Die Gartenlaube (1896)/Heft 32

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 32.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Der laufende Berg.

Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer.

     (8. Fortsetzung.)

8.

Purtscheller trat in die Stube, lächelnd und in bester Laune.

Devot erhob sich Rufel und machte eine tiefe Verbeugung. „Seien Se so gefällig anzunehmen den Ausdruck meiner Verehrung, Herr Purtscheller!“

Der Hausherr sah den Alten belustigt an, schüttelte den Kopf und lachte. „Ihr Juden seid doch merkwürdige Kerln! Wenn sich einer bei der Nasen kratzen will, greift er hint’ um den Kopf ’rum, statt wie andere Leut’ grad’ ins G’sicht! … Ein anders Mal sagen S’ kurzweg Grüß Gott! Ich kann solche Sprüch’ net leiden.“

Wieder verbeugte sich Rufel. „Um es Ihnen recht zu machen, erlauben Se gefälligst, daß ich in aller Kürz’ Ihnen sag’: Grüß Gott!“

„Lassen Sie’s gut sein. Sie lernen ’s doch net!“ Lachend ging Purtscheller hinter den Ofen, um den Sammetflaus gegen eine leichte Hausjacke zu vertauschen.

Dabei half ihm Karlin’ und fragte leis: „Was is denn mit dem Bräunl?“

„Ah was! Gar nix von Bedeutung! Ein bißl in’ kalten Dampf is er halt ’kommen, ’s Frottieren und der Cognac hat ihn schon wieder z’samm’g’richt’! Ganz musper schaut er schon wieder drein! Ja, da is mir ein Stein vom Herzen!“

In dieser erleichterten Stimmung reichte Purtscheller, als er zum Tisch ging, dem Juden mit gnädiger Herablassung die Hand. Freilich wischte er sie gleich wieder an der Hüfte ab.

Die Magd brachte die dampfende Suppenschüssel und stellte sie auf den Tisch.

„Was sagen S’, Rufel! Wie bei mir alles am Schnürl geht! Kaum setzt der Herr ein’ Fuß in d’ Stuben, so heißt’s schon: Tischerl deck Dich! Da könnt’ sich gar manche Wirtschaft ein Beispiel dran nehmen.“ Purtscheller klopfte seine Frau auf die Wange. „Brav, Linerl! … Ja, Rufel, so ein Frauerl hat net jeder!“

„Da haben Se recht, Herr Purtscheller!“ Rufel zog die beiden Daumen ein. „Gott soll Ihnen die Frau erhalten bis zu hundert Jahr!“

Karlin’ errötete. Wie hübsch sie aussah in dieser Freude und verlegenen Scham!

Da gewahrte Purtscheller die beiden Gedecke auf dem Tisch. „Aber Linerl! Hast schon wieder net Mittag g’macht! Und jetzt is halber viere. Wie oft muß ich Dir denn sagen: Du sollst net warten auf mich! Es thut Dir net gut!“

„Aber schau, mir schmeckt’s halt net, wenn Du net dabei bist!“

„No ja! Sein’ Mann gern haben, is ja recht! Aber unvernünftig muß man deswegen doch net sein! Und schau … jetzt kannst Dich auch net hersetzen zu mir. Ich hab’ mit ’m Rufel wichtige Sachen z’reden, und bei G’schäften hab’ ich d’ Weiberleut’ net gern dabei, das weißt ja doch!“

„Es eilt nix, Herr Purtscheller,“ fiel Rufel ein, „ich kann warten, bis die liebe gute Frau gegessen hat!“

„Na, na, um Gott’swillen,“ sagte Karlin’, „laß Dich meintwegen net stören, Toni! Ich kann ja später essen oder drunt in der Kuchl!“ Sie ging zur Kammerthüre.


Ernst Curtius.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph J. Baruch in Berlin.

[534] „Wohin denn? Da drin kannst doch net bleiben.“

„Ich will nur ’s Tonerl nunter tragen. ’s Büberl schlaft und könnt’ aufwachen, wenn ein bißl laut g’redt wird … und da müßt’ ich eh wieder ’rein in d’ Stuben.“ Karlin’ trat in die Kammer und brachte auf ihren Armen den kleinen Burschen getragen, der sich nur halb aus dem Schlaf ermuntert hatte.

„Geh, gieb ihn ein bißl her!“ sagte Purtscheller.

Karlin’ zögerte. „Schau, er hat net ausg’schlafen, und da greint er leicht …“

„Ja soll ich denn gar nix von mei’m Buben haben! Seit in der Fruh hab’ ich ihn nimmer g’sehen! Her damit!“ Purtscheller nahm den Kleinen, kitzelte ihn neckend am Hälschen und unter den Armen, warf ihn in die Luft und fing ihn lachend wieder auf – ein Spiel, für das sich Tonerl mit ängstlichem Zetergeschrei bedankte. „Richtig! Da heult er schon wieder, kaum daß ich ihn angreif! … Karlin’ … mein Bub’ is das net! Das is der Deinig! Da hast ihn, den Schreihals! Trag’ ihn davon!“

Schweigend nahm Karlin’ das Kind auf ihre Arme, küßte ihm die nassen Augen, schmiegte das vor Schluchzen zuckende Köpfchen an ihre Brust und verließ die Stube.

„So!“ sagte Purtscheller und schob sich hinter den Tisch. „Fangen wir gleich an. In G’schäftssachen hab’ ich’s lange Rumreden net gern. Wer sein’ Sach’ versteht, macht kurze Wörtln. Also …“ Er steckte die Serviette vor die Brust und füllte seinen Teller mit Suppe. „Mögen S’ mitessen, Rufel?“

„Ich dank’ schön, Herr Purtscheller, ich eß nix!“

„Ah ja, richtig, Sie dürfen ja nur aus Ihre koscheren Haferln schlecken!“ Purtscheller lachte. „Hören S’, Rufel, so was sollt’ im neunzehnten Jahrhundert doch ein überwundener Standpunkt sein! … Aber ein Glaserl Wein?“

„Ich dank’ schön, Herr Purtscheller, ich trink’ nix!“

„So lassen Sie’s bleiben!“ Purtscheller leerte das Glas und begann zu essen. „Also … daß wir zum G’schäft kommen … ich will Ihnen was verdienen lassen.“

Rufel verbeugte sich, daß sein Kinn die auf dem Hakenstock ruhenden Hände berührte. „Soll mir e Vergnügen sein, wenn e Geschäft sich machen läßt.“

„Was der Berg da droben für Sachen aufführt, das werden S’ ja g’hört haben!“

„Hab’ ich gehört und gesehen! Daß Gott erbarm’! Die armen Leut’ da droben!“

„Ja! Ein Jammer! … Und mein schöner Wald schaut aus, daß mir ’s Herz bluten möcht’! Ein paar hundert Stämm’ hat’s mir schon g’worfen. Und wenn ich net im Frühjahr noch mehr verlieren will, muß ich den ganzen Wald im Winter abtreiben lassen. Ich selber hab’ kein’ Zeit für so was. Drum hab’ ich Ihnen kommen lassen und frag’: wissen S’ mir kein’ Holzhändler, der die ganze G’schicht’ bei Butz und Stingel übernimmt und ’s Geld gleich bar und blank auf ’n Tisch hinzahlt? Sechzigtausend Mark kann einer leicht geben für so ein’ Prachtwald! Die schlagt er ’raus ohne Müh und hat noch sein’ fetten Profit dabei! Also? Wissen S’ mir net so ein’ Kerl? Fünf Prozent kriegen S’ Provision!“

Rufel schwieg.

„No also! Reden S’!“

„E halbes Perzent bin ich gewöhnt bei en ehrlichen Vermittlungsgeschäft. Nu wollen Se mir geben fünfe. Hätt’ ich dreitausend Mark von der Sach’! Wär’ e schön’s Geld für den alten Rufel! … Nur schad! Die Sach’ wird sich nix machen lassen!“

Purtscheller schien nach diesem Einwand das höfliche „Sie“ für überflüssig zu halten. „Du alter Narr, Du! Ja warum denn net?“

„Alt bin ich,“ sagte Rufel in aller Ruhe, „aber nix e Narr, sondern e vernünftiger Mensch, der Augen im Kopf hat und weiß, was e Geschäft is!“

„No also, warum soll sich denn so ein G’schäft net machen lassen?“

„Weil sich nix e Holzhändler wird finden, der für e so en Wald sechzigtausend Mark giebt.“

„Ah, was Du net sagst!“ Lachend leerte Purtscheller das Glas und füllte es wieder. „Da bin ich neugierig! Also? Wie viel denn meinst, daß einer geben möcht’?“

„Für fünfzehntausend trau’ ich mir das Geschäft zu machen.“

Purtscheller wollte aufbrausen – aber da kam die Magd mit der Bratenschüssel. Und bei der Musterung des wohlduftenden Gerichtes verrauchte Purtschellers Aerger. Als die Magd wieder gegangen war, sagte er lachend: „Weißt, mein Lieber, da red’ ich gleich gar nimmer weiter! Wenn Du das G’schäft net machst, so macht’s ein anderer!“

„Gott soll Ihnen so en andern finden helfen!“

„Und net ein’ Knopf laß ich nach! Meine sechzigtausend Mark muß ich haben! Ich brauch’ s’!“

„Sechzigtausend brauchen Se?“ fragte Rufel halb lächelnd und halb erschrocken. „Hab’ ich doch geglaubt, Se brauchen nur achtundvierzig?“

Purtscheller wurde rot über das ganze Gesicht; doch er spielte den Verwunderten. „Wieso?“

„Nu! Weil Se doch müssen löschen an Neujahr die Hypothek vom Schloßbräu!“

„Ja Herrgott sakra …“ Purtscheller warf Gabel und Messer vor sich hin, daß von seinem Teller die Bratensauce über das Tischtuch spritzte. „Hat er sein’ Bubenstreich schon austrommelt in der ganzen Gegend? In Verruf möcht’ er mich vielleicht auch noch bringen … nach der Bosheit, die er mir an’than hat aus lauter Wut, weil mein Bräunl sein’ Schimmel g’schlagen hat!“

„Regen Se sich nix auf, Herr Purtscheller! Und reden Se, bitt’ ich, nix so laut! Ihre gute Frau da drunten und die Dienstleut’ brauchen nix zu hören, was für e Dischkurs wir haben. Und betrachten Se gefälligst, bitt’ ich, die Sach’ mit en ruhigen und offenen Aug’. Der Schloßbräu hat Ihnen die Hypothek nix gekündigt aus Bosheit … er hat Se gekündigt aus Angst, weil er sein Geld zu verlieren fürcht’.“

„Angst! Ah, da schau! Das wär’ mir ja noch das schöner’!“ Purtscheller schien sich wirklich nicht mehr aufzuregen. Er setzte Gabel, Messer und Zähne wieder in Bewegung und sagte mit aller Gemütsruhe: „Geh, thu’ mir den G’fallen, zieh’ Dein Schmierkappl aus ’m Sack und fahr’ ab! Wir zwei haben ausg’redt!“

Rufel lächelte und blieb sitzen. Nach einer stummen Weile sagte er mit seiner sanftesten Stimme: „Die Hypothek müssen Se löschen an Neujahr. Also müssen Se das Geld auftreiben. Und wenn Se von mir gefälligst anhören wollen e gutgemeintes Wörtl, so versprech’ ich Ihnen, daß ich das Geld beschaffen will.“

„Aaah! Pfeifst jetzt aus ein’ andern Klarinettl … weil D’ merkst, daß Deine Schreckschüss’ net verfangen bei mir? Also! Red’?!“

„Sie brauchen zum Löschen, die Kosten eingerechnet, fünfzigtausend Mark! … Warum also wollen Sie sechzig? Noch zehne auf den Hof laden?“

„Weil ich Verbesserungen einführen will in der Wirtschaft!“ sagte Purtscheller, wobei er die Gabel mit einer großen Armbewegung durch die Luft schwang. „Mein Hof könnt’ um d’Hälfte mehr tragen als die letzten Jahr’!“

„Da haben Se recht!“

„Der alte Schlendrian muß aufhören!“

„Da haben Se wieder recht! Freut mich, daß Sie das einsehen!“

„Wenn der Bauer net den Fortschritt mitmacht, is er g’liefert! Er muß sich halt auch ein bißl nach der neuen Zeit richten.“

Rufel sah den Großsprecher mit enttäuschten Augen an. „Ach so? … Hab’ gedacht, daß Sie das schöne Wörtl vom Schlendrian anders meinen … thut mir leid, daß ich mich verhört hab’.“ Er schnitt eine schmerzliche Grimasse. „Und lassen Se mich, bitt’ ich, mit der neuen Zeit in Ruh’! Wirtschaften Se lieber, wie Ihr Vater, Gott soll ihn selig haben, gewirtschaftet hat, und alles wird gut sein!“

„Mein Vater? So? Wer hat denn die Hypothek ’nauf’druckt auf ’n Hof?“

Kaum hatte Purtscheller das gesagt, als er zu merken schien, daß er mit diesem Wort an die falsche Adresse geraten war. Er brummte etwas vor sich hin und nahm ein Stück Braten aus der Schüssel; dann hob er verlegen die Augen – und was der stumme Blick des alten Mannes zu ihm redete, trieb ihm das Blut ins Gesicht.

„No ja …“ stotterte er und stieß den Teller von sich, als wäre ihm der Appetit vergangen. „Reden wir lieber vom G’schäft!“

„Gut! Reden wir vom Geschäft! Und lassen Se mich jetzt in Ruh’ e bißl sagen, wie ich es mein’ …“

„No also, in Gott’snamen, reden S’ halt!“ Purtscheller erhob sich, grub die Hände in die Hosentaschen, trat zu einem Fenster [535] und starrte verdrießlich durch die von rotem Weinlaub umgitterten Scheiben hinaus.

„Das Geld brauchen Se! Nix sechzig … aber fufzigtausend Mark. Und denken Se dabei nix an den armen Wald da droben. Für den kriegen Se, wie heut’ die Sachen stehn, keine vierzig, keine dreißig, keine zwanzig mehr!“

„Daß ich net lach’!“

„Ich hab’ gedacht, daß Se mich wollen reden lassen? … Wer den Wald heut’ kaufen soll, der schaut sich nur zur Hälft’ den Wald, zur anderen Hälft’ den meschuggenen Berg an. Was heut’ noch steht … wer sagt ihm, daß es auch morgen noch stehen wird? Vor dem Winter, eh’ nix der Boden gefroren is, kann er nix anfangen zu schlagen … und bis zum Frühjahr kann er das ganze Holz nix herunterbringen ins Thal. Und da liegt nu das geschlagene Holz auf dem laufenden Boden … und wo steht’s geschrieben und protokolliert, daß im Frühjahr, wenn, Gott behüt, de großen Wasser kommen, der laufende Boden nix einschluckt die schönen Stämm’ und die fertigen Klaftern?“

Purtscheller drehte sich vom Fenster und warf die Jacke von der Brust zurück, als wäre ihm heiß geworden. „Jetzt hab’ ich’s aber g’nug … das unsinnige G’red’ da! Gelt? Möchtest mir den Wald gern abdrucken um ein’ Pappenstiel! Aber da brennen S’ Ihnen, mein verehrter Herr Jud! Ich brauch’ kein’ Holzhandler nimmer … so ein’ Rauberskerl! Jetzt treib’ ich den Wald selber ab … jetzt grad’ mit Fleiß … bloß daß ich beweisen kann, wieviel einer aus dem Wald noch ’rausbringt!“

Stolpernde Schritte kamen über die Treppe herauf, und in die Stube trat ein alter Knecht, atemlos, das Gesicht mit Schweiß bedeckt. „Herr Purtscheller …“

„Um Gott’swillen, was is denn? Wo kommst denn her?“

„Im Wald bin ich droben g’wesen … D’ Frau hat mich ’nauf g’schickt, ein bißl nachschauen … und schlecht schaut’s aus … schlecht, Herr! Ein Paar Tagwerk Holz sind ins Laufen ’kommen … und ich schätz’ auf tausend Klaftern, was der Boden im Nachrutschen zu’deckt hat.“

Fahle Blässe rann über Purtschellers Gesicht. So stand er ein paar Sekunden schweigend und ratlos. Dann schoß ihm das Blut wieder in die Stirne, und mit aufbrausendem Zorn, als wäre der Bote an dem Unglück schuld, fuhr er auf den Knecht los und schrie ihn an: „Du Depp, Du gottverlorener! Wie kannst mir denn jetzt g’rad ins Haus fallen … mit so einer Nachricht!“

„Aber Herr …“

„’Naus, sag’ ich! Mein’ Fried’ will ich haben!“ Und als der Knecht erschrocken über die Schwelle zurückwich, packte Purtscheller die Thüre und warf sie ins Schloß. „Alles kommt über mich! Alles! Alles!“ Da war ihm nun plötzlich das Weinen näher als das Schelten. Zitternd an allen Gliedern ging er zu einem Lehnstuhl und ließ sich in die Polster fallen.

Rufel hatte sich erhoben; er war blaß und schien nicht zu wissen, was er sagen sollte. Zögernd schlich er gegen den Lehnstuhl und räusperte sich.

Purtscheller blickte auf. „Du? So? Du bist noch allweil da?“

„E harter Schlag, mein lieber Herr Purtscheller, der Sie da hat getroffen. Aber er soll nix ändern an dem, was ich Ihnen hab’ sagen wollen! Und nu erlauben Se gefälligst, daß ich Ihnen meinen Rat …“

„Ich brauch’ kein’ Rat! Von gar kei’m Menschen net!“

Purtscheller sprang auf. „Und wenn alles über mich kommt, der Berg und der Schloßbräu und die ganze knoflige Judenschaft … der Purtscheller macht ein’ Ruck, und grad’ steht er da, daß ihm keiner net ankann!“

Rufel verlor seine Ruhe nicht. „Ja, Herr Purtscheller, machen Se den Ruck! Und lassen Se den Knofel in Ruh’ … Knofel is en unschuldig Gewächs … hören Se lieber an, was ich Ihnen sagen will.“ Geduldig ging er Trittlein um Trittlein hinter Purtscheller her, der in kochendem Zorn durch die Stube wanderte. „Ich verschaff’ Ihnen die fufzigtausend zu ehrlichen Zinsen, damit Sie löschen können die Hypothek. Und was Se sonst noch schuldig sind, soll bezahlt werden. Aber den armen Wald da droben wollen wir lassen in Ruh’. Was an Holz schon liegt, machen wir im Winter zu Geld und tragen ein schönes Bröckl ab von der Hypothek. Was aber droben stehen bleibt, wollen wir lassen stehen. So schneiden Se nix ins Fleisch Ihr Kind und Ihre Kindeskinder … die brauchen auch noch e bißl e Holz. Und nu passen Se emal auf … aber bitt’ ich, schreien Se nix gleich wieder e so! De Leut’, von denen ich will beschaffen das Geld, verlangen e bißl e Sicherheit, daß der Hof, so lang’ se drauf liegen haben ihre Hypothek, nix wird entwertet, und daß de Zinsen werden in der Ordnung bezahlt … nix e so, wie die letzten Jahr’ her, wo der Herr Schloßbräu gehabt hat ein’ Verdruß um den andern … verzeihen Se gefälligst!“

„No ja! Ein bißl Stockung kann doch überall eintreten!“

„E Stockung kann eintreten! Da haben Se recht! Aber so e Stockung kann auch werden vermieden! Und nu weiß ich, Se sennen e feiner und e vornehmer Mann, Herr Purtscheller!“ Rufel lächelte zufrieden, als er die Wirkung dieses Komplimentes gewahrte. „Und so e feiner Mann kann sich nix abgeben mit der groben Bauernarbeit … und soll lassen arbeiten die andern!“

„’s erste g’scheite Wörtl, das ich hör’!“ sagte Purtscheller besänftigt.

„Nu also! Und da können Se doch nix einwenden, wenn ich sag’: ich will en tüchtigen, verläßlichen Menschen besorgen, dem Se de Wirtschaft vertrauensvoll übergeben können!“

„Was! Soll ich mich gleich gar unter Kuratel stellen lassen!“

„Hab’ ich e Wörtl gesagt von Kuratel? Wir machen bei en Notar en stillen Vertrag unter uns, und ich hab’ das Vertrauen zu Ihnen, daß Se den halten … Se sennen e feiner, e vornehmer Mann!“

„Ja, Rufel! Mein Wort is Eisen! Da giebt’s nix. Und ganz offen sag’ ich Dir: an so was hab’ ich selber schon ’denkt. Weißt, den Simmerauer-Mathes hätt’ ich gern g’habt!“

„Den Mathes?“ Rufel kam in sprudelnden Eifer. „Herr Purtscheller! Da haben Se gehabt de feinste Idee, was man kann haben! Der Mathes is e Mensch wie Gold. Den halten Se fest! Lassen Se den Mathes nimmer aus! Der Mathes, sag’ ich Ihnen … wenn er gebracht hat de Wirtschaft e bisselche in Ordnung … der bringt heraus aus dem schönen Hof unsere fufzehntausend Mark e Jahr’!“

„Mehr, sag’ ich!“

„Sagen wir fufzehn! Is eh schon genug! Und nu denken Se emal de schöne Rechnung: mit siebentausend Mark bezahlen wir de Zinsen und amortisieren alle Jahr e Bröckelche vom Kapital. Da sennen Se fertig in zehn, zwölf Jahr! Und wenn Se emal hinaufkommen in Ihren christlichen Himmel, können Se sagen zu Ihrem guten Vater … ‚Vaterleben,‘ können Se sagen, ‚ich hab’ hinterlassen meinem Sohn en schuldenfreien Hof, wie ich ihn hab’ übernommen von Dir!‘ Das können Se sagen! Und dabei haben Se gehabt das schönste Leben! Achttausend Mark e Jahr!“

Die Rührung, von welcher Purtscheller angeflogen schien, war beim Klang dieser Ziffer jählings verschwunden. „Ja Mensch! Was fallt Dir denn ein? Wie soll denn ich mit achttausend Mark auskommen?“

„Mit achttausend Mark werden Se haben e Leben wie e Fürst! Und wollen Se nu gar leben wie e Kenich … so geben Se das Geld in die Hand Ihrer guten, braven Frau! Die wird verköstigen alle Leut’ im Hof, wird Ihnen gönnen jedes Vergnügen und wird noch ersparen dabei!“

„So ein Siemandl sollt’ ich abgeben? Ah na, mein Lieber!“

„Herr Purtscheller! Sie sennen nicht nur e feiner und e vornehmer Mann … Sie sennen auch e gescheiter Mann!“ Rufel haschte Purtschellers Hand und streichelte sie. „Und nu beweisen Se das emal … daß de Leut’ vor Staunen sollen Augen machen wie Wagenräder e so groß! Zeigen Se emal: ‚e so e Mann bin ich!‘ Machen Se den Ruck, den Se mir haben versprochen als e Mann von Wort! Mit achttausend Mark können Se leben wie e Kenich, hab’ ich gesagt. Und wie e Kaiser können Se leben, wenn Se wollen e bißl abstoßen von sich de unnötigen Geldfresser! Wozu brauchen Se zum Exempel e Jagd? Was rennen Se da umenander auf die steilen Berg’, wo man sich kann brechen Hals und Füß’? Bleiben Se doch lieber daheim bei Ihrer guten Frau, die Se lieb hat und Ihnen machen wird e schöns Leben. Und wozu wollen Se erschießen die unschuldigen Tier’? Lassen Se de armen Viecher doch ihr bißl Leben! Schießen Se lieber auf de geduldige Scheiben! Scheibenschießen is e Vergnügen, was sich paßt für so en feinen und en vornehmen Mann!“

Purtscheller lachte.

„Nu ja, lachen Se! Lachen im Haus is e schöne, gesunde

[536]

Sonntagsbesuche in der Sommerfrische.
Nach einem Gemälde von L. Blume-Siebert.

[537] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [538] Sach’ … und draußen auf der Jagd runieren Se sich de kostbare Gesundheit! Und so e Jagd hat e Maul wie e Walfisch und frißt alle Tag’ ihren Haufen Geld, wie e Pferd den Hafer!“

„Ja, Rufel, da haben S’ recht! Es is mir selber schon oft z’viel worden. Kein Tag vergeht ohne Aerger … und ’s Aergern thut mir net gut! Ja, Rufel, da haben S’ mein Handschlag … die Jagd gieb’ ich auf!“

„Herr Purtscheller! Sie sennen e Prachtkerl!“ In heller Freude umklammerte Rufel mit seinen dürren Fingern die Hand Purtschellers. „Da haben Se gemacht en festen Ruck! En großen Ruck! Und daß Sie sehen sollen, was ich e Freud’ dran hab’ … ich därf nix trinken aus en trefern Glas … aber nu lauf’ ich hinunter und hol’ mir mein’ Häfelche aus ’m Sack … und Se sollen mir einschenken e Tröpfelche Wein, daß ich kann anstoßen mit Ihnen auf die neue, schöne Zeit!“ Er humpelte zur Thüre – aber ein Gedanke ließ ihn wieder umkehren: er wollte das warme Eisen schmieden. „Und wenn Se machen wollen noch e größeren Ruck … schauen Se an, Herr Purtscheller, wozu brauchen Se zu halten e Rennpferd?“

Purtscheller, welcher lachend nach dem Wein gegriffen hatte, stellte das Glas wieder fort und wandte mit hastiger Bewegung das Gesicht über die Schulter.

„Is e Sach’, was Ihnen kost’ e Heidengeld. Statt daß Se müssen bezahlen, können Se verdienen … und wenn Se gleich haben wollen e schön Stückl Geld auf die Hand, so verkaufen Se den Bräunl! Ich kann Ihnen machen e feins Gebot. Vor acht Tag’ hat mir gesagt der Schloßbräu, daß er für den Bräunl geben möcht’ viertausend Mark. Greifen Se zu, Herr Purtscheller! Und Sie können wie e feiner Mann bezahlen de rückständigen Hypothekzinsen und de Feuerversicherung und de unschönen Spielschulden beim Wirt, was sich nix passen für so en vornehmen und feinen …“

Erschrocken verstummte Rufel.

In aufflammendem Jähzorn hatte Purtscheller die Weinflasche gepackt und schlug sie gegen die Tischkante, daß die Scherben umherflogen und der Wein über Tisch und Dielen rann. „Du Gauner, Du gottverdammter! Jetzt kenn’ ich mich aber aus! Jetzt weiß ich, wie ich dran bin mit Dir!“ Er lachte in seinem Zorn. „So also is die ganze Komödie g’meint! Du und der Schloßbräu miteinander …“

„Erlauben Se gefälligst,“ stammelte Rufel, „wie können Se glauben …“

„In d’ Hand möchts mich kriegen,“ schrie Purtscheller, daß alle Fensterscheiben klangen, „und binden möcht’s mich am ganzen Leib, daß ich mir den Bräunl müßt’ abdrucken lassen um so ein Schandgeld!“

„Gott der Gerechte!“ Rufel wehrte mit beiden Händen. „Ich hab’s ehrlich gemeint, aber ich will nix gesagt haben! In Gottesnamen, behalten Se das Roß!“

„Net um hunderttausend Mark gib ich den Bräunl her! Net um die ganze Welt!“

„Ja, ja, ja! Behalten Se das Roß! Fahren Se mit dem Roß spazieren bis zu hundert Jahr! Ich bin zufrieden, wenn Se die Jagd …“

„’s Maul halt’, sag’ ich! Gelt, jetzt fahrt Dir die Angst in d’ Nasen, weil ich so g’scheit bin, daß ich hinter Dein’ ganzen Schwindel schau! ’naus mit Dir!“

„Aber Herr Purtscheller! So hören Se doch e ruhig und vernünftig Wörtl. So e feiner und vornehmer …“

„Ja! Fein! Ein bißl gar z’ fein für so ein’, wie Du bist!“

„Um Ihrer selbst willen und Ihrer guten Frau zulieb beschwör’ ich Sie …“

„’naus, sag’ ich, oder ich vergreif’ mich an Dir, Du Jud’, miserabliger!“

Dunkle Röte schoß über das hagere Gesicht des Alten und seine Stimme zitterte. „Beleidigen Se, bitt’ ich, den alten Rufel nicht! Ich bin nix miserabel! Ich bin e Jud’ … ohne was dabei …!“

„’naus! ’naus zur Thür!“

„Nix geh’ ich! Ich bleib’, Herr Purtscheller! Und will Ihnen wiederholen in aller Güt’ …“

„Daß ich mir vom Schloßbräu und von Dir ’s Kravattl soll zuschnüren lassen, gelt? … Gehst jetzt oder net! … Kerl, ich bin imstand und schieß’ Dich nieder auf der Stell’ …“ Keuchend sprang Purtscheller zum Ofen und riß seine Büchse vom Gewehrrechen.

Das zu sehen, ging über Rufels Mut und guten Willen. Mit einem Sprung, daß seine Rockschöße flatterten, war er bei der Thüre, mit dem nächsten schon draußen im Flur. Während er die Treppe hinunterstolperte, hörte er hinter sich einen Fluch und spürte einen Schlag auf dem Rücken – Purtscheller hatte ihm den Hakenstock nachgeschleudert. Taumelnd hob Rufel den Stecken auf. Als er seinen Zwerchsack unter der Treppe hervorgerissen hatte und zur Hausthür kam, trat ihm Karlin’ entgegen, bleich und zitternd.

„Rufel?“

„Verzeihen Se, meine liebe, gute Frau …“ Rufel hatte den Atem verloren und vermochte kaum zu sprechen. „Verzeihen Se, aber mit Ihrem Mann is nix zu reden! E Mensch, der die Leut’ erschießen will, die ’s ihm gut meinen … dem is nix mehr zu helfen! Der Rufel bedankt sich schön … mit e Schießgewehr is nix e Spaß zu machen!“ Scheu blickte er über die Treppe hinauf und dämpfte die Stimme. „Aber nehmen Se noch e Rat vom Rufel! Sehen Se zu mit aller Gewalt, daß Se bekommen das Regiment in Ihre Hand … oder Ihr schönes Haus fangt zu laufen an wie da droben der meschuggene Berg … und lauft und lauft bis hinunter ins Wasser! Ihnen zu lieb, meine gute Frau … Ihnen zu lieb will ich …“ Da hörte er droben im Flur die Schritte Purtschellers und schob sich erschrocken zur Hausthür hinaus.

„Rufel!“ stammelte Karlin’ und wollte ihn zurückhalten.

Doch ohne das Gesicht zu wenden, eilte Rufel durch den Garten. „Behüt’ Sie Gott, liebe Frau … aber es is mir nix zu verdenken, wenn ich mir salvier’!“ Als er von der roten Steintreppe auf die Straße sprang, warf er in seiner blinden Angst und Eile ein kleines Mädchen zu Boden, das ein irdenes Krüglein zwischen den Händen trug. „Nix für ungut, Kinderl!“ stotterte Rufel und eilte davon.

Droben vor der Hausthür stand Karlin’ und sah ihm mit nassen Augen nach. Tonerl hatte sich an ihre Schürze gehängt – und mit zitternden Händen preßte sie das Köpfchen des Kindes an ihren Schoß.

Da kam der Altknecht von den Ställen her um die Hausecke gelaufen.

„Frau Purtschellerin …“

Sie hörte kaum. „Was denn?“

„Ich trau’ mir’s schier gar net z’ sagen …“

Langsam blickte sie auf und strich die Zaushärchen hinters Ohr. „Was bringst denn?“

„Mit dem Bräunl is was passiert!“

„Jesus Maria!“

Im gleichen Augenblick trat Purtscheller aus der Hausthür – für die Jagd gekleidet, mit der Büchse auf dem Rücken und sah die beiden beisammen stehen – verzagt und wortlos.

„Was giebt’s?“

Er bekam keine Antwort – doch Karlin’ schob zitternd den Knaben hinter sich, als hätte sie Angst für ihn.

„No? Was is denn? Krieg’ ich bald Antwort oder net? Ich leid’ keine Tuschlereien im Haus – von meiner Frau net und noch viel weniger von ein’ Dienstboten!“

Da sagte es ihm der Knecht, kurz und grob. „Den Bräunl hat der Schlag ’troffen. Hint’ im Stall liegt er. Maustot! Für den hat der Doktor kein Trankl nimmer.“

„Was?“ Purtscheller erbleichte und tastete mit der Hand nach einer Stütze.

„Toni! Mein Toni!“ Karlin’ rief’s. Doch er schob den Arm seiner Frau zurück. „Ah na! Ah na! So was giebt’s net!“ lallte er und rannte durch Flur und Küche in den Wirtschaftshof. Keuchend stellte er die Büchse an die Mauer und trat in den Stall.

Da lag das schöne Tier auf dem Stroh, regungslos, mit eingekrampften Beinen und in einem Winkel stand Zäzil wispernd mit zwei Knechten beisammen.

Purtschellers Gesicht verzerrte sich und er hob die Faust. „Den hat mir der Jud verwunschen!“ Dann schoß ihm das Wasser in die Augen. „Bräunl! Mein Herzbinkerl, mein liebs!“ stammelte er, warf sich auf die Kniee nieder und versuchte den Kopf des Pferdes emporzuheben. Doch der Hals des Thieres war starr, und wie ein grauer Schleier lag’s über den Augen, die am Morgen noch so klug und feurig geblickt hatten.

In seinem hilflosen Kummer fing Purtscheller zu weinen an wie ein Kind.

[539] Die Thüre verfinsterte sich – Karlin’ war auf die Schwelle getreten, mit ihrem Knaben an der Hand.

Purtscheller richtete sich auf, und das Gesicht mit den Händen bedeckend, lehnte er sich schluchzend an den Barren.

„Mammi?“ fragte Tonerl. „Thut ’s Rösserl schlafen?“

„Ja, mein Herzerl!“ flüsterte Karlin’ mit versagender Stimme und drückte dem Kinde die Hand auf das Mündchen. Dann ging sie zu ihrem Mann, legte den Arm um seine Schulter, und während sie ihm sanft die Hände niederzuziehen suchte, lispelte sie: „Toni! Geh, komm! … Schau, komm mit ’rein ins Haus! … Geh, Toni, das kann ich gar net anschauen, daß Dich unsere Leut’ so sehen müssen! … Toni! … Geh, komm, laß Dich ’neinführen ins Haus!“

Er schob sie von sich, und während ihm die Thränen über die zuckenden Wangen kollerten, deutete er auf das verendete Pferd. „Da schau her! So meint’s der Himmel mit mir! Alles kommt über mich! Und ’s Liebste muß ich hergeben! ’s Allerliebste, was ich hab’!“

Sie sah ihn zu Tod erschrocken an. „Toni! Um Gottswillen! Thu Dich doch net versündigen mit so ei’m Wort!“ In verstörter Hast hob sie den Knaben vom Boden auf und hielt ihn dem Vater hin. „Toni!“ Thränen erstickten ihre Stimme. „Toni! … Geh, nimm Dein Kinderl! … Schau, is doch so was Lieb’s … ’s allerliebste, was D’ haben kannst … geh, schau, Toni, wie er Dich anlacht und wie er d’ Armeln streckt! … Geh, Toni, nimm Dein Kinderl!“

„Ja, is schon recht!“ Purtscheller fuhr mit der Faust über die Augen und murmelte: „So mach’ mir doch vor die Leut’ kein’ so Komödi her!“

„Toni!“

Reizte ihn der schmerzliche Vorwurf, der aus diesem Worte klang – oder wurde der erst halb ausgekochte Jähzorn wieder lebendig in ihm?

„In Ruh’ laß mich!“ schrie er. „Heut’ vertrag’ ich nix! … Alles geht z’ Grund umeinander! … Aber recht g’schieht mir! Ganz recht!“ Purtscheller schlug sich mit der Faust an die Stirne. „Ganz recht! … Wenn man der Esel is und den Bettel ’reinheirat’ ins Haus, kann man sich net beschweren, wenn er sich anfrißt an alle Wänd’, wie der Rost ans beste Eisen! … Ja, mein Büberl, ja, bedank Dich bei Deiner Mutter!“

Karlin’ mußte den Knaben zu Boden stellen – ihre Arme zitterten und waren plötzlich so schwach geworden, daß sie das Kind nicht mehr zu tragen vermochte. Mit fahlem Gesicht stand sie an die Mauer gelehnt und preßte die Hand auf ihre Brust, als wäre eine Lebensfaser ihres Herzens entzwei gerissen.

Die beiden Knechte und Zäzil drückten sich wortlos zur Stallthür hinaus – und Purtscheller gewahrte das versteckte Lächeln, das um die Lippen der Dirne zuckte.

„Ja, Madl, hast recht, daß D’ mich auslachst!“ Es fiel ihm ein, daß er versprochen hatte, der Magd zu kündigen. „Ah na! Jetzt grad’ mit Fleiß net! … G’scheiter, wer anderer ging’!“ … Mit tiefem Atemzug, als wäre ihm jetzt leichter geworden, trat er ins Freie und packte die Büchse. „Heut’ nacht komm ich net heim! Ich bleib’ in der Jagdhütten!“ rief er über die Schulter zurück. „Endlich muß ich mich doch auch wieder einmal in Ruh’ ausschlafen können und ein paar friedliche Stunden haben!“

Seufzend nahm er die Büchse auf den Rücken, trat durch die Hinterthür des Hauses in die Küche und wanderte müden Schrittes durch den Flur.

Als er in den Garten kam, blieb er stehen und blickte unschlüssig gegen das Haus zurück. Es war seinem Gesichte abzulesen, daß ihn nach all dem blinden Zorn eine Regung von Vernunft und Reue befiel.

Doch unwillig rückte er den Hut. „Ah was! … Sie muß ja doch wissen, daß ich’s net so mein’!“

Da hörte er von der Straße her das bitterliche Weinen eines Kindes.

„O jegerl! Was is denn?“

Er stieg über die Treppe hinunter und sah neben dem Straßengraben ein kleines Mädchen stehen, in hilflosem Kummer und das vom Weinen aufgedunsene Gesichtchen von Thränen überronnen. Vor dem Kinde lagen die Scherben eines irdenen Kruges in verschüttetem Oel.

„Ja Maderl! Was is denn geschehen? Warum weinst denn? Hast Dein Haferl fallen lassen?“

„Na! … Der Jud …“ schluchzte das Kind, „der Jud’ hat mich … umg’rennt … und hat mir … ’s Haferl derstößen!“

„Natürlich! Wieder der Jud’! … Aber geh, Butzerl, da mußt net weinen! Schau, der Schaden laßt sich ja wieder gutmachen!“ Purtscheller zog sein Taschentuch hervor, trocknete dem Kinde die Thränen von den Augen und schenkte ihm einen Thaler. „So, Schatzer!, da hast was! Da kaufst Dir ein neues Haferl und wieder ein Oel … und was Dir übrig bleibt, das legst in Dein Sparbüchserl, gelt?“ Lachend gab er dem getrösteten Kinde einen Klaps auf das Röcklein und ging seiner Wege.

Als er beim Krämer vorüberkam, wollte Rufel gerade aus der Hausthür treten; doch erschrocken fuhr der Alte bei Purtschellers Anblick zurück, verbarg sich hinter der Thüre und spähte durch die Spalte, bis das gefürchtete „Schießgewehr“ um die Ecke verschwunden war. Dann trat er auf die Straße und schüttelte kummervoll den Kopf.

„E so e Mensch! … Und de arme Frau!“

(Fortsetzung folgt.)


Das meteorologische Observatorium auf dem Brocken.

Die jüngst stattgehabte Feier der Einweihung der meteorologischen Warte auf dem Brocken hat dieser Schöpfung ein allgemeines Interesse zugelenkt. Es wird daher vielen Lesern der „Gartenlaube“ willkommen sein, über die Warte selbst und über die allgemeinen Gesichtspunkte, die bei Anlage und Unterhaltung derartiger der Wissenschaft dienenden Institute maßgebend sind, etwas Näheres in Erfahrung zu bringen.

Die Witterungskunde beruhte bis in die Mitte der siebziger Jahre fast ausschließlich auf Ergebnissen und Beobachtungen, die man in der Ebene oder höchstens an Orten gewann, die zwar an sich hochgelegen, im strengsten Sinne des Wortes jedoch keine Hochstationen waren. Die Ansicht brach sich immer mehr Bahn, daß zur weiteren Erkenntnis der atmosphärischen Vorgänge eine planmäßig eingerichtete Erforschung der höheren Luftschichten dringend geboten sei, und so säumte man denn nicht, dieser letzteren eingehende und fortgesetzte Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Es wurden zunächst an solchen Bergspitzen, wo die Verhältnisse hierfür günstig lagen, wie auf der Schneekoppe, dem Inselsberg und dem Brocken, die in den Hotels überwinternden Kellner bezw. Hausdiener in der Ausführung meteorologischer Beobachtungen eingeübt. Die Thätigkeit solcher Hilfskräfte kann selbstverständlich für die Wissenschaft nur dann von Wert sein, wenn die Beobachtungen mit der nötigen Zuverlässigkeit, Peinlichkeit und Regelmäßigkeit gemacht werden. Auf Berggipfeln, die während des Sommers stark besucht werden, sind nun die Hoteldiener derart beschäftigt, daß sie nur zu oft die ihnen anvertrauten Beobachtungen vernachlässigen. Namentlich auf dem Brocken ist der Fremdenverkehr so stark, daß einer der Hotelangestellten das ganze Jahr hindurch die Beobachtungen nicht ausführen kann, weshalb man sich im Anfange der achtziger Jahre damit zu behelfen suchte, daß im Sommer der amtierende Postgehilfe und im Winter einer der Kellner die Beobachtungen ausführte. Aber dieses Verfahren erwies sich als auf die Dauer nicht durchführbar, denn der Postbeamte sowohl als auch die auf dem Brocken bediensteten Kellner und Hausdiener wechselten fortwährend und von einer Stetigkeit der Beobachtungen konnte keine Rede sein.

Es waren demnach hinsichtlich der Personenfrage Gründe vorhanden, die es geboten erscheinen ließen, einen besonderen, Sommer und Winter auf dem Brocken wohnenden Beobachter anzustellen, der die Ausführung der Beobachtungen als seine Hauptaufgabe zu betrachten hätte, während die übrigen ihm zur Besserung seines Einkommens übertragenen Posten nur eine Nebenbeschäftigung bilden sollten. Dringend notwendig erschien es ferner, die Station mit besseren Instrumenten auszustatten, ein regelrechtes meteorologisches Observatorium zu erbauen. Die norddeutschen Sektionen des Deutsch-österreichischen Alpenvereins nahmen die Sache energisch in die Hand. Im Frühjahr 1895 war die ganze Angelegenheit schon so weit gediehen, daß mit dem Bau im folgenden Sommer begonnen, und am 1. Oktober desselben Jahres, also mit dem Eintritt der kälteren Jahreszeit im meteorologischen Sinne, die Beobachtungen von dem seitens des Königl. preuß. meteorol. Instituts als Beobachter angestellten Ludwig Koch aufgenommen werden konnten.

Jetzt durfte man auch daran gehen, die meteorologische Station 2. Ordnung, als welche der Brocken bislang galt, in eine solche 1. Ordnung und damit auch in ein eigentliches Observatorium umzuwandeln. Durch fortschreitende Vermehrung der Instrumente sucht man allmählich dies Ziel zu erreichen.

Das Observatorium selbst, wie es durch unsere Abbildung veranschaulicht wird, ist an der nördlichen Seite des Hauptgebäudes des Hotels angebaut und erhebt sich drei Stockwerke hoch über die nächsten Dächer der anliegenden Gebäude hinweg. Es enthält im Erdgeschoß und in [540] der ersten Etage je ein Wohnzimmer, von denen das erstere für den Beobachter bestimmt ist und das zweite dazu dient, Fachgelehrten, die auf dem Brocken specielle wissenschaftliche Untersuchungen ausführen wollen, zeitweilige Unterkunft zu gewähren.

Im dritten Stockwerke befindet sich das „Instrumentenzimmer“, das zur Unterbringung aller der Instrumente bestimmt ist, die im Zimmer funktionieren, dann auch zur Aufbewahrung der Reserveapparate dient. Außerdem kann der Beobachter im Instrumentenzimmer seine schriftlichen Arbeiten verrichten.

Es wird nun zunächst der Luftdruck beobachtet, und zwar mittels eines Fuesschen sogenannten kompensierten Gefäßbarometers, dem zur fortdauernden Aufzeichnung des Luftdruckes noch ein Barograph zur Seite steht. Beide Instrumente befinden sich im Instrumentenzimmer und sind gleichzeitig die einzigen, die überhaupt im Zimmer funktionieren. Die Temperatur wird auf der Plattform in der sogenannten englischen Hütte bestimmt, und zwar werden momentane Ablesungen zu den vorgeschriebenen Beobachtungsterminen veranstaltet und außerdem wird die Temperatur durch einen Thermographen fortlaufend registriert. Zur Messung der Luftfeuchtigkeit wird ein Hygrometer und zu derjenigen des Windes ein Anemometer benutzt. Außerdem ist noch ein Wolkenspiegel vorhanden, mittels dessen Zugrichtung und Geschwindigkeit der oberen Wolken ermittelt werden kann, während für die Messung der Dauer des Sonnenscheins ein Sonnenschein-Autograph und für die Bestimmung der Intensität desselben ein Aktinometer benutzt wird.

Das meteorologische Observatorium auf dem Brocken

Die mit diesen Instrumenten auszuführenden Beobachtungen werden im Winter durch die Bildung von Rauhreif und Eisbehang sehr erschwert. Die Instrumente überziehen sich bei eintretendem Nebel sofort mit Eis; dieses wird immer dicker, bis es schließlich ein Freihalten der Skala der Instrumente nicht mehr zuläßt. Außerdem ist die Gefahr einer Verletzung der Instrumente bei Rauhreif besonders groß, da häufig der Reifansatz das Instrument in seiner Lage verändert und ein Betasten desselben an unrichtiger Stelle ein Zerbrechen herbeiführt.

Auch sonst ist im Winter die Wetterbeobachtung mit großen Schwierigkeiten verknüpft die sich zu ungeahnter Höhe steigern, wenn stürmischer Ostwind und Nebel sich einstellen. Da bei letzterer Windrichtung häufig Kältegrade von 15° eintreten, so überziehen sich beim Hinaustreten ins Freie die Augenlider durch den gefrierenden Nebel sofort mit einer Eiskruste, und innerhalb weniger Minuten sind die Augen zugefroren, weshalb man auf dem Brockengipfel im Winter bei strenger Kälte die äußerste Vorsicht anwenden muß, um im Freien nicht auf elende Weise umzukommen.

Daß die ganz im Freien aufgestellten Instrumente, wie z. B. die Regen- und Schneemesser, hinsichtlich der Zuverlässigkeit der mit ihnen gewonnenen Resultate am ungünstigsten dastehen, bedarf nach den obigen Ausführungen keiner Erörterung.

Es ist deshalb die Frage, ob der Brockengipfel der niederschlagreichste Punkt Deutschlands ist, nach einjährigen Messungen, auch wenn letztere höhere Werte als jede andere Station Deutschlands ergeben haben, noch nicht zu bejahen, da eben die Messung der Niederschläge noch zu mangelhaft ist. Sicher werden aber fortgesetzte Beobachtungen zu Ergebnissen führen, die den Meteorologen in Stand setzen werden, tiefer in die vielfachen Geheimnisse der Witterung unserer Heimat einzudringen. R. S.     


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Alle Rechte vorbehalten.

Das Ehe-Idyll Eugens von Beauharnais.

Von R. Artaria.

In der St. Michaelskirche zu München erhebt sich ein von Thorwaldsen gemeißeltes Grabmal: in der Mitte eine heldenhaft schöne Männerfigur in griechischer Tracht, rechts Klio, die seine Thaten aufzeichnet, links der Genius mit der umgekehrten Fackel. Der hier Verewigte ist Eugen von Beauharnais, dessen edle Gestalt jetzt durch ein interessantes Buch[1] ins Gedächtnis der Gegenwart zurückgerufen wird. Es ist kein Zufall, daß der von der historischen Forschung neuerdings so eifrig gehobene Memoirenschatz der napoleonischen Zeit auch in Deutschland allgemeinem Interesse begegnet. Was die Zeitgenossen über Napoleon I. und seine Familie wußten oder zu wissen glaubten, war vielfach unrichtig, erst aus der unbefangenen Vergleichnng der Quellen lassen sich allmählich die sicheren Umrisse der Vielgenannten gewinnen, welche der so märchenhaft Gestiegene mit sich emportrug und schließlich in seinen Sturz wieder hinabriß. Es ist eine bunte und fragwürdige Gesellschaft: tapfere Marschälle mit stark befleckten Händen, schöne Frauen von bedenklichem Lebenswandel; nur wenige stehen makellos nach unseren heutigen Begriffen da.

Unter diesen der erste ist Eugen Beauharnais, der schöne, tapfere und ritterliche Mann, der einzige der Napoleoniden, welchen die europäischen Fürsten nach dem Sturz des Kaiserreiches weiter als ihresgleichen behandelten. Von einem „Liebesroman“, wie ihn die untengenannte Sammlung höchst interessanter Briefe Eugens und seiner Nächsten zu verheißen scheint, konnte wohl bei einem zwischen Staatsgeschäften und Feldzügen stets Geteilten, der sich auf einfachen Befehl des Allgewaltigen verheiratete, keine Rede sein. Wenn aber dem erzwungenen Bunde eine so zärtliche starke Neigung folgt, eine so innige Sehnsucht der durch Kriegszüge lange getrennten Gatten, wie sie aus diesen Blättern spricht, eine solche Seligkeit der Wiedervereinigung, dann verweilt der Blick voll Anteil auf diesem Liebespaar, dessen Ehe eine ebenso ideale, wenn auch von äußerem Glück viel begünstigtere war als die des gleichzeitigen preußischen Königspaares Friedrich Wilhelm III. und Luise.

Eugen Beauharnais hatte hartes Mißgeschick nur in der ersten Jugend erfahren, wo er, nachdem sein Vater, der verdienstvolle General, in der Schreckenszeit auf dem Schafott geendigt hatte, von den brutalen Machthabern zu einem Tischler in die Lehre gegeben wurde, während Hortense, die spätere Königin von Holland, zu einer Näherin kam. Der Sturz der Schreckensherrschaft führte beide wieder in ihre frühere Sphäre zurück und die Witwe Beauharnais, die schöne, trotz ihrer Armut höchst lebenslustige und ziemlich leichtfertige Josephine, ließ den Sohn unter General Hoche seine militärische Laufbahn beginnen. Der noch nicht Fünfzehnjährige begab sich vor dem Ausmarsch zu General Bonaparte, um den konfiszierten Degen seines Vaters für sich zu erbitten, und gefiel durch sein offenes, freimütiges Wesen dem jungen General so sehr, daß dieser sich veranlaßt sah, der Mutter des prächtigen Jungen einen Besuch zu machen. Bekannt ist, daß er bei dieser Gelegenheit sein Herz vollständig an die ältere, aber höchst anmutige Josephine verlor und sich in kürzester Frist mit ihr vermählte, allerdings gegen den heftigen Widerspruch ihrer Kinder, die hierin eine Kränkung des väterlichen Andenkens sahen.

Bald aber lernte Eugen in dem jungen Stiefvater sein Heldenideal verehren. An seiner Seite machte er den italienischen Feldzug mit, zeichnete sich hier, wie im egyptischen, durch Tapferkeit und Umsicht aus und kehrte, ein achtzehnjähriger Kapitän, als fertiger Mann mit dem Unternehmer des Staatsstreichs nach Paris zurück! Seine Mutter sollte bald Gelegenheit haben, dem gereiften und klugen Geist des Sohnes dankbar zu sein: sie hatte sich in

[541]

Wohnstätte der Vancouver-Indianer.
Nach einer Originalzeichnung von E. Limmer.

[542] Abwesenheit des Generals Bonaparte allerhand zu schulden kommen lassen, was den Heimgekehrteu, als er es erfuhr, in Wut versetzte und ihn an Scheidung denken ließ. Da war es denn Eugen, der als Anwalt der Mutter seine flehentlichen Bitten mit denen Hortenses vereinigte, so daß Napoleon von dem Vorsatz der Scheidung abstand. Freilich nicht ohne starke und dauernde Abkühlung seiner Empfindungen für die einst so heftig geliebte Josephine.

Mit zweiundzwanzig Jahren war Eugen Brigadegeneral, sah im Laufe desselben Jahres, 1804, seinen Stiefvater als Kaiser der Franzosen und wurde von diesem, 1805, als Vicekönig der eroberten Lombardei nach Mailand geschickt. Es war dies keine leichte Stellung, denn Eugen suchte trotz der kriegerischen Aktionen gegen Oesterreich für das Wohl seiner Unterthanen zu sorgen, während Napoleon nur das Möglichste an Leistungen aus dem eroberten Lande zu schlagen suchte. Er hatte denselben Konflikt mit jedem seiner zu Königen gemachten Brüder, wagte aber niemals, Eugen, dessen fester und reiner Charakter ihm imponierte, so zu behandeln, wie es sich jene gefallen lassen mußten. Eine kurze Ungnade war alles, was er gelegentlich erlebte. Und dieser folgten bald genug Beweise neuer Huld und Fürsorge auf dem Fuße. Einer davon, das Eheprojekt mit der Prinzessin Auguste von Bayern, Tochter des Königs Max Josef, lag zugleich in Napoleons eigenem Interesse; er brauchte Stützen für seinen selbstgeschaffenen Thron, Verwandtschaft mit legitimen Fürstenhäusern und legte sich darum energisch aufs Heiratstiften.

Eugen von Beauharnais und seine Gemahlin Prinzessin Auguste von Bayern.

Ein „Nein“ auf des Kaisers Werbung um die hervorragend schöne und liebenswürdige Prinzessin konnte und durfte der eben erst durch ihn vom Kurfürsten zum König erhöhte Monarch nicht aussprechen, so bitter schwer es ihm auch fiel, das bereits für Auguste eingegangene Verlöbnis mit Prinz Karl von Baden zu brechen und die geliebte Tochter dem Stiefsohn des Emporkömmlings zu geben. Max Josef befand sich in einer vollständigen Notlage, die seine Allianz mit Frankreich immerhin begreiflich macht. Politisches Nationalgefühl in unserem Sinne war zudem damals im deutschen Süden nicht rege, man war weltbürgerlich gesinnt und genoß dankbar die großen Vorteile, welche Napoleon stets getreuen Alliierten bot, vor allem den Frieden, während Oesterreich und bald auch Preußen so furchtbar unter dem Kriege leiden sollten.

So willigte denn auf des Vaters dringende Bitten auch Auguste schmerzlich ergeben ein, dem in München bereits angekommenen Kaiser das Jawort zu gewähren. Von der Grenze an hatte man ihn mit Triumphpforten und Illuminationen empfangen, das Volk strömte überall zusammen, um den gewaltigsten Mann der Zeit, den Ueberwinder Oesterreichs zu sehen, die Begeisterung war nach den Berichten ruhiger Zeugen eine ungeheure. Eugen befand sich, neun Tage nach dem getroffenen Abkommen, ahnungslos auf dem Rückmarsch vom österreichischen Siegeszug, als er folgenden Brief Napoleons erhielt mit der bis dorthin von ihm gebrauchten Anrede „Mein Vetter“.

„Ich bin in München angekommen. Ich habe Ihre Vermählung mit der Prinzessin abgemacht, sie ist publiziert. Die Prinzessin hat mir heute morgens einen Besuch gemacht und ich habe mich lange mit ihr unterhalten. Sie ist sehr hübsch. Ich füge ihr auf eine Tasse gemaltes Porträt bei, sie ist aber viel hübscher.“

Eugens Antwort ist nicht erhalten, es existiert also keine Kunde darüber, mit welchen Gefühlen er das Tassenbildnis betrachtete. Aber er reiste auf einen des nächsten Tages erhaltenen ebenso lakonischen Befehl gehorsam ab. In München nahm ihn Napoleon gleich in Empfang, ließ ihm den „wilden“ Schnurrbart abrasieren, damit er der Prinzessin keinen ungünstigen Eindruck mache, und stellte dann die Verlobten einander vor. Wie ihr beiderseitiger erster Eindruck war, weiß man nicht, doch steht zu vermuten, daß der Anblick des schönen ritterlichen Eugen, über dessen Herzensgüte, zarte Rücksicht und heitere offene Natürlichkeit alle Zeitgenossen übereinstimmend berichten, bald die Prinzessin dahin brachte, ihre „traurige Zukunft“ in freundlicherem Lichte zu sehen. Auch Eugen war überrascht von so viel Güte, Schönheit und Anmut; es scheint, daß die pomphafte Vermählungsfeier am 1. Jan. 1806 – wenige Tage nach der Verlobung – bereits zwei Glückliche vereinigte. München schwamm in Jllumination und Freuden, Festgelage fanden statt, die Metzger thaten ihren althergebrachten Sprung in den Fischbrunnen und droben am Rathausfenster stand inmitten der Königsfamilie der bleiche Imperator und ließ die Augen kalt auf all dieser altbayrischen Lustbarkeit ruhen. Vierundzwanzig Stunden nach der Vermählung wurde Eugen von Napoleon adoptiert und hieß nun fortan nicht mehr „Mein Vetter!“ sondern „Mein Sohn!“

Die Italiener blieben in Festen nicht hinter den Bayern zurück; das junge Paar wurde in Venedig mit den Prachtbarken der ehemaligen Republik eingeholt, die Mailänder veranstalteten festliche Aufzüge und Napoleon gab brieflich immer von neuem seine Zufriedenheit über das von ihm vorausgesagte Glück der beiden Gatten kund. Seine Briefe an die „Liebe Tochter“ haben einen bei ihm ganz ungewöhnlich warmen Ton. Es ist nicht nur die Rücksicht auf die fürstliche Abstammuug seiner Schwiegertochter, was ihn zu so zarter Rücksicht bewegt, sondern auch die Ueberzeugung von den seltenen Eigenschaften der jungen Frau, die bald von Eugen förmlich angebetet wurde und seine Liebe aufs lebhafteste erwiderte.

Während des preußischen Feldzuges blieb Eugen auf seinem Posten in Mailand, glücklich im Besitz seiner beiden ersten Kinder, die freilich gegen den Wunsch des stets nach Knaben verlangenden Kaisers Mädchen waren. Aber 1809, als auf allen Punkten des ungeheuren Herrschgebiets, das Ein Menschengehirn zu regieren sich vermaß, die erste Erstarrung abgeschüttelt wurde und die Vaterlandsliebe der Spanier, der Tiroler in offene Empörungsflammen ausschlug, als Oesterreich entschlossen einen neuen Krieg erklärte, da wurde Eugen mit dem Kommando der italienischen Armee betraut und er vollbrachte glänzende Waffenthaten in der [543] Lombardei, in Oesterreich, schließlich noch in Ungarn. Napoleon nannte Eugens Siegesschlacht von Raab „die Enkelin von Marengo“. Und überall aus dem Feldlager zwischen Märschen und Schlachten schreibt Eugen seiner geliebten Auguste zärtliche Briefe voll Sorge um ihr und der Kinder Wohl, voll Sehnsucht, sie alle wieder in seine Arme zu schließen. Eine in mehr als einem Betracht schwere Aufgabe harrte seiner zuletzt: nach vollendetem Friedensschluß mit Oesterreich die „Pacifizierung“ des von jenem preisgegebenen Tirols. Es bleibt Eugens schönster Ruhm, durch „zu große“ Milde und Menschlichkeit den armen, in ihrem heiligsten Vertrauen getäuschten Aufständischen gegenüber sich das Mißfallen ihres nunmehrigen Landesherrn, Max Josef, sowie Napoleons zugezogen zu haben. Er bemühte sich angestrengt, die friedliche Waffenniederlegung der Führer zu erreichen; es glückte ihm auch; selbst Hofer schrieb ihm, daß er sich im Vertrauen auf Eugens Güte, Weisheit und Gerechtigkeit unterwerfe. Der Sandwirt kehrte in sein Passeyer Thal heim, aber neue falsche Siegesnachrichten vermochten ihn zu neuer Erhebung, und hiermit war sein Schicksal besiegelt. Eugen und der junge „teutschgesinnte“ Kronprinz Ludwig von Bayern hätten ihn gern gerettet, aber von Paris kam ein Befehl, der in furchtbarer Kürze anordnete, es sei ein Kriegsgericht einzusetzen, welches Hofer binnen vierundzwanzig Stunden abzuurteilen und erschießen zu lassen habe.

Napoleon stand nach dem Friedensschluß von Wien auf dem Gipfel seiner Macht und wiegte sich in dem stolzen Wahne eines festgegründeten Weltreiches. Aber es fehlte ihm der Erbe dafür. So reifte in ihm langsam der Entschluß der Scheidung, vor welcher Josephine schon geraume Zeit zitterte, und er rief Eugen herbei, um seine Mutter in ihrer ersten Fassungslosigkeit zu stützen. Es waren schlimme Tage. Napoleon, selbst bis ins Innerste erschüttert von Josephinens Jammer, wies gleichwohl aufs lebhafteste Eugens Anerbieten zurück, mit seiner Mutter ins Exil zu wandern. Dieser sowie Hortense haben bei jener Gelegenheit glänzende Proben ihrer vollen, edlen Uneigennützigkeit abgelegt und Prinzessin Auguste schrieb zugleich ihrem Manne: „Aus der Reihe der Großen wird man uns löschen, aber eintragen in die Reihe der Glücklichen. Gilt dies nicht mehr? …“

Es kam nicht so. Napoleon, der bei dieser Probe wieder so recht Eugens seltenen Wert erkannt hatte, knüpfte ihn neu mit festen Banden an sich, bot ihm Kronen, die jener ausschlug, aber er fand es nur natürlich, daß der Sohn Josephinens die neue Kaiserin Marie Luise als Freund begrüße und ein Jahr später die allgemeine Freude über die Geburt des Königs von Rom teile. Die Spannung der Pariser vor diesem Ereignis war viel größer als die Sorge über den Krieg in Spanien, und die Erregung stieg aufs höchste vor dem 22. Kanonenschuß, welcher die Sicherheit eines Sohnes und Thronerbens gab.

Und doch sollte der Thron selbst so bald schon ins Wanken geraten! Napoleon beging den ungeheuren Mißgriff des russischen Feldzugs. Eugen teilte Gefahren und Strapazen mit seinem Armeekorps und hörte gelegentlich im Bivouac vom Kaiser, daß Auguste schon sechs Wochen vorher nach ihrem dritten Kinde, einem Sohn, wieder ein Töchterchen geboren hatte. Nun bemüht er sich, ihr alle die nacheinander fallenden Schicksalsschläge so mild als möglich vorzustellen; er verschweigt ihr das trostlose Elend des Rückzuges, seine glänzenden Leistungen dabei und sucht noch zu scherzen über die Wirkungen von 24° Kälte auf Nasen und Ohren.

Den schwierigen Rückzug durch das haßerfüllte Preußen leitete Eugen mit vorzüglicher Umsicht, dann folgten nach kurzen Monaten der Ruhe die deutsche Erhebung und die ersten für die Franzosen noch glücklichen Schlachten. Von da weg schickte ihn Napoleon zur Aushebuug einer Verstärkungsarmee nach Italien und nun nach einer mehr als jahreslangen Trennung hatten sich die Gatten wieder. „Ich bin überselig!“ rief Auguste dem Bringer der ersten Freudenbotschaft zu.

Der letzte Akt des Dramas brachte Eugen in schweren inneren Konflikt. Max Josef von Bayern, gedrängt durch die Alliierten und seine eigene gefahrvolle Lage im Fall der Besiegung Napoleons, erklärte anfangs Oktober 1813 seinen Abfall und suchte Eugen zur Verständigung mit den Alliierten hinsichtlich der Krone von Italien zu bewegen. Aber Eugen blieb felsenfest bei Pflicht und Ehre, hielt die Lombardei gegen Oesterreich, während Napoleon seine letzten Schachzüge gegen die Alliierten in Frankreich that, und konnte doch nicht vermeiden, daß ihn dieser in seiner rasenden Erbitterung gegen die ganze Welt auch des Einverständnisses mit seinen Feinden zieh. Und doch stand Eugen, zwei Tage nachdem Napoleon bereits abgedankt hatte, unerschütterlich vor Mincio, der einzig Unbesiegte unter allen Führern der Franzosen. Als dann die ungeheure Nachricht kam, schloß er einen ehrenvollen Waffenstillstand, verabschiedete sich in warmen Worten von dem italienischen Volk und seiner Armee und entsagte, indem er mit seiner Familie nach München ging, im Alter von 32 Jahren einer Laufbahn voll glänzender Thaten und großer Erfolge.

In München wurde er von Max Josef als geliebter Sohn aufgenommen. Der König war stolz auf den hohen Ruf seiner Ehre und Rechtlichkeit, die sich in den nun folgenden schweren Zeiten der Verhandlung mit den Alliierten wieder in starkem Gegensatz zu dem eigennützigen Verhalten so vieler anderen abhoben. Alexander von Rußland, ja selbst der neue König Ludwig XVIII. empfingen ihn mit Beweisen der ausgezeichnetsten Achtung. Der letztere stand, als der Thürsteher „den Herrn Marquis von Beauharnais“ anmeldete, lebhaft auf und ging Eugen mit ausgestreckten Händen entgegen. Dann wandte er sich an jenen mit den Worten: „Sagen Sie: Seine Hoheit der Prinz Eugen, und fügen Sie hinzu: Groß-Connetabel von Frankreich, wenn es ihm genehm ist!“

Aber dem resignierten Mann war es nicht um Titel und Würden zu thun. Er war nach Paris geeilt, um seine kranke Mutter zu sehen, deren Leiden durch den heftigen Kummer über Napoleons Sturz zur Todeskrankheit wurde. Einen Monat nachdem der Verbannte sich nach Elba eingeschifft, am 29. Mai 1814, starb Josephine.

Was nun noch folgt bis zu Eugens frühem Tode, ist stilles glückliches Privatleben mit seiner Auguste und fünf blühenden Kindern, drei Töchtern und zwei Söhnen. Eine Stellung von der Alliierten Gnaden wollte er nicht annehmen; Napoleons Rückkehr und zweitem Sturze gegenüber hielt er sich neutral. Max Josef verlieh ihm dann das Fürstentum Eichstädt und den Namen eines alten ausgestorbenen Geschlechts, der Leuchtenperge, das zu Kaiser Heinrichs IV. Zeiten in Bayern blühte. Das Leuchtenbergische Palais in München sowie die Residenz Eichstädt wurden zu Vereinigungspunkten einer gewählten, durch Wissenschaft und Kunst gehobenen Geselligkeit. Er erlebte noch die Verlobung seiner ältesten Tochter mit dem Kronprinzen von Schweden, dann kamen wiederholte Schlaganfälle und am 21. Februar 1824 starb der bis zum letzten schweren Ende selbstlos gütige Fürst, dessen edles Bild wohl verdient hat, dem Gedächtnis der Nachwelt neu erweckt zu werden.


Fräulein Nunnemann.

Erzählung aus vergangenen Tagen.0 Von Eva Treu.
  (Fortsetzung.)


Wir waren unserer über dreißig, etwa zur Hälfte Angehörige unseres Seminars, zu denen sich ebensoviele Externe gesellten, welche sich auf eigene Hand vorbereitet hatten. Wir Pensionsküchlein zählten fast ausnahmslos nicht viel über achtzehn oder neunzehn Jahre, unter den Externen dagegen befanden sich sehr viele ältere Mädchen, die bereits jahrelang als Lehrerinnen wirkten und jetzt, um der dringenden Anforderung der neuen Zeit und des preußischen Schulgesetzes zu genügen, sich einer Prüfung unterwarfen. Die Zeiten waren längst andere geworden, auch bei uns. Niemand wollte mehr Unterricht und Erziehung seiner Kinder einer Lehrkraft anvertrauen, für welche der Staat nicht wenigstens eine gewisse, wenn auch bescheidene Garantie übernahm.

Es war unter diesen Externen mehr als eine mit klugen, überarbeiteten Augen und einem blassen feinen Gesichte, dem der Ernst des Lebens vorzeitig allerlei Spuren eingegraben hatte, mehr als eine, bei deren Anblick sogar das selbstsüchtigste Herz der eigenen Angst vergaß und dachte: „O, wenn doch nur diese, gerade diese nicht Unglück hat! Sie sieht aus, als wüßte sie dann auf Gottes weiter Welt nicht, was sie beginnen sollte!“

[544] Eine Stunde etwa vor dem Anfange des Examens versammelten wir uns alle in dem Garten unseres Seminars, um dort miteinander Bekanntschaft zu machen; wir waren ja nun während fünf langer Tage Kameraden und vielleicht Leidensgefährten. Eine sehr feierliche und sehr stille Versammlung bildeten wir, sämtlich in schwarze Seide oder schwarze Wolle – unseren Examensfrack, wie wir sagten – gehüllt. Hier oder da hatte eine ein buntes Schleifchen gewagt, aber das waren Ausnahmen, die meisten trugen nur Weiße Spitzen oder Leinenstreifen an Hals und Handgelenken. Würdig, würdig und bescheiden wollten wir erscheinen.

Ich, im durchbohrenden Gefühle meines Nichts, ging abseits und allein meine Pfade, und allerlei konfuse Gedanken zogen mir durch den Kopf. Bald ertappte ich mich darauf, daß ich mir mechanisch das „kleine Einmaleins“ aufsagte, bald darauf, daß ich allerlei Orakelfragen an das Schicksal stellte.

„Wenn die nächste, die mir begegnet, nachdem ich um diese Ecke biege, schwarze Haare hat, so falle ich durch, hat sie braune, so komme ich leidlich davon, ist sie blond, so wird es mir sehr gut gehen.“ Da war die nächste Begegnende so blond, daß es mir nur eine Eins bedeuten konnte. An ein so großes Glück wagte ich natürlich nicht zu glauben; also stellte ich eine neue Frage.

„Begegnen mir jetzt vier auf einmal, so bedeutet das Durchfallen, drei sind gleichbedeutend mit der dritten, zwei mit der zweiten und eine mit der ersten Censur.“ Da begegneten mir vier; ich sollte also durchfallen.

Unmöglich – nein, so schlecht konnte es schließlich doch nicht um mich stehen. Das Orakel wurde zum drittenmal befragt.

„Ist die nächste, die mir begegnet, mir persönlich bekannt, so geht mir’s gut, kenne ich sie nicht, so muß ich aufs schlimmste gefaßt sein.“

Da begegneten mir in eifrigem Gespräche zwei, von denen mir die eine eine liebe Freundin war, während ich die andere nie gesehen hatte.

„Wenn mir, bis ich hundert zählen kann, etwas ganz unerwartetes passiert, so –“

Ich kam nicht mehr dazu, den Schlußsatz zu machen, denn das Unerwartete geschah bereits, ehe ich noch wußte, ob es mir Gutes oder Uebles verkünden sollte.

Es tauchte nämlich, als ich um eine Ecke bog, plötzlich ein sehr lebhaft gefärbtes blaues Kleid vor mir auf, eine Erscheinung, die mir, da wir ja sämtlich schwarz gingen, als sehr verwunderlich auffallen mußte.

Aber die Person, zu der das blaue Gewand gehörte, schien auch im übrigen ungewöhnlich zu sein, wenigstens vermochte ich nicht, meinen Blick wieder von ihr zu wenden, und als ich noch ein paar Schritte gemacht hatte, rief ich überrascht: „Fräulein Nunnemann, ist es möglich – sind Sie es wirklich?“

Die Dame blieb stehen, sah mich verblüfft an, zwinkerte mit den kleinen, wasserblauen Augen und machte offenbar einen erfolglosen Versuch, sich meiner zu erinnern.

Aber es war Fräulein Nunnemann, darüber konnte kein Zweifel herrschen. Sie hatte sich merkwürdig wenig verändert in den letzten neun Jahren, wenigstens war sie nicht hübscher geworden. Das runde Gesicht hatte eine Anzahl von feinen Fältchen mehr erhalten, die kleine Gestalt hatte sich noch etwas üppiger abgerundet und das Himmelblau des Gewandes hatte sich zu einem Kornblumenblau vertieft; aber der Ausdruck der schwimmenden, gutmütigen Augen, der kunstvolle Lockenaufbau und auch der bis auf einige der herrschenden Mode gemachte kleine Zugeständnisse ganz besondere Schnitt des Kleides war noch derselbe wie damals. Nie, auch nur für eine Minute, hätte ich Fräulein Nunnemann verkennen können.

„Sie erkennen mich gewiß nicht,“ sagte ich, „es ist so lange her, seit wir uns zuletzt gesehen haben, und ich war damals –“

„Ich weiß allerdings nicht,“ unterbrach mich Fräulein Nunnemann mit einem jener Knixe, deren ich mich so lebhaft entsann, „mit wem ich das Vergnügen habe, zu – vermutlich eine frühere Schülerin? – Sie müssen es entschuldigen; ich habe so unendlich viel verschiedene Schülerinnen gehabt, daß es mir leicht passieren kann – aber wenn Sie mir gütigst Ihren werten Namen nennen wollten, so –“ und sie knixte wieder.

Ich nannte Namen und Heimat und auch das Jahr, in welchem ich die Ehre gehabt hatte, Fräulein Nunnemanns Zögling zu sein.

Da ging ein helles Leuchten über Fräulein Nunnemanns ältliches Gesicht, und sie streckte mir in überwallender Zärtlichkeit ihre beiden kleinen dicken Hände entgegen.

„Aber Kindting – natürlich erinnere ich mich Deiner – selbstverständlich! Du hast ja noch ganz das alte Gesicht behalten. Aber wenn man so in der Welt herumkommt wie ich, da besinnt man sich nicht gleich. Ach, es war eine reizende Zeit, die ich bei euch verlebt habe – reizend! Eine meiner liebsten Jugenderinnerungen!“

Sie zog meinen Arm durch den ihrigen und ging mit mir weiter. „Was für ein großes Mädchen Du geworden bist – und wie geht es in eurem lieben Städtchen? Leben noch alle, mit denen ich mich damals so innig befreundete?“

Ich fing an, ihr einiges mitzuteilen, wovon ich meinte annehmen zu dürfen, daß es sie ein wenig interessieren würde. Aber sie unterbrach mich: „Was ist aus dem guten Beseler geworden, dem Kandidaten, weißt Du, Kindting, der mir damals so den Hof machte? Ist er verheiratet?“

„Machte er Ihnen den Hof?“ fragte ich halb lachend, und es ist nicht ganz unmöglich, daß ich einen leisen Nachdruck auf die Fürwörter legte.

„Nu natürlich, Kindting – fabelhaft! Aber es ist begreiflich, daß Du Dich dessen nicht entsinnst, Du warst noch zu klein, um auf dergleichen zu achten. – Wie ist es mit ihm? Hat er eine Frau?“

„Er ist seit fünf Jahren tot,“ sagte ich.

„Tot!“ Fräulein Nunnemann schüttelte traurig den Kopf.

„Also wirklich tot! – Ach, es war ein lieber Mensch! Aber ich war damals jung und thöricht und wußte nicht, was mir gut war.“ Sie seufzte tief auf. „Da könnte man nun vielleicht eine wohlsituierte Witwe sein, und statt dessen muß man – aber sage, Kindting, wie kommst Du eigentlich hierher? Und so feierlich, in schwarzer Seide? Du willst doch nicht etwa auch –?“

„Ich gehöre hierher,“ sagte ich, „ich habe das Seminar besucht und will mein Examen machen. Wie aber sind Sie eigentlich hierher verschlagen worden?“

„Du willst Dein Examen machen?“ rief Fräulein Nunnemann mit großen Augen. „Aber das ist ja einfach reizend! Das ist eine Fügung des Himmels! Dasselbe will ich ja auch eben!“

„Sie, Fräulein Nunnemann?“ Ich hatte auf der Zunge, hinzuzufügen: „in Ihrem Alter!“, aber ich verschluckte es glücklicherweise.

Fräulein Nunnemann seufzte sehr tief auf, und das eben noch so strahlende Gesicht wurde wehmütig.

„Diese neuen Einrichtungen, Kindting,“ sagte sie gedrückt, „diese neuen Einrichtungen zwingen einen ja dazu. Diese Seminare überall und diese neuen Gesetze – die Masse von geprüften Lehrerinnen, die einem jede Stelle gleich vor der Nase wegschnappen – wie gesagt, sie zwingen einen ja dazu, Kindting. In den Schulen wie in den Familien fragen sie ja jetzt allemal zuerst nach dem Prüfungszeugnisse. Ich sage Dir, Kindting, ich bin in unzähligen Stellungen gewesen, ich habe eine ganze Mappe voll der brillantesten Empfehlungen – mehr Zeugnisse als ich Jahre zähle, wirklich, Kindting, und eines immer besser als das andere, aber glaubst Du, es nützt mir etwas? Nicht so viel!“ Und sie schnippte mit den Fingern.

Ich schüttelte in Ermangelung einer anderen passenden Antwort bedauernd den Kopf und sagte: „Unglaublich!“

Fräulein Nunnemann seufzte noch einmal und noch tiefer als vorher.

„Ich für meine Person lege durchaus gar keinen Wert auf Prüfuugen – gar keinen, wirklich, Kindting! Es ist nur Glücksspiel. Es würde mir gar nicht eingefallen sein, mich darauf zu kaprizieren. Aber wenn einem der saure Apfel so dicht unter die Nase gehalten wird, kann man ja nicht gut anders, als hineinbeißen.“

„Aber Fräulein Nunnemann,“ meinte ich ermutigend, „so entsetzlich sauer kann er Ihnen doch nicht sein. Wenn man so lange unterrichtet hat wie Sie, ist man des Erfolges doch gewiß sicher.“

Fräulein Nunnemann schwieg ein Weilchen. „Das bin ich ja auch natürlich, Kindting,“ sagte sie dann etwas unsicher, „natürlich – selbstverständlich! Ich würde ja auch weiter gar kein Wort [545]


 Waldesfrieden.

Nicht auf dem weichsten Pfühle
Es sich so herrlich ruht
Wie in des Waldes Kühle,
Am Ufer frischer Flut.

5
Hier wähnt das Herz geborgen

Sich froh vor jeder Pein,
Es schlummern alle Sorgen
In diesem Frieden ein.

Und Glück wir selig tauschen

10
Für jedes Weh, das schied,

Wenn Wald und Wellen rauschen
Uns zu ihr traulich Lied.
  J. Proelß.


[546] darüber verlieren, wenn ich nicht immer eine ganz eigenartige und sozusagen unüberwindliche Abneigung gegen einzelne Fächer gehabt hätte. Ich gestehe Dir zum Beispiel offen, Kindting, rechnen kann ich nicht. Habe ich nie gekonnt. Es liegt nicht in mir. Und dann Geschichte und Geographie siehst Du, das sind Dinge, für die man ein ganz spezielles Talent haben muß. Das ist nicht jedem gegeben; man kann nicht dafür. Ebenso geht es mit der Naturkunde. Dies sind ja Fächer, die sich für den weiblichen Geist durchaus nicht eignen. Ich bin immer ausgeprägt weiblich gewesen, Du weißt es, Kindting, und ich leugne nicht, wenn sich nicht jemand findet, der mir beim Examen in diesen Dingen ein wenig Hilfe leistet, so weiß ich nicht, wie es mir ergehen soll. In allem übrigen bin ich natürlich sattelfest – aber diese vier Fächer und etwa noch die französische Grammatik, die sind mir mehr oder weniger sämtlich fremd.“

„Sie scherzen, Fräulein Nunnemann!“ sagte ich, sie ganz erschrocken ansehend.

„Keine Spur – wirklich Kindting, keine Spur! Und siehst Du,“ sie klopfte mich freundlich auf die Wange, „darum war ich vorhin so entzückt, als ich hörte, wir würden zusammen das Examen machen. Es ist ja eine offenbare Fügung des Himmels. Denn, nicht wahr, Kindting, Du wirst doch Deine Lehrerin, die Dich immer so lieb gehabt hat und der Du so viel dankst, nicht im Stiche lassen? Du wirst mir aushelfen?“

„Aber Fräulein Nunnemann!“ rief ich, sobald ich begriff, was sie eigentlich wollte, mit der ganzen Empörung des Juristenkindes und der wohlgedrillten Seminaristin, „das darf ich ja nicht! Und selbst, wenn ich es trotzdem wollte, ich könnte es ja gar nicht!“

„Natürlich kannst Du es,“ sagte Fräulein Nunnemann tief verletzt, „man kann alles, aber freilich, wenn Du nicht willst! – Kindting,“ fuhr sie überredend fort, „ich habe Dir doch so oft etwas nachgesehen, als ich damals bei Euch war, das willst Du mir doch gewiß nicht dadurch vergelten, daß Du mich nun im Stiche läßt!“

„Ich könnte Ihnen ja aber gar nicht helfen,“ sagte ich, immer noch halb empört, halb verblüfft. „Wie sollte ich es denn machen? Erstens weiß ich doch noch nicht einmal, ob ich selbst bestehe, und zweitens sitzen wir ja nach dem Alphabet, also ist Ihr Platz weit von meinem entfernt. Wie sollte es mir denn möglich sein, Ihnen zu helfen, Fräulein Nunnemann? Können Sie das nicht einsehen?“

Nein, sie konnte es nicht einsehen. „Das habe ich nicht gedacht, daß Du mir alle meine Liebe so lohnen würdest,“ beharrte sie mit Thränen in den Augen, „denn die Sache ist ganz einfach – Du willst nicht.“

„Nein, ich will auch nicht, weil ich es nicht darf.“

Da zog Fräulein Nunnemann ihren Arm aus dem meinen und sah mich mit wahrhaft tragischem Ausdruck an.

„Gut,“ sagte sie, indem sie den rechten Zeigefinger drohend gegen mich schüttelte, „Du trägst dann aber auch die Verantwortung, wenn ich durchfalle und mein Leben künftig zerstört ist. Wer weiß, was ich thue, wenn ich zurücktreten muß. Nimm Du es dann auf Dein Gewissen!“

Eben wollte ich gegen diese unerhörte Zumutung lebhaft protestieren, da erklang die große Schulglocke, die uns zur Schlacht auf Leben und Tod rief. Ich ließ Fräulein Nunnemann stehen und eilte, in das große Klassenzimmer zu kommen, in dem die Prüfung abgehalten werden sollte. Fräulein Nunnemanns kornblumenblaues Kleid leuchtete einige Bänke vor mir aus all den ehrbaren schwarzen Gewändern, die es umgaben, herausfordernd hervor. Mich mit ihr in irgend eine Verbindung zu setzen, wäre selbst bei dem besten Willen unmöglich gewesen, und das war mir wirklich lieb.

Der erste Tag war den schriftlichen Arbeiten, der zweite und dritte der mündlichen Prüfung und der vierte und fünfte den Probelektionen gewidmet. Je weiter die Prüfung fortschritt, je seltener wurden die bleichen Wangen und je häufiger die fröhlich glänzenden Angen in unseren Reihen. Die Sache war ja ganz anders, als wir sie uns vorgestellt hatten. Es fiel keinem Menschen ein, Unerhörtes von uns zu verlangen, und nur sehr wenige hatten Ursache, einen üblen Ausgang zu fürchten.

Zu diesen wenigen gehörte das unselige Fräulein Nunnemann. Schon der erste Tag sollte ihr verhängnisvoll werden. Ich muß annehmen, daß sie gegen noch andere als die von ihr namhaft gemachten Fächer von jeher eine unüberwindliche Abneigung gehabt hatte. Ein paarmal, da ich von meinen schriftlichen Arbeiten empor und zufällig gerade auf sie blickte, sah ich sie lässig zurückgelehnt sitzen, ein fast unbeschriebenes Blatt vor sich, als gäbe sie den Versuch auf, etwas Unmögliches zu vollbringen. Als die gefürchteten Rechenaufgaben an die Reihe kamen, erhob sich plötzlich Fräulein Nunnemann von ihrem Sitze, und in die allgemeine lautlose Stille hinein klang es so erschreckend deutlich, daß alle Köpfe emporfuhren: „Dürfte ich vielleicht ganz ergebenst bitten, diesen Aufgaben eine etwas andere Form geben zu wollen? In der vorliegenden sehe ich mich außer stande, sie zu lösen.“

„Ich bedaure, mein Fräulein,“ entgegnete der Wache haltende Schulrat kühl, „daß wir unsere Anforderungen nicht nach Ihren Kenntnissen bemessen können.“

Er hatte sie schon ein paarmal mit nicht eben liebevollen Blicken gemustert, wenn er ihre so wunderbar wenig umfangreichen Arbeiten in Empfang nahm.

Fräulein Nunnemann zuckte mit den runden Schultern. „Dann muß ich bitten, mich von der Prüfung im Rechnen dispensieren zu wollen.“

„Ganz nach Ihrem Belieben, mein Fräulein.“

Worauf sich Fräulein Nunnemann erhob, ihre blaue Schleppe zusammenraffte und das Zimmer mit zurückgeworfenem Lockenhaupt und großer Würde verließ. Wir anderen warfen uns gegenseitig scheue Seitenblicke zu. Wer in einem gläsernen Hause wohnt, wirft nicht leicht mit Steinen, und ich glaube, keine von uns fühlte sich versucht, zu lachen.

Dies geschah unmittelbar vor der Erholungspause, die uns gewährt wurde. Als dieselbe begann und wir tief aufatmend in den Garten hinaustraten, spähte ich vergebens nach Fräulein Nunnemann, bis ich einen Zipfel ihres blauen Gewandes auf dem Korridor erblickte, wo sie, umgeben von unseren grimmen Examinatoren, heftig gestikulierend stand, um dann plötzlich aus ihrer Mitte zu verschwinden. Als wir uns auf den Ruf der Glocke wieder versammelten, fehlte sie.

„Wissen Sie schon, die mit dem blauen Kleide ist zurückgetreten,“ raunte mir meine Nachbarin noch hastig zu, als wir uns auf unsere Plätze begaben. „Die Herren haben ihr vorhin erklärt, daß keine Hoffnung für sie wäre. Selbst das brillanteste ‚Mündliche‘ könnte sie nicht mehr retten. Die Aermste!“

„Ja, die Aermste!“ dachte auch ich in ehrlichem Mitgefühl. Der Gedanke, was Fräulein Nunnemann nun wohl beginnen würde, drängte sich immer wieder zwischen die uns gestellte Aufgabe und mich, so daß ich ein paarmal ganz täppische Fehler zu korrigieren hatte. Sie hatte doch gesagt, sie wüßte nicht, was geschähe, wenn sie die Prüfung nicht bestände und damit ihr ferneres Leben zerstört wäre. Wie nun, wenn sie sich in der Verzweiflung in das Wasser stürzte oder sich mit Blausäure vergiftete oder sonst etwas Gräßliches und nie wieder gut zu Machendes beginge? Mußte es den Herren, die sie in solche Not trieben, und die trotzdem so heiter und gelassen zu sein schienen, nicht ein lebenslänglicher Gewissensvorwurf bleiben? Wenn mir nun etwas Aehnliches passiert wäre? Würde ich es wagen, nach einer solchen schmählichen Niederlage anständigen Menschen überhaupt noch in das Gesicht zu sehen? Schwerlich. Ich wollte noch heute nachmittag, nachher gleich, nachdem wir hier vorläufig entlassen waren, zu ihr gehen, sie zu trösten, ich – ja, weiter kam ich in den Gedanken nicht, denn ein hastiger, unwillkürlicher Blick auf die Wanduhr belehrte mich, daß mir nur noch zehn Minuten Zeit blieben, und emsiger als vorher glitt meine Feder über das Papier.

„Wir danken Ihnen für heute, meine Damen,“ sagten die Herren, nachdem unsere letzten Arbeiten eingesammelt worden waren, und mit einem Seufzer der Erleichterung erhoben wir uns alle. Die Externen schwärmten wie aufgescheuchte Bienen hinaus auf den Flur, nahmen ihre Hüte und Umhänge und gingen in ihr Quartier, und auch wir Pensionsküchlein hatten heute zum erstenmal Erlaubnis, unbeaufsichtigt einen Erholungsspaziergang zu machen. Schnell eilte ich in den Schlafsaal, vertauschte den „Examensfrack“ mit einem weniger feierlichen Kleide und ging auf die Straße.

Als ich jedoch vor die Hausthür trat, wurde mir eine Ueberraschung der verblüffendsten Art. Vor der gegenüberliegenden Konditorei saß auf einem eigens zu diesem Zweck dorthin getragenen Stuhl, denn es war sonst in der Stadt nicht gebräuchlich, auf der Straße zu essen und zu trinken, die Falten ihres Kornblumengewandes [547] malerisch um sich drapiert, Fräulein Nunnemann, einen Teller mit einer sehr großen Portion Eis vor sich. Sie löffelte vergnügt und nickte und lächelte, lächelte und nickte den Damen zu, die noch vor einer Stunde die Zeuginnen ihrer Niederlage gewesen waren und nun gruppen- und Paarweise langsam an ihr vorüberzogen.

Als aber die Herren Examinatoren endlich auch aus dem Hause traten und bei ihrem Anblick pflichtschuldigst den Hut zogen, da erhob sie sich von ihrem Sitze, machte ihnen einen tiefen und ausnehmend gut gelungenen Knix und lächelte geradezu triumphierend dabei.

Ich hatte ganz still gestanden und ihr verwundert zugeschaut, bis auch die letzten Nachzügler vorüber waren, und nun erst schien sie mich zu bemerken. Sie winkte lebhaft, ich möchte zu ihr hinüberkommen, und obschon ich einsah, daß ich sie vor Verzweiflung nicht zu retten brauchte, wußte ich doch nichts Besseres zu thun, als zu ihr hinzugehen. Zum erstenmal in den zwei Jahren, die ich in der Pension verlebt hatte, betrat ich die uns bis dahin streng verbotene Konditorei mit dem Bewußtsein, es ungescheut thun zu dürfen. Nicht, daß ich sie vorher wirklich niemals betreten gehabt hätte, aber es war bisher eben ohne dies stolze Bewußtsein geschehen.

Fräulein Nunnemanns sanftes Herz nährte offenbar keinen Groll mehr gegen mich. Vielleicht hatte sie inzwischen selbst begriffen, daß es wirklich nicht in meiner Macht gestanden hatte, ihr zu helfen. Sie streckte mir die Hände in der innigsten Weise entgegen.

„Komm her, Kindting, Du mußt mein Gast sein. Was magst Du? Eis? Chokolade? Es ist hier alles sehr gut. Ich habe bereits Verschiedenes durchprobiert. Das Eis empfehle ich Dir besonders.“

„Ja, ja,“ sagte ich ängstlich, „aber, bitte, nicht hier draußen auf offener Straße, liebes Fräulein Nunnemann, daran ist man hier nicht gewöhnt.“

„Nicht? Das thut nichts, Kindting, dann gehen wir hinein. Sie sind jetzt ohnehin alle vorbei und es zieht hier.“

„Aber warum sitzen Sie dann überhaupt hier?“ fragte ich verwundert.

Fräulein Nunnemann nahm ihren halbgeleerten Eisteller in die Hand, schob ihren Arm unter den meinen und zog mich in den Laden.

„Das will ich Dir sagen,“ erklärte sie dabei, einen letzten Blick auf die Straße zurückwerfend. „Ich habe hier schon eine Stunde gesessen – nicht weil mir dieser Aufenthaltsort besonders anziehend gewesen wäre – wirklich nicht, Kindting – sondern weil ich das meiner Ehre schuldig bin. Alle die kleinen Gänse, die da eben vorbeischnatterten und in ihrem Herzen vorhin über mich hohngelacht haben, und die hochnäsigen Herren Schulräte, oder was sie sonst sein mögen, brauchen sich nicht einzubilden, daß ich mir auch nur für einen Pfennig aus ihnen und ihrem Examen mache. Natalie Nunnemann hat sich vorhin zum Gespötte des versammelten Publikums hergeben müssen, das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen, Kindting.“

Ich sah sie mit großen Augen an, sagte aber nichts. Fräulein Nunnemann führte mich nun in einen einsamen Winkel der ohnehin beinahe menschenleeren Konditorei, bestellte Eis für mich und machte es sich an einem Tischchen bequem. Dabei verschwand der kampfesmutige Ausdruck ganz auf einmal von ihrem Gesichte, dasselbe wurde kummervoll und ernst, und nun sagte sie mit einer ganz anderen, niedergeschlagenen und kleinlauten Stimme: „Dir kann ich es ja sagen, Kindting, es hört uns niemand von den anderen, und ich glaube nicht, daß Du über mich hohnlachst, Du hattest immer ein gutes Herz – das Wasser geht mir bis an die Kehle! Ich weiß buchstäblich, wirklich buchstäblich nicht, was nun aus mir werden soll. Die Wahrheit zu sagen, ich finde es ungerecht, Dinge von einem zu verlangen, die man doch nun einmal nicht leisten kann. Die Leute müssen ja doch Rücksicht auf die Verhältnisse nehmen. Ich frage Dich nun, Kindting – was wird aus mir?“

Ich wußte es natürlich nicht und fragte, ob Fräulein Nunnemann keine Verwandten hätte, bei denen sie sich einige Zeit aufhalten und auf ein neues Examen gründlich vorbereiten könnte, aber sie schüttelte die Locken. Sie besaß nur einen alten Onkel, bei dem sie in ihrer Jugend gelebt zu haben schien, und der sich, wie sie sagte, in guten Verhältnissen befand, ohne gerade reich zu sein. Mit demselben hatte sie sich jedoch bereits vor vielen Jahren so gründlich überworfen, daß er, wie sie sich ausdrückte, den Wunsch geäußert hatte, sie möchte sich aus seinem Hause entfernen und es nicht wieder betreten. Und warum? Nur weil Fräulein Nunnemann sich nicht hatte entschließen können, in sein Geschäft, in dessen Geheimnisse er sie bereits völlig eingeweiht hatte, einzutreten, um dasselbe später ganz zu übernehmen. Sie hatte nun einmal den unbezwinglichen Drang nach höheren Lebenszielen in sich gespürt! Was kann man denn dafür, wenn man so idealistisch veranlagt ist? Welches Geschäft der cholerische alte Herr betrieb, erwähnte Fräulein Nunnemann nicht, und es interessierte mich auch nur mäßig.

Dagegen that es mir wirklich aufrichtig leid, als sie fortfuhr: „Du hältst mich meinem ganzen Auftreten nach vielleicht für vermögend, Kindting,“ – worin sie übrigens irrte. „Ich bin es nicht. Ersparnisse macht man nicht, wenn man kein Talent zum Rechnen hat. Ein paar Wochen kann ich mir wohl noch helfen, aber dann hat das Lied ein Ende. Wenn ich nicht bald eine Stellung wiederfinde, weiß ich, wie gesagt, buchstäblich nicht, was aus mir werden wird.“

Ich erbot mich, an meinen Vater ihretwegen zu schreiben, um seinen Rat zu erbitten. Hatte er doch, wie ich wußte, schon vielen Menschen geholfen.

Sie ergriff diesen Gedanken mit großer Behendigkeit und schon halb getröstet. Zunächst, so erklärte sie, wollte sie versuchen, auf eigene Hand noch eine Stellung zu finden, mißlänge ihr das, so würde sie mir schreiben, damit ich meinem Vater die Sache darlegen könnte. Als dies abgemacht war, hatte Fräulein Nunnemann ihre gute Laune bereits fast ganz zurückgewonnen. Sie zog mit fröhlicher Miene ihre Börse, um den Konditor zu bezahlen, steckte sie aber ebenso bereitwillig wieder ein, als ich es wagte, dieses Vorrecht für mich in Anspruch zu nehmen, obgleich die großen Portionen Eis, Kuchen und Chocolade, die sie im Laufe des Nachmittags vertilgt hatte, ein recht bemerkbares Loch in meinen kleinen, bescheidenen Beutel machten.

Und sie trennte sich endlich, da sie mit dem nächsten Zuge abreisen wollte, unter Versicherungen der innigsten Freundschaft von mir.

Ich glaube nicht, daß mein Vater, als ich eine Woche später glückstrahlend in die Heimat zurückgekehrt war und, vom Examen und von allem, was drum und dran hing, berichtend, auch von Fräulein Nunnemann erzählte, sehr entzückt war über die Aufgabe, die ich ihm zugedacht hatte, aber er sagte nichts darüber.

Mutter freilich konnte sich nicht enthalten zu bemerken: „Wenn Du uns da nur nicht etwas Schönes eingebrockt hast. Am Ende kommt sie nun hierher, wenn sie nichts anderes findet, und was sollen wir dann mit ihr beginnen?“

„Sie wird ja wohl nicht,“ sagte mein lieber Vater gutmütig, mir mit seiner schmalen Hand über die dicken, schwarzen Flechten, die sein Stolz waren, und über die heißen, in der letzten Zeit ein wenig schmal gewordenen Wangen streichelnd, „und wenn auch! Für einige Zeit wollen wir der armen alten Seele einen Zufluchtsort nicht versagen.“

Jedoch ein solches Opfer wurde nicht von uns verlangt. Als ich etwa vier Wochen wieder daheim war, traf eines Tages ein großer, mit sehr breitem Trauerrande versehener Brief von unbekannter Hand an mich ein. Banger Ahnungen voll, sah mir Mutter auf Hände und Augen, als ich ihn verwundert und ängstlich in der Hand hin und herdrehte, den Poststempel zu entziffern suchte und vergebens nachsann, wo ich die Handschrift schon möchte gesehen haben.

„Aber so öffne doch – dann wissen wir’s ja!“ rief sie endlich, von Ungeduld gefoltert.

Das war ein Vorschlag zur Güte. Ich öffnete, und heraus fiel ein vier Seiten langer, „Natalie Nunnemann“ unterzeichneter Brief. Auch eine Photographie lag dabei, Kabinettformat – Natalie Nunnemann in tiefster Trauer, in Krepp gehüllt bis an das Kinn und an die Handgelenke, mit einer Miene würdevoller, aber heiterergebener Wehmut – kurz, Natalie Nunnemann in ihrem Schmerze um ihren leider aus diesem irdischen Jammerthal im siebenundsiebzigsten Jahre seines reichgesegneten Lebens vor acht Tagen abgeschiedenen Onkel Peter Nunnemann. (Schluß folgt.)


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Blätter und Blüten.


Ernst Curtius †. (Mit Bildnis S. 533.) Aus der gewaltigen Zahl verdienstvoller Gelehrten, welche in diesem Jahrhundert unsere Kenntnis des klassischen Altertums so unermeßlich erweitert haben, ragen doch nur wenige hervor, welche es vermochten, der Darstellung ihrer Forschung selbst wieder eine klassische Form zu geben. In dem am 11. Juli d. J. in Berlin im hohen Alter verstorbenen Professor Ernst Curtius hat die deutsche Wissenschaft und das deutsche Volk einen dieser Hervorragenden zu betrauern; wie Mommsens „Römische Geschichte“ ist die „Griechische Geschichte“ von Ernst Curtius nicht nur ein Triumph deutschen Forscherfleißes, sondern auch ein Meisterwerk künstlerisch abgeklärter Darstellung auf dem Gebiete der Altertumswissenschaft, das als solches der Weltlitteratur dauernd angehört. Die hohe Auffassung vom Wesen der klassischen Philologie, die von seinen Lehrern Böckh, Welcker und Otfried Müller in seiner Studentenzeit auf ihn überging, war von derselben Begeisterung für die Kunst der Antike und das hellenische Schönheitsideal getragen, die auch der höchsten Blüte unserer klassischen Dichterzeit die Weihe gegeben hat. Schon im Vaterhause zu Lübeck, wo Ernsts hochgebildeter Vater das staatsmännische Amt eines Syndikus der hanseatischen Republik bekleidete, hatte sein Geist diese Richtung empfangen. Die Begeisterung für Alt-Hellas trieb ihn nach Abschluß seines Studiums an, Griechenland selbst aufzusuchen, um für seine ideale Auffassung der antiken Welt unter Anweisung durch bedeutende Forscher wie Brandis, Otfr. Müller und Karl Ritter die Anschauung der Wirklichkeit zu gewinnen. Während er in den Tempelhallen und Trümmern der Akropolis die Forschungen betrieb, welche er in seinem ersten Hauptwerk „Die Akropolis von Athen“ niederlegte, übersetzte er im Wetteifer mit Emanuel Geibel, seinem Lübecker Landsmann und Altersgenossen, der sich um dieselbe Zeit wie er als Hauslehrer in Athen befand – oft auf gemeinsamen Wanderungen durch die Landschaft des Peloponnes – Oden und Hymnen der althellenischen Dichter, und noch ehe er als Gelehrter ein Werk herausgab, erschien (1840) die Frucht dieser gemeinsamen poetischen Arbeit unter dem Titel „Klassische Studien“. Auch selbständig hat er wiederholt als Dichter mit Geibel gewetteifert, und dieser poetische Zug in ihm hat auch seinem Wirken als Forscher und Historiker den Stempel aufgedrückt, im besonderen seinen kunstvoll ausgestalteten Vorträgen, die er dann in seinen akademischen Stellungen bei festlichen Gelegenheiten hielt und die in den Bänden „Göttinger Festreden“ und „Altertum und Gegenwart“ vereinigt sind.

Ein solcher Vortrag, den er bald nach seiner Rückkehr aus Athen als Docent in Berlin in der dortigen Singakademie über die Akropolis hielt, ward auch zum Anlaß, daß er 1844 zum Erzieher des nachmaligen Kaiser Friedrich berufen wurde. Diese Berufung, welche ihm aufgab, in den Jahren 1845 bis 1849 den Studiengang des preußischen Kronprinzen in Berlin und Bonn zu leiten und zu überwachen, hat nicht wenig dazu beigetragen, seinem weiteren Wirken eine allgemeine Bedeutung zu geben. Denn es ist zweifellos, daß der Einfluß von Ernst Curtius auf die geistige Entwicklung des Kronprinzen jene kunstfreundliche und ideale Gesinnung, durch die sich dieser dann sein lebelang hervorthat, sehr wesentlich mit herangebildet hat. Und wiederum ist es der Sympathie des letzteren für seinen verehrten Lehrer und dessen Ideale zu danken gewesen, daß Curtius auf der Höhe seines Lebens mit jener großen Aufgabe betraut ward, die zu den größten Friedensthaten des Deutschen Reiches zählt, der Aufdeckung von Olympia.

Im Frühjahr 1874 ging Curtius, der inzwischen seit 1856 in Göttingen, seit 1863 in Berlin Professor gewesen war und u. a. auch sein epochemachendes Geschichtswerk auf Grund neuer Studienreisen in Griechenland vollendet hatte, im Auftrag des Deutschen Reichs nach Athen und schloß dort mit der griechischen Regierung den Vertrag ab, der die deutschen Ausgrabungen in Olympia genehmigte. Welche Schätze hier an der Stätte der herrlichsten Heiligtümer und großartigsten Festspiele der althellenischen Welt unter Curtius’ Leitung zu Tage gefördert wurden, ist weltbekannt, es genügt, an Kunstwerke wie die Nike des Paionios und den Hermes des Praxiteles zu erinnern. Seine litterarische Darstellung fand dieses umfassende, von herrlichstem Erfolg getragene Schaffen in dem Werke „Die Ausgrabungen in Olympia“. Als vor zwei Jahren am 2. September der achtzigste Geburtstag des hochverdienten Mannes gefeiert wurde, erfolgte als höchste Ehrung für ihn die Aufstellung seiner Marmorbüste in dem Museum zu Olympia, in welchem nunmehr die Funde aufbewahrt sind, die deutscher Scharfsinn und Fleiß unter Curtius’ Führung der berühmten Trümmerstätte althellenischer Kunst und Kultur entrissen und der heutigen Welt zurückerobert hat. P.     

Unter den Wappenpfählen von Vancouver. (Zu dem Bilde S. 541.) Der Nordwesten Amerikas bildete eine originelle Welt, die lange für sich abgeschlossen war, bis Jäger und Goldsucher und zuletzt der Zauberer Dampf sie aus tausendjährigem Schlummer weckte und an das laute Treiben der modernen Civilisation anschloß. In den Städten, die an dem eisernen weltenverbindenden Pfade der Nordpacific-Eisenbahn liegen, begegnet man mehr oder weniger civilisierten Indianern und man muß schon auf die Inseln längs der Küste Britisch-Kolumbiens hinausziehen, um das Thun und Treiben der Ureinwohner Nordwestamerikas in voller Ursprünglichkeit beobachten zu können. Für den Jünger der Völkerkunde boten jene weiten Gebiete reiche Fundgruben für die sonderbarsten Kunsterzeugnisse, mit vieler Mühe und unendlichem Fleiß ausgeführte Holzschnitzereien, die heute unsere Museen für Völkerkunde, namentlich aber das Berliner Museum, schmücken. Schon die frühesten Besucher jener Inseln, wie Vancouver und Königin Charlotte Archipel, glaubten sich beim Besuche der Fischerdörfer unter ein Volk von Holzschnitzern versetzt.

Aus der Ferne betrachtet erschienen jene Dörfer wie ein Wald von Mastbäumen; denn vor den einzelnen Häusern und in naher Entfernung von denselben am Meeresstrande waren Baumstämme aufgestellt, die oft vier bis fünf Meter hoch waren. Trat man näher, so sah man, daß die Hinterseite dieser Pfeiler rinnenförmig ausgehöhlt war, damit sie, an Gewicht leichter, ohne Schwierigkeiten aufgerichtet werden konnten, während die Vorderseite von oben bis unten mit Schnitzereien bedeckt war, die groteske Figuren darstellten. Die Häuser dieser Fischer erregten nicht minder das Staunen der ersten Besucher; sie waren nur aus Brettern gezimmert und mit Rindendächern bedeckt, aber auffällig erschienen sowohl ihre Größe wie innere Einrichtung; denn unter dem einen Giebeldache wohnten stets mehrere und oft sehr viele Familien. So gab es dort Häuser, die an 70 Meter lang waren und 700 Personen beherbergten!

Heute ist die Blütezeit dieses indianischen Hausbaus vorüber! Selten findet man noch ein gegen 20 Meter langes Haus, die Hütten sind kleiner geworden und dienen nur vier bis sechs Familien zu sechs bis achtzehn Personen zum Aufenthalt. Eine solche Hütte der Vancouver-Indianer führt uns das nach der Natur von E. Limmer gezeichnete Bild vor. Es steht am Ufer der Meeresstraße mit drei schlanken Pfeilern geschmückt. Die Bretterwände sind an zwei Meter hoch und oben im Rindendache ist ein viereckiges Loch zum Abzug des Rauches angebracht. Betreten wir das Innere eines solchen Wohnhauses, so finden wir, daß die Mitte einen großen freien Raum bildet, in dem sich der häusliche Herd oder eine einfache Feuerstelle befindet; rings an den Wänden sind Bretterverschläge angebracht, in die man durch Klappthüren hineinschlüpfen kann. Darinnen sind die eigentlichen Wohn- oder Schlafstätten der einzelnen Familien, die durch außen angemalte Totems, d. h. Stammes- oder Wappenzeichen der Geschlechter, gekennzeichnet werden.

Der Aufenthalt in einem derartigen Mehrfamilienhause ist keineswegs angenehm; denn nur mühselig findet der Rauch der Feuerstelle den Weg ins Freie und verqualmt völlig den Wohnraum. Dabei ist die Diele nicht immer so rein gefegt wie auf unserm Bilde, in Ecken und Winkeln liegen Abfälle der Fischmahlzeiten. Aber die Indianer fühlen sich wohl in ihrer Behausung, in Kisten und Kasten bewahren sie ihre Reichtümer, die namentlich in wollenen Decken bestehen, sind stolz auf ihr mit Schnitzereien versehenes Hausgerät, und die Diele dröhnt oft unter dem wuchtigen Tritte der Tänzer, die im hellen Feuerscheine in bunter Nationaltracht allerlei Mummenschanz aufführen.

Die Herstellung dieser pfeilergeschmückten, reich geschnitzten Häuser erfordert viel Arbeit und Mühe und ein williges Zusammenwirken vieler Hände. Darum wird auch die Aufstellung eines Pfeilers festlich gefeiert, wobei die Sitte des Potlatsch oder der Verteilung des Eigentums eines einzelnen eine große Rolle spielt. Will ein Mann ein Haus bauen oder einen Pfeiler errichten, so verteilt er einige Monate zuvor unter seine Freunde und die Hauptmitglieder des Stammes sein Eigentum, bestehe es in Decken oder Geld. Wieviel eine jede Person erhält, ist systematisch geregelt, jedes Mitglied des Stammes weiß lange voraus, wie viele Decken es bekommt. Kurz bevor die Arbeit ausgeführt werden soll, wird das verteilte Gut mit Interessen zurückgegeben, ein Mann, der z. B. vier Decken erhielt, giebt deren vielleicht sechs zurück. Dies gilt als eine Art Ehrenerweisung.

Was bedeuten aber die reich geschnitzten Pfeiler? Von den freistehenden Pfeilern sind sicher viele Denkmäler, die man zur Erinnerung an Verstorbene errichtet hat. Die an den Häusern angebrachten sollen dagegen Wappenpfähle sein, auf denen die Totems oder Stammeszeichen der Bewohner geschnitzt sind. Vielleicht steckt in dieser mühevollen Arbeit doch noch eine andere religiöse oder mythologische Bedeutung, welche die Indianer den Fremden verschweigen. Bemerkenswert ist es, daß alle diese Schnitzereien in früheren Zeiten nur mit Hilfe von Stein- und Hornmessern ausgeführt wurden. *     

Sonntagsbesuche in der Sommerfrische. (Zu dem Bilde S. 536 und 537.) Nicht jeder, der Frau und Kinder während der Schulferien eine Sommerfrische aufsuchen läßt, ist für seine Person in der Lage, sich in gleichem Umfange diese Erholung zu gönnen. Gar viele müssen daheim bleiben bei der Arbeit und können nur des Sonntags daran denken, die heiße Stadtluft mit der Labung zu vertauschen, welche Wald- und Höhenluft bieten. Gut haben’s dann die, deren städtischer Wohnort nicht zu weit von der schönen Alpenwelt gelegen und mit dieser durch die Eisenbahn verknüpft ist, so daß sie in der Lage sind, nicht nur den Ihrigen ein trauliches Asyl in der nervenstärkenden Weltabgeschiedenheit einer Sommerfrische im Hochgebirg zu bereiten, sondern auch des Sonntags mit ihnen diesen Genuß zu theilen. Das ist dann eine Wiedersehensfreude, wenn morgens in der Frühe der erste Zug die zärtlichen Ehemänner und Familienväter, die gestern noch im Staube der Stadt schwitzend und seufzend ihrem Berufe nachgingen, in die thaufrische Bergwelt hinausbringt, um an der Seite der geliebten Frau, im Spiel mit den da draußen herrlich gedeihenden Kindern den freien Tag zu verbringen! Da feiert die Familienliebe festliche Stunden und das gegenseitige Entbehren während der Woche steigert die Wonne, mit der ein solcher Sonntagssommerfrischler beim Begrüßen der Seinen empfindet, welche Quelle des Glückes er in ihnen besitzt.


Inhalt: [ Verzeichnis der Beiträge und Illustrationen. Z. Zt. nicht dargestellt.]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 32. 1896.


Luise Fuhrmann, die jüngst verstorbene Oberin des Viktoria-Pflegehauses im Friedrichshain, Berlin, ist nicht minder berechtigt als manche bekannte Namen, unter die besten Pioniere der Frauenarbeitsbewegung gezählt zu werden, denn ihrem aufopfernden und unermüdlichen Streben entsprang die Pflegeorganisation des weltbekannten großen Krankenhauses und die Schule, welche jährlich eine Anzahl vortrefflich gebildeter Pflegeschwestern in den öffentlichen und Privatdienst entsendet. Luise Fuhrmann selbst hatte sich ihre Kenntnisse vormals mühsam erwerben müssen; sie war Erzieherin in England, aber zugleich eine so hervorragend begabte und tüchtige Persönlichkeit, daß die damalige Kronprinzessin Viktoria sie veranlaßte, sich dem Pflegeamt zu widmen, um dann, in den besten englischen Spitälern gründlich vorgebildet, 1882 die Leitung des damals noch kleinen und wenig vermögenden Viktoriahauses zu übernehmen. Bald zeigte es sich, daß zur Erreichung größerer Resultate der Anschluß an ein großes Krankenhaus nötig sei, und deshalb ergriff die Vorsteherin mit Freuden die sich darbietende Gelegenheit, mit ihren Schwestern die Pflege in dem großen städtischen Krankenhaus im Friedrichshain zu übernehmen, wo man vorher mit den ewig wechselnden, unzuverlässigen Privatpflegerinnen schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Nun begann unter der Leitung der hochbegabten Oberin mit dem sicheren Blick und der unverwüstlichen Arbeitskraft eine neue Aera des Wohlbefindens für die Kranken, der vortrefflichsten Organisation für das Ganze. Staunend sahen im Anfang die vorhandenen, gegen die kleine Schar der Eindringlinge feindseligen Wärterinnen, wie diese im voraus verspotteten „feinen Damen“ arbeiten konnten, wie es überall hell und behaglich wurde, wie die Oberin das Größte und das Kleinste in unermüdlicher Pflichttreue und warmer Menschenliebe besorgte. Solchem ungewöhnlichen Streben fehlte denn auch der Erfolg nicht: längst ist das Spital im Friedrichshain als Musteranstalt bekannt, seine Pflegeschule wird von allen Seiten in Anspruch genommen und sieht ihr Arbeitsfeld sich stets erweitern, kann aber trotz der Zahl von 200 Schwestern den von Städten und Privaten ergehenden Forderungen häufig nicht genügen. Das körperliche und geistige Wohl der Schwestern lag der Oberin stets nahe am Herzen, sie sorgte dafür in mütterlicher Treue und hat noch die Genugthuung erlebt, daß der Verein eine Altersversorgung für seine Invaliden gründete. Der am 31. Mai d. J. erfolgte Tod dieser seltenen, für ihre Pflicht begeisterten, hochbefähigten Frau, im Alter von erst 52 Jahren, bedeutet für die Anstalt einen schweren Verlust, aber keine Veränderung der Richtung. Nach wie vor können Schülerinnen sich bei der provisorischen Vertreterin, Oberschwester Fräulein Lina Quinke, Berlin NO., Landsberger Allee 19, melden, und im Interesse der leidenden Menschheit sowohl als der vielen nach einem Beruf sich sehnenden Mädchen ist zu wünschen, daß dies recht zahlreich geschehe. Bn.     

Luise Fuhrmann.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph J. C. Schaarwächter in Berlin.

Die Verfasserin von „Onkel Toms Hütte“ †. Am 2. Juli d. J. starb zu Hartford in Connecticut Frau Harriet Beecher-Stowe, die weltberühmte Verfasserin von „Onkel Toms Hütte“. Es gibt nur wenige Bücher, die eine so große Verbreitung erlangt haben wie diese gegen die Härten der Sklaverei gerichtete Erzählung. In den Jahren 1851 und 1852, als die Sklaverei in Nordamerika noch zu Recht bestand, erschienen in der Zeitschrift „National Era“ einige Skizzen aus der Feder von Beecher-Stowe, in welchen das traurige Los der Sklaven ergreifend geschildert und die Sklaverei als unmenschlich gegeißelt wurde. Sie erregten Aufsehen, so daß die Verfasserin die Skizzen erweiterte und im Jahre 1852 ein zweibändiges Buch „Uncle Tom’s cabin“ in Boston herausgab. Das Buch wirkte durch den edlen menschenfreundlichen Ton; in drei Jahren wurden von ihm in Amerika allein 313000 Exemplare abgesetzt; es fand auch den Weg ins Ausland und wurde in etwa zwanzig Sprachen, darunter auch ins Arabische, Chinesische und Japanische, übersetzt. Anhänger der Sklaverei warfen Beecher-Stowe vor, daß sie die Zustände übertrieben und das Elend der Sklaven zu grell geschildert habe. Daraufhin veröffentlichte sie im Jahre 1853 einen „Schlüssel zu Onkel Toms Hütte“, in dem sie nachwies, daß ihre Erzählungen bis auf die kleinsten Einzelheiten sich auf wirkliche Ereignisse stützten. Heute, da die Sklaverei in Amerika längst aufgehoben ist, hat das Buch, das die Befreiung der Sklaven so wesentlich gefördert hat, nur noch geschichtliches Interesse. Wohl aber wirkt es noch weiter im pädagogischen Sinne. Schon im Jahre 1853 hat die Verfasserin selbst „Onkel Toms Hütte“ für Kinder bearbeitet, und Jahrzehnte hindurch ist dieses Büchlein eine der beliebtesten Jugendschriften in der Neuen und der Alten Welt geblieben. Auch später war Beecher-Stowe in reger Weise litterarisch thätig, und besonderes Aufsehen erregten ihre Arbeiten über Lord Byron. – Harriet Elisabeth Beecher wurde am 14. Juni 1812 zu Litchfield in Connecticut geboren als Tochter des Pastors Lyman Beecher und Schwester des berühmten Predigers Henry Ward Beecher. Sie wirkte zunächst als Lehrerin und heiratete 1836 Professor Calvin E. Stowe. In den letzten Jahren lebte sie zurückgezogen bald in Hartford, bald in Florida, wo sie eine Orangenpflanzung besaß.

Harriet Beecher-Stowe.

Neue Reisebücher. Die Reiselust erfaßt in unserer Zeit immer weitere Kreise und dementsprechend blüht auf dem günstigsten Boden die Litteratur der „Reiseführer“. Wer würde auch heutzutage ohne ein Büchlein reisen, das in knapper Form ihm die wichtigste Auskunft über Land und Leute, Reiseverbindungen, Unterkunft und Verpflegung gewährt! Die Reiseführer schießen darum allsommerlich wie Pilze nach einem warmen Regen aus der Erde hervor. Jedes Städtchen, das sich einer nur etwas anziehenden Umgebung rühmt, hat seinen „Führer durch die Umgegend“. Von den „Neuigkeiten“ des Buchhandels auf diesem Gebiete möchten wir nur einige hervorheben, die ein allgemeineres Interesse verdienen. Vor allem sind da die neuen, auf das sorgfältigste durchgesehenen, verbesserten und erweiterten Auflagen der altbewährten Reisehandbücher von K. Bädeker (Leipzig) hervorzuheben. In der siebenundzwanzigsten Auflage liegt uns „Südbayern, Tirol und Salzburg“ vor; „Nordost-Deutschland“, die Gebiete von der Elbe und der Westgrenze Sachsens an umfassend, hat in diesem Jahre die fünfundzwanzigste Auflage erlebt; während von „Bädekers Berlin und Umgebung“ die neunte Auflage nötig wurde. Von der Anziehungskraft, die Italien immerfort auf deutsche Reisende ausübt, zeugt die Thatsache, daß von „Bädekers Mittelitalien und Rom“ die elfte Ausgabe veranstaltet werden konnte. Bädekers Kartenmaterial erweist sich auch in diesen Auflagen vorzüglich und den neuesten Veränderungen im Verkehrswesen auf das genaueste angepaßt. – Auch von „Meyers Reisebüchern“, die sich des besonderen Vorzugs großer Handlichkeit erfreuen, sind mehrere in neuen Auflagen erschienen: „Dresden und die Sächsische Schweiz“ in vierter, „Schwarzwald“ in siebenter, „Riesengebirge“ in zehnter und „Thüringen“ in dreizehnter Auflage. Der letztere Führer hat durch die Route „Der Kyffhäuser“ eine sehr zeitgemäße Bereicherung erfahren. Bildet doch das neue Kaiserdenkmal auf dem sagenumwobenen Berge das Reiseziel zahlloser Touristen! Eine Lücke in der Litteratur der Reisebücher füllt der handliche Band des ersten der neuen „Unionführer: Württemberg und Hohenzollern“ in zweckmäßigster Weise aus. Derselbe ist von der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart herausgegeben und bringt außer den üblichen Plänen und Karten noch eine große Fülle von Illustrationen, welche die schönsten Gegenden und denkwürdigsten Bauten Württembergs veranschaulichen. – Der Schar der Reisenden, die sich nach Tirol wendet, wird ein neues Bändchen von „Bruckmanns illustrierten Reiseführern“ (München, A. Bruckmanns Verlag) „Tirol. Süd-Westlicher Teil“ sehr willkommen sein. Dasselbe ist mit einer großen Touristenkarte und einigen Illustrationen ausgestattet. Neu sind auch die „Rundreisen in der Schweiz“ erschienen, ebenfalls illustriert und übersichtlich angeordnet, mit einem Verzeichnis empfohlener Bäder, Hotels u. s. w., in denen der Reisende Preisangaben und manchen nützlichen Fingerzeig findet. – Noch weiter südwärts geleitet uns der „Illustrierte Führer durch Dalmatien“ (A. Hartlebens Verlag, Wien). Derselbe bringt 67 Abbildungen und 6 Karten und ist in dritter, gänzlich umgearbeiteter Auflage erschienen. Das beweist uns wohl, daß Reisen nach dem schönen Dalmatien, nach Korfu und den Ionischen Inseln in den letzten Jahren wesentlich an Beliebtheit gewonnen haben. – Schließlich möchten wir noch auf ein neues Buch, „Illustrierter Oceanführer“ von Heinrich Lemcke (Gustav Weigel, Leipzig), hinweisen. Der Verfasser teilt in demselben allerlei Wissenswertes über den Ocean-Reiseverkehr mit und berücksichtigt auch besonders die Orient-, Nordland- und Westindienfahrten. Das Buch eignet sich zur Belehrung und Unterhaltung für Reisende und Touristen. *     

[548 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]


  1. Der Roman des Prinzen Eugen. Von Albert Pulitzer. Autorisierte Uebersetzung aus dem Französischen. Wien, W. Braumüller.