich. „Du hast mich sehr geliebt, ich weiß es, Dir übergebe ich mein Liebstes, Elsa – nimm sie in Deinen Schutz.“
„Nein, nein!“ fuhr Reinhart mit einem Ausdruck des Entsetzens auf. „Nimmermehr! Das darfst Du nicht fordern.“
Da legte sich die Hand des Sterbenden schwer und kalt auf die seinige und seine Stimme klang fast gebietend, in dem Aufflammen der letzten Kraft: „Ich will es! Ehre meinen letzten Willen!“
Ehrwald warf sich über ihn und umfaßte ihn mit beiden Armen, er sah ja, daß es hier nichts mehr zu schonen gab, aber er hörte auch die jetzt schon erlöschende Stimme, die jene Forderung wiederholte: „Elsa – laß sie nicht allein im Leben! Dein Versprechen, Reinhart – Dein Wort!“
Die tiefen grauen Augen Lothars waren unverwandt auf ihn gerichtet und der nahende Tod gab ihnen etwas Geisterhaftes. Es stand kein Vorwurf darin, nur die verzeihende Liebe des Mannes, dem der Freund doch vielleicht teurer gewesen war als sein junges Weib. Reinhart wollte sich noch einmal aufbäumen, sich weigern, aber er stand unter dem Zwange jenes geisterhaften Blickes, der von ihm forderte, daß das Opfer nicht vergebens, daß das Blut, das der Todeswunde entquoll, nicht umsonst geflossen sei – da neigte er das Haupt auf die erkaltende Hand und preßte seine Lippen darauf. „Ich – verspreche es!“
Das waren die letzten Worte, die gesprochen wurden. Tiefes Schweigen herrschte in dem Gemach, das ganz erfüllt war von dem goldigen Glanze der Abendsonne, wie einst ein anderes Sterbezimmer im fernen Afrika. Aber hier blickten schneegekrönte Berggipfel durch das Fenster, und das Leben, das sich hier verblutete, war nur Segen gewesen für andere – selbst der Tod war es!
Reinhart hielt den Sterbenden in den Armen, aber er zwang den Sturm der Verzweiflung nieder, er wollte dem Freunde nicht wieder „wehe thun“. Ohne Laut, ohne Regung sah er Lothars Augen sich verschleiern und nahm den letzten Hauch von seinen Lippen, dann aber brach er wie vernichtet zusammen.
Draußen fuhr in stürmischer Eile ein Wagen vor und hielt vor dem Eingange. Er brachte den Arzt, der hier nicht mehr nötig war – und eine junge Witwe!
[400] In den Straßen von Kairo flutete das gewohnte Leben und Treiben in unaufhörlichem Wechsel und ewiger Rastlosigkeit. Wagen und Pferde, lange Züge von Kamelen und die buntgezäumten Reitesel machten sich oft nur mühsam Bahn durch das Menschengewühl. Zwischen den dunkelfarbigen Gestalten der Orientalen, in ihren bunten Gewändern, sah man die Europäer aller Nationen. Fliegende Händler priesen ihre Waren an, dicht verschleierte Frauen bewegten sich durch das Gedränge und im blendenden Glanze der Mittagsonne ragten die Paläste, die Moscheen und Palmengärten der schimmernden Stadt auf. Es war das alte, malerische und phantastische Bild, und es hatte in all den Jahren nichts verloren von seinem reizvollen Zauber.
„Nun habe ich aber genug von diesem Staub und dieser Hitze,“ sagte ein Herr, der mit einer Dame am Arm durch das Gewühl steuerte, in deutscher Sprache. „Man merkt es, daß wir in Afrika sind. Es ist Anfang Februar und wir werden langsam geröstet in der Sonnenglut! Und dazu dieser Lärm! Die Nerven hat man sich hier in Kairo gründlich abzugewöhnen.“
„Ja, Sie sind Ihr stilles Kronsberg gewöhnt, Herr Hofrat,“ entgegnete die Dame; es war Frau Doktor Walter. „Wir sind hier mitten im Treiben der orientalischen Weltstadt.“
„Und wir sind Weltkurort, schon seit Jahren,“ erklärte Hofrat Bertram mit Selbstgefühl. „Ich bin tief beleidigt, gnädige Frau, daß Sie Kronsberg noch immer für ein stilles kleines Bergnest zu halten scheinen, und bestehe darauf, daß Sie es sich diesmal in der Hauptsaison ansehen, wozu mir Kollege Walter bereits Hoffnung gemacht hat. Da können wir Ihnen mit einem halben Dutzend Potentaten aufwarten, die Millionäre wimmeln nur so auf unserer Kurpromenade und die Berühmtheiten sind überhaupt gar nicht mehr zu zählen.“
„Er streicht seine Schöpfung nach Kräften heraus,“ sagte lachend Doktor Walter, der mit der Frau Hofrätin am Arme vorausging. „Sie haben ja doch eigentlich Kronsberg entdeckt, Kollege.“
„Zum Heil der Menschheit!“ bestätigte dieser. „Allerdings auch zu meinem eigenen Heile. Meine jetzige Stellung ist doch etwas einträglicher als jene, welche ich damals als junger Schiffsarzt beim Lloyd bekleidete.“
„Und sie hat Ihnen doch das Allerbeste eingebracht,“ scherzte Walter, mit einem Blick auf die blühende kleine Frau an seiner Seite. „Aber da sind wir bei unserem Hause, und im Garten ist es schattig und kühl, da können Sie sich von der ‚afrikanischen Glut‘ erholen.“
Sie hatten in der That das Waltersche Haus erreicht und traten jetzt in den Garten, der ebenso wie das Haus unverändert war, nur die Bäume waren höher, die Gebüsche dichter geworden; allein das erhöhte nur das Trauliche des Ortes, der noch immer wie eine kleine grüne Oase in dem Häusermeer der lärmenden, staubwirbelnden Stadt lag. Die kleine Gesellschaft ließ sich denn auch in aller Behaglichkeit an einem schattigen Platze nieder. Hofrat Bertram war mit seiner Frau erst vor acht Tagen angelangt und hatte den befreundeten Kollegen wieder aufgesucht. Das gab ein frohes Wiedersehen, auch zwischen den beiden Damen; Selma hatte ja ihre ganze Brautzeit in dem Walterschen Hause verlebt und man war stets im Briefwechsel geblieben.
„Es bleibt also dabei: Sie besuchen uns in Kronsberg, wenn Sie im Sommer nach Europa kommen,“ hob Bertram wieder an. „Unsere Heilquellen werden Sie interessieren, Kollege, und bei der Gelegenheit können Sie auch eine alte Bekanntschaft erneuern. Ich schrieb es Ihnen ja, daß die Schwägerin meiner Frau sich in unserer unmittelbaren Nähe angekauft hat und seit drei Jahren auf ihrem Landgute lebt.“
„Jawohl, und wir haben Ihnen unser tiefstes Mitgefühl nicht vorenthalten,“ versetzte Walter. „Meine Frau und ich, wir haben ja beide das Glück, Fräulein Ulrike Mallner zu kennen.“
„Bitte, die kennen Sie nicht,“ widersprach der Hofrat. „Respekt vor unserer Tante Ulrike! Die ist der Abgott unserer Jungen und mein Jüngster, der Hansel, verleugnet schnöde seine eigenen Eltern, wenn er bei der vielgeliebten Tante bleiben kann. Sie ist überhaupt ein wahrer Schatz für uns! Bei unserer Abreise hat sie sich die ganze kleine Gesellschaft nach Birkenfelde geholt, wo die Jungen natürlich nichts als Unfug anstiften. Sie wissen eben, daß sie sich dort alles erlauben dürfen, und werden dabei in unglaublicher Weise verzogen.“
Der Doktor und seine Frau schienen das für Scherz zu halten und hörten mit sehr ungläubiger Miene zu, aber Selma pflichtete ihrem Manne bei:
„Gewiß, ich hätte mich ja nie zu der langen und weiten Reise entschlossen, wenn ich die Kinder nicht in den allerbesten Händen wüßte. Ulrike hat sie schon im vorigen Winter in ihre Obhut genommen, als wir in Berlin waren; sie vertritt Mutterstelle in aufopfernder Weise.“
„Nun, gnädige Frau, da Sie es so ernsthaft sagen, werden wir es wohl glauben müssen,“ meinte Walter. „Es geschehen also noch Zeichen und Wunder auf Erden! Und auch Sie stehen sich jetzt gut mit der streitbaren Dame, Kollege?“
„Ausgezeichnet, wir zanken uns allerdings so oft wir uns sehen, allein das ist nur äußerlich. Unsere verehrte Erbtante – ich nenne sie stets so, und sie ist jedesmal wütend darüber – schämt sich nämlich unendlich ihrer Bekehrung. Es soll kein Mensch etwas davon merken, deshalb benimmt sie sich möglichst berserkerhaft.“
„Das kann ich mir denken,“ sagte Frau Walter lachend. „Ich erinnere mich ihrer noch ganz genau, sie war ein Original.“
„Das ist sie noch heute. Die Art zum Beispiel, wie sie mir ihre Testamentsbestimmungen ankündigte, war höchst originell. ,Freuen Sie sich nur nicht auf die Erbschaft!‘ schrie sie mich an. ,Sie bekommen nichts, keinen Pfennig, und Selma bekommt auch nichts, es ist alles den drei Jungens vermacht. Es sind zwar gottlose Rangen, aber sie können ja nicht dafür, daß sie so schlecht erzogen werden, und der Hansel wird Landwirt, das bitte ich mir aus, denn der erbt Birkenfelde.‘ So treibt sie es immer und dabei überschüttet sie die Kinder mit Geschenken. – Gott sei Dank, jetzt fange ich an, mich hier im Schatten wieder menschlich zu fühlen! Wir Hochgebirgsleute müssen uns erst in Afrika acclimatisieren. Eigentlich kann ich es Frau Elsa nicht verdenken, daß sie nach Giseh hinausgegangen ist, um nicht tagtäglich den Staub und Lärm von Kairo zu haben. Da draußen sieht sie freilich nichts als die Pyramiden und die Wüste, und das ist auf die Dauer doch etwas einförmig. Was sagen Sie eigentlich zu Frau von Sonneck, Kollege?“
„Nun, ich dächte, da gäbe es nur eine Meinung,“ versetzte der Gefragte lächelnd. „Es war ja immer ein reizendes Kind, jetzt ist es eine vollendete Schönheit geworden.“
„Das will ich meinen! Wenn sie im Sommer von Burgheim kam, um uns zu besuchen, war die ganze männliche Kurbevölkerung auf den Beinen und promenierte an unserer Villa vorüber, allein sie zeigte sich unendlich gleichgültig dagegen.“
„Ja, Elsa ist mir in manchen Dingen rätselhaft,“ sagte Selma nachdenklich. „Sonneck mag ja der trefflichste Gatte gewesen sein, aber er war doch beinahe vierzig Jahre älter als sie, und ihre Ehe hat überhaupt nur drei Monate gedauert. Dennoch beharrt sie auf ihrer Zurückgezogenheit. Wir waren ganz erstaunt, als sie mit dem Vorschlage zu dieser Reise hervortrat, sie gab ja eigentlich die Veranlassung dazu. Uebrigens wollte sie heute nach der Stadt kommen, um bei Lady Marwood einen Besuch zu machen.“
„Ja so, Lady Marwood!“ fiel Bertram ein. „Sie war so liebenswürdig, mir zu erklären, ich und Kronsberg hätten sie gesund gemacht. Wir haben das Wenigste dabei gethan. Die Erlösung von den Ketten dieser unglücklichen Ehe und der unbestrittene Besitz ihres Kindes, das brachte ihr die Genesung. Der kleine Percy hat sich ja prächtig entwickelt, und seine Mutter scheint hier in Kairo die erste Rolle zu spielen.“
„Gewiß, sie ist der strahlende Mittelpunkt unserer Gesellschaft und hat die großartige Gastfreundschaft des einstigen Osmarschen Hauses im vollsten Maße wieder aufgenommen. Man findet bei ihr alles, was auf Bedeutung Anspruch macht. Aber obwohl die noch immer sehr schöne Frau mit ihrem fürstlichen Reichtum von allen Seiten umworben wird, verlautet von einer zweiten Ehe noch nichts.“
„Das hat vielleicht seine Gründe,“ sagte der Hofrat mit einem vielsagenden Lächeln. „Wer weiß, ob uns die nächste Zeit nicht eine Ueberraschung bringt – Ehrwald kehrt ja jetzt von seinem Zuge zurück.“
„Allerdings, er hatte nach den letzten Nachrichten bereits die Nilstation erreicht und kann jeden Tag eintreffen. Glauben Sie wirklich, daß zwischen ihm und Lady Marwood –?“
„Wenigstens wurde in Kronsberg viel über die beiden
[401][402] gesprochen. Es soll sich da um eine alte Jugendneigung handeln. Freilich, als Ehrwald vor drei Jahren Europa verließ, dachte er nicht an solche Dinge. Der Tod Sonnecks hatte ihn in einer Weise getroffen, die ich bei dem sonst so eisernen Manne gar nicht für möglich gehalten hätte.“
„Es war aber auch ein tragisches Geschick,“ sagte Doktor Walter ernst. „Sonneck hatte so viele Gefahren überstanden und noch im letzten Jahre eine schwere Krankheit glücklich überwunden, und nun erlag er einem bloßen Zufall, einer Unvorsichtigkeit, und die eigene Waffe gab ihm den Tod.“
„Ja, es war ein entsetzlicher Vorfall!“ stimmte Bertram bei, „und Ehrwalds Schmerz über den jähen Verlust war wohl zu begreifen. Aber er war förmlich zerschmettert dadurch, und sobald die Bestattung vorüber war, brach er auf, als jagte ihn etwas davon. Er war keinen Tag länger zu halten.“
„Die deutsche Kolonie plant einen großen Empfang bei seiner Rückkehr,“ erklärte Walter, „und wir haben auch alle Ursache, ihn zu feiern. Was hat der Mann wieder geleistet und errungen auf diesem Zuge! Welche Gebiete hat er uns erschlossen! Wenn Lady Marwood wirklich einen Entschluß faßt, wie Sie ihn andeuten, so wird das niemand überraschen. Der Name Reinhart Ehrwald hat jetzt einen Klang, der ihren Rang und Namen aufwiegt.“
Die kleine Gesellschaft begann jetzt ausführlich diese Frage zu erörtern, sie ahnte nicht, daß die Ueberraschung, die ihr allerdings in den nächsten Tagen bevorstand, eine ganz andere und ganz ungeahnte sein werde. –
Das Osmarsche Haus, das nach dem Tode des Konsuls jahrelang verschlossen und verlassen gestanden, hatte seine Pforten wieder geöffnet. Lady Marwood brachte jetzt stets den Winter in Kairo zu, während sie im Sommer regelmäßig einige Monate mit ihrem Sohne in England, auf den Marwoodschen Gütern verlebte. In die lange verödeten Räume war das einstige glanzvolle Leben wieder eingezogen und die Herrin dieses Hauses war in der That der strahlende Mittelpunkt der Gesellschaft, welche jetzt Lady Marwood nicht weniger feierte als einst Zenaide von Osmar. Jene Gerüchte und Klatschereien, die sich früher an ihren Ruf gewagt, hörten auf mit den peinlichen Verhältnissen, die sie hervorriefen. Die Gemahlin des englischen Lords, die getrennt von ihrem Gatten allein und unstet in der Welt umherreiste, hatte der Verleumdung nur zu sehr Stoff geboten, sich mit ihr zu beschäftigen. Die Witwe und Mutter, die ganz in der Zärtlichkeit für ihr Kind aufging, hatte das nicht zu befürchten. Freilich war auch ihre Art zu leben eine andere geworden.
Auf der Gartenterrasse des Osmarschen Hauses befanden sich Lady Marwood und Elsa von Sonneck. Zenaide hatte sich nur wenig verändert, sie war noch dieselbe blendende Schönheit wie vor drei Jahren in Kronsberg, aber das Fieberhafte, krankhaft Ueberreizte, das damals in ihrem ganzen Wesen lag, war verschwunden. Statt dessen umgab sie wieder etwas von jenem träumerischen, halb schwermütigen Reiz, der einst das junge Mädchen umschwebte.
Sie saß in einem Morgenkleide von kostbarem orientalischen Stoff im Schaukelstuhl, den Kopf nachlässig zurückgelehnt; wer diesen herrlichen Kopf mit dem bläulich schwarzen Haar und den tiefdunklen, feuchten Augen sah, der begriff es, daß Zenaide Marwood nicht nur ihres Reichtums wegen von allen Seiten noch umworben wurde, obgleich die Jugend bereits hinter ihr lag.
In der jungen Frau dagegen, die neben ihr stand und in den Garten hinausblickte, hätte niemand eine Frau oder gar eine Witwe vermutet, denn ihre ganze Erscheinung hatte noch etwas ungemein Zartes und Mädchenhaftes. Elsa war freilich kaum einundzwanzig Jahre alt, und so sieghaft sich ihre Schönheit auch entfaltet hatte, es lag darin noch immer etwas von der tauigen Frische einer eben erst erblühten Knospe.
Jetzt, wo der jahrelange Druck einer tyrannischen Erziehung geschwunden war, erinnerte wieder so vieles an das kleine, sonnige Wesen, das einst hier auf dieser Terrasse gespielt hatte. Das war wieder jener berückende Liebreiz, mit dem sich das schöne blonde Kind in alle Herzen stahl, und zugleich jener Zug leidenschaftlichen Trotzes, der sich selbst jetzt noch in leichter Andeutung verriet. Vielleicht war es gerade diese leise Beimischung von Herbheit, die der jungen Frau diesen eigenartigen Zauber gab, sie war und blieb nun einmal die Tochter Bernrieds.
Die beiden Damen sprachen von dem, was jetzt so ziemlich alle Kreise in Kairo beschäftigte, von der bevorstehenden Rückkehr Reinhart Ehrwalds, und Lady Marwood erörterte das im Tone ruhiger, freundschaftlicher Teilnahme.
„Also auch Hofrat Bertram und seine Frau wissen noch nichts?“ fragte sie. „Ihnen hättest Du doch bei der Abreise die Wahrheit eingestehen können.“
„Ich bin mit Reinhart übereingekommen, daß unsere Verlobung bis zu seiner Ankunft Geheimnis bleibt,“ entgegnete Elsa. „Dir freilich konnte ich es nicht ableugnen, Du hattest es ja längst erraten.“
„Erraten – jawohl!“ Zenaide mochte an die Stunde denken, wo sie von Ehrwalds eigenen Lippen das Geständnis gehört hatte, aber sie fuhr ruhig fort: „Seit Du Witwe bist, wußte ich, daß eure Verbindung nur eine Frage der Zeit war. Ihr wollt also hier in Kairo eure Vermählung feiern?“
„Ja, sobald als möglich, und dann kehren wir vorläufig nach Europa zurück. Reinhart will ja mit diesem Zuge seine Entdeckungsfahrten abschließen.“
„Um sich nicht immer wieder von Dir trennen zu müssen,“ ergänzte Zenaide. „Ich begreife das.“
„Ich glaube auch, daß ihn das hauptsächlich bestimmt hat,“ sagte die junge Frau, „aber es wurden schon vor drei Jahren Verhandlungen von anderer Seite angeknüpft, die sich damals zerschlugen. Jetzt hat man ihm in Berlin neue und glänzende Anträge gemacht, die er vermutlich annehmen wird.“
„Das war vorauszusehen. Nach den großartigen Erfolgen, die er jetzt wieder errungen hat, wird man alles mögliche aufbieten, um ihn zu gewinnen und sich seine Kraft zu sichern. Wann erwartest Du ihn?“
„Der Nildampfer soll morgen eintreffen, Reinhart hat mich gebeten, ihn in Giseh zu erwarten, damit wir wenigstens die erste Zeit des Wiedersehens für uns allein haben.“
„Er hat ganz recht, hier in Kairo würde man euch keine ruhige Stunde lassen. Sobald er da ist, drängt sich alles an ihn, um ihn zu feiern und zu beglückwünschen. Ihr werdet noch später genug davon aushalten müssen – und Ihr müßt euch ja doch eigentlich erst kennenlernen.“
„Kennenlernen?“ Die junge Frau lächelte. „Wir lieben uns ja.“
„Meinst Du, daß das genug ist für die ganze Zukunft?“
„Ich denke doch!“
„Du hast Reinhart drei Jahre lang nicht gesehen, nur brieflich mit ihm verkehrt, und denkst es Dir so leicht, an seiner Seite zu leben? Ich fürchte, Du wirst noch bisweilen mit ihm kämpfen müssen, trotz seiner Leidenschaft für Dich. Lerne erst diesen Mann ergründen, der mit seiner stürmischen gewaltsamen Natur alles in seinen Bannkreis reißen will, der in seinem Wesen so manche dunkle Tiefe hat, die Du noch nicht kennst. Hast Du keine Furcht davor?“
Elsa hob den blonden Kopf mit einer beinahe trotzigen Bewegung.
„Nein, vor dem Manne, den ich liebe, habe ich keine Furcht. Es mag ja sein, daß mir noch manches in ihm dunkel und fremd ist, aber er kennt mein innerstes Wesen vielleicht auch noch nicht, er muß das auch erst kennenlernen.“
„Das klingt sehr stolz,“ sagte Zenaide mit leisem Spott. „Nimm Dich in acht, Elsa, und fordere nicht zu viel von ihm! Da draußen auf seinen Zügen ist er jahrelang der unumschränkte Gebieter gewesen, der Herr über Leben und Tod, und die Herrschsucht liegt überhaupt in seinem Charakter. Glaubst Du, daß er da ein fügsamer Gatte sein wird?“
„Nein, und das fordere ich auch nicht, aber was ich ihm gebe, das muß er mir zurückgeben in demselben Maße. Wenn er bei anderen der Herr und Gebieter ist, bei seinem Weibe muß er um Liebe werben und sie sich erhalten – wer weiß, ob ich ihm das so leicht mache!“
Die letzten Worte klangen wie Scherz, und doch, als die junge Frau so dastand und die blauen Augen aufsprühten, lag in ihrer Haltung wieder jene herbe Sprödigkeit, die bisweilen durch all die sonnige Liebenswürdigkeit ihres Wesens brach. Zenaide hatte sich emporgerichtet und streifte sie mit einem seltsam düsteren Blick. Sie, die gefeierte Schönheit, die reiche Erbin hatte nur hingebende Liebe gekannt für den Reinhart, der damals doch noch ein unbekannter Fremdling war, und dies junge Wesen stellte sich [403] so ruhig, so zuversichtlich an die Seite des Mannes, der jetzt auf der Höhe seiner Erfolge stand, und forderte von ihm, er solle noch werben um die bereits gewonnene Braut. Und vielleicht gerade dadurch hatte sie Reinhart angezogen und zu ihrem Anbeter gemacht!
Elsa faßte dies Schweigen falsch auf, sie sagte hastig, als gälte es, ein Unrecht wieder gut zu machen: „O, Du darfst mich nicht mißverstehen. Ich wäre jeden Augenblick bereit, mein Leben für Reinhart hinzugeben –.“
„Aber nicht Deinen Willen,“ ergänzte Zenaide. „Das hast Du ihm ja schon als Kind gezeigt, bei eurer ersten Begegnung. Er wollte Dich küssen und Du wolltest es nicht leiden, da erzwang er übermütig den Kuß. Ein anderes Kind hätte sich gefügt oder geweint, Du schlugst ihn dafür im vollsten Zorne und trotztest noch wochenlang mit ihm – da fing er schon an, Dich zu lieben!“
Die junge Frau senkte die Augen und eine tiefe Röte stieg in ihrem Antlitz auf.
„O, das war eine Kinderei!“
„Und doch entscheidend für euch beide. Ein Mann wie Ehrwald erträgt nun einmal keine bedingungslose Hingebung. Die ist wertlos für ihn. Du wirst ihn zwingen, auch als Gatte immer wieder von neuem um Dich zu werben – Dich wird er lieben, bis ans Ende.“
Es lag eine kaum verschleierte Bitterkeit in den Worten und Elsa fühlte das, doch bevor sie noch etwas erwidern konnte, wurde die Thür des Gartensaales geöffnet und Percy stürmte auf die Terrasse. Er hatte eine kleine Reitpeitsche in der Hand und kam eben von dem kurzen Morgenritte zurück, den er täglich mit seinem Erzieher machte, aber er begrüßte seine Mutter mit so ungestümer Zärtlichkeit, als habe er sie tagelang nicht gesehen. Zenaide streckte ihm die Arme entgegen und strich ihm dann die Haare aus dem erhitzten Gesicht.
„Da bist Du ja, Du Wildfang!“ sagte sie zärtlich. „Aber siehst Du denn Tante Elsa nicht?“
Der kleine Lord bemerkte in der That erst jetzt die junge Frau und beeilte sich, ihr die Hand zu küssen, dann jedoch kehrte er schleunigst zu seiner Mutter zurück. Seine Aehnlichkeit mit ihr trat jetzt noch deutlicher hervor als damals vor drei Jahren. Es waren Zenaidens Züge, ihre Augen, selbst ihre Leidenschaftlichkeit, die sich in dem ganzen Wesen des Knaben verriet. Auch nicht das Geringste erinnerte an den Vater. Er begann jetzt allerlei kleine Erlebnisse von seinem Ritt zu berichten und verlangte schließlich, die Mama solle mit ihm zu dem Pony- und Eselreiten fahren, das am heutigen Nachmittag stattfand.
„Nein, mein Liebling, heute nachmittag sehe ich Gäste bei mir, das weißt Du ja,“ sagte Zenaide. „Aber ich fahre gegen Abend mit Dir aus.“
„Gäste?“ schmollte Percy, mit einem bitterbösen Gesichtchen. „O, Mama, dann sehe ich Dich wieder zwei oder gar drei Stunden nicht.“
„Du bist ein eifersüchtiger kleiner Herr,“ sagte Elsa lächelnd. „Willst Du denn Deine Mama für Dich ganz allein haben? Du mußt sie doch auch einmal der Gesellschaft gönnen.“
„Nein, meine Mama gönne ich keinem, die gehört mir ganz allein!“ erklärte Percy trotzig und legte den Arm um sie, als wollte er sein Alleinrecht wahren. Zenaide zog ihn an sich und küßte ihn.
„Sie will auch niemand gehören als Dir, mein Percy – Willst Du schon fort, Elsa?“
„Ich möchte noch zu Doktor Walter fahren und denke, dort meine Reisegefährten zu finden. Entschuldige mich für heute!“
„Nun denn auf Wiedersehen!“ sagte Lady Marwood, indem sie sich erhob und ihr die Hand hinstreckte. „Und wenn Ehrwald kommt, so sage ihm auch ein Willkommen von mir und Percy. Wir lassen ihn grüßen!“
Die junge Frau küßte den kleinen Lord und verabschiedete sich dann. Zenaide war an die Brüstung der Terrasse getreten und brach jetzt eine der dunkelroten Rosen, die sich über den weißen Marmor rankten. Eine solche duftende Purpurblume hatte einst Reinhart aus ihrer Hand empfangen und er hatte sie achtlos verloren und verwelken lassen. Doch das schöne herbe Edelweiß da droben, auf steiler Felsenhöhe, zu dem er hinaufdringen mußte mit Mühe und Gefahr, das barg er als köstliches Gut an seiner Brust.
Arme Rose! Sie entglitt den Händen der schönen Frau und fiel zu Boden. Percy jedoch hob sie auf und steckte sie in seine Sammetbluse. Er war ganz Eifer und Aufregung, denn er hatte den Gruß gehört, den Elsa bestellen sollte. Der kleine Lord wußte sehr gut, wer ihn gerettet hatte bei jenem Sturme, der seinem Vater das Leben kostete, und Ehrwald, von dessen Zügen und Thaten er so viel gehört hatte, war der Held seiner Knabenphantasie geworden. Er bestürmte daher jetzt die Mutter mit allen möglichen Fragen.
„Du läßt Onkel Ehrwald grüßen, Mama – ist er denn schon da? Woher kennt ihn Tante Elsa? Sie ist ja eben erst aus Europa gekommen und er war so lange in Afrika? Und weshalb kommt er zuerst zu ihr und nicht zu uns?“
„Weil Tante Elsa seine Braut ist!“ sagte Zenaide leise.
„Ah!“ rief Percy überrascht. „Dann hat er sie wohl sehr lieb?“
„Ja – sehr lieb!“
Der Knabe fragte weiter, er wollte alles mögliche wissen, erhielt aber keine Antwort. Zenaidens Augen blickten wie traumverloren in die Ferne. Da tauchte sie noch einmal auf, die Jugendliebe, die so lange wie eine leuchtende Fata Morgana am Horizont ihres Lebens gestanden hatte. Sie grüßte zum letztenmal und entschwebte dann für immer.
„Mama, Du weinst ja!“ rief Percy und schlang beide Arme um die Mutter. Das rief sie in die Wirklichkeit zurück. Aus dem Thränenschleier, in dem jenes Traumbild unterging, dämmerte das schöne lebensvolle Antlitz ihres Knaben hervor und sie hörte seine halb angstvolle, halb schmeichelnde Bitte: „Mama, süße Mama, nicht weinen!“
Da richtete sich Zenaide empor, und ihn mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit an ihre Brust pressend, flüsterte sie: „Nein, ich weine nicht mehr. Ich habe ja Dich, mein Percy, mein geliebtes Kind, mein alles!“ –
– – – – – – – – – – – – – – –Die Schwalben sammelten sich bereits zum Fluge über das Meer, um dem Norden die Botschaft des nahenden Frühlings zu bringen. Auch der Dampfer, der jetzt die Reede von Alexandrien verließ, nahm seinen Kurs nach Norden. Es war in der ersten Morgenfrühe, die Passagiere, die gestern abend schon an Bord gekommen waren, schliefen noch in den Kajüten, und außer dem Kapitän, der auf der Kommandobrücke stand, und der Mannschaft befanden sich nur ein Herr und eine Dame auf dem Deck, ein neuvermähltes Paar, das aus Kairo nach Deutschland zurückkehrte. Das Schiff steuerte der offenen See zu, noch waren die Stadt und der Hafen deutlich sichtbar, aber sie lagen im kalten farblosen Morgenlichte, nur ein aufdämmernder rosiger Schein im Osten verkündete den nahen Sonnenaufgang.
Reinhart Ehrwald hatte den Arm um seine junge Gattin gelegt, die ihm erst vor wenigen Tagen angetraut worden war, und sie blickten beide zurück nach der entschwindenden Küste. Es war kein tändelndes Liebesgeflüster, das sie tauschten, stürmisch und leidenschaftlich wie die ganze Natur des Mannes war auch seine Werbung gewesen und das verriet sich jetzt in seiner Zärtlichkeit.
In Ehrwalds äußerer Erscheinung hatten die letzten drei Jahre nichts geändert, es war noch die hohe, kraftvolle und markige Gestalt, das dunkle energische Antlitz, die flammenden gebieterischen Augen. Das alles war unberührt geblieben von den neuen Kämpfen und Thaten, die er zu den alten gefügt hatte. Aber ein Zug hatte sich in seine Stirn gegraben, der früher nicht dagewesen war, und der auch nicht jenen Kämpfen und Gefahren entstammte. Die tiefe düstere Falte, die jetzt zwischen den Brauen stand, hatte er aus der Heimat mitgebracht – vom Grabe des Freundes.
„Nun bist Du mein, endlich mein!“ sagte er, mit einem tiefen Atemzuge. „Die Verheißung, die mir vor Jahren hier aufging, hat doch Wort gehalten. Sie gab mir das Glück!“
Elsa lächelte und lehnte das Haupt an seine Schulter.
„Hast Du deshalb darauf bestanden, daß unsere Vermählung hier vollzogen werde? Freilich, Du hast Dir ja ein Heimatsrecht erobert in dieser fremden Welt.“
Reinharts Antlitz verdüsterte sich und seine Stimme sank, als er antwortete: „Das war es nicht, weshalb ich Dich bat, mich hier zu erwarten. Ich wollte Deine Hand nicht in Kronsberg empfangen, nicht dort, wo Lothar unter den Tannen von Burgheim schläft, wo er – starb.“
[404] „Mir ist die Stätte teuer,“ sprach Elsa leise. „Ich habe Lothar wie einen teuren Vater geliebt und betrauert; er war so gut und edel, er würde sicher keinen Vorwurf für unser Glück haben.“
„O nein, er nicht!“ sagte Reinhart dumpf und schwer. „Er hat Dich mir ja noch sterbend ans Herz gelegt.“
„That er das wirklich?“ In dem Auge der jungen Frau quoll eine heiße Thräne auf. „Ich fand ihn ja nicht mehr lebend und Du wolltest mir damals nichts sagen über seine letzten Augenblicke, Du hattest nur finsteres Schweigen auf all meine Fragen. Auch jetzt noch, Reinhart?“
Ehrwald sah nieder auf das schöne Antlitz, das so bittend, so ahnungslos zu ihm aufblickte, und tiefer und düsterer grub sich jene Falte in seine Stirn, aber er schwieg. Das, was nie ausgesprochen, nie zugestanden worden war und dennoch als furchtbare Gewißheit in seiner Seele stand, das blieb sein Geheimnis. Er trug es ja, allein er brauchte seine ganze eiserne Kraft, um es zu tragen. Elsa durfte nicht ahnen, um welchen Preis ihr Glück erkauft war, ihr hätte es das Leben und die Zukunft vergiftet.
„Erlaß mir das!“ sagte er endlich. „Ich kann nicht darüber sprechen, auch zu Dir nicht. Ich kann nicht, Elsa!“
Es lag eine mühsam verhaltene Qual in den Worten. Elsa wußte, wie sehr er den Freund geliebt hatte, und sie fragte und forschte nicht weiter, sie sah es ja, daß er litt durch ihre Fragen.
Der Mastenwald des Hafens und die Stadt mit ihren weißschimmernden Häusern und Türmen wichen weiter und weiter zurück. Bald war nur noch die Küste sichtbar, die auf den Meereswogen zu schwimmen schien mit ihren ragenden Palmen, aber der rosige Schein war zur dunklen Glut geworden.
Reinharts Blick hing unverwandt daran. So hatte sie ihn einst gegrüßt, die Ferne, der er mit stürmischer Sehnsucht zujubelte. Nun hatte er sie durchmessen und bezwungen, aber was er dort gefunden, war nur Kampf und Streit gewesen, nur heißes, mühevolles Ringen. Jenes Wunderland voll Glanz und Licht, das er zu erjagen träumte, das stand auch heute noch so fern am Horizont wie die leuchtende Küste dort, das stieg nimmer herab zur Wirklichkeit. Aber das Glück, das er in jenem Traumland gesucht, das stand jetzt wieder neben ihm, wie einst, wo er es noch nicht erkannte, und sah ihn an mit den großen leuchtenden Kinderaugen – aus dem Antlitz seines Weibes.
„Da entschwindet uns das Sonnenland!“ sagte die junge Frau leise.
„Aber nicht für immer,“ ergänzte Ehrwald. „Wir werden ja jetzt bald die Heimat grüßen, aber früher oder später mußt Du doch wieder mit mir hinaus in die weite Ferne. Wird Dich das Heimweh nicht verzehren, Elsa? Es lebt sich schwer unter fremdem Himmel, unter fremden Völkern. Du wirst viel vermissen und viel entbehren in jenen heißen Zonen.“
„Aber ich werde bei Dir sein – und wir lieben uns ja!“
Es waren dieselben Worte, die Elsa so freudig, so siegesgewiß der Warnung Zenaidens entgegengesetzt hatte, und sie bannten auch jetzt die düstere Wolke auf der Stirn ihres Gatten. Seine ganze leidenschaftliche Liebe flammte auf und mit ihr der alte feurige Lebensmut, der Mut, glücklich zu sein, trotz der düsteren Erinnerung und ihres Schattens.
„Ja, wir lieben uns!“ wiederholte er fest. „Und damit wollen wir es uns schaffen und erhalten, unser Glück.“
Der ganze östliche Himmel loderte jetzt in purpurner Pracht, die ferne Küste schien in rotem Feuerschein zu stehen. Wie auf flammendem Hintergrunde erhoben sich die Palmen, hinter denen es jetzt emporschoß wie feurige Lohe. In leuchtenden Morgengluten grüßte es noch einmal die Scheidenden und versank dann in den blauen Wogen – das Wunderreich der Fata Morgana.
Dunkle Gebiete der Menschheitsgeschichte.
Südafrika ist heute das bevorzugte Land, das die Kulturwelt mit einem Goldregen überschüttet. Dem deutschen Reisenden Karl Mauch wird der Ruhm zugeschrieben, die ersten Goldfunde in jenen Gebieten im Jahre 1867 gemacht zu haben. Sicher war er der Entdecker der südafrikanischen Goldfelder für unsere Zeit, aber er selbst hat darauf hingewiesen, daß schon einmal in altersgrauer Vorzeit ein anderes, unbekanntes Kulturvolk jene Länder aufsuchte, um Gold zu gewinnen. Zeugen davon sind Ruinen steinerner Bauten, die in schwer zugänglichen Gebieten noch heute zu schauen sind.
Afrikas Boden ist nicht arm an derartigen Denkmälern der Vergangenheit. An den Ufern des Nils blühte ja eine der ältesten Kulturen der Menschheit auf. Um Jahrtausende reicht ihre Geschichte zurück. Aber die äußersten Vorposten jener alten Kultur reichen nicht weit nach Süden. Jenseit des Aequators fand man lange Zeit hindurch keine Spur von steinernen Bauten, deren Alter ehrwürdig in geschichtlichem Sinne des Wortes wäre. Central- und Südafrika wiesen nur wilde oder wenig entwickelte Völker auf, die leichte, rasch vergängliche Hütten bauten.
Um so größer mußte die Ueberraschung der Forschungsreisenden sein, als sie im Südosten Afrikas, auf einem begrenzten Gebiet, ganz vereinzelt bedeutende Baudenkmäler fanden, die nicht von Naturvölkern herrühren können, Denkmäler, an die keinerlei Ueberlieferung sich knüpft, und deren Ursprung daher unter diesen Umständen völlig rätselhaft ist.
Die ersten Schilderungen dieser Bauwerke stammen aus dem Ende des 16. Jahrhunderts, aus portugiesischen Quellen.
Der Dominikanermönch Juan dos Santos reiste im Jahre 1586 nach Mozambique und Sofala an der Ostküste des südlichen Afrika und besuchte von dort aus elf Jahre lang als Missionar die verschiedenen portugiesischen Niederlassungen in diesen Gegenden. So erfuhr er auch durch arabische Händler von einem tief im Inlande gelegenen Orte Zimbabye, oder nach portugiesischer Schreibung Simbaöe, wo sich nach den Schilderungen seiner Gewährsmänner Ruinen großer Bauwerke befinden sollten, die verlassen waren, und deren Ursprung den umwohnenden Eingebornen unbekannt war. Dos Santos beschrieb diese Ruinen in seinem „Oestlichen Aethiopien“ (1609) mit folgenden Worten: „Auf dem Berge Afura in der goldreichen Gegend sieht man Ruinen von Gebäuden, welche von Stein und Kalk waren, eine Sache, die man sonst keineswegs in dem Lande der Kaffern bemerkt, wo sogar die Häuser der Könige nur von Holz und Erde sind und mit Stroh gedeckt werden. Eine alte Tradition in diesem Lande berichtet, daß diese Ruinen Ueberbleibsel der Vorratshäuser der Königin von Saba sind, und daß diese Fürstin aus diesem Gebirge all ihr Gold bekommen habe. Andere glauben, daß Salomo diese Magazine habe bauen lassen, und daß er von hier dasjenige Gold von Ophir bekommen habe, womit seine Flotte beladen war … Es ist gewiß, daß in dieser Gegend sehr vieles und feines Gold vorkommt …“ Aehnlich lautet der Bericht des Portugiesen de Barros, dessen Schilderung nicht minder interessant ist: „In der Mitte der Ebene, im Reiche Batua, bei den ältesten Goldminen steht eine Feste, vierseitig, von innen und von außen aus harten Werksteinen vortrefflich erbaut … Ueber der Pforte des Gebäudes steht eine Inschrift, welche weder maurische Handelsleute (d. h. Araber), die dort waren, noch andere Schriftkundige lesen konnten; auch weiß man nicht, mit welchen Charakteren sie geschrieben ist … Wann diese Gebäude und von wem sie erbaut sind, davon ist bei den Eingebornen, die keine Schrift haben, auch keine Nachricht. Sie sagen nur, daß sie ein Werk des Teufels seien, da Menschen es nicht zustande bringen könnten.“ De Barros meinte in diesen Ruinen das alte Agysymba des Ptolemäus gefunden zu haben.
Der erste Europäer, der in unsrer Zeit es unternahm, diese merkwürdige Stätte wieder aufzufinden, war der Missionar Merensky, der infolge von Gerüchten über das Vorhandensein von Ruinen im Binnenlande, die von den Eingebornen als heilig verehrt würden, im Jahre 1861 dorthin zu gelangen suchte. Sein Versuch schlug indessen fehl; allerlei Hindernisse zwangen ihn, umzukehren.
[405] Erst zehn Jahre später, am 5. September 1871, gelang es dem Afrikareisenden Karl Mauch, die Ruinen aufzufinden, eine Entdeckung, die er selbst als einen der bedeutendsten Erfolge seiner Forschungsreisen bezeichnete. Er fand die großartige Ruinenstätte von Zimbabye in dem Berglande zwischen dem Limpopo und dem Zambesi, 304 Kilometer westlich von Sofala, unter 20° 14′ südlicher Breite und 31° 48′ östlicher Länge von Greenwich. Nach ihm ist es im Jahre 1889 abermals einem Europäer, dem Deutschen Willy Posselt, gelungen, bis Zimbabye vorzudringen und nach Besiegung mancher Schwierigkeiten, die ihm die Eingebornen in den Weg legten, die alten Bauwerke zu besichtigen. Sodann hat im Jahre 1891 der Engländer J. T. Bent eine Expedition nach Zimbabye unternommen, die besonders wichtige Resultate geliefert hat. Bent hat eingehende Vermessungen der Ruinen ausgeführt und Pläne aufgenommen. Sein Bericht ist in den Verhandlungen der Königlichen Geographischen Gesellschaft zu London erschienen. Unsere Abbildungen zu diesem Artikel sind nach den von Bent veröffentlichten Zeichnungen gefertigt. Ein Jahr später, im Jahre 1892, besuchte der Missionar C. Beuster die merkwürdige Ruinenstätte.
Die Ruinen von Zimbabye bestehen aus zwei Teilen. Der eine Teil liegt auf einem 50 m hohen Granithügel, der andere am Fuße desselben. Die Bauwerke auf dem Hügel zeigen sich als eine an die schroffen Abhänge vorgeschobene, gut konstruierte Festungsanlage, von der noch Mauerreste von etwa 10 m Höhe und 100 m Länge erhalten sind. Im Thale befindet sich die auf unserem Plane dargestellte kreisförmige Ruine. Sie besteht aus einer etwa 10 m hohen Ringmauer, deren innerer Durchmesser 70 m beträgt. Innerhalb dieser Umfassungsmauer ziehen sich labyrinthartig verschlungen andere 3 m hohe Mauern hin, und an der Südseite erhebt sich ein 10 m hoher Turm, der unten cylindrisch einen Durchmesser von 5 m besitzt und sich nach oben kegelförmig zuspitzt. Neben ihm steht ein kleinerer Turm. (D und F auf unserem Plan.) An einigen Stellen ragen aus der Mauer senkrecht empor über 3 m lange Steinbalken aus einem grünlichen Gestein, ursprünglich mit einem eingemeißelten geradlinigen Ornament versehen, das an einem derselben zur Zeit, als Mauch die Ruinen entdeckte, noch vorhanden war. Ein Haupteingang führt in das Innere dieser Anlage; eine Inschrift über diesem Eingangsthor, von der de Barros spricht, ist aber nicht mehr zu sehen.
Die Bauwerke sind aus behauenen Granitsteinen ausgeführt, die ohne Mörtel aufeinander geschichtet sind, zum großen Teil mit bewunderungswürdiger Sorgfalt und Regelmäßigkeit, die auf technische Geschicklichkeit in der Baukunst schließen lassen. Von sonstigen Altertümern, die ein Licht auf die unbekannten Erbauer dieser Werke werfen könnten, ist vorläufig sehr wenig gefunden. Selbst Ornamente, aus denen man immerhin einige Schlüsse auf die Volksangehörigkeit der Erbauer ziehen könnte, sind spärlich vorhanden. Dem obenerwähnten zweiten Besucher der Ruinen, Posselt, ist es gelungen, „unter Geheul und Unwillen der Eingeborenen“ einen grob gearbeiteten Vogel aus Stein, der auf einem Pfeiler angebracht war, abzuschlagen und mitzunehmen. Aber auch sonst sind die Berichte aus Zimbabye stofflich nicht sehr ergiebig. Die Gegend ist keineswegs genügend erforscht. Es ist eben außerordentlich schwierig, zu den Ruinen zu gelangen, denn das Land ist höchst unwegsam. Bent hat allein für die letzten fünfzehn englischen Meilen zu seinem Ziele eine volle Woche gebraucht! So ist es denn sehr erklärlich, daß größere Nachgrabungen noch nicht angestellt werden konnten. Zudem ist jedenfalls auch im Laufe der Jahrhunderte vieles von den umwohnenden Eingeborenen weggeschleppt und zerstört worden.
Das meiste Material zur Erforschung dieser rätselhaften alten Kulturstätte hat bis jetzt die Expedition des Engländers Bent geliefert. Bent war der erste, der eine genaue Aufnahme der Ruinen bewerkstelligte und sie, so gut es ging, durchforschte, eine Arbeit, die nicht gering war, denn allein die Beseitigung der üppigen tropischen Vegetation, welche die Ruinen umhüllte, erforderte mehrere Tage. Er hat denn auch manche sehr interessante Beobachtungen gemacht. So fand er deutliche Anzeichen dafür, daß die runde Ruine im Thale einmal belagert und erstürmt worden sein muß. Alle Eingänge waren zugemauert, und eine Bresche im schwächsten Teile der Mauer deutete darauf, daß dort ein gewaltsamer Eingang geschaffen worden war. Bent untersuchte auch die beiden Türme in der Thalruine und stellte fest, daß sie massiv sind und keine Räume im Innern enthalten. Die Regelmäßigkeit der Bauart fand er namentlich bei dem größeren Turme bewunderungswürdig. Unsere Abbildung stellt diesen Turm inmitten der zum Teil beseitigten tropischen Vegetation dar; im Hintergrund sieht man die Ringmauer. Die obere Fläche der Ringmauer, welche die Ruine umgiebt, muß nach der Beobachtung des englischen Forschers ursprünglich eine breite, bequeme Promenade gebildet haben.
Die Ruine auf dem Hügel stellte eine starke und nur auf einer Seite zugängliche Festung dar, die ebenso wie die Thalruine erkennen läßt, daß die Bewohner beständig vor feindlichen Angriffen auf ihrer Hut sein mußten. Hier fanden sich auf der Mauer emporragend steinerne Balken, die in die Figur eines sitzenden Vogels ausliefen, von der Art, wie sie der obenerwähnte Willy Posselt schildert. Eine unserer Abbildungen stellt einen solchen Vogel dar, in dem Bent einen Geier erkennen will (s. S. 406). Im Innern der Festung entdeckte der englische Reisende zwei Höhlen, in denen eine große Anzahl flacher Näpfe oder Schüsseln sich vorfand, und zwar sämtlich zerbrochen, so daß der Gedanke, daß es sich hier um absichtlich zertrümmertes Tempelgerät handelt, nicht abzuweisen ist. Diese Schalen, die aus Seifenstein sorgfältig mit dem Meißel gearbeitet waren, trugen zum Teil Darstellungen. Eine solche giebt die untere Abbildung auf S. 406 wieder. Die Darstellung zeigt einen Jäger, der mit dem Speer in der Hand zwei Zebras verfolgt. Vor ihm ist ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln zu sehen und hinter ihm ein Hund und anscheinend zwei Flußpferde. Endlich fand Bent auch einen aus sehr hartem Cement errichteten Schmelzofen, der offenbar zum Goldschmelzen gedient hatte, denn daneben lagen Quarzstücke und Schmelztiegel mit Spuren [406] von Gold. In der Gegend von Zimbabye wird noch heute Gold gefunden, und Bent zieht aus allen diesen Umständen den Schluß, daß die Ruinen Ueberbleibsel einer Kolonie sind, die zum Zweck der Goldgewinnung angelegt war, und die mit Rücksicht auf die Angriffe umwohnender feindlicher Völkerschaften zugleich als starke Festung diente. Neben solchen unzweifelhaft sehr alten Ueberresten fanden sich auch Spuren neuerer Ansiedlungen, Geräte, die offenbar von Kaffern herrührten, die vorübergehend in den Ruinen gehaust hatten. Als höchst auffallend ist noch die Thatsache hervorzuheben, daß Bent keinerlei Spuren von Toten, Begräbnisstätten oder Skelettresten gefunden hat, so daß Grabbeigaben, die sonst ein wertvolles Material für die Erforschung alter Kulturverhältnisse bilden, bis jetzt gänzlich fehlen.
Welches Volk hat diese rätselhaften Bauwerke inmitten des erinnerungs- und kulturlosen Südafrikas errichtet? Damit ist die bis jetzt ungelöste Frage aufgeworfen, die sich an die Ruinen von Zimbabye knüpft. Sie sind die letzten Marksteine auf einem gänzlich unbekannten und dunklen Gebiete der Menschheitsgeschichte. Die Meinungen der Gelehrten und der Afrikareisenden sind sehr verschieden, und eine befriedigende Lösung hat auch der Engländer Bent nicht gefunden, der seine Expedition nach Zimbabye hauptsächlich zu dem Zweck unternahm, um festzustellen, welchem Volke die Erbauung der dortigen Denkmäler zuzuschreiben ist.
Eine der häufigsten Annahmen ist die, welche wir schon in den oben wiedergegebenen Aeußerungen der alten portugiesischen Missionare ausgesprochen finden, nämlich, daß Zimbabye das aus der Bibel (I. Könige, Kap. 9 und 10; II. Chronika, Kap. 8 und 9) bekannte goldreiche Ophir sei, von wo Salomo auf dreijährigen Reisen mit den Schiffen seines Verbündeten, des Königs Hiram von Tyrus, ungeheuere Mengen Gold und Elfenbein zum Bau des Tempels holen ließ. Wo dieses Ophir zu suchen ist, war seit langem eine Streitfrage. Man hat es bald in Vorderasien, bald in Indien, bald im östlichen Asien, auf Malakka finden wollen, ja sogar in Amerika! Mauch kam wieder auf die Ansicht der portugiesischen Missionare zurück und sprach sich dafür aus, daß Zimbabye das alte Ophir der Bibel sei. Es gelang ihm, in der Umgebung der Ruinen einen alten Mann zu ermitteln, der für Geschenke und gute Worte ihm erzählte, daß in regelmäßigen Zwischenräumen von mehreren Jahren in Zimbabye Opfer stattfänden, die von den umwohnenden Eingeborenen lebhaft besucht würden, und deren Feierlichkeiten er genau beschrieb. In diesen Opfern glaubte Mauch gewisse Aehnlichkeiten mit jüdischen Opferceremonien zu erkennen. Ja, er hielt sogar die ganze Anlage von Zimbabye für jüdischen Ursprungs und eine direkte Nachahmung des salomonischen Tempels auf Moriah in Jerusalem!
Viel wahrscheinlicher ist die Annahme, daß diese Ruinen phönicischen Ursprungs seien. Die Phönicier sind bekanntlich als kühne Seefahrer ziemlich weit an der afrikanischen Küste nach Süden gelangt, und es ist nicht undenkbar, daß sie an einer Stelle, wo Gold gefunden wurde, eine Kolonie anlegten, die sie durch Befestigungswerke gegen die Angriffe der umwohnenden feindlichen Stämme schützten. Man hat auch in der Bauart der Ruinen, und zwar besonders des nach oben spitz zulaufenden Turmes, Aehnlichkeiten mit phönicischen Bauwerken nachzuweisen versucht; indessen sind diese Anhaltspunkte doch nur sehr schwach. Darüber aber sind die beiden Reisenden Mauch und Bent nach ihren Beobachtungen jedenfalls einig, daß der Zweck der Kolonie in Zimbabye die Goldgewinnung war, und daß die Bauwerke teils Befestigungen, teils Heiligtümer gewesen sind.
Andere Afrikaforscher sind diesen Vermutungen entgegengetreten und haben die Bauten zu Zimbabye für einheimischen afrikanischen Ursprungs, und zwar für sehr alte Werke der in jenen Gegenden wohnenden Bantuvölker erklärt. Die Anordnung der labyrinthartigen Mauerreste soll mit den Viehkraalen der Kaffern Aehnlichkeit haben. Indessen diese vergänglichen, meist bloß aus Gestrüpp errichteten Einzäunungen für Viehherden können denn doch in keiner Weise mit den festen, großartig angelegten Steinbauten zu Zimbabye verglichen werden. Und im übrigen haben südafrikanische Völker sonst nirgends steinerne Gebäude errichtet; wie sollten sie so vereinzelt dazu gekommen sein, so bedeutende Bauwerke dieser Art herzustellen! Die Ansicht von dem einheimischen Ursprung der Ruinen von Zimbabye hat denn auch mit Recht starken Widerspruch gefunden. Sie wird im übrigen nur von einigen Afrikaforschern vertreten, die nicht selbst die Ruinen gesehen haben. Dagegen sind diejenigen Reisenden, welche an Ort und Stelle ihre Beobachtungen gemacht haben, übereinstimmend der Meinung, daß die Bauwerke einen gänzlich fremden und unafrikanischen Charakter tragen.
Es kann somit kein Zweifel sein, daß die Bauwerke zu Zimbabye von einem einheimischen afrikanischen Volke nicht herrühren. Sie sind die isolierten Spuren der Anwesenheit fremder Kulturvölker, Denkmäler einer unbekannten Periode der Menschheitsgeschichte. Welche Völker dort als uralte Vorgänger unserer modernsten Kolonialbestrebungen im dunkeln Erdteil Ansiedlungen angelegt haben, läßt sich für jetzt noch nicht beurteilen. Man mag in Erinnerungen an die Seefahrten der Phönicier daran denken, daß schon in frühen Zeiten die Bewohner alter Kulturländer auf weiten Fahrten Kolonien bildend in ferne Länder vorgedrungen sind. Die vielfach sehr unbestimmten geographischen Mitteilungen der Schriftsteller des Altertums liefern uns kein sicheres Material zur Lösung der Frage. Manche haben, wie schon der erwähnte Portugiese de Barros, Zimbabye für das Agysymba des alexandrinischen Geographen Ptolemäus gehalten, ja sogar der Name[WS 2] Agysymba sollte gleichbedeutend mit Zimbabye sein und eigentlich in Umstellung der Silben Symbaagi lauten. Indessen das sind nur Vermutungen. Der heutige Name der Oertlichkeit ist übrigens höchstwahrscheinlich aus der in der Gegend gesprochenen Bantusprache zu erklären und würde dann „steinerne Gebäude“ bedeuten. Bent erklärt ihn dagegen für gleichbedeutend mit „Hier ist der große Kraal“.
Die Frage nach dem Alter der Ruinen ist bei dieser Sachlage natürlich die nächstwichtigste, denn ihre Beantwortung wäre zugleich schon der erste Schritt auf dem Wege zur Lösung der Frage nach dem Volk, das sie erbaute. Aber auch darüber ist noch nichts einigermaßen Sicheres ermittelt. Der Engländer Bent gewann aus seinen Beobachtungen und Funden die Ueberzeugung, daß die Ruinen jedenfalls aus vormohammedanischer Zeit (also vor dem 7. Jahrhundert n. Chr.) stammten, und zwar legte er ihnen arabischen Ursprung bei. Ein anderer Forscher wendet dagegen mit Recht ein, daß keiner der Schriftsteller des Altertums bis herab zu den Zeiten Mohammeds die leiseste Andeutung enthält, die man auf die rätselhafte Ansiedlung von Zimbabye mit einiger Sicherheit beziehen könnte. Es kommt hinzu, daß[WS 3] seit Herodot auch kein Schriftsteller diese Gegend Afrikas als goldreich erwähnt, während doch die Fundstätten dieses edlen Metalls von alters her sehr wohl bekannt waren. Die Ruinen sind jedenfalls also sehr alt; ihre Erbauung liegt höchstwahrscheinlich vor dem Beginn unserer Zeitrechnung, vielleicht um viele Jahrhunderte.
Eine höchst interessante Beobachtung bleibt aber noch zu erwähnen, auf die Dr. Schlichter in „Petermanns Geographischen Mitteilungen“ besonders hingewiesen hat, weil sie es vielleicht ermöglicht, einen sicheren Anhaltspunkt für das Alter der Bauwerke zu gewinnen. An den Mauern derselben ziehen sich nämlich an gewissen Stellen in horizontaler Richtung bandartige Ornamente hin, scheinbar regellos und ohne Zweck, bald lang, bald kurz, so besonders auffällig in einer Ausdehnung von 73 m an der Außenmauer der runden Ruine (auf unserem Plane von A bis B). Diese Ornamente sind größtenteils gut erhalten und in ihrer Ausdehnung noch genau erkennbar. Sie finden sich nur an solchen Punkten, wo die Sonne bequem beobachtet werden kann, und stehen offenbar in Beziehung mit dem Lauf der Sonne. Eine genauere Untersuchung hat ergeben, daß Anfang und Ende dieser Ornamente zum Teil mit der Kulminationslinie, zum Teil mit dem Auf- und Untergang der Sonne zur Zeit der Sonnenwenden oder der Tag- und Nachtgleichen übereinstimmen. Ferner erhebt sich nördlich der [407] runden Ruine auf dem nahegelegenen Hügel ein Granitblock, der schon durch seine eigentümliche Form auffällt und eine deutliche Marke am Horizont bildet. Die Messungen Bents ergaben, daß durch das westliche Ende des bandförmigen Ornamentes an der Mauer und diesen Felsblock die Meridianlinie genau bestimmt war. Es folgt daraus, daß die Mauer mit den Ornamenten nach der untergehenden Sonne gerichtet ist. Das westliche Ende des Ornaments bezeichnet die Meridianlinie; die mittlere Ebene, die das östliche Ende der Umwallung darstellt, bezeichnet den Untergang der Sonne im Wintersolstiz, und das östliche Ende des Ornamentes giebt die Stellung des Unterganges der Sonne im Sommersolstiz an. Auf der oberen Fläche derselben Mauer stehen ferner, soweit das Ornament läuft, in gleichmäßigen Abständen einzelne hervorragende Steine, und zwar nur an dieser Stelle der Mauer. Es kann daher kaum ein Zweifel sein, daß sie den Zweck hatten, den Lauf der Sonne zu messen und danach die Einteilung des Jahres zu regeln. Auch der große Turm, dessen Bedeutung sonst ziemlich rätselhaft sein würde, da er, wie schon erwähnt, innen massiv ist, diente der Sonnenbeobachtung, denn er steht gerade in der Mitte desjenigen Teiles der Mauer, von dem aus die Sonne von ihrer Kulmination bis zum Untergang das ganze Jahr hindurch beobachtet werden konnte. Die ganze Anlage bildete also ein sogenanntes Gnomon, einen Apparat, mit dessen Hilfe man die Kulminationslinie der Sonne und die Anfänge der Jahreszeiten feststellte; sie diente zugleich der Sonnenmessung und der Jahreseinteilung, wie der religiösen Verehrung der Sonne. Hier haben wir wieder Anknüpfungspunkte, die auf die orientalischen Völker des Altertums hinweisen. Denn diese Völker (wie z. B. die Aegypter und die Babylonier) errichteten vielfach ähnliche Bauwerke. Alles das deutet aber jedenfalls auf eine weit höhere Kultur der unbekannten Erbauer von Zimbabye, als die einheimischen afrikanischen Völker sie je besessen haben, und spricht entschieden für einen nichtafrikanischen Ursprung der rätselhaften Ruinenstätte. Die Annahme, daß wir hier die Reste uralter Kolonien handelstreibender Völker des östlichen Mittelmeeres, etwa der Phönicier, vor uns haben, gewinnt damit erheblich an Wahrscheinlichkeit.
Diese astronomischen Messungsvorrichtungen an der Ruine von Zimbabye sind es nun, die uns eine Aussicht eröffnen, wenigstens das Alter der Bauwerke zu bestimmen, und der Anhaltspunkt dafür ist der Umstand, daß die sogenannte „Schiefe der Ekliptik“, das heißt, die geneigte Stellung der Erdachse zu ihrer Bahn um die Sonne, und damit also auch der Winkel, den die Bahn der Sonne am Himmel während des Jahres mit dem Aequator bildet, sich im Laufe der Jahrhunderte nachweislich nicht unerheblich geändert hat. Und diese Aenderung ist gleichmäßig vor sich gegangen, so daß sie ein Mittel für die Messung großer Zeiträume an die Hand giebt. Der Unterschied beträgt seit den ältesten zuverlässigen Messungen, die uns bekannt sind, etwa 24 Bogenminuten. Da nun der große astronomische Apparat zur Sonnenmessung, den die Ruine von Zimbabye bildet, so gewaltige Dimensionen besitzt, so muß an ihm deutlich und genau zu erkennen sein, wie groß der Winkel war, den die auf- und untergehende Sonne damals, als die Bauwerke errichtet wurden, mit dem Meridian zur Zeit der Sonnenwenden bildete. Dr. Schlichter hat an der Hand der Messungen Bents nachgerechnet und gefunden, daß der Unterschied gegen heute etwa einen halben Grad beträgt. Wir kämen damit auf ein Alter von etwa vier Jahrtausenden. Indessen ist dieses Resultat noch kein sicheres, da die Messungen Bents diesen Gesichtspunkt nicht besonders ins Auge gefaßt haben. Es werden später genauere Messungen besonders zu diesem Zwecke stattfinden müssen, und diese werden vielleicht das interessante Resultat ergeben, daß wir mit Hilfe des astronomischen Apparats, den die rätselhaften, verschollenen Erbauer von Zimbabye zurückgelassen haben, die Zeit feststellen können, in der ihre Kolonie im fernen Südafrika blühte! Dann werden im wahren Sinne des Wortes „die Steine reden, wo die Menschen schweigen“.
Bis jetzt ist also das Rätsel von Zimbabye noch nicht gelöst, und ob es jemals gelöst werden wird, hängt in erster Linie davon ab, ob zukünftige Durchforschungen der Ruinen und des Landes noch andere Ueberreste ans Licht bringen werden, die unwiderlegliche Beweise liefern. Das wären vor allen Dingen Inschriften. Eine einzige Inschrift könnte genügen, um die Frage nach dem Ursprung von Zimbabye zu entscheiden. Noch ist kein Schriftzeichen gefunden. Der Missionar Beuster, der im Jahre 1892 in Zimbabye war, will zwar davon gehört haben, daß Bent eine Steinplatte mit Schrift gefunden habe, indessen ist das anscheinend ein Irrtum; die Hoffnung braucht darum aber noch nicht aufgegeben zu werden, denn nach Bents Forschungen sind die Ruinen von Zimbabye nicht die einzigen ihrer Art. In demselben Gebiet kommen, ebenso vereinzelt wie diese, auch noch an anderen Stellen die Spuren alter Ansiedlungen vor, wenn auch nicht von der Größe wie die zu Zimbabye. Alle sind offenbar gemeinsamen Ursprungs, und sie haben vielfach ähnliche Vorrichtungen zur Messung des Sonnenlaufs wie in Zimbabye.
Ja, Bent hat in der Nähe von Zimbabye in einem Thale die Spuren menschlicher Wohnstätten gefunden, in denen eine sehr zahlreiche Bevölkerung gewohnt haben muß! Vielleicht stehen uns noch große Ueberraschungen bevor, wenn das Land nach allen Richtungen durchforscht wird. Noch ruht vieles im Dunkel. Wer weiß, ob nicht in den Tiefen der Urwälder die Ruinen von Ansiedlungen liegen, die bis heute keines Europäers Auge gesehen hat und die uns ein sicheres Material zur Erforschung dieses unbekannten Gebietes südafrikanischer Menschheitsgeschichte liefern werden.
Blätter und Blüten
Die Internationale Gartenbau-Ausstellung in Dresden. (Zu dem Bilde S. 389.) Der 2. Mai gestaltete sich zu einem Festtage für Dresden; an ihm wurde der lange erstrebte und nunmehr vollendete städtische Ausstellungspalast seiner Bestimmung übergeben und er prangte sogleich in einem frischen, köstlichen Festschmuck; denn in seinen Räumen wurde in Gegenwart des Königs Albert eine internationale Gartenbau-Ausstellung eröffnet. Dresden, in dessen Umgebung nicht weniger als 800 Gärtnereibetriebe sich befinden, ist eins der größten Centren des Gartenbaues auf der Welt und eignet sich darum vorzüglich für derartige Veranstaltungen. Schon im Jahre 1887 hatte dort die erste internationale Gartenbauausstellung stattgefunden, über welche die „Gartenlaube“ gleichfalls berichtet hat. (Vgl. Jahrg. 1887, S. 373.) Die diesjährige fiel noch glänzender aus als ihre Vorgängerin, 393 Aussteller haben diesmal rund 20 000 Quadratmeter Ausstellungsraum in Benutzung genommen. Auch landschaftlich machte sie durch ihre Anlagen im Freien, durch ihre Pavillons und Kioske einen äußerst günstigen Eindruck, da dank dem Entgegenkommen der Behörden ein Teil des berühmten „Großen Gartens“ in ihren Bezirk einbezogen werden durfte. Unsere Abbildung vergegenwärtigt das festliche Bild der Eröffnungsfeier in dem Augenblicke des Rundgangs des sächsischen Königspaares in der großen Haupthalle. Der gewaltige Bau mit seiner aufstrebenden reinen Architektur, mit seinen breiten Galerien und seiner ruhigen symmetrischen Anordnung machte einen überaus günstigen, ja feierlichen Eindruck. Fast die ganze Breite des Innenraumes füllte ein geradliniges, fünfreihiges Azaleenbeet in den verschiedensten und entzückendsten Farben, das von kleineren Azaleen- und Rosengruppen umgeben war. Am nördlichen Ende der Halle befand sich eine leicht geschwungene weiße Balustrade, hinter der sich ein sanft ansteigender prächtiger Palmenhain erhob. Auf einer Treppe gelangte man zu einer aus leichten Birkenstämmen gezimmerten Brücke, die über eine künstliche durch Wasserspiel belebte Schlucht führte. Schon dieses Bild zeugt beredt von dem guten kunstgerechten Geschmack, mit welchem die Ausstellung eingerichtet wurde. Ein weiteres Glanzstück derselben bildete ein prächtiges Diorama, welches Sibyllenort, das in Schlesien gelegene Schloß König Alberts, darstellte. Der Andrang der Besucher war ein äußerst lebhafter; es gab Tage, an welchen 40 000 bis 50 000 Schaulustige sich einstellten, um zu sehen, welche Wunder unser Gartenbau zu schaffen vermag.
Rühmend möchten wir noch eins an dieser Ausstellung hervorheben. Sie diente nicht nur der höheren Gärtnerkunst, sondern war auch bestrebt, die volkstümliche Blumenpflege zu heben. Schon lange vorher hatte man einer großen Anzahl von Schulkindern Pflanzen aller Art zur Pflege übergeben und in Aussicht gestellt, daß die Pfleglinge in der Ausstellung gezeigt werden sollten. In einem besonderen Gewächshause sah man nun die schönsten Blumen, die von Kinderhand gezogen wurden, und bei jedem Topfe lag eine kurze Mitteilung, in welcher der kleine Gärtner die Art, in welcher er die Blumen gepflegt, beschrieb. Sehr gelungen war auch der Normalschulgarten, in welchem auf einem Flächenraum von 1000 qm anschaulich gezeigt wurde, wie man bei Schulen Gärten anlegen soll, damit die Schüler die einheimischen Pflanzen, die nutzbringenden Gemüse- und Obstarten in ihrer Entwicklung kennenlernen. – Es ist schade, daß die Blumen so rasch verwelken und die Gartenbau-Ausstellungen darum nur eine verhältnismäßig kurze Zeit dauern können. So wurde auch die Dresdner bereits am 14. Mai geschlossen. Sicher aber hat sie reichhaltigen Nutzen gestiftet, nicht nur gezeigt, wie hoch der sächsische Gartenbau steht, sondern auch neue Anregungen zum weiteren Fortschritt gegeben. *
[408] Klara Schumann †. Am 20. Mai ist in Frankfurt a. M. eine Künstlerin zur ewigen Ruhe entschlummert, die ein langes reiches Leben hindurch ihre hohe musikalische Begabung unentwegt als eine Priesterin im Tempeldienst der Kunst und Schönheit bethätigt hat. Klara Schumann, in ihrem zehnten Jahre ein vielgefeiertes Wunderkind, in ihrem zwanzigsten eine Meisterin des Klaviers, die Liszts rückhaltlose Bewunderung erregt, und die Braut Robert Schumanns, als dessen Gattin sie dann die verständnisinnigste und seelenvollste Darstellerin seiner Klavierwerke wird, gehört zu den hervorragendsten, edelsten und merkwürdigsten Erscheinungen, welche die Kunst dem deutschen Frauentum zu danken gehabt hat. In der Jugend die Anmut, im Alter die Würde fein empfindender Weiblichkeit auch äußerlich verkörpernd, hatte sie das in der Welt der Kunst seltene Glück, sich auch als Tochter, Gattin und Mutter gerade mit ihrer künstlerischen Wirksamkeit bewähren zu dürfen.
Der Musiker Friedrich Wieck, als dessen Tochter sie am 13. September 1819 in Leipzig zur Welt kam und der ihr im zarten Kindesalter bereits, in welchem andere Mädchen kaum lesen lernen, nach strenger Methode Klavierunterricht erteilte, erlebte in ihrer Pianistenlaufbahn den Triumph seines Strebens. Robert Schumann, mit dem sie sich, achtzehnjährig, verlobte und drei Jahre später – 1840 – nach Ueberwindung schwerer Hindernisse vermählte, gewann in ihr als Musiker nicht bloß die Künstlerin, deren Spiel seinem musikalischen Wesen am meisten gerecht ward: seine Liebe zu ihr und die Liebe, die sie ihm schenkte, weckten in ihm erst den Quell seiner musikalisch-lyrischen Begabung; die ergreifende Empfindungsglut, welche Schumanns unsterbliche Lieder durchströmt, entzündete sich erst an der Sonne dieses von Wolken vielumdrohten Liebesfrühlings. Im innigen Verkehr dieser Künstlerehe, im Wetteifer beider Naturen, sich durch den höchsten Einsatz ihres Könnens ihre Liebe auch als Künstler zu beweisen, erstarkte Robert Schumann erst zum Schöpfer seiner mächtigsten Werke, wie der Faustmusik, gelangte anderseits sie zu der tiefen, innigen Beseelung ihres technisch vollendeten Vortrags der Meisterwerke, welche Beethoven und die anderen Klassiker, welche vor allem ihr Mann und Chopin für ihr Instrument geschaffen. Aber über ihren Studien und Konzertreisen, die seinen Ruhm mit dem ihrigen immer enger verschmolzen, vernachlässigte sie die Pflichten nicht, die ihr aus dem Haushalt, die ihr als Mutter erwuchsen. Während die unheimliche Krankheit, die den genialen Mann schon 1856 dem Leben entriß, ihre Schatten über sein Gemüt breitete und überempfindlich machte für jede rauhe Berührung mit der Außenwelt, hielt sie ihm, erst in Leipzig und Dresden (1840–1850), dann in Düsseldorf, wohin er als städtischer Musikdirektor berufen ward, musterhaft Haus. Und als sie in späteren Jahren nach dem Tode ihres Mannes begann, ihrer Kunst auch als Lehrerin zu dienen, da war es ihr vergönnt, zwei ihrer Töchter so heranzubilden, daß sie ihr bei zunehmendem Alter beistehen konnten in der Ausübung ihres Amtes als erste Klavierlehrerin am Hochschen Konservatorium zu Frankfurt a. M, das sie 1878 übernahm und bis vor wenigen Jahren mit schönstem Erfolg verwaltete. In Frankfurt gab sie auch die Jugendbriefe ihres Gatten heraus und revidierte aufs pietätvollste die Gesammtausgabe seiner Werke. Zu größeren Konzertreisen entschloß sie sich immer schwieriger; doch konnte sich die große Frankfurter Gemeinde ihrer Verehrer noch alljährlich an ihrem wunderbar lauteren Klavierspiel erfreuen, bis schweres Leiden die einst von Grillparzer besungene feine weiße Hand lähmte, die in der Welt der Töne über sechzig Jahre lang die einer zaubergewaltigen Herrscherin gewesen war. J. P.
Ringfahren in Schleswig-Holstein. (Zu dem Bilde S. 393.) Wenn in Schleswig-Holstein die Frühlingssaat bestellt ist, dann folgen für den Landmann ein paar Wochen, in denen die Arbeiten auf Feld und Hof weniger hart drängen als sonst. In dieser Zeit werden allerlei Versammlungen und Lustbarkeiten veranstaltet, im besondern das sogenannte Ringreiten, das am großartigsten noch alljährlich auf dem Kreisringreiterfest zu Sonderburg auf Alsen abgehalten wird. Dort kommen die wohlhabenden Bauernsöhne von der fruchtbaren Insel und aus dem ganzen Sundewitt zusammen, um zwei Tage lang im Wettspiel um zumeist recht wertvolle Preise zu kämpfen.
Einfacher geht’s in den schleswig-holsteinischen Dörfern her, wo sich heutzutage am Ringreiten weniger die Bauern und Bauernsöhne als vielmehr die Hofknechte beteiligen. Freilich, vergnügt ist man auch hier bei diesem alten Spiel! Von dem inmitten des Dorfplatzes errichteten, reich bekränzten Ehrenbogen hängt, locker eingeklemmt, der eiserne Ring herab; und nun gilt’s, denselben zu Pferd in vollem Galopp mittels einer Lanze von der Gestalt eines Billardqueues herabzustechen. Wer den Ring am häufigsten gewinnt, ist Sieger und hat, von meist bescheidenen Gewinnen abgesehen, abends den Vortritt beim Tanz als ruhmgekrönter König.
Den Tanz thatenlos abzuwarten, haben nun die Vertreterinnen des schönen Geschlechtes seit alters her nicht überall Lust und Neigung gehabt, und so ist’s gekommen, daß aus vielen Dörfern neben dem Ringreiten der Knechte ein Ringfahren der Mägde zum ständigen Brauch wurde. Die Zurüstung zu demselben ist ebenso einfach wie originell. Vom Hintergestell eines Ackerwagens wird das eine Rad entfernt und die Achse senkrecht in die Erde gegraben, so daß das zweite Rad über einen Meter hoch wagerecht über dem Erdboden liegt. Auf dieses Rad wird, nach beiden Seiten gleich weit über dasselbe hinausragend, eine starke Leiter gebunden, an jedem Ende derselben ein leichter Stuhlwagensitz befestigt und – das Karussell ist fertig. Wie auf unserem Bilde ersichtlich, werden am Rande desselben zwei laubgeschmückte Galgen errichtet, von denen je ein lose eingeklemmter eiserner Ring herabhängt. Zwei Mägde besteigen gleichzeitig die Fahrstühle; mit Vergnügen ist die Schuljugend bereit, die bewegende Kraft zu liefern, und unter Juchen und Kreischen beginnt die schwindelnde Rundfahrt, während welcher die Schönen bemüht sind, mit kurzen, dolchartigen Stäben die Ringe herabzustechen.
Dem ersten Paar folgt das zweite, das dritte etc., Siegerin ist diejenige, die am häufigsten den Ring traf. Die Königin wird geschmückt, mit einem Stück Zeug zu einem neuen Kleide beschenkt und hält mit dem König, dem Sieger in dem Ringstechen der Burschen, Einzug in den Saal des Dorfkrugs. Drei Tänze darf hier das Königspaar vor den Augen der gesamten Gesellschaft mit souveräner Bestimmung des Musikstückes tanzen; dann aber beginnt für den Rest des Abends ein lustiges Durcheinander, bis endlich der Gendarm erscheint und dem Ringreiterfeste durch Gebieten der Polizeistunde ein Ende macht. G. H.
Ein Kochbuch für Magen- und Darmkranke. Die Krankheiten der Verdauungsorgane sind ungemein verbreitet und selbst, wenn sie nur in schwächeren Graden auftreten, sind sie geeignet, den Körper herunterzubringen und dem Kranken Arbeitslust und Lebensfreude zu benehmen. Darum ist auch eine gründliche, sichere Heilung erzielende Behandlung solcher Leiden seit jeher dringend erwünscht gewesen. Die medizinische Wissenschaft hat in dieser Hinsicht in der jüngsten Zeit große Fortschritte gemacht. Nachdem man die Vorgänge bei der Verdauung besser erkannt und neue Methoden für Magen- und Darmuntersuchung ersonnen hat, ist der Arzt imstande, Heilmittel mit größerer Sicherheit zu verordnen, vor allem aber die Diät der Kranken zweckmäßig zu regeln. Die Diät ist ja bei allen diesen Leiden die Grundlage aller Behandlung: unpassende Nahrungsmittel können die Krankheit verschlimmern, während eine zweckmäßige Ernährung vielfach schon allein genügt, um die Heilung herbeizuführen. So ist die Küche in der That für den Magenkranken oft wichtiger als die Apotheke. Darum ist bereits eine ganze Anzahl von Büchern und Büchlein erschienen, die den Zweck verfolgen, Belehrung über richtige Ernährung solcher Kranken zu verbreiten. Neuerdings ist ein wertvolles Werk dieser Art hinzugekommen: „Diätetik und Kochbuch für Magen- und Darmkranke“ von Professor Dr. Th. Biedert[WS 4] und Dr. E. Langermann (Stuttgart, Ferdinand Enke). Das Kochbuch ist ursprünglich zum eigenen Nutzen des erstgenannten Verfassers, der selbst magenleidend war, geschrieben worden.
In erweiterter Form ist es im Druck erschienen und soll nun der Allgemeinheit dienen. Es klärt den Leser über die wichtigsten Magen- und Darmleiden auf, bespricht die Grundsätze der Diät und giebt schließlich eine große Anzahl von Kochrezepten an, die in verschiedenen Erkrankungsfällen zur Anwendung kommen können. Es ist dabei dafür gesorgt, daß in länger dauernden Krankheitsfällen eine Abwechslung in der Wahl der Speisen stattfinden kann. Außerdem aber besitzen diese Speisezettel einen besonderen Vorzug. Stets ist bei ihnen der Nährwert der Nahrungsmittel in Betracht gezogen. Der Kranke erhält somit in den empfohlenen Speisen die zur Erhaltung des Körpers nötige Menge von Nährstoffen, wobei aber alle etwa schädlichen Speisen und Zusätze vermieden werden. – Das Buch ist für Aerzte und Kranke geschrieben worden. Den letzteren kann es in der That große Vorteile bringen, namentlich, wenn Kranke oder deren Pfleger über die Wahl der entsprechenden Diätform mit dem Arzte, der den Kranken behandelt, sich einigen. *
Ein Versuch mit der Kneipp-Kur. (Zu dem Bilde S. 401.) Unsere heutigen Leser verstehen dieses Bild ohne Erklärung: von Hamburg bis Melbourne ist die Kneipp-Kur ein wohlbekannter Begriff. Aber was werden sich die etwa im Jahr 1950 in alten Bänden der „Gartenlaube“ blätternden Leser von den beiden, mit nackten Füßen im Morgentau wandelnden Modedamen denken? Wird bis dahin noch eine Erinnerung bestehen an den bäuerischen Pfarrherrn, der den Civilisationssünden der oberen Zehntausend so energisch zu Leibe rückt und die verzärteltsten Großstadtmenschen mit kalten Güssen, Barfußlaufen und frugaler Bauernkost zur Mutter Natur zurückführt? Oder wird die Kneipp-Kur dann so verschollen sein wie heute die früheren Wunderkuren, auf die man vor sechzig Jahren schwor? Möglich ist’s wohl, deshalb bringen wir heute in der Blütezeit von Wörishofen das Bild dieser mit gruseligem Behagen über die nassen Wiesen schreitenden Dämchen: so haben im Jahr 1896 die Patientinnen des Pfarrers Kneipp wirklich und wahrhaftig ausgesehen! Bn.
Inhalt: Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer. S. 389. – Die Eröffnung der Internationalen Gartenbau-Ausstellung in Dresden am 2. Mai 1896. Bild. S. 389. – Das Ringfahren auf dem Lande in Schleswig-Holstein. Bild. S. 393. – Rätselhafte Blitzerscheinungen. Von M. Hagenau. S. 395. – Das Kaiser Wilhelm-Denkmal auf dem Kyffhäuser. Von Hermann Ferschke. S. 396. Mit Abbildungen S. 396 und 397. – Der Kyffhäuser mit dem Denkmal Kaiser Wilhelms I. und dem Barbarossaturm. Bild. S. 397. – Fata Morgana. Roman von E. Werner (Schluß). S. 398. – Ein Versuch mit der Kneipp-Kur. Bild. S. 401. – Dunkle Gebiete der Menschheitsgeschichte. Von Dr. P. Schellhas. Die Ruinen von Zimbabye. S. 404. Mit Abbildungen S. 405 und 406. – Blätter und Blüten: Die Internationale Gartenbau-Ausstellung in Dresden. S. 407. (Zu dem Bilde S. 389.) – Klara Schumann †. Mit Bildnis. S. 408. – Ringfahren in Schleswig-Holstein. S. 408. (Zu dem Bilde S 393.) – Ein Kochbuch für Magen- und Darmkranke. S. 408. – Ein Versuch mit der Kneipp-Kur. S. 408. (Zu dem Bilde S. 401.)
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Beilage zu No. 24. 1896.
Friedrich Dittes †. Unter den Schulmännern der Neuzeit, die sich um die Hebung der Volksschule besondere Verdienste erworben haben, nimmt Friedrich Dittes, der nach langem Leiden am 15. Mai in Wien sein arbeitsreiches Leben beschlossen hat, einen hervorragenden Rang ein.
Er war am 23. September 1829 zu Irfersgrün im sächsischen Vogtlande geboren und zunächst als Volksschullehrer thätig. Bald aber erweiterte er durch eifriges Studium seinen Wissenskreis derart, daß er im Jahre 1865 Direktor des Lehrerseminars in Gotha und Schulrat in der Unterrichtsabteilung des dortigen Ministeriums wurde. Auf Lehrerversammlungen und als Schriftsteller trat er lebhaften Geistes für die Hebung des Volksschulwesens und größere Durchgeistigung des Unterrichts ein; so gab er den Anstoß zur Reform der sächsischen Lehrerseminare. Sein Ruf als Pädagoge verbreitete sich rasch über die Grenzen seiner Heimat. Im Jahre 1868, in welchem auch sein „Grundriß der Erziehungs- und Unterrichtslehre“ erschien, wurde Dittes nach Wien berufen, wo er das neu errichtete Lehrerpädagogium in mustergültiger Weise organisierte und später im Landesschulrate und auch im Reichsrate als Vertreter Wiens thätig war. Doch veranlaßten ihn amtliche Konflikte, die seine liberale Richtung ihm zuzog, schon 1881 seine Pension zu nehmen. Seine zahlreichen Schriften wie das von ihm herausgegebene „Pädagogium“ haben einen bedeutenden Einfluß auf die deutsche Lehrerwelt ausgeübt.
Das Landesgewerbemuseum in Stuttgart. Im Jahre 1850 zog in Stuttgart in die Legionskaserne, einen alten, weitläufigen, aber etwas düster dreinschauenden Bau an der Ecke der Königs- und Marienstraße, eine neue Schöpfung ein. Es war das württembergische Landesgewerbemuseum, das erste Institut dieser Art in Deutschland. Trefflich geleitet, wurde es bald allen Hoffnungen, die man auf seine Gründung gesetzt hatte, gerecht, und sein Ruf drang weit über die Grenzen des Schwabenlandes hinaus. Nach allen Seiten hin spendete es die reichhaltigste Belehrung und gab immer neue Anregung zu rüstigem Schaffen in Handel und Gewerbe. Kein Wunder, daß nach Jahrzehnten, da die Bedeutung des Instituts sich der allgemeinen Anerkennung erfreute und seine Sammlungen in ungeahntem Maße herangewachsen waren, die maßgebenden Kreise es als ihre Ehrenpflicht erachteten, dem so berühmt gewordenen Landesgewerbemuseum ein neues, würdiges Heim zu bereiten. In der That scheute man kein Opfer und schuf einen Prachtbau, der nunmehr in seinen freundlichen, lichten Räumen die Schätze des heimischen Gewerbefleißes bewahrt. Nach dem Entwurf des genialen Architekten Skjöld Neckelmann, der als Professor an der Stuttgarter Hochschule wirkt, und unter dessen Leitung ist der Monumentalbau in prächtigem lichtgelben württembergischen Keupersandstein errichtet. Eine Fläche von 7056 qm bedeckend, erhebt er sich, in schönen kraftvollen Formen der Spätrenaissance gehalten, zwischen der Canzlei-, Schloß-, Linden- und Hospitalstraße und würde noch mehr zur Geltung kommen, wenn ihm ein freierer Platz gewährt worden wäre. An den langen Straßenfronten des Gebäudes wirken die Kuppelbauten in den Ecken, Säulen und Pfeiler, sowie zahlreiche sinnbildliche Figuren außerordentlich belebend. Auch die inneren Räume zeichnen sich bei aller Rücksicht auf die Zweckmäßigkeit durch einen Anmut und Würde vereinenden Schwung aus. Die edle künstlerische Anordnung tritt namentlich in dem Vestibüle, der Haupttreppe und dem großen Lichthof zum Vorschein. Letzterer, „König Karls-Halle“ genannt, mit einem Wandgemälde von Ferdinand Keller geschmückt, hat 600 qm Bodenfläche und dient den Ausstellungszwecken. Die feierliche Eröffnung des neuen Landesgewerbemuseums fand am 6. Juni statt; sie wurde mit einer Ausstellung für Elektrotechnik und Kunstgewerbe verbunden, über die wir in einer unsrer nächsten Nummern ausführlicher berichten werden.
Das Ranke-Denkmal in Wiehe. Gelegentlich der Feier des hundertsten Geburtstages des großen Geschichtsforschers Leopold v. Ranke, der am 21. Dezember vorigen Jahres begangen wurde, haben wir in der „Gartenlaube“ (vergleiche Jahrg. 1895, S. 872) auch des Einflusses gedacht, den der Geburtsort des Gelehrten auf dessen geistige Entwickelung ausgeübt hat. Die Stadt Wiehe, die sich rühmen kann, Leopold v. Ranke ihren Sohn zu nennen, hat nunmehr das Andenken an ihn durch ein Denkmal verherrlicht, zu dessen Errichtung Beiträge aus ganz Deutschland, namentlich von den Universitäten, vor allem aus Jena und Halle, ja selbst aus dem Auslande eingegangen sind. Die Einweihung desselben fand am 27. Mai statt. Vertreter der Regierung, sowie einige Mitglieder der Familie v. Ranke haben an ihr teilgenommen. Der Historiker Professor Dr. Theodor Lindner aus Halle a. d. Saale hielt die Weiherede, welche die unvergänglichen Verdienste Rankes beleuchtete. Das Denkmal, dessen Abbildung wir obenstehend bringen, besteht aus einem viereckigen Sockel von rotem schwedischen Granit mit der Bronzebüste des Gefeierten, die Stufen sind von grauem Syenit. Die Büste ist nach einem von Professor Drake geschaffenen kleineren Modell von Schimmelpfennig in größerem Maßstabe ausgeführt. Das Denkmal ist auf dem Platz neben dem Rathause aufgestellt und macht einen überaus vorteilhaften Eindruck. Es trägt die einfache Inschrift: „Leopold v. Ranke, geboren am 21. Dezember 1795 zu Wiehe“.
[408 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Seite der Nummern-Ausgabe; in der Halbheft-Fassung S. 140.
- ↑ Vorlage: Namen
- ↑ Vorlage: das
- ↑ Nicht „Th.“, sondern Ph(ilipp) Biedert ist der Mitautor des Werkes.