Die Gartenlaube (1896)/Heft 33

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 33.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Ist’s erlaubt?
Nach einer Originalzeichnung von L. Meggendorfer.


Der laufende Berg.

Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer.

     (9. Fortsetzung.)

Während Rufel der Straße folgte, klangen ihm aus der Daxenschmiede die Hammerschläge entgegen. Aber sie tönten nicht hell und gleichmäßig – es war etwas Gereiztes in der unruhigen Hast, mit der sie aufeinander folgten – und plötzlich endeten sie mit einem dröhnenden Schlag, als hätte Schorschl seinen Ingrimm über irgend eine böse Sache den schuldlosen Amboß entgelten lassen.

Rufel lauschte und lauschte; doch in der Schmiede blieb es still, und über der Esse war keine Spur von Rauch zu sehen.

Als Rufel zur Schmiede kam, sah er, daß ein Bauer einen wackligen Schubkarren, der noch mit mancherlei anderem der Reparatur bedürftigen Eisengerät beladen war, vor dem Thor der Werkstätte niedersetzte.

Es war der Bauer, dem der Leiterwagen gehört hatte. Er guckte in die leere Werkstätte. „He! Schmied!“

Nichts rührte sich, keine Antwort ließ sich hören.

Der Bauer ging zur Hausthür, stieß sie auf und rief: „He! Schorschl! Wo bist denn?“

Alles blieb stille.

„Natürlich! Ich hab’ mir ’s ja eh gleich’ denkt! … Jetzt kann ich wieder abfahren!“ Brummend faßte der Bauer nach seinem Karren und schob ihn wieder davon.

Mit beiden Armen über den Zaun gelehnt, hatte Rufel diesen Vorgang beobachtet.

„Nu also? Wo is er jetzt, der Herr Dax? Könnt’ Arbeit haben … und wo steckt er nu wieder?“

Da klangen aus dem Garten der Schmiede schmachtend gezogene Trompetentöne:

„Du, Du, liegst mir im Herzen,
Du, Du, liegst mir im Sinn …“

Wie rein und schön das klang! Es paßte so recht zu diesem klaren, von der scheidenden Sonne goldig angehauchten Herbstabend! Doch Rufel schien für poetische Naturstimmungen und musikalische Genüsse nicht das richtige Verständnis zu besitzen – denn er schnitt eine gar säuerliche Grimasse.

„Trumpeten blost ’r! … Und blost m’r wieder e Loch in mein’ Sack! … Nu will ich ihm aber doch e Wörtche sagen!“

Er trat in den Hof, aber dann kehrte er wieder um und wanderte seufzend davon. „Ich hab’s versprochen! Ich will heut’ nix mehr zu ihm mahnen gehen!“

[550] Mit inbrünstigem Crescendo klang es aus dem Garten der Schmiede:

„Du, Du, machst mir viel Schmerzen,
Weißt nicht, wie gut ich Dir bin!“

Schorschl, der hinter dem Haus zu Füßen eines Apfelbaumes saß, hatte, als er das Lied zu Ende geblasen, die Trompete in den Schoß gelegt und blickte melancholisch vor sich nieder. Es war ein Ausdruck ehrlich quälenden Kummers in seinem Gesicht.

Bei seinem Brüten und Sinnen griff er nach einem der überreifen Aepfel, die vom Baum gefallen waren und im welken Gras umherlagen – und während er Stück um Stück von dem Apfel abbiß, suchte er mit grübelnden Gedanken nach einem Ausweg aus seiner „Schlemastik“.

Er hatte Angst vor seiner „Lustigkeit!“ Bei all den Sorgen, die ihn drückten, bei diesem vergeblichen Warten auf Arbeit drohte wieder der alte, ungeduldige Schorschl in ihm die Oberhand zu gewinnen. Die „Lustigkeit“ zuckte ihm in allen Gliedern und rollte in seinem Blut, sie zog ihn vom Amboß fort, hinüber ins Wirtshaus, hinunter zum Bach, hinauf auf die Berge – ganz besonders in die Gegend der Simmerau.

Er sah es klar und deutlich ein, daß er diesem prickelnden Zug auf die Dauer nicht widerstehen könnte, trotz all seiner guten, redlichen Vorsätze. Ja, er wollte ein braver, ordentlicher Kerl werden – ganz ehrlich wollte er das – aber er merkte auch, daß er das „Bravsein“ so ganz aus sich allein nicht fertig brächte. Er brauchte Hilfe dazu – die Hilfe der anderen! Und die wollten nicht kommen, wollten ihm die Hand nicht reichen!

„Hol’ s’ der Teufel alle miteinander, die mißtrauischen Geizkragen!“

In seinem Aerger schleuderte er den halb verzehrten Apfel wütend gegen einen Baumstamm, daß der Saft in Strahlen auseinanderspritzte.

Wenn nur wenigstens eine ihm die stützende Hand reichen möchte – eine einzige nur, meinte er.

„Die da droben!“

Wenn die an ihn glauben möchte! Die könnte alles aus ihm machen! Könnte ihn von innen heraus umkehren wie einen fleckig gewordenen Sonntagsrock, so daß die bessere Seite nach außen käme! Wenn die mit ihrem „süßen Stimmerl“ zu ihm sagen möchte: „Ja, Schorschl, ich bin net wie die andern, schau, ich hab’ noch ein bißl Vertrauen auf Dich, und meiner Seel’, ich möcht’s riskieren mit Dir! Aber gelt, Schorschl, das siehst doch ein, ich kann doch kein’ Lumpen heiraten, der bis über d’ Ohrwatscheln in Schulden steckt … schau, ich bin doch ein ordentlich’s Madl!“

„Ja, Vroni, da fehlt sich gar nix!“ So würde er dann sagen. „Ein brävers Madl, wie Du bist, giebt’s in der ganzen Welt nimmer!“

„No also, schau,“ müßte dann Vroni wieder sagen, „wenn’s Dir schon gar so viel z’ thun is um mich, so mußt Dich halt auch danach aufführen und ein bißl ein’ anderen aus Dir machen! Fest antauchen mußt halt, weißt, und die Geduld net verlieren … nachher geht’s schon! Mit dem richtigen Willen laßt sich alles machen in der Welt! Pack’s halt an, Schorschl, pack’s an! Und laß nur nimmer aus! Hast ja g’sunde Fäust’, und ’s g’scheite Köpfl fehlt Dir auch net! Und wenn Deine Schulden abg’arbeit’ hast und ich hab’ mich überzeugt, daß D’ ein anderer worden bist, so komm halt wieder und frag’ an bei mir! Und unter der Zeit, weißt, da därfst Dich schon diemal an mei’m Fensterl anschauen lassen für ein’ heimlichen Plausch, daß ich Dir wieder ein bißl Mut zusprich! So, und jetzt geh, Schorscherl, pack’s an!“

Ja, ja, ja! Wenn die da droben so zu ihm sprechen möchte, dann wäre ihm gleich geholfen! Dann hätte er doch ein Ziel vor Augen, einen Zweck, einen Halt, eine Freude bei der Arbeit! Dann wüßte er doch, wofür er sich plagen, schinden und gedulden sollte! Und dann hätte er auch gleich das Recht, für die kommende harte Zeit sich eine Wegstärkung mitzunehmen – würde jauchzend das Hütlein in die Luft werfen, sein Schätzlein in heißer Dankbarkeit umhalsen und ihm „eins ’naufdrucken aufs Göscherl, aber schon ein g’hörigs Bussel“ – eines, das ausgab für ein halbes Jahr!

„Herrgott sakra! Herrgott sakra!“

Während er sich das so vorstellte, wurde ihm ganz warm ums Herz, und seine Backen fingen zu brennen an – wie in der Esse die Kohlen, wenn der Blasbalg getreten wird.

Und weshalb sollte sie nicht so zu ihm sprechen? Wäre denn das so ganz unmöglich?

„Sie is doch so ein liebs und grundguts Madl! Und hat’s Herz am richtigen Fleck!“

Wenn er das „Sprüngerl“ in die Simmerau hinauf riskieren würde? Um ein offenes und ehrliches Wörtlein mit Vroni zu reden?

„Meiner Seel’! Ich thu ’s!“

Mit diesem Entschlüsse sprang er lachend auf, setzte die Trompete an den Mund und blies mit schmetternden Klängen das Liedlein:

„Maderl, Maderl, laß Dich fragen,
Thut für mich Dein Herzerl schlagen?
Geh, mußt net so heimlich sein,
Maderl, Maderl, g’steh’ mir’s ein!“

Lachend spähte er gegen die Simmerau hinauf und lauschte dem Echo.

Von neugestärkter Hoffnung erfüllt, kehrte er in die Werkstätte zurück und schmiedete mit lustigem Eifer noch ein paar überflüssige Hufeisen, bis der Abend sank und das Licht zu erlöschen begann.

Mit einer Sorgfalt, wie er sie seit langen Jahren nicht geübt hatte, räumte er die Werkstätte auf, schloß das Thor und versperrte die Hausthür.

Die Trompete unter der Joppe verbergend, wanderte er durch die Dämmerung bergan und pfiff dazu in hoffnungsreichem Seelenvergnügen eine heitere Weise vor sich hin.

Der Wind hatte umgeschlagen. Unruhig und frostig blies er im sinkenden Dunkel über die Berggehänge hernieder und verkündete einen der jähen Wetterstürze, wie sie dem Herbst in den Bergen eigen sind. Wohl zitterte in der Höhe des Himmels der freundliche Schein zerstreuter Sterne aus dem tiefen Blau hervor, und die nordöstlichen Bergspitzen waren angehaucht vom matten Silberglanz des steigenden Mondes; doch von Südwesten hob sich eine langgestreckte schwarze Wolkenschicht hinter den Felswänden empor und verschlang einen leuchtenden Stern um den andern. Vorgeschobene Nebelstreifen griffen nach allen Seiten aus, verschleierten den Mond, erstickten sein Licht und stülpten die Wetterkappen über alle Spitzen und Grate.


9.

In der Simmerau waren sie schon zu früher Abendstunde schlafen gegangen, gebrochen und müd’ von der angestrengten Arbeit.

Am verschobenen Balkenrost und am niedergebrochenen Verhau der Böschung war freilich nur wenig gebessert worden. Dafür aber waren die Eisenschlaudern in die zersprungene Mauer eingesetzt, die Wandnarben waren mit Mörtel überstrichen, und noch in der Dämmerung hatte Mathes die ganze Rückseite des Hauses frisch geweißt, damit der Vater am Morgen wieder eine schöne, tadellose Mauer sehen möchte.

Vor dem Schlafengehen waren sie noch eine Weile unter der Hausthür gestanden und hatten hinuntergelauscht ins Thal, wo das aus dem unterhöhlten Berg hervorströmende Wasser schwächer zu rauschen, also auch spärlicher zu fließen schien.

„’s Wasser wird weniger mit jedem Tag,“ hatte Mathes gesagt, „das hilft uns, Vater!“

„So? Meinst? … Ja ja, hast recht, wenn ’s Wasser weniger wird, kann’s unt’ drin im Boden nimmer so gar viel ausfressen!“

Und einen zweiten Trost hatte ihnen der schneidend kalte Wind und der Anblick der aufsteigenden Wolken gebracht.

Mathes hatte gleich die ersten Nebelflocken gewahrt, welche hinter den Felswänden emportauchten. „Da schau ’nauf, Vater! Da kommt was, mein’ ich, was Dir g’fallen könnt’!“

„G’fallen? Aber Bub? Was redst denn? Die schauen sich ein bißl naß an … und ich fürcht’, sie lassen fallen!“ So hatte Michel gesagt; aber aus dem zögernden Klang seiner Worte hatte die Hoffnung herausgeredet, daß er Widerspruch finden möchte.

„Fallen lassen s’, meinst? Ja! Aber kein Wasser net! Schau nur, wie hinter’m Nebel die schweren Wolken nachdrucken … völlig bleifarben … kannst mir’s glauben, Vater: die tragen Schnee!“

„Ja ja … jetzt glaub’ ich’s schon bald selber!“

„Paß auf! Die bringen über zwei, drei Tag’ den richtigen Winter! Und d’ Ruh’ für uns.“

„D’ Ruh’ für uns!“ hatte Michel leise wiederholt. Und die dürren, zitternden Hände faltend, hatte er zum Himmel aufgeblickt und hatte, als wäre ihm ein besseres Gebet nicht eingefallen, ein [551] paarmal dieses eine Wort noch vor sich hin gemurmelt: „D’ Ruh’ für uns! … D’ Ruh’ für uns!“ Dann hatte er Gesicht und Brust bekreuzigt. „Heut’, mein’ ich, schlaf ich ein bißl besser! … Komm, Mathes, schauen wir halt, daß wir d’ Ruh’ finden. Morgen heißt’s wieder fest arbeiten!“

Sie waren in den Flur getreten. Und hier in dem dunklen Raum, in dem sich der Ausdruck eines Gesichtes nicht mehr unterscheiden ließ, hatte Mathes völlig unvermittelt gefragt: „Du, Vater? Hast einmal was reden hören, als ob der Purtscheller ein G’schäft mit ’m Juden hätt’?“

„Warum fragst?“

„Weil ich den Rufel vor ’m Purtschellerhof auf der Hausbank hab sitzen sehen.“

„Den Rufel? So? So? Ah na! Der Rufel laßt sich auf schieche Sachen net ein! Da hat’s kein’ G’fahr net! Wenn’s ein anderer wär, net der Rufel … so müßt man sich freilich bald ein bißl was denken! Aber na! Der Herr Purtscheller braucht kein Juden net! So steht er doch net! Na! Ein’ Holzhandel, mein’ ich, gilt’s halt! Drüben im Wald is viel Holz g’fallen! Das möcht’ er halt gern verkaufen, der Herr Purtscheller … denk’ ich mir! Aber anbringen wird er ’s hart! Ja!“

Mathes hatte die Stube betreten, ohne ein Wort zu erwidern.

Dann war es in dem kleinen Hause still geworden. Kaum hatte Michel den weißen Kopf in die Kissen gedrückt, da war auch schon ein fester Schlaf auf seine müden Augen gefallen – zum erstenmal seit langen Wochen. Er schnarchte sogar ein bißchen. Das konnte Mathes hören, der in der finsteren Stube sein hartes Lager auf der Ofenbank eingenommen hatte; er lag mit offenen Augen, doch ohne sich zu regen.

Nur Vroni war noch auf und geisterte beim flackernden Schein eines Talglichtes in ihrer Kammer umher.

Zuweilen fuhr ein kalter Windhauch durch das offene Fenster und machte die kleine Flamme noch heftiger zucken. Mauerbrocken waren über die Dielen zerstreut, neben einer Mörtelkufe lagen Spitzhammer und Kelle und an der Wand sah man noch die offenen Löcher, in welche die Schraubenmuttern der eisernen Schlaudern eingesenkt waren. Der Tag hatte nicht mehr ausgereicht, um auch auf der Innenseite der gesprungenen Mauer den Schaden völlig auszubessern und die kleine Kammer wieder in wohnliche Ordnung zu bringen. Deshalb sollte Vroni drüben in der Stube schlafen; sie wäre lieber in ihrer Kammer geblieben – aber weil es der Vater haben wollte, that sie ohne Widerspruch nach seinem Willen und wickelte, um Auszug zu halten, die Bettdecke mit dem Unterbett und einem Kissen zu einem Pack zusammen.

Unschlüssig stand sie eine Weile mit schlaff niederhängenden Armen. Irgend etwas mußte sie noch in dem Stübchen zurückhalten – doch was es wäre, schien sie selbst nicht zu wissen. Langsam ging sie umher, schob mit dem Fuß die zerstreuten Mauerbrocken zu einem Häuflein zusammen, strich das rotgewürfelte Tuch auf der Kommode glatt, obwohl es keine Falten hatte, faßte hier etwas an, rückte dort etwas von der Stelle, öffnete die Thüren des blaugestrichenen, mit zwei flammenden Herzen bemalten Schrankes und schloß sie wieder. Lange betrachtete sie die beiden roten Dingerchen, als gäben ihr die Bilder dieses brennenden Herzenpaares viel zu denken – und das mochten nicht sehr erfreuliche Gedanken sein, denn eine harte Furche war zwischen Vronis Brauen gesenkt und herber Unmut blickte aus ihren Augen. Schließlich hob sie gar die Hand und strich über die Bretter, als wollte sie versuchen, ob die ärgerliche Malerei sich nicht fortwischen ließe. Aber das war gute, dauerhafte Farbe – in all den fünfunddreißig langen Jahren, seit dieser Kasten neu und frisch lackiert auf Mutter Katherls Hochzeitswagen seinen Einzug in der Simmerau gehalten hatte, waren die zwei roten Herzen kaum merklich abgeblaßt.

„So was Dummes! … Solchene Sachen auf ein’ Kasten malen!“

Vroni ging zu ihrem Lager und griff nach dem Bettzeug; doch wieder sanken ihre Arme. Seufzend ließ sie sich auf einen Sessel nieder, legte die Hände in den Schoß und blickte verloren vor sich hin.

Ein leises Klatschen machte sie aufblicken – vom Garten herein war eine weiße Katze auf das Fensterbrett gesprungen.

„So, Miezerl? Kommst heim?“

Leise miauend sprang die Katze auf die Dielen nieder, trippelte näher und ließ sich in aller Behaglichkeit eine Weile den Rücken krauen; dann sprang sie auf das Bett, machte sich’s bequem und begann die Pfoten zu lecken.

Wenn sich die Katze putzt, so kommt Besuch – sagt der Volksmund. An dieses Sprichwort dachte Vroni, doch schien sie von seiner Weisheit nicht sonderlich erbaut zu sein. „Ich dank’ schön! Das ging’ mir grad’ noch ab!“ murrte sie vor sich hin und erhob sich. „Ja, Miezerl, thu mir mein Stüberl hüten!“ Sie drückte am Fenster die Flügel zu, nahm seufzend das Bettzeug auf den Rücken und verließ mit dem Licht die Kammer.

In der Wohnstube machte sie auf den Dielen ihr Lager zurecht, blies das Licht aus und legte sich in den Kleidern zur Ruhe; nur das Mieder nestelte sie auf.

„Gut’ Nacht, Mathes!“

„Gut’ Nacht, Vroni!“

Eine Weile war Stille in dem finsteren Raum; dann drehte sich Mathes auf die Seite und sagte ganz leise: „Du, Vroni?“

„Was?“

„Heut’ hat er mir g’fallen!“

„Wer denn?“

„Der Schorschl.“

„So?“ Vroni bearbeitete mit der Faust das widerspenstige Kissen. „Geh, laß mich lieber schlafen! Um so ein’, wie der is, spar’ ich mir den Schlaf net ab! … Warum sagst es denn mir grad’!“

„No ja … ich hab’ mir halt ’denkt …“

„Denk’ Dir lieber ’was G’scheiters!“

„No, weil halt neulich g’meint hast: um den is schad’!“

Vroni schwieg und wickelte sich fester in die Lodendecke.

„Ja! G’fallen hat er mir!“ wiederholte Mathes nach kurzem Schweigen. „G’arbeit’ hat er wie ein Roß! Ich sag’ Dir’s, wenn er ernstlich mögen thät’, der Schorschl, könnt’ er sich bald wieder in d’ Höh’ rappeln! D’ Schmiederei versteht er wie net leicht einer! Gut macht er sein’ Sach’! Und billig! Drei Mark hat er verlangt für die Schlaudern … jeder andere hätt’ fünf, sechs Mark begehrt!“

„Natürlich!“ fiel Vroni mit gereizter Stimme ein. „Wenn der net verschleudern und ’s Geld ’nausschmeißen kann, so is ihm ja net wohl!“

„Aber geh! Wirst es ihm doch net vorwerfen, daß er ’s für uns so billig macht!“

„Wir brauchen nix g’schenkt! … Von dem! … Aber hast ihn doch gleich ’zahlt?“

„Na! Ich hab’ kein Geld net bei mir g’habt.“

„Was?“ Vroni richtete sich auf. „Schuldig bist ’blieben? … Bei dem? … No, wart’! Gleich morgen zahl’ ich die drei Mark, gleich morgen, wenn ich ’nunter komm’, ’s Brot holen! Gleich morgen! Gleich morgen!“

„So geh! Dem Schorschl pressiert’s doch net!“

„Aber mir!“

Da wurde die Kammerthür geöffnet und Mutter Katherls flüsternde Stimme ließ sich hören: „Gehts, Kinder, seids doch ein bißl stad! Der Vater hat so ein’ guten Schlaf g’funden! Thuts ihn doch net aufwecken!“

Lautlos schloß sich die Thüre wieder.

In der Stube herrschte eine Weile atemlose Stille; dann schalt Vroni mit kaum vernehmlichem Gelispel: „No also! Da hast es jetzt! Daß den Vater noch um sein’ guten Schlaf bringst … wegen dem da drunten!“

„No schau, ich hab’ ja doch ganz stad g’redt … laut bist ja Du worden!“

„… Gut Nacht, sag’ ich!“

Es pumperte auf dem Stubenboden – so unwillig hatte sich Vroni auf die Seite geworfen.

Ein paar schweigsame Minuten vergingen; dann zischelte Mathes: „Pst! Vroni!“ Keine Antwort kam – aber Mathes mußte ihr das noch sagen: „Heut hab’ ich ’s Linerl g’sehen!“

„Das hätt’ Dir Dein Schutzengel ersparen können! … Gut’ Nacht!“

Jetzt blieb Mathes die Antwort schuldig. Schwer atmend bedeckte er das Gesicht mit den Händen und drückte den Kopf in die Ofenecke.

So lagen sie stumm, jedes mit seiner nagenden Qual im Herzen. Aber die schwere Arbeit des Tages hatte sie beide zu müd’ gemacht, als daß sich der Schlummer durch diese heimlichen [552] Gedanken allzulange von ihren Augen hätte verscheuchen lassen. Sie schliefen ein – und gleichmäßig gingen ihre Atemzüge im Dunkel der Stube …

Draußen fuhr der kalte Nachtwind mit eintönigem Rascheln durch das welke Laub der Apfelbäume und über die Mauern.

Tiefe Finsternis war um das kleine Haus gelagert; in so dichter Menge deckten die Wolken schon den ganzen Himmel, daß der Mond mit keinem matten Zwielichtschein diese schwere Fülle des Gewölkes mehr durchdringen konnte.

In dieser schwermütigen, nur vom Wehen des Windes unterbrochenen Nachtstille ließ sich plötzlich ein Geräusch vernehmen – das Kollern eines Steines. Dann bei der Böschung ein Rutschen, ein Knacken von Aesten und ein Geklapper, als wäre Blech auf Holz gefallen.

„Sakra! Mein’ Trumpeten!“ wisperte eine Stimme, und ein schwarzer Klumpen, welcher tastende Arme zu haben schien, bewegte sich auf der Erde hin und her. „Ah, da liegt s’ ja!“

Jetzt wieder Stille. Nach einer Weile konnte man langsam schleichende Tritte hören – sie knisterten ein wenig, denn von der Kälte begann der nasse Boden schon hart zu werden – und mit diesen knisternden Schritten bewegte sich ein dicker, schwarzer Strich, welcher drei graue Flecke (ein Gesicht und zwei Hände) an sich hatte, von einem Baumstamm zum andern, scharf in der Richtung gegen ein kleines Kammerfenster.

Es war eine Arbeit, in solchem Dunkel dieses Fenster möglichst lautlos zu erreichen! Und Schorschl atmete erleichtert auf, als er endlich bei der Mauer stand. Er schien die Absicht zu haben, hier längere Zeit zu rasten, denn er richtete sich häuslich ein, trug eine Holzkufe, an die er mit den Knieen angerumpelt war, dicht neben das Fenster, stülpte sie um, ließ sich bequem darauf nieder und legte die Trompete hinter sich.

Mit dem Rücken an die Wand gelehnt und im Schoß die Daumen drehend, wartete er ein Viertelstündchen – um der Ruhe im Hause völlig sicher zu sein. Dabei lächelte er bald in die Finsternis hinaus, bald wieder blinzelte er die schwarzen, stillen Scheiben an.

Endlich nahm er sich das Herz und klopfte ans Fenster, ganz leise.

In der Kammer rührte sich nichts.

Er klopfte wieder, ein drittes und ein viertes Mal, und immer lauter – doch in dem Stübchen blieb alles still.

„Herrgott! Hat die heut’ ein’ Schlaf!“

Wieder, wie damals bei jenem ersten Besuch, wollte er das Fenster ein wenig aus dem Rahmen drücken, um durch die Fuge hineinzuflüstern.

„Vronerl? … He! … Vroni! … Hörst mich denn net?“

Nein, sie hörte nicht!

Er drückte fester; da gab der Fensterflügel plötzlich nach und legte sich klirrend einwärts gegen die Nischenmauer.

Im ersten Augenblick erschrak Schorschl – dann aber kicherte er vergnügt: „Jetzt muß sie ’s aber doch g’hört haben!“

Er lauschte. Und richtig, aus der Tiefe der Kammer hörte er ein mattes, unbestimmbares Geräusch! Sehen konnte er nichts, denn das Innere des Stübchens lag wie ein schwarzer Fleck vor ihm – aber er wußte es noch vom letzten Mal: dort hinten in der Ecke stand das Bett – und genau aus dieser Richtung ließ das Geräusch sich vernehmen. Und wie sich das anhörte – ganz komisch – als hätte Vroni einen Leintuchzipfel in der Hand und klopfte damit gleichmäßig und sacht auf das Kissen oder an die Wand.

„Vronerl!“ flüsterte Schorschl mit seiner zärtlichsten Stimme. „Geh, was klopfst denn jetzt da? … Komm lieber ein bißl her ans Fenster! Schau, ich muß Dir was sagen! Mein Herz, mein Glück und mein Leben hängt dran! Schau, ich will ja doch nix Unrecht’s net haben! Bloß ein gut’s Wörtl sollst mir sagen, das mich ein bißl aufrichten könnt und das mir zum Bravsein den richtigen Mut macht! … Geh, Vronerl, komm her!“

Aber Vronerl kam nicht. Wohl schwieg jetzt dieses merkwürdige Klopfen – dafür aber schien die stumme Widerspenstige auf einen anderen Zeitvertreib geraten zu sein: sie zupfte mit den Nägeln am Leintuch umher.

„Vronerl! Schau, sei gescheit! Laß Dich erbitten und komm ein bißl her! … Oder hast meine Stimm’ net ’kennt? … Meinst, es is ein anderer? … Na na! Ich bin ’s! Der Schorschl!“

Vroni mußte das Gesicht in die Polster gedrückt haben, um ihr Kichern zu ersticken – meinte Schorschl – denn anders konnte er sich dieses neue, sonderbare Geräusch nicht deuten: es hatte eine entfernte Aehnlichkeit mit jenem Kudern, das ein Hündchen oder ein anderes Tier verursacht, wenn es sein Fell schüttelt.

„Aber Vroni! Geh! Auslachen mußt mich doch net! Schau mir is blutig ernst!“ Seine Stimme zitterte vor Erregung. „G’wiß wahr, Vronerl … Dein Wörtl von selbigsmal: ‚Du bist ein Lump!‘ … schau, Vronerl, das hat mich ’packt, wie der Teufel die arme Seel’! Nach’gangen is mir ’s bei Tag und Nacht! Und nimmer aus’lassen hat’s mich! Gleich gar nimmer aus’lassen! Und schau, Vronerl …“

Er war im Zug und redete weiter mit sprudelndem Geflüster. Alle Gedanken und Empfindungen der letzten Tage schilderte er mit offenherziger Wahrheit; beichtete all seine Schulden, aber auch seine guten und ehrlichen Vorsätze; mit zärtlichem Gestammel bekannte er der schweigsam Lauschenden, wie es plötzlich in ihm aufgedämmert wäre, daß er sie lieb hätte, so recht von Herzen lieb, „so z’tiefst aussi aus der tiefsten Seel’!“

Und wahrhaftig, heiße Zähren sickerten ihm durch den Schnurrbart, während er mit vorgestrecktem Hals in das stille, finstere Stübchen schwatzte: „Schau, Vronerl, ich weiß ja, daß ich Dich heut noch net wert bin! Und ehrlich g’sagt … ’s Bravsein wird mir hart! D’ Lüftigkeit rebellt mir im Blut, sie zwickt mich und kitzelt und beißt mich und möcht’ mich gern aus der Besserung wieder ’runterzarren auf die alten Lumpenweg’! Aber schau, Vronerl, Du könntst mein Schutzengel sein, mein’ Hilf’ und mein Trost. Wenn Du mir ein bißl Hoffnung geben thätst … wenn Du mir Dein lieb’s Handerl bieten möchtest und thätst mir sagen: Ja, Schorscherl, ich glaub’ Dir! … schau, Vroni, das könnt’ ein’ andern aus mir machen! Ein ganz ein’ andern! Und kein’ Schlechten net! … Geh, Vronerl, komm ein bißl her! … Schau, laß mich net fallen, thu mich ein bißl aufrichten! Geh, Vronerl, gieb mir Dein’ Hand!“

Schorschl schwieg und lauschte mit pochendem Herzen; doch aus der finsteren Kammer ließ sich kein Laut vernehmen.

Glühend stieg ihm das Blut zu Kopf und seine Stimme wurde heiser. „Vroni! Wenn D’ jetzt kein Wörtl net find’st … na! nachher rührt sich nix in Dir für’n Schorschl!“

Da hörte er jenes merkwürdige Klopfen wieder.

„Du, Vroni, ich sag’ Dir ’s: mach’ Dich net auch noch lustig über mich!“ Er dämpfte die lautgewordene Stimme und bat: „Geh, Vronerl, geh, so komm doch her! … Du! Ich sag’ Dir’s: trau mir net!“ Seine Stimme hob sich wieder. „Wenn net herkommst auf der Stell’ … meiner Seel’, so spring’ ich ’nein!“ Er machte auch gleich den Versuch, diese Drohung auszuführen, stieß sich aber die Stirne recht unsanft an einer Eisenstange des Gitters. Zur Mehrung seines Ingrimmes mußte er sich auch noch erinnern, daß er selbst vor einigen Jahren dieses verwünschte Fenstergitter geschmiedet hatte. „Natürlich! Das hat man von der Arbeit!“ Er faßte die Stange und rüttelte an ihr. „Vroni! … Spiel’ Dich net z’lang mit mir! … Oder ich geh’! Und mit ’m Schorschl is aus und gar! … Und Du hast ihn auf ’m G’wissen.“

Keine Antwort.

„Recht so! Is schon gut!“ Schorschl tappte nach seiner Trompete. „Mich siehst fein nimmer im Leben! … B’hüt Dich Gott!“

Er brachte, als er sich vom Fenster abwandte, diesen letzten erbitterten Abschiedsgruß kaum mehr aus der Kehle.

Aber da hielt es ihn plötzlich wieder fest. Er meinte in der Kammer einen leisen Klapp gehört zu haben, als wäre jemand mit nackten Füßen auf die Dielen gesprungen.

„Jesses, sie kommt!“ stotterte Schorschl. Und da er im gleichen Augenblick hinter dem noch geschlossenen Fensterflügel etwas Weißgraues über dem Fensterbrett erscheinen sah, sprang er mit jähem Satz zur Mauer zurück. „Vronerl!“ jauchzte er in erstickter Freude, und hurtig griff er mit der Hand in das Fenster, um zu haschen, was er für den weißen Arm des Mädchens hielt.

„Himmelsakra!“

Mit diesem erschrockenen Ausruf, der ihm zugleich als Schmerzensschrei diente, zog er die übel zugerichtete Hand wieder zurück.

Eine Weile stand er völlig sprachlos, bis es plötzlich mit bebendem Zorn aus ihm hervorbrach: „Fein! Nobel! Das muß ich sagen! Da schau her!“ Er streckte die zerkratzte Hand gegen das Fenster, „’s Blut lauft mir über d’ Finger ’runter! Wie Du, so kratzt ja net einmal die wildeste Holzkatz’!“

„Miaaau!“ klang es aus der Tiefe der finsteren Kammer.

[553]

Der Maler im Dorf.
Nach einer Originalzeichnung von P. Scoppetta.

[554] Dieser Spott war mehr als Schorschl vertragen konnte. „So! Net schlecht! So spielst Dich Du mit mir! … B’hüt’ Dich Gott, Du! … Morgen kannst mich suchen lassen im tiefsten Graben! … B’hüt Dich Gott, Du!“

Jetzt brauchte er kein Geräusch mehr zu scheuen. Mit plumpsenden Tritten stolperte er über den Hof gegen die Böschung. Als er droben auf der Wiese stand, blickte er zurück nach dem stillen Haus und lachte vor sich hin – mit einer Wut, bei der ihm die Thränen über die Backen liefen.

„Ins Wasser springen? … Wegen so einer? Ah na! Jetzt bleib’ ich grad’ am Leben! Grad’ mit Fleiß! Und so was von lumpen, wie ich jetzt anfang’, so was hat’s noch nie net ’geben! Und anschauen soll sie ’s müssen! Anschauen! Und soll sich sagen müssen alle Tag: ‚Den hab’ ich auf ’m G’wissen!‘ … Wart’, Du!“

Und damit sie auch gleich wüßte, welch einen edlen Vorsatz er in seinem Rachedurst gefaßt hätte, setzte er die Trompete an den Mund und blies mit gereizten, häufig überkippenden Tönen in die schwarze Nacht hinaus:

„O Du lieber Augustin,
’s Geld is hin
Alles is hin!
Hätt’ ich nur ’s Madl beim Kragen
Wollt’ ich noch gar nix sagen …“

Mit einem grellen Mißton brach er die Weise ab.

„Was? So ein’ Wunsch sollt’ ich noch haben? … Ah na! Da muß ich ihr schon was anders blasen!“

Wieder setzte er die Trompete an, und schmetternd klang es durch die Finsternis:

„Der Graf von Luxemburg
Hat all sein Geld verjuckt juckt juckt,
Der Graf von Luxemburg
Hat all sein Geld verjuckt!
Hat hunderttausend Tha-aler
In einer Nacht verjuckt juckt juckt …
Der Graf von Luxemburg
Hat all sein Geld verjuckt!
Tütüüüh!“

Das war das schönste hohe C, welches Schorschl noch je geblasen hatte.

„So! Und jetzt kann meintwegen alles hin sein!“

Mit wütendem Schwung schleuderte er die Trompete in die Nacht hinaus. Sie flog so weit, daß er sie gar nicht fallen hörte.

Aber etwas anderes hörte er – das Klirren eines Fensters und Mutter Katherls erregte Stimme: „So was is aber doch ein bißl gar z’ arg! Müde Leut’ aus der Ruh’ aufschrecken! Du Tagdieb, Du gottssträflicher!“

„Tagdieb? Was, Tagdieb!“ schrie Schorschl mit zornigem Lachen zurück. „Es is ja net Tag … es is ja Nacht! Und Dein Katzerl kann Dir von ein’ andern Dieb g’stohlen werden … vor mir hat’s Ruh’!“

Die Fäuste in die Hosentaschen bohrend, stürmte er über die Wiesen hinauf, ohne sich weiter um die zweifelhaften Schmeicheleien zu kümmern, welche Mutter Katherl und der aus seinem Schlummer aufgestörte Simmerauer hinter ihm herriefen.

Wohin er wollte, wußte er eigentlich selbst nicht; er stolperte bergauf und immer bergauf, bis er kopfüber in eine Erdschrunde des laufenden Berges purzelte. Dieser Sturz brachte ihn aus seinem blinden Grübeln zu klarer Besinnung – und nach all dem verrauchten Zorn befiel ihn eine namenlose Traurigkeit. Dazu schmerzten ihn alle Glieder von dem harten Fall. Mühsam schleppte er sich weiter bis zum Purtschellerwald. Hier wußte er eine Holzerhütte. Aber bei solcher Finsternis war sie schwer zu finden – und das setzte Püffe und Beulen an Ellbogen, Knieen und Stirne, bis er endlich unter dem niederen Rindendach geborgen war. Seufzend streckte er sich auf die harte Holzpritsche nieder und verschlang die Hände unter dem Nacken. Anfangs spürte er die Kälte nicht, denn wie ein siedheißes Bächlein rollte ihm das erregte Blut durch die Adern. Alle paar Minuten hörte er ein dumpfes Krachen im Wald – und dabei hatte er den christlichen Gedanken: „Wenn nur der Berg heut’ nacht den ganzen Wald einschlucken möcht’ … und mich als Pfefferkörndl auf ’m Butterbrot!“

(Fortsetzung folgt.)


Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Die friesischen „Schlickrutscher“.

In Wort und Bild geschildert von Schulte vom Brühl.

Dangaster Fischerhütte.

Es ist still geworden im Reich von den deutschen Friesen und ihren Thaten. Gemächlich sitzen heutzutage die Nachkommen der alten Stedinger, der Wangerer, Harlinger, der Ostringer, Rustringer und Butjadinger auf den fetten Marschen an der Weser, am Jadebusen und am Dollart, züchten schweres Rindvieh und die berühmten oldenburgischen Pferde, und die Getreuen in Jever senden dem großen Alten im Sachsenwald alljährlich die 101 Eier-Erstlinge, die der ihren Weiden so charakteristische Kiebitz, der freundliche Vogel „Kywitt“, extra für ihn legt. Vätersitte und Väterstärke, Ausdauer und Stetigkeit sind dem Stamm treu geblieben, und lebendig auch ist den Friesen die ruhmreiche Tradition ihres Volkes, das schon in grauer Vorzeit angewiesen war auf den Kampf mit dem tückischen Element, auf die Erwehrung der räuberischen Dänen und Normannen, auf die Abwehr benachbarter Fürsten, welche die selbstherrlichen „eddelfreen Vresen“ unter ihre Botmäßigkeit zu bringen trachteten.

Die alten Friesen, die ursprünglich an den Küsten zwischen Ems und Rhein saßen, hatten sich nach und nach bis nördlich an die Eider ausgebreitet. Die in schweren Kämpfen mit den Nachbarstämmen errungenen Uferstrecken waren freilich kein Land, darinnen Milch und Honig floß, und nur ein armseliges Leben konnten die unbedeichten Marschgegenden und Geest-(d. h. Dünen-, Sand-)Landschaften gewähren.

„Zweimal schwillt hier,“ erzählte bereits der römische Schriftsteller Plinius der Aeltere, „in einer Tages- und Nachtlänge der ungeheure Ocean auf und sinkt. Zweifeln möchte man bei diesem ewigen Kampf der Natur, ob es Land sei oder Meer, was man sieht. Hier und da ragen von der Natur aufgeworfene Hügel (heute ‚Wurten‘ genannt) hervor, welche Menschenhände nach den Erfahrungen der höchsten Fluten noch erhöhten. Auf diesen wohnt das ärmliche Volk in Hütten. Umringt von der Flut, sind diese Menschen Schwimmenden und, fällt das Wasser, Schiffenden gleich. Zu ihrer Nahrung haben sie weder Vieh noch Milch. Auch die Beute der Jagd fehlt in diesen Gegenden, wo kein Gesträuch gedeiht. Dürftig ist selbst der Fischfang. Aus Binsen flechten sie ihre Netze, worin sie die mit dem Wasser zurückeilenden Fische fangen. Um ihre Speise zu kochen und die von der Kälte starrenden Glieder zu erwärmen, trocknen sie, am Winde mehr als an der Sonne, hervorgeholten Schlamm und brennen ihn. In Gruben vor ihren Hütten fangen sie das Regenwasser auf und dies ist ihr einziges Getränk.“

Merkwürdig, wie manches von dieser Schilderung, die der alte Römer vor fast 1800 Jahren nach den Berichten anderer Schriftsteller entwarf, noch bis in die neuere Zeit, ja, bis in unsere [555] Tage, seine Gültigkeit hat. Diese Erkenntnis muß sich besonders jedem aufdrängen, der den 200 Quadratkilometer umfassenden Jadebusen, eine starke Einbuchtung der Nordsee, besucht und seine Natur erkundet hat. Ein kleines Flüßchen, die Jade, mag ursprünglich, in Verbindung mit dem gierigen Ocean, für die Bildung der ersten Ausbuchtung gesorgt haben. Und der „blanke Hans“, die stürmische Nordsee, fand Freude am Landverderb im Großen. Furchtbare Fluten verschlangen im Laufe der Jahrhunderte wiederholt weite Länderstrecken, Ansiedlungen und Hab’ und Gut der Menschen. Der Schiffer, der heute über die seichten Fluten dahinsegelt, fährt über versunkene Dörfer, und die feuchten Watten, über welche des Granatfischers „Schlöpe“ gleitet, waren ursprünglich lehmhaltiger, fruchtbarer Mutterboden.

„Schlöpen“ am Strande.

Und doch wußte der Mensch vielfach auch in diesen Gegenden seine Herrschaft zu behaupten! Langgezogene Deiche umsäumen jetzt weithin das niedrig gelegene Land am Jadebusen und bändigen die wilden Wogen, die bei den großen Sturmfluten der letzten Jahrzehnte vergebens ihre Kraft an diesen Menschenwerken maßen; und im Schutze jener Dämme hat sich denn auf dem fruchtbaren Schwemmboden, auf den Marschen sowohl als auch auf dem Geestlande, ein gesundes, bäuerliches Leben entfaltet, das meist zu behäbigem Wohlstand führte. Gern schweift der Blick von der Deichkrone hinaus in das ebene Binnenland, wo zwischen Hecken und Gehölzen die niedrigen Stroh- oder Ziegeldächer wohlgehaltener Gehöfte hervorschauen, wo weite, mit stattlichen Rinderscharen und grasenden Pferden besetzte saftgrüne Weiden mit wogenden Aehrenfeldern abwechseln, auf fernem Hügel mächtige Windmühlenflügel kreisen und ein blauduftiger Wald den Horizont begrenzt. Das alles hat viele Jahrhunderte langer Kampf dem Meere abgerungen oder gegen dessen Üebergriffe gefestigt. Am Strande selbst aber mag man heute noch der Worte des Plinius innewerden. Noch steigt mit der Flut und sinkt mit der Ebbe zweimal täglich das Meer, sich gewaltig durch die Enge bei dem starkbefestigten Kriegsport Wilhelmshaven hinein- und hinausdrängend. Noch möchte man auch jetzt zweifeln, ob man Meer oder Land sieht, wenn die Wasser bei der Ebbe die breiten Watten des Jadebusens verlassen haben und nur in den schmalen Fahrrinnen, den „Tiefen“, das salzige Naß steht. Schreiende Möwenschwärme tummeln sich auf den Flächen, an zurückgebliebenen Krabben und Fischen reiche Atzung findend, und der meist wolkenbedeckte Himmel spiegelt sich, gleichwie in der Flut, im feuchten Schlick.

Das Ufer selbst bietet wenig Reize. Spirriger, blaugrüner Strandweizen und Sandhaargras schießen zwischen dem Sande empor. Ein kleines, am Boden kriechendes, dickblätteriges Pflänzchen, die Salzmiere, Schachtelhalm, Strand-Astern, -Nelken und -Wegerich, die distelartige Meerstrandsmännertreu und Röhricht fristen da ein karges Leben; doch eine kräftige Grasnarbe zieht sich an den mit Marschland gefestigten Deichen hinauf. Nur an vereinzelten Stellen läßt der fast stets wehende, scharfe Wind, der sich oft zum Sturme steigert, eine höhere Vegetation aufkommen, und wo an den Uferhöhen Baum oder Strauch sich eine mühselige Existenz erkämpften, da haben sie ihre Stämme nach der bedrohten Windseite hin dicht mit schützendem Moose umkleidet.

Im harten Kampfe gegen die feindseligen Naturgewalten fristen hier auch die Menschen ihr Dasein. In kleinen, äußerlich meist gut gehaltenen, einzeln stehenden Häuschen wohnen sie, um sich her ein Stückchen Kartoffel- und Gartenland, vor den Fenstern ein enges Blumengärtchen. Oft nennen sie eine Kuh ihr eigen, gewöhnlich aber nimmt die Ziege, die „Kuh des armen Mannes“, ihre Stelle ein. Viele halten sich auch ein Schwein, das als Allesfresser von den Abfällen der Fischerei lebt. Hühner und Enten fehlen selten. Das Brennmaterial, das Plinius als getrockneten Schlamm bezeichnete, ist Torf, der auf ausgiebigen Mooren überall in diesen Gegenden gestochen wird und mit dem man der Billigkeit halber sogar vielfach die Brunnen ausmauert.

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Strandfahrer auf der Ausfahrt.

So stellt sich denn das Leben jener Leute sehr ärmlich dar und sie sind von der Natur zu einer Bedürfnislosigkeit und Kargheit erzogen, vor welcher der Fabrikarbeiter im Lande sich bedanken würde. Dennoch haben sie sich durch die Jahrtausende hin eine hohe und kräftige Statur bewahrt. Ungemein dicht ist ihr im Grunde strohfarbenes, in verschiedenen Abtönungen spielendes Haupt- und Barthaar, und aus dem lederfarbenen Antlitz blicken helle Augen scharf hervor.

Aeußerst mühsam ist das Gewerbe dieser friesischen Strandfischer, das dazu keineswegs den Reiz des an Gefahren reicheren und lohnenderen des Hochseefischers bietet und ziemlich eintönig sich gestaltet. An wertvollen Fischen liefern die Wattengewässer nur geringe Ausbeute, und da auf ein regelmäßiges Erscheinen und Vorkommen derselben nirgends gerechnet werden kann, so beschränkt man sich fast ausschließlich auf den Faug des den Dollart und den Jadebusen, wie überhaupt die Küstengewässer, zu Milliarden bevölkernden Granat (Crangon vulgaris). Dieses scherenlose, bis zur Größe des kleinen Fingers sich auswachsende, glasartige Krebschen, das auch Garneele oder Crevette genannt wird, bietet namentlich in dem Fleisch seines Schwanzes einen vorzüglichen Leckerbissen, der freilich nur Dem ungeschmälert zu gute kommt, der durch einen geschickten Handgriff das delikate Fleisch von seiner Hülle zu befreien weiß. Erprobte Granatesser im Oldenburgischen, wo das Krebschen eine ebenso beliebte Zuspeise zum Bier ist wie etwa in München der „Radi“, sollen imstande sein, in fünf Minuten ein ganzes Liter dieses Seetiers zu enthülsen.

Man stellt dem Granat am Jadebusen auf verschiedene Art [556] nach. In Butjadingen (von buten – außen der Jade) fängt man ihn in engmaschigen Netzen, im Jeverlande meist mit kleinen Fischhamen, „Hoplade“ genannt, und am Vareler Geest, insbesondere auf der Halbinsel Dangast, in Körben. Die letztere Fangmethode, als die eigenartigste, möge hier kurz dargestellt werden!

Die Flut hat sich nahezu verlaufen. Da stellt der Fischer einige aus Weidenruten geflochtene Fangkörbe auf einen Schiebekarren und sucht auf schmalen Pfaden zwischen Deich und Düne den Strand zu erreichen. Dort liegt umgestürzt, um vor Regen geschützt zu werden, das eigenartige Fahrzeug, das ihm das Fortkommen über den schlammigen Schlick ermöglicht. Die „Schlöpe“ heißt es im Volksmunde und ist ein Mittelding zwischen Boot und Schlitten. Unsere Abbildungen auf S. 555 zeigen uns diese Kasten, die etwa einen Meter lang, halb so breit und etwa ein drittel Meter hoch sind. An dem etwas erhöhten Vorderbord sind sie mit einer aus Latten und Stangen gezimmerten Handhabe versehen. Auf die Schlöpe werden nun die Körbe gesetzt und der Fischer rutscht in das schlammige Element, in den Schlick, der mit dem Schmutz einer zerfahrenen und durch starke Regengüsse aufgeweichten Landstraße die größte Aehnlichkeit besitzt. Die untere Zeichnung führt uns den Mann auf seiner Rutschpartie vor. Er hat die Seitenlehnen der Handhabe ergriffen, kniet bei vorgebeugtem Körper mit dem einen Beine auf dem Hinterbord der Schlöpe und stößt mit dem freien Fuß ruderartig in den Schlamm. Indem er abwechselnd die Füße benutzt, „schlittert“ oder rutscht er vorwärts. Bald versinkt der Fuß des Rutschers nur bis an den Knöchel in den Schlick, bald taucht das Bein bis fast ans Knie in den Schlamm, aber der Mann ist in diesem Rutschen wohlgeübt und gleitet mit erstaunlicher Schnelligkeit auf der trüben Masse dahin. Zunächst sucht er eine der Wasserrinnen, die „Tief“, zu erreichen; dort ist sein Ruderboot verankert; er macht es flott, nimmt seine Schlöpe ins Schlepptau und setzt nach dem jenseitigen Ufer über; dann rutscht er wieder über den Schlick, bis er an einer für den Granatfang günstigen Stelle anlangt. Diese liegt gewöhnlich am Rande einer „Tief“ oder bei einer „Priel“, der natürlichen Abflußrinne bei der Ebbe. Hier werden nun die Fangkörbe durch eingerammte Pfosten derart festgelegt, daß ihre offene Seite der Ebbe zugekehrt ist. Wie unsere Abbildung S. 557 zeigt, sind sie kegelförmig gestaltet, nahezu zwei Meter lang, mit einer dreiviertel Meter im Durchmesser haltenden Oeffnung versehen und aus Hasel- oder Weidenruten so geflochten, daß ein Raum von der Breite eines Bleistifts zwischen den einzelnen Stäben entsteht. Ein zweiter, einer Aalreuse ähnlicher, engerer Korb wird in den äußeren, der ihm gleichsam als Hülse dient, hineingeschoben. In der Reuse nun sammelt sich die Beute, nachdem ihr der größere Korb gewissermaßen „die Direktive gegeben“. Mit der Flut zu Milliarden den tieferen Stellen des Küstenmeeres entsteigend, wird der Granat von der zurückgehenden Ebbeströmnng zweimal täglich in die Fangkörbe hineingetrieben.

Der Fischer zieht den Fangkorb hervor, löst den in die Spitze gesteckten Pflock und schüttet die Granaten, zwischen denen sich vereinzelt auch wohl ein Aal, eine Butte, eine Seenadel oder gar ein Katzenhai, immer aber ein paar Krabben aller Größen befinden, in die mitgebrachten Behälter und schiebt dann die Körbe wieder ineinander, der nächsten Ebbe das rein selbstthätige Fangwerk vertrauensvoll überlassend.

Auf dem Wege, den er kam, kehrt der Fischer vor der langsam steigenden Flut zurück. Zur Nachtzeit, während welcher der Fang der kleinen Nachttiere, denn das sind die Granaten wie alle Krebse, meist reicher ist, und bei nebligem Wetter zeigen ihm tief in den Schlick gesteckte Reiser den Heimweg an. Am Ufer bringt er seine Beute auf den Schiebekarren, reinigt in einem Tümpel seine Beine, welche immer aussehen, als seien sie in der Tinte gewesen, vom Schlick und schiebt dann nach Hause. Sein Werk ist aber noch nicht beendet. Mit weiblicher Hilfe werden die Granaten sogleich gesiebt und die größeren alsdann etwa zwei Minuten in Salzwasser gekocht, wobei sie eine schmutzig rötliche Farbe annehmen, während die höher gewerteten Ostseekrabben und die französischen Crevetten nach dem Kochen blaß rosenrot erscheinen. Das ausgesiebte kleinere Zeug – das Liter hiervon kostet nur einen Pfennig – wird als Dünger verkauft oder wandert zur Darre, um zu Hühnerfutter oder zu „Guano“ verarbeitet zu werden, hingegen verschickt man in entsprechender Verpackung die frische, große Ware als billige Delikatesse nach den Städten der Gegend oder gar, gut konserviert, weit ins Inland.

Der harten Mühe Lohn ist jedoch bei diesem Krebsfang nicht groß. Ein Fischer fängt im Durchschnitt täglich zwei bis zweieinhalb Scheffel eßbaren Granat. Der Scheffel wiegt 13 bis 14 Kilo und enthält 25 Liter, aber das Liter der besseren Krebschen wird nur mit neun Pfennig bezahlt! Die Fangzeit dauert meist vom April bis zum Eintritt der Kälte und die Ergiebigkeit ist im allgemeinen keinen besonderen Schwankungen unterworfen. So belauft sich der Jahresgewinn eines Fischers, der seine 30 bis 35 Fangkörbe hat, durchschnittlich auf 600 Mark.

Das ist in der That kein großer Verdienst für die eintönige und mühselige Arbeit, die den Fischer zweimal während 24 Stunden und fast allnächtlich auf das oft von Stürmen überbrauste Watt führt und ihn meist drei Stunden auf dem feuchten Schlick festhält, auf dem es im Frühjahr und Herbst keineswegs gemütlich ist.

Man kann rechnen, daß sich im Oldenbnrgischen, rings um den Jadebusen, ungefähr hundert Familien mit der Granatfischerei befassen. Dangast, ein Dorf, oder richtiger eine „Bauerschaft“ mit dem vor etwa einem Jahrhundert vom Grafen Bentinck gegründeten ersten Nordseebad, das sich überdies vor allen Nordseebädern durch einen waldähnlichen Park auszeichnet und einen angenehmen, idyllischen Aufenthalt bietet, ist der Hauptort der Korbfischerei. Dort gab es vor zehn Jahren nur ein viertelhundert Fischer, während heute fast 40 dem Granatfang obliegen. Man kann rechnen, daß im Jadebusen jährlich zum mindesten eine halbe Million Kilogramm eßbare Tierchen gefangen werden, mit den für andere Verwendung gewonnenen Granaten sicherlich eineinhalb Millionen Kilogramm dieser kleinen Krebse. Das ist eine ungeheure Summe, und da drängt sich wohl die Frage auf, ob nicht dieser Massenfang die Ausrottung des Granats zur Folge haben könne. Die Landesregierung hat bereits entsprechende Untersuchungen angestellt, doch [557] ist man zu sehr entgegengesetzten Ansichten gekommen. Die einen halten den Granatreichtum bei der ungeheuern Fruchtbarkeit dieser Tiere – das Weibchen setzt mehrere tausend sandfeiner Eier ab – für unerschöpflich, die andern wünschen Schonungsmaßregeln. Es wurde angeordnet, daß die Zwischenräume der Stäbe an den Fangkörben weiter zu machen seien. Dadurch finden die allerkleinsten Krebse Gelegenheit, zu entkommen und dem traurigen Schicksal zu entgehen, als Dünger ausgesät zu werden. Uebrigens ist die Dungkraft der Granaten außerordentlich groß, und auf dem leichtesten, unfruchtbarsten Sandboden gedeihen die damit gedüngten Früchte auffällig gut. Schauderhaft ist jedoch der Aasgeruch, den die verwesenden Krebse auf den Feldern ausströmen. Mag nun aber auch der Dünger noch so wirksam sein, man muß doch den kleinen Krustentieren einige Schonung wünschen, und diese bietet ihnen von Zeit zu Zeit die Natur. Es giebt Jahre, in welchen die Quallen in ungewöhnlich großen Mengen erscheinen. Diese füllen dann die Fangkörbe aus und machen dadurch den Granatfang unmöglich. Der Fischer ärgert sich wohl über das schleimige Zeug, das ihm sein Geschäft verdirbt, aber das nächste Jahr bringt ihm Trost, da die Granaten sich inzwischen reichlich vermehrt haben und nach einem Quallenjahr die Fänge um so ergiebiger ausfallen.

Granatkörbe an einer „Tief“.

So zieht sich denn das Leben des friesischen Granatfischers eintönig und mühsam hin, kaum, daß ab und zu ein fortgespültes Boot und ein paar von der Flut fortgerissene Körbe, die im Winter an Land geschafft werden, eine unangenehme, ein gefangener Seehund oder ein erbeuteter Delphin (Tümmler) eine angenehme Unterbrechung seiner Tagesbeschäftigung bilden. Auch das Wort „Saure Wochen, frohe Feste“ scheint für ihn nicht bestimmt zu sein, denn äußerliche Vergnügungen, Tanzmusiken und Kneipenleben finden bei dem ernst angelegten Volke keinen rechten Boden. Ein vereinzeltes Schützenfest, ein meist in Verbindung mit bäuerlichen Pferderennen stattfindendes kleines Wettrutschen mit den Schlöpen und im Winter das eigenartige „Klootschießen“, das zwischen zwei Parteien oder ganzen Kirchspieleinwohnerschaften nach einem bestimmten, oft stundenweiten Ziele vereinbarte Fortschleudern einer Kugel über den gefrorenen Boden, das sind die Volksbelustigungen in diesen Gegenden. Die farbenheitere Festesfreude der südlichen und westlichen deutschen Stämme mangelt den friesischen Strandbewohnern. ––

Dem Granat verwandte Krebse werden, wie wir noch hinzufügen möchten, auch an anderen Meeresküsten gefangen. Die Ostseekrabbe oder Garneele (Palaemon squilla) hat zwar keinen besseren Wohlgeschmack, wird aber wie schon gesagt höher geschätzt, da sie beim Kochen sich schön rot färbt. Besonders hoch ist der Garneelenfang in Holland entwickelt, von wo aus jährlich gegen zwei Millionen Liter nach England verschifft werden. Auch im Mittelmeer blüht dieser Zweig der Seefischerei, und zwar seit uralten Zeiten; haben doch bereits die Küsten des alten Karthago Garneelen für die Tafel der römischen Kaiser geliefert! In Indien verwendet man ein mit Gewürzen vermengtes Garneelenpulver als Nahrungsmittel und die chinesische Hafenstadt Tschi-fu verfrachtet jährlich gegen 9000 Centner dieser kleinen Krebschen in getrocknetem Zustande. Aehnliches ist an den Küsten Amerikas der Fall, überall nährt sich der Mensch von der Ueberfülle der Kruster des Meeres. Neuerdings haben die Garneelen noch eine andere nützliche Verwendung gefunden. Sie werden nach dem Kochen getrocknet und zu Granatmehl und Granatschrot vermahlen, um ein ausgezeichnetes Fisch- und Vogelfutter für die Volieren des Vogelfreundes oder für Fischzuchtanstalten zu liefern. Daß sie in gedörrtem Zustande als Hühnerfutter versandt werden, haben wir oben schon erwähnt.


Fräulein Nunnemann.
Erzählung aus vergangenen Tagen.0 Von Eva Treu.
 (Schluß.)

Fräulein Nunnemanns Brief begann sehr schwermütig, ihrem gerechten Schmerz um den geliebten Dahingeschiedenen Ausdruck gebend. Er ging dann dazu über, mich darauf aufmerksam zu machen, wie doch jede Bitterkeit auch ihren Tropfen Honigseim in sich trüge, und er schloß damit, mir triumphierend mitzuteilen, daß der würdige Peter Nunnemann bei seinem Tode kein Testament hinterlassen hätte, daß infolgedessen sein gesamtes, ziemlich beträchtliches Vermögen an seine einzige überlebende Verwandte, seine Nichte Natalie, gefallen sei, und daß sich Fräulein Nunnemann deshalb augenblicklich in der glücklichen Lage sähe, ihrer ferneren Zukunft ohne die leiseste Sorge entgegenzusehen. Fräulein Nunnemann verfehlte auch nicht, herzlich hinzuzufügen, daß es ihr immer Vergnügen machen würde, wenn sie mir auf meinem Lebenswege einmal von Nutzen sein könnte.

Kurz, es war ein wirklich und durchaus erfreulicher Brief, selbst in Bezug darauf, daß er gar nicht so schlecht stilisiert war, als man wohl eigentlich hätte erwarten dürfen. Er ging samt ihrem Bilde in unserem Städtchen von Hand zu Hand, stand doch nichts darin, was ein Geheimnis hätte bleiben müssen, man entsann sich mit Heiterkeit der alten, längst vergangenen Zeiten, freute sich, daß Fräulein Nunnemann jetzt als Lehrerin keinen Schaden mehr anrichten könnte, und sie war mit einem Worte, nachdem sie so lange bei uns ganz verschollen gewesen war, für eine kurze Weile wieder die Heldin des Tages geworden.

Aber es sollte damit noch nicht genug sein. Kaum einen Monat nachdem ich einen die Beileidsbezeigungen und Glückwünsche unserer ganzen Familie enthaltenden Brief an sie abgesandt hatte, traf wieder eine Antwort von ihr ein. Diesmal trug das Couvert keinen Trauerstreifen, im Gegenteil war es mit einer Oblate in Form einer roten Rose verschlossen. Der Brief war sehr schwer, ich hatte Strafporto zu zahlen, als ich ihn empfing, und als ich ihn öffnete, fielen mir als erstes drei Photographien in die Hand. Das erste Bild zeigte eine Kindergruppe: vier kleine magere, verschüchtert aussehende Mädchen zwischen vier und zehn Jahren, sämtlich in großkarierten, sogenannten schottischen Kleidern, ebenfalls sämtlich mit kurzen, dünnen, blonden Haarzöpfchen, die sorgsam, soweit sie eben reichen wollten, über die Schultern nach vorn gelegt waren, um zur Geltung zu kommen.

[558] Auf dem zweiten Bilde präsentierte sich ein breites, glattrasiertes, nicht eben häßliches, aber ziemlich gewöhnliches Männergesicht, und die dritte Photographie endlich stellte Fräulein Nunnemann, nun nicht mehr in Trauer, sondern in ein lichtes, vermutlich blaues Gewand gehüllt, in anmutiger und zärtlicher Gruppierung mit eben diesem breitgesichtigen Manne dar. Die Retouche hatte für Fräulein Nunnemann gethan, was irgend in ihren Kräften gestanden, dennoch sah man selbst jetzt noch dem Bilde an, daß der Mann der erheblich jüngere von beiden sein mußte. Das Bild sprach für sich selbst: Fräulein Nunnemann war verlobt.

Ja, Fräulein Nunnemann war verlobt! Der Traum ihres Lebens hatte sich erfüllt. Wie fremd es auch dem staunenden Ohre klingen mochte – Fräulein Nunnemanns Liebesfrühliug war endlich, endlich angebrochen. Was sie vergebens erstrebt hatte so viele Jahre hindurch, worauf sie im tiefsten Winkel ihres Herzens wohl schon zu verzichten begann, das war ihr nun plötzlich beschieden, der Mitwelt und ihr selbst zum freudigen Erstaunen.

Wenn je eine junge Braut ihrem Glücksgefühl einen überschwenglichen Ausdruck verlieh, so war Fräulein Nunnemann diese junge Braut. Der den Bildern beigegebene Brief quoll über von Wonne und Jubel. Ihr „Alex“ war ein herrlicher Mensch, mit dem eine tiefinnerlichste Sympathie der Seelen sie unlöslich verband. Auch von den prosaischen Äußerlichkeiten erfuhren wir einiges. Alex war, wie es schien, bis jetzt Commis in einem Manufakturwarengeschäft, beabsichtigte aber, sich nun selbständig zu machen. Kennengelernt hatte Fräulein Nunnemann ihn, als sie – seltsamer Zufall! – die Gewänder für die Trauer um den Tod ihres Onkels anschaffte. Eine wunderbare Fügung hatte sie damals eben in denjenigen Laden und zu demjenigen Verkäufer geführt, der ihr so glückbringend verhängnisvoll werden sollte.

Alex war Witwer, worauf ja schon das Bild mit der Kindergruppe hindeutete. Fräulein Nunnemann freute sich der Aussicht, ihr erzieherisches Talent den lieben kleinen Mädchen zu gute kommen zu lassen. Die Hochzeit sollte bereits im Laufe der nächsten Wochen gefeiert werden. Die Braut war noch zweifelhaft, ob sie weißen oder cremefarbenen Atlas anziehen würde, und gedachte, ihrem durch feinen Geschmack sich auszeichnenden Alex die Entscheidung in dieser wichtigen Frage zu überlassen.

Mein guter Vater schüttelte leise den Kopf, als er Brief und Bilder aus der Hand legte. „Arme Seele,“ sagte er halblaut. Mutter meinte ärgerlich: „Alter schützt ja leider vor Thorheit nicht,“ und schüttelte den Kopf etwas kräftiger als Vater. Wir Jungvolk fanden die ganze Geschichte eine Weile wahrhaft herzerquickend komisch, aber nach Verlauf einiger Tage, nachdem wir wieder einen Brief mit den nötigen Glückwünschen zur Post gegeben hatten, tauchte irgend etwas Neues auf, wir sprachen nicht mehr von Fräulein Nunnemann, und da sie von nun an auch nicht mehr an uns schrieb, dachten wir an sie und ihren Alex bald gar nicht mehr. War sie doch den jüngeren Hausgenossen persönlich gar nicht und den älteren nicht eben in der vorteilhaftesten Weise erinnerlich.


Jahre vergingen – ihrer sieben an der Zahl. Der Tod kam und trieb mich aus meiner alten, geliebten – ach, so heiß geliebten Heimat. Die Liebe folgte ihm auf dem Fuße und führte mich in eine neue. Der schöne Beruf, den ich mir erwählt hatte, wurde mir leise aus der Hand gewunden, und ein anderer, noch schönerer ward mir dafür geschenkt. In einem neuen Leben stand ich, es mit neu geöffneten Augen, frisch erwachtem Verständnis ansehend und genießend, eines guten, treuen Mannes glückliche Frau.

Unsere Hochzeit war in den Winter gefallen, und wir hatten es deshalb vorgezogen, da wir nicht reich genug waren, um nach dem Süden zu gehen, unsere bescheidene Hochzeitsreise nach Thüringen bis auf den Sommer zu verschieben. Und mochte sie nun bescheiden sein, es war eine herrliche Reise, auf der ich so viel Neues und Schönes sah, wie ich mir vorher nie hatte träumen lassen, und gewiß viel mehr, als mancher mit blasiertem Sinn und verwöhnten Augen in der Schweiz, in Italien oder Norwegen nur je entdeckt hat.

Als wir uns einige Tage in Friedrichroda aufhielten, wurde dort eben ein großes Wohlthätigkeitskonzert znm besten irgend eines Unternehmens, welches ich vergessen habe, gegeben. Wir wollten dasselbe gern besuchen, doch fürchtete ich mit Recht, in meinem einfachen Reisekleide, und ein anderes führte ich nicht bei mir, unter der Schar der eleganten Kurgäste aufzufallen. Zwar recht gute weiße Spitzen an Hals und Aermeln, die ja leicht zu kaufen waren, ein paar frische Blumen und elegante Handschuhe konnten, so meinte ich, den Anzug ziemlich präsentabel machen, wäre nur nicht meine ganz veraltete Frisur gewesen, die mir unter allen Umständen ein kleinstädtisches Aussehen verleihen mußte. Ich hatte ungewöhnlich reiches und langes Haar, auf welches ich, daß ich’s nur gestehe, ein wenig eitel war, und das ich bei dieser Gelegenheit gern zu seiner vollen Geltung gebracht hätte.

Also erkundigte ich mich, wo ich hübsche Spitzen kaufen und wo ich mich modern frisieren lassen könnte, und erhielt die Antwort, die Spitzen bekäme ich am schönsten und preiswürdigsten bei einem gewissen jungen Mädchen, welches sie selbst klöppelte und sich in jedem Sommer hier aufzuhalten pflegte, das Frisieren besorge eine Frau in demselben Hause. Das Haus beschrieb man mir nach der gewohnten Weise: erst links, dann rechts, dann gradeaus, dann rechts um die Ecke, dann durch die kleine Pforte, dann wieder links etc. Trotz dieser in ihrer Art gewiß guten, aber ein bißchen konfusen Angaben fand ich die Wohnung glücklich heraus.

Ein lang aufgeschossenes, blondes Mädchen saß auf einer kleinen Bank vor der Hausthür, hatte sich beide Ohren mit den Fingern verstopft und lernte eine Geschichtstabelle auswendig, blickte aber sofort empor und nahm die Finger aus den Ohren, als mein Schatten ihm auf das Buch fiel. Es mochte etwa vierzehn Jahre zählen und hatte kluge, ernsthafte Augen.

„Wohnt hier vielleicht ein junges Mädchen, welches Spitzen verkauft?“ fragte ich.

„Gewiß,“ entgegnete das Kind freundlich, „es ist meine Schwester. Wollen Sie, bitte, näher treten?“

„Und kann man sich hier im Hause auch frisieren lassen?“

„Freilich, das thut Mama. Aber ich weiß nicht, ob sie jetzt gerade Zeit hat. Sie ist heute sehr beschäftigt.“

Das Mädchen war schlicht, aber sehr sauber und nett gekleidet und machte mir einen entschieden angenehmen Eindruck. Sie legte die Geschichtstabelle auf die Bank und ließ mich bescheiden an sich vorüber in das Haus treten, um mir dann die Stubenthür zu öffnen.

Ein zweites, vielleicht um drei Jahre älteres ebenso schlankes, ebenso blondes und ebenso nett aussehendes Mädchen erhob sich vom Fenster, wo es mit seinem Klöppelkissen gesessen hatte, und trat mir höflich entgegen, während sich meine Führerin an ihre Geschichtstabelle zurück begab.

Es war ein einfaches, aber ganz anständig möbliertes und sehr reinliches Gemach, in dem ich stand, und in welches die Nachmittagssonne freundlich hereinschien. Das eine Fenster zierten ein paar Blumentöpfe, das andere schien der Arbeitsplatz für die junge Spitzenklöpplerin zu sein. Ich nannte ihr meine beiden Wünsche, und sie sagte, ihre Mama würde in zehn Minuten Zeit haben, mich zu frisieren, augenblicklich sei noch eine andere Dame bei ihr, unterdes dürfte sie mir wohl ihre Spitzen vorlegen, was sie auch that. Sie waren sehr gut gearbeitet und nicht zu teuer, und gerade hatte ich meine Auswahl getroffen und den geforderten Preis bezahlt, als sich die Thür zum Nebengemach öffnete.

„Da kommt Mama,“ sagte das Mädchen, die letzten Spitzen mit vorsichtigen Fingern wieder in den Kasten räumend, und ich wandte mich unwillkürlich um.

Meine Augen wurden sehr groß, und doch meinte ich noch, ihnen nicht trauen zu dürfen. War das – konnte das – war es wirklich denkbar, daß die kleine fette Frau, welche dort auf der Thürschwelle stand, Fräulein Nunnemann war?

Sie mußte es sein, wenn Fräulein Nunnemann nicht eine Doppelgängerin oder Zwillingsschwester hatte, denn Gesicht, Figur und Locken waren, von solchen Veränderungen abgesehen, wie sieben Jahre sie wohl mit sich bringen konnten, unverkennbar die ihrigen, und selbst der Knix, mit dem sie eingetreten war, schien ihr ganz spezielles Eigentum. Aber das blaue Kleid fehlte. Sie trug wohl eine große himmelblaue Krawattenschleife, aber ein Gewand von bescheidenem Grau und einem ihrem Alter wenigstens annähernd angemessenen Schnitt und darüber eine große, blendend weiße Latzschürze. Konnte es also Fräulein Nunnemann sein? Und wie wäre sie hierher, in diese Verhältnisse gekommen? Sie, die reiche Erbin Natalie Nunnemann, oder vielmehr Frau Natalie – ja, den Namen des geliebten Alex hatte ich vollständig vergessen.

Alle diese Gedanken gingen mir mit Blitzesschnelle durch den Kopf, aber ehe ich sie noch ganz beendet hatte, rief es schon von der Thür her: „Kindting! – Aber bist Du es denn wirklich?“

[559] „Fräulein Nunnemann!“ rief ich in demselben Augenblick. Es wäre mir unmöglich gewesen, sie mit einem anderen Namen zu nennen, selbst wenn ich mich seiner entsonnen hätte.

Das junge Mädchen stand eine Minute und sah uns verwundert an, wie wir jetzt auf einander zueilten, um uns zu begrüßen, dann setzte sie leise ihren Spitzenkasten in einen Schrank und verließ geräuschlos das Zimmer.

„Aber ich kann’s noch gar nicht glauben, daß Sie es wirklich sind,“ sagte ich, als ich glücklich auf einem Stuhle saß und Fräulein Nunnemann meine beiden Hände in den ihren hielt. „Ich kam hierher, um eine Frau aufzusuchen, von der ich mich frisieren lassen wollte –“

„Die Frau bin ich, Kindting, und das Mädchen, das eben hinausging, ist meine Dora, meine Aelteste, ein liebes Ding und mir eine große Stütze.“

„Aber Fräulein Nunnemann – doch verzeihen Sie, ich sollte wohl sagen Frau – Frau –“

„Laß nur, Kindting,“ wehrte Fräulein Nunnemann ab, „der alte Name ist mir gerade so lieb. Er ist –“ sie senkte die Stimme und sah sich ein wenig ängstlich um, „im Vertrauen gesagt, Kindting, er ist der ehrlichere von den beiden. Nicht daß ich den neuen für gewöhnlich nicht benutzte – das muß ich ja schon der Mädchen wegen – aber ich höre den alten ganz gern von Dir. Laß es nur dabei bewenden.“

Es entstand eine kleine Pause. Ich wußte nicht recht, ob ich es wagen dürfte, nach Fräulein Nunnemanns Verhältnissen zu forschen, aber es war auch gar nicht nötig, sie sagte ganz von selbst: „Du wunderst Dich vielleicht, Kindting, daß Du mich hier so findest, aber siehst Du – ich habe keinen Mann mehr.“

„O,“ sagte ich bedauernd, „Sie sind Witwe?“

„Das nicht gerade, Kindting, oder wenigstens weiß ich nichts davon, obschon es wohl möglich ist. Nein, er verließ mich, Kindting, wirklich, buchstäblich, er verließ mich. – Ich liebte ihn,“ sagte das arme Fräulein Nunnemann betrübt, „und er liebte mich ja anfangs auch, aber ich fürchte, er war kein guter Mensch. Ich habe mich später oft gewundert, daß ein so schönes Gesicht der Spiegel einer so unschönen Seele sein kann, und es ist mir sogar in trüben Stunden zuweilen der Gedanke gekommen, er könnte mich vielleicht nur meines Geldes wegen geheiratet haben!“

Ich wagte nicht, zu sagen, daß ich dies für nicht ganz unmöglich hielte, und Fräulein Nunnemann fuhr fort: „Nach einem halben Jahre schon behandelte er mich sehr wenig gut. Ich darf wirklich wohl sagen, er behandelte mich schlecht.“ Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern: „Im Vertrauen gesagt, Kindting – ich möchte nicht, daß die Mädchen mich hören – er schlug mich. Und ehe ein Jahr um war, entfernte er sich eines Tages und kehrte nicht zurück. Was er von meinem Gelde nicht schon durchgebracht hatte, das hatte er mitgenommen, und nun saß ich da mit den vier armen Würmern, und wir hatten alle fünf nichts, wovon wir leben konnten.“

Ich sprang von meinem Sitze empor. „Aber das ist ja – das ist ja geradezu – und haben Sie nicht nach ihm forschen lassen?“ rief ich.

Fräulein Nunnemann drückte mich sachte wieder auf meinen Stuhl nieder. „Das habe ich wohl,“ sagte sie, „aber siehst Du, Kindting, er hatte einen Vorsprung und wird wohl schon drüben in Amerika gewesen sein – oder anderswo. Jedenfalls war er nicht zu finden, und wenn er wieder gekommen wäre, so wäre es am Ende auch kein Glück gewesen.“

„Aber die Kinder,“ sagte ich, „was machten Sie mit denen?“

„Nu, siehst Du, Kindting – die mußte ich natürlich behalten. Es sagten mir damals Leute, ich könnte sie loswerden, wenn ich wollte, sie gehörten ja nicht mir und ich hätte keine Verpflichtungen, aber – na, ich hatte sie doch nun einmal als meine übernommen, Kindting, und lieb hatte ich sie doch auch gewonnen. Sie konnten ja doch auch nicht dafür, daß ihr Vater kein guter Mensch war. Und so dachte ich denn, ich will sie behalten in Gottes Namen, und es ist ja auch gegangen.“ Fräulein Nunnemann schwieg und strich an ihrer weißen Schürze herunter.

„Mit dem Unterrichten wollte es sich nicht wieder machen,“ sagte sie mit einem gutmütigen Lächeln, „und leben mußten wir doch nun einmal. Da habe ich meine alten Künste wieder hervorgeholt, die ich früher bei meinem Onkel gelernt hatte. Er war Friseur, Kindting, und ein recht guter, denn er hat sich ein hübsches Stück Geld damit verdient. Ich hatte früher gemeint, anderen Leuten Locken brennen, wäre nicht gut genug für mich. Na etwas sehr Vornehmes ist es ja nicht, aber die vier Mädchen waren hungrig und ich auch. Da habe ich denn, was an Scheren und Brenneisen aus Onkels Nachlaß noch da war, wieder in Gebrauch gesetzt, und wenn es auch zuerst ein bißchen ungeschickt ging, so habe ich mich doch bald wieder auf die alten Kunstgriffe besonnen. Zuerst ging es knapp her bei uns. Ich wurde mager und die Mädels wurden nicht fett – übrigens, das sind sie noch nicht, es liegt nicht in ihnen – und Ersparnisse haben wir auch nachher nicht gemacht. Du weißt, Kindting, rechnen kann ich nicht. Aber es wurde doch nach und nach immer besser, und seit meine Aelteste, die Dora. aus der Schule ist, den Haushalt besorgt und Spitzen klöppelt, und seit Paula, die zweite – die hat Verstand, sage ich Dir, Kindting! – unser Rechenmeister ist und Buch führt, fangen wir sogar an, ein bißchen zurückzulegen. Denn Haushaltung und Rechnen, das sind nun einmal Dinge, für die ich kein Talent habe.“

Trotz dieses Maugcls sah ich Fräulein Nunnemann zum erstenmal im Leben mit einem ihr gegenüber ganz neuen Gefühl an: mit Respekt. Ich hatte nie anders an sie gedacht als halb belustigt, halb verächtlich, nie war es mir in den Sinn gekommen, sie könnte auch solche Eigenschaften besitzen, welche der ehrlichsten Hochachtung wert wären. Oder hatte der Ernst des Lebens etwa diese Eigenschaften erst in ihr wach gerufen? Ich weiß es nicht.

„Meine Töchter sind alle vier liebe Mädchen, auch die beiden jüngsten,“ sagte Fräulein Nunnemann stolz. „Sie arten wohl nach ihrer ersten Mutter – aber so schön wie ihr Vater wird keine. Ach, Kindting, er war ja wohl ein Taugenichts, aber wenn Sie ihn gesehen hätten! Er war –,“ sie seufzte, „wirklich, buchstäblich, er war ein schöner Mann, schön und liebenswürdig, wenn er nur wollte.“ Und Fräulein Nunnemann schüttelte betrübt den Kopf, ganz bereit, in alte Erinnerungen zu versinken. Ich aber fühlte mich diesmal nicht versucht, über sie zu lächeln.

Plötzlich jedoch fiel ihr ein, daß sie noch nichts über mich und meine Schicksale gehört hätte, und als dies geschehen war, erinnerte sie sich, weshalb ich eigentlich gekommen war, und bestand darauf, daß ich mich im Nebengemache, „im Salon“, wie sie sagte, nach allen Regeln der Kunst von ihr frisieren ließe. Ich stelle Fräulein Nunnemann mit Vergnügen das Zeugnis aus, daß sie vortrefflich frisierte. Als ich bezahlen wollte, war sie nicht zu bewegen, eine Vergütung in irgend einer Form dafür anzunehmen.

Dann traten andere Damen ein, welche ihre Dienste in Anspruch nehmen wollten, und ich verabschiedete mich von ihr, diesmal wirklich zum letztenmal im Leben. Am nächsten Morgen reisten wir ab. Ich habe Fräulein Nunnemann – möge sie bis zuletzt so heißen – nicht wieder gesehen.

Freilich, ganz verschollen ist sie trotzdem nicht für mich geblieben. Es sind erst wenige Wochen vergangen, seit ich nach einem Zwischenraum von einem halben Dutzend Jahren noch einmal von Fräulein Nunnemann hörte. Eine liebe Freundin vom Lande besuchte uns mit ihrem Töchterchen in der Stadt. Sie hatte gebeten, auch die sehr tüchtige Erzieherin des kleinen Mädchens mitbringen zu dürfen, da dieselbe es besonders gut verstände, das etwas eigenwillige Kind artig und gehorsam zu erhalten, und ich fand in Fräulein Paula Reiche, einem schlanken, blonden Mädchen mit klugen Augen und einem sanften Gesichte, einen lieben, in keiner Weise störenden Gast.

Eines Nachmittags blätterte Fräulein Reiche in einem alten Album von mir. Plötzlich sah ich sie über das ganze Gesicht lächeln und erröten. Und als ich mich über ihre Schulter beugte, um zu sehen, was ihre Aufmerksamkeit in so heiterer Weise erregt haben könnte, was sah ich? Die vier Bilder, welche mir Fräulein Nunnemann einst gesendet und die ich immer noch treulich aufbewahrt hatte.

„Sie lächeln, liebes Fräulein, als wenn Sie diese Leute kennten? Die Dame ist eine ehemalige Lehrerin von mir, damals hieß sie Fräulein Nunnemann. Ihr späterer Name ist mir leider entfallen. Der Herr ist ihr Mann, die vier kleinen Mädchen sind ihre Stiefkinder. Sie dürften sie kaum kennen.“

„Ein wenig doch,“ sagte Fräulein Paula lachend, „das sind meine drei Schwestern und ich; die Dame ist –“

„Ihre Mama? – wirklich?“

„Freilich, meine liebe, gute, alte Mama. Aber sie hat sich verändert seitdem. Sie ist jetzt ganz grau.“

„O,“ rief ich teilnehmend, „und wie geht es Ihrer Mama und den Schwestern? Das ist wirklich ein hübscher Zufall, der Sie [560] in mein Haus geführt hat. Arbeitet Ihre Mama noch in der alten Weise?“

„Ob sie noch frisiert?“ sagte Paula freimütig. „Nein, das hat sie aufgegeben, seit sie zu Dora gezogen ist. Dora ist unsere Aelteste. Sie wissen vielleicht, daß sie früher Spitzen zu klöppeln pflegte? Sie ist seit einem Jahre glücklich verheiratet und bestand natürlich darauf, daß Mama bei ihr wohnen müßte.

Die Zweitälteste bin ich. Was aus mir geworden ist, sehen Sie. Seit ich mein Examen gemacht habe, stehe ich auf eigenen Füßen. Von unseren beiden Jüngsten ist die eine in ein Putzgeschäft eingetreten, die andere ist Kindergärtnerin geworden. Zufriedene Menschen sind wir alle.“

Und das war das letzte, was ich von Fräulein Nunnemann erfahren habe.


Leben, Trachten und Sitten der chinesischen Frauen.

Von Ernst v. Hesse-Wartegg.
I.

Am ersten Tage meines Aufenthaltes in Kanton gewahrte ich in dem Straßengewirr dieser größten Stadt des „Reiches der Mitte“ an einer Straßenbiegung eine junge Chinesin, ihrer Kleidung nach zu schließen, den besseren Ständen angehörig. Auf ihren winzigen Füßchen trippelte sie unbeholfen, auf einen Schirm gestützt, einher – ein seltsames Wesen mit bemaltem Gesicht und üppigem schwarzen Haar, in welchem einige natürliche Blumen steckten. Die Chinesen, die ihr begegneten, blickten sie spöttisch an, einige riefen ihr mir unverständliche Worte zu, andere verhöhnten sie durch Gebärden. Die Chinesin aber ließ alle Passanten unbeachtet. Verwundert über diesen Vorgang bat ich meinen Dolmetscher um Aufklärung. „So geht es den Frauen immer,“ belehrte er mich, „wenn sie sich ohne Begleitung auf die Straße wagen. Anständige Frauen sollen bei uns das Haus nicht verlassen, und thun sie es, so lassen sie sich in geschlossenen Sänften tragen oder sie nehmen Begleiterinnen mit.“

„Aber die vielen Frauen, die wir hier in den Straßen sehen,“ frug ich wieder, „bleiben doch unbeachtet? Kein Mensch scheint sich um sie zu kümmern?“

„Weil sie arm sind, nur Arbeiterinnen und Frauen aus dem Volke. Aber Damen dürfen sich so nicht sehen lassen: das ist gegen die Sitte.“

Thatsächlich fand ich während meiner folgenden Reisen und Aufenthalte in größeren Städten diese Bemerkungen bestätigt. Der Gegenstand war so interessant, daß ich überall trachtete, so viel als möglich darüber zu erfahren. Auf vielen früheren Reisen hatte ich beobachtet, daß nichts so richtig auf den Kulturzustand eines Volkes schließen läßt wie die Stellung der Frau. Je höher diese bei einem Volke geachtet wird, je höher ihre Stellung in der Gesellschaft und im öffentlichen Leben ist, desto höher ist die Kultur des betreffenden Volkes. In China ist diese Stellung nicht so tief, als es den Anschein hat. Die Mißachtung der Frau ist nur äußerlich und durch althergebrachte Formen eingeimpft. In Wirklichkeit spielt sie vielleicht eine ebenso wichtige, wenn nicht wichtigere Rolle, sie ist geachteter und einflußreicher als bei manchem anderen Volke, dessen Kulturzustand für höher angesehen wird als jener der Chinesen.

Der Fremde, der länger in China weilt, wundert sich in der ersten Zeit, den Chinesen niemals in der Gesellschaft ihrer Frauen und Töchter zu begegnen. Empfängt der Chinese zu Hause, so bleiben die weiblichen Mitglieder seiner Familie unsichtbar; giebt er Diners, so nehmen nur Männer, zuweilen auch Courtisanen daran teil, niemals die Frauen; besucht er das Theater, so werden die Frauen in einer abgesonderten, den Männern unzugänglichen Galerie Platz nehmen; fährt er an einem besonderen Festtage spazieren, so geschieht dies ausschließlich nur in Gesellschaft von Männern; die Frauen fahren in einem andern Wagen zu anderer Zeit aus. Bei Familienfesten, Hochzeiten etc., bewirtet der Hausvater die Männer, seine Gattin die Frauen. Ja, es ist unter den Chinesen sogar ein Verstoß gegen die gute Sitte, nach dem Befinden der Frau überhaupt nur zu fragen, geschweige denn ihr einen Besuch abzustatten oder die (stets rote) Visitenkarte bei ihr zu hinterlassen. Im gesellschaftlichen Leben werden die Frauen vollständig ignoriert, als wären sie gar nicht vorhanden, obschon die Chinesen unter sich ein sehr ceremoniöses, höfliches Volk sind.

Das einzige weibliche Wesen, das im Gespräch unter Bekannten beachtet wird, ist die Mutter. In einem fremden Hause erkundigt sich der Besucher nach dem Alter und dem Befinden aller männlichen Bewohner. Er fragt aber nicht: „Wie geht es Deinem Vater?“ sondern in wörtlicher Uebersetzung: „Ausgezeichneter Bejahrter, welches ehrenwerte Alter?“ d. h. „Wie alt ist Dein Vater?“ Der Vater des Hausherrn wird von Besuchern als der „ausgezeichnete Ehrenwerte“ oder der „ehrwürdige große Fürst“ bezeichnet; der Sohn nennt seinen Vater „Majestät der Familie“ oder „Fürst der Familie“; der verstorbene Vater heißt „der frühere Fürst“. Will aber ein Gast der Mutter des Hausherrn (niemals der Frau) seine Aufmerksamkeit bezeigen, so sagt er „Ausgezeichnete Langlebigkeit Halle bezeuge für mich Wunsch Ruhe“. Die drei ersten Wörter deuten die Wohnung der Mutter an. Spricht ein Chinese mit einem näheren Bekannten von dessen Frau, so nennt er sie „die ehrenwerte Dame“ oder „Deine Bevorzugte“; spricht er aber von seiner eigenen Frau, so bezeichnet er sie mit den Worten „tsien nui“, d. h. „die Geringe der inneren Gemächer“ oder auch „die „Närrische der Familie“. – Selten dringt ein Fremder bis in die Frauengemächer seines Gastfreundes.

Unter solchen Umständen ist es ungemein schwierig, aus eigener Anschauung etwas über das Leben und die Stellung der Frauen in der besseren Gesellschaft der Chinesen zu erfahren; die einzigen Auskünfte über sie kann man nur von Dolmetschern, von katholischen Missionären, welche vermöge ihres Berufes in das Familienleben der Chinesen näheren Einblick erhalten, und endlich von aufgeklärten an den Umgang mit Europäern gewöhnten Chinesen selbst erhalten, wie es deren in den Hafenstädten, besonders in Shanghai, viele giebt. Ich habe diese Quellen nach Thunlichkeit benutzt und mir überdies die bezüglichen Stellen des in ganz China anerkannten „Buchs der Gebräuche“ übersetzen lassen; einen tiefen Einblick in das Frauen- und Familienleben gewährt überdies ein äußerst interessantes Buch eines neueren chinesischen Schriftstellers, Luhtschau, genannt „Der weibliche Lehrmeister“. In seiner Vorrede sagt er von den Frauen:

Im Gespräch soll eine Frau nicht dreist und geschwätzig sein, sondern streng sich danach halten, was recht ist; ob sie ihrem Gatten einen Rat erteilt, oder ihm Vorwürfe macht, oder ihre Kinder unterrichtet, sie muß immer die Etikette beobachten, ihre Erfahrungen unterwürfig vorbringen. … Das Betragen der Frauen soll streng, ernst und nüchtern sein, sich aber doch den verschiedenen Gelegenheiten anpassen, z. B. im Bedienen ihrer Eltern, im Empfangen oder Begrüßen ihres Gatten, beim Aufstehen oder Niedersetzen. Hat sie Trauer oder befindet sie sich mit auf der Flucht vor dem Kriege, soll sie durchaus anständig sein. Die wichtigsten Beschäftigungen eines Weibes sind die Zucht des Seidenwurmes und das Weben von Stoffen, die Zubereitung und das Austeilen der Speisen für die Haushaltung, dann das Vorbereiten der Opfergegenstände; danach können Studien und Lektüre die Zeit ausfüllen.

Dieser Abschnitt aus dem Werke Luhtschaus sagt in wenigen Worten sehr viel, und was die Hauptsache ist, seine Vorschriften werden von der großen Menge der Frauen Chinas streng eingehalten. Es kann kaum sittsamere, keuschere und tugendhaftere Frauen geben, als es die Chinesinnen sind, sittsam im Betragen wie in der Kleidung. Im Gegensatz zu den Japanerinnen zeigt sich die Chinesin unter allen Verhältnissen stets vollkommen bekleidet, von der Fußspitze bis zum Halse; selbst in den untersten Ständen, unter den Bootsleuten Kantons oder den Theearbeiterinnen Hankaus, bleiben höchstens die Füße und Unterarme unbekleidet.

Wie kleidet sich die Chinesin? Das ist gewiß für europäische Damen ein sehr interessantes Kapitel, obwohl ich nicht glaube, daß unsere Damen an der Tracht der Chinesinnen besonderen Gefallen finden dürften und dieselbe etwa nachahmen würden, ebensowenig wie die letzteren an unseren Moden Gefallen gefunden haben. Beträgt die Bevölkerung Chinas wirklich 400 Millionen, so giebt es dort ungefähr 200 Millionen Evastöchter, also um 40 Millionen mehr

[561]

Heiteres Quartier.
Nach dem Gemälde von Karl Müller.

[562] als in ganz Europa. Aber unter diesen 200 Millionen hat es bisher keine gegeben, welche die Tracht der europäischen Damen angenommen hätte, ja, ich habe in China keine einzige Chinesin gesehen, die auch nur ein Hütchen, ein Stiefelchen, einen Handschuh oder Strümpfe nach europäischem Muster getragen hätte! Ein ähnliches Beharren an althergebrachten Trachten, eine ähnliche Standhaftigkeit habe ich bisher bei keinem Volke angetroffen. Wie ihre Urgroßmütter, so kleiden sie sich auch heute noch, und so werden sich voraussichtlich auch ihre Enkelinnen kleiden. Die Chinesin hat so wenigstens Gelegenheit, ihre Kleidungsstücke aufzutragen, sie braucht sie nicht nach einjährigem Gebrauch wieder bei Seite zu legen. Sie kann ihren Geist, ihre Mittel, ihre Zeit nützlicheren Dingen zuwenden als der leidigen Mode.

Chinesische Frau aus dem Volke.

Im ganzen großen Weltreiche herrscht eine merkwürdige Gleichheit der Frauentracht, wie sie sonst in so ausgesprochener Weise nirgends vorkommt. Von der Mandschurei bis Tonkin, von Tibet bis ans Gelbe Meer zeigt der Schnitt der Kleider bei Hoch und Niedrig nur geringe Unterschiede. Am einfachsten sind wohl die armen Frauen jener Hunderttausende gekleidet, welche in Kanton auf dem Perlflusse leben. Ihre Armut gestattet ihnen keine anderen Kleidungsstücke als ein blaues bis über die Knie reichendes Oberhemd, an der Seite zugeknöpft, und ein Paar blaue Beinkleider aus Baumwollstoff, die bis nahe an die Knöchel reichen. Sie kennen keine regelrechte Kopfbekleidung, ebenso wenig kennen sie Unterwäsche.

Die einzige Koketterie, welche chinesische Frauen entfalten, betrifft die gewöhnlich sorgfältige Haarfrisur, welche sie noch mit natürlichen Blumen schmücken; aber die Chinesin flicht ihre Haare nicht in Zöpfe, sondern kämmt sie glatt von der Stirn nach hinten und steckt sie dort, bandartig zusammengeklebt und verschlungen, mit einer langen Stecknadel fest. Zuweilen wird darüber ein Stirnband gebunden und dieses mit Perlen und Edelsteinen geschmückt, wie in der nebenstehenden Abbildung ersichtlich. Die Mehrzahl der Chinesinnen tragen überdies Ohrgehänge aus milchgrünem Nephritstein (Jade), und jene, welche sich durch Arbeit mühsam einige Dollars zusammensparen, legen diese gewöhnlich noch in einem ebensolchen Armring aus einem Stück an. Reichen ihre Mittel nicht dafür aus, so kaufen sie sich wenigstens Ohr- und Armringe aus grünlich milchigem Glas.

Andere Kleidungsstücke als das Baumwollhemd und die Beinkleider kennen die Frauen und Mädchen der niedersten Stände nicht; auch die Feldarbeiterinnen der südlichen Provinzen tragen sie Tag und Nacht. Bei brennender Sonnenhitze schützen sie ihren Kopf durch große Strohhüte, und dann sind sie aus einiger Entfernung von den Männern kaum zu unterscheiden, besonders wenn diese ihren langen Zopf nicht über den Rücken fallend, sondern um den Kopf gewunden tragen. In China, diesem Lande der verkehrten Welt, tragen die Männer Zöpfe, nicht die Frauen.

Chinesische Frau aus den höheren Ständen.

Je höher man in der gesellschaftlichen Rangstufe der Chinesen aufwärts steigt, desto zahlreicher werden die Kleidungsstücke der Frauen. Jene, denen man in den Straßen Kantons, Swatans, Futschaus etc. begegnet, tragen Sandalen oder Schuhe. Ihre Füße und Knöchel sind mit weißen Banmwollstreifen umwunden, welche zuweilen das untere Ende der Beinkleider umfassen. An ihren großen oder vielmehr natürlichen Füßen erkennt man, daß sie umherziehende Taglöhnerinnen sind, die sich ihren Unterhalt heute hier, morgen dort durch saure Arbeit verdienen. Die nächst höhere Stufe, die Frauen der Handwerker und kleinen Händler, ist durch reinlichere Kleidungsstücke und bessere Schuhe kenntlich, die bei den Chinesen beider Geschlechter niemals aus Leder, sondern stets aus Stoff mit dicken Filzsohlen ohne Absätze bestehen. Gewöhnlich ist die Farbe der Schuhe schwarz. Sind sie blau, so befindet sich ihr Träger in leichter Trauer, sind die Schuhe und mit ihnen auch die Kleidungsstücke weiß, so befindet sich ihr Träger in tiefer Trauer. Nur die Unterkleider sind unter gewöhnlichen Verhältnissen weiß, und der Besitzer derselben zeigt dadurch allein schon, daß er dem Mittelstände angehört. Eine Frau aus diesen Ständen läßt sich schon aus der Ferne als solche durch ihren beschwerlichen, unbeholfenen Gang erkennen, der sich ausnimmt, als ginge sie auf kurzen Stelzen einher. Nähert man sich ihr, so gewahrt man auch die Ursache dieses eigentümlichen Ganges, denn die Füße zeigen sich wie schmale Ponyhufe, mit weißen Baumwollstreifen umwunden und in winzigen Schuhen steckend, die, kaum eine Spanne lang, mit bunten Zieraten und Stickereien versehen sind.

Viele Reisende, die auf ihrer Jagd um den Erdenglobus flüchtig durch Kanton oder Shanghai wanderten, berichten, die Unsitte der Verkrüpplung der Füße sei im Abnehmen begriffen. Sie haben eben nur Frauen der untersten Stände gesehen, bei welchen die Fußverkrüpplung überhaupt nicht vorkommt. Aber bei den Frauen der mittleren und höheren Stände findet sie heute geradeso statt wie vor Jahrhunderten. Je höher die gesellschaftliche Stufe, welcher die Frau angehört, desto mehr werden auch ihre Füße von früher Jugend auf eingezwängt, desto kleiner erscheinen die Füßchen, ja ich selbst habe in China neue sowohl wie getragene Schuhe erworben, die neun bis zwölf Centimeter lang sind! Als ich in einem Schuhladen in Hongkong zum erstenmal derlei Schuhe erblickte, hielt ich sie für solche von zwei- oder dreijährigen Kindern, bis ich erwachsene Frauen mit solchen Schuhen einhertrippeln sah! Hätte man mir dergleichen in Europa erzählt, ich hätte es für unglaublich gehalten. Die winzigen schmalen Füßchen in den hübschen bunten Seidenschuhen nehmen sich ungemein zierlich und kokett aus, besonders wenn die Damen sitzen oder stehen. Gehen sie, so kann man sich der Gedanken an die Qualen, die sie ausstehen müssen, nicht erwehren, aber hat man Gelegenheit, einen nackten derartigen Fuß zu sehen, dann wird man von Entsetzen erfaßt! Im chinesischen Hospitale von Hongkong zeigte mir der (europäische) Arzt vom Dienste die Füße einer kranken Frau. Die vier kleineren Zehen waren unter die Fußsohle eingebogen, und ihre Nägel erschienen in die Sohle eingewachsen. Die Ferse war nach vorn gezwängt, derart, daß der Abstand zwischen dem fleischlosen Fersenknochen und der Spitze der großen Zehe kaum zwölf Centimeter betrug; und die Wadenknochen waren vollständig fleischlos, nur mit der runzligen, roten Haut bedeckt!

Das ist chinesische Frauenschönheit, auf welche die Männer den größten Wert legen! Das sind die Reize, welche die chinesische Braut besitzen muß, wenn sie überhaupt einen Mann finden will! Von einer Abnahme dieses entsetzlichen Gebrauches in China habe ich nirgends etwas vernommen, auf dem Lande wie in der Stadt sind die Kin lien, d. h. goldenen Lilien (so heißen die verkrüppelten Füße bei den Chinesen), nach wie vor ein Schönheitszeichen, und [563] nur in Hangtschan, einer Stadt in der Nähe von Ningpo, habe ich erfahren, daß viele dortige Männer in ihren Heiratskontrakten die „goldenen Lilien“ nicht mehr erwähnen, daß sie also die verkrüppelten Füße der Braut nicht mehr vorschreiben. Ich habe mit vielen Chinesen über diese entsetzlichen Martern, welche die armen Frauen ausstehen müssen, gesprochen, aber die meisten lächelten und meinten statt jeder weiteren Antwort, es wäre eben Sitte. Ein aufgeklärter Kaufmann in Shanghai stellte statt aller Antwort eine Gegenfrage auf: „Verkrüppeln denn Ihre europäischen Damen nicht auch ihre Füße, verkrüppeln sie nicht ihre Körper, indem sie dieselben ebenso zusammenzwängen wie unsere Frauen ihre Füße?“

In dieser Hinsicht sind die Frauen der Tataren und Mandschuren viel besser dran. Die Fußverkrüpplung kommt bei ihnen nicht vor, es genügt ihnen, ihre an und für sich sehr kleinen, wohlgesinnten Füßchen in zierliche Pantöffelchen zu stecken, und sie finden doch ihren Mann. Da die herrschende Kaiserdynastie einem Mandschurengeschlechte entstammt, so besitzt auch die Kaiserin von China keine verkrüppelten Füße, und am ganzen Kaiserhofe ist diese Unsitte unbekannt. Bei Anfgängen tragen die Mandschurenfrauen unter ihren schön gestickten Pantöffelchen noch stelzenartige Holzstöckchen, wie wir sie auf der nebenstehenden Abbildung erblicken, zum Schutz gegen den Straßenschmutz.

Mandschurenfrau.

Nach meinen Erkundigungen bei Chinesen ist es unrichtig, anzunehmen, daß die Fußverkrüppluug von den Männern verlangt wird, um die Frauen an das Haus zu fesseln und ihnen die Möglichkeit zu Ausgängen etc. zunehmen. Sie ist einfach Modesache, deren Entstehung noch von niemand erklärt worden ist. Uebrigens können sich viele Damen Chinas trotz ihrer „Hemmschuhe“ erstaunlich gut fortbewegen. Freilich sah ich einmal in Nanking eine Dame, welche vor ihrem Hause von einer Dienerin aus der Sänfte gehoben und auf dem Rücken in das Innere getragen wurde, geradeso wie die Fellachenweiber ihre Kinder auf dem Rücken tragen. In Chinkiang sah ich mehrere Sklavinnen, welche ihre reich geputzten Herrinnen in derselben Weise über die Straße in ein Freundeshaus trugen. Die Damen hatten ihre Arme um den Nacken der Trägerinnen geschlungen, und die letzteren hielten ihre Lasten wieder dadurch, daß sie, mit ihren Händen nach rückwärts greifend, die Schenkel der Damen unterstützten. Die „goldenen Lilien“ waren unter den Kleidern auf beiden Seiten der Sklavinnen sichtbar. Gesprächsweise erwähnte ich dies einem im Innern von China wirkenden Missionär gegenüber. Dieser, seit einer Reihe von Jahren dort thätig und mit dem Leben der Chinesen eng vertraut, erzählte mir seinerseits, er hätte schon viele Chinesinnen kennengelernt, die ungeachtet ihrer verkrüppelten Füße ohne Schmerz beträchtliche Strecken weit gehen konnten. Eine derselben war jeden Sonntag von ihrer mehrere Kilometer weiten Wohnung zum Gottesdienst in die Kirche gekommen und wieder zu Fuß heimgekehrt. Viele Hausfrauen haben bei ihren häuslichen Verrichtungen in den zumeist sehr geräumigen Wohnungen mit ausgedehnten Gärten, Höfen u. s. w. täglich recht viel zu gehen, so daß der Einwand, die verkrüppelten Füße hinderten am Gehen, keineswegs richtig ist.

Die Toilette der vornehmen Chinesinnen ist in Schnitt und Farbe jener der niederen Stände ähnlich, aber mit farbigem Besatz und den prächtigsten Stickereien reich verziert. Die Aermel sind weiter und länger, so daß bei herabfallenden Armen sogar die Hand davon bedeckt wird. Ein steifes Nackenband mit Stickereien hält den Faltenwurf in Ordnung, und auf der Brust sind dieselben Stickereien von Bären, Drachen, Reihern, Pfauen u. s. w. zu sehen, welche ihr Gatte je nach seinem Mandarinsrange tragen darf. Ueber dem Beinkleid tragen die vornehmen Damen Chinas noch einen langen blauen Rock, der bis an die Füße reicht und au den Hüften festgehalten wird. Das gestickte blaue Oberhemd fällt über diesen Rock bis nahe an das Knie herab. Jede Seite des Unterrockes zeigt sechs senkrechte Doppelfalten, und auf die Vorder- und Rückseite sind viereckige Stücke aus den schwersten Seidenstoffen aufgenäht, welche die herrlichsten und zartesten Stickereien tragen, Arbeiten, welche unsere Damen in Helles Entzücken versetzen würden. Sie, sowie der Kopfputz und die Füße bilden den Stolz der chinesischen Frauenwelt. Auf Schmucksachen, ausgenommen Ohrgehänge und Armspangen aus Halbedelsteinen, Perlen oder Edelmetall, wird kein besonderer Wert gelegt. Hüte sind auch bei vornehmen Damen unbekannt; ebensowenig tragen sie Kopftücher oder Schleier. Der Kopf ist, wie schon oben erwähnt, stets unbedeckt und unverhüllt. Nur wenn Mandarinenfrauen zu Festlichkeiten an den Kaiserhof befohlen werden, erfordert die ungemein strenge Etikette, daß sie dieselben Hüte mit denselben Rangabzeichen tragen wie ihre Männer. Die Mandschnrenfrauen Pflegen ihr Haar auch mit Bändern und Blumen zu schmücken.

Viele Damen finden Gefallen daran, die Fingernägel des dritten und vierten, zuweilen auch des kleinen Fingers der linken Hand ein paar Centimeter lang wachsen zu lassen. In einem Buddhatempel zu Shanghai sah ich einmal eine Dame mit derartigen etwa fünf Centimeter langen grauen Fingernägeln, die gegen die Spitze zusammengeschrumpft waren und keineswegs einen appetitlichen Anblick darboten. Im Hause werden die Nägel durch zierlich ornamentierte Fingerhüte aus Gold oder Silber geschützt, die nach unten zu offen sind. Es blieb mir unverständlich, auf welche Weise die chinesischen Damen Hände und Gesicht waschen konnten, auf welche Weise sie auch ihre Zeit verbrachten, denn Handarbeiten mit derartigen Krallen sind ausgeschlossen, und mit dem Romanlesen ist es im Reich der Mitte schlimm bestellt!

Die kostbarsten Juwelen werden von den Damen im Haar getragen. Ueberhaupt gefiel mir an ihnen der Kopfputz am besten, denn die Gesichter sind gewöhnlich mit einer dicken Schicht Puder bedeckt, über welche die Damen noch eine ebenso dicke Schicht von Rot legen, das bis an die Augenbrauen reicht. Sie suchen diese Malerei auch durchaus nicht zu verbergen, sie ist ehrlich, offen und dick aufgetragen, und gewiß kann sich niemand rühmen, eine chinesische Dame jemals zum Erröten gebracht zu haben. Die Augenbrauen werden zuweilen ausgezupft oder abrasiert, stets aber mit Holzkohle derart nachgezeichnet, daß sie etwa die Form des Mondes an den ersten Tagen nach Neumond besitzen. Was Wunder, daß mir unter solchen Umständen das Haar am besten gefiel! Auch hier werden falsche Haare zu Hilfe genommen, ganz so, wie es bei Damen, die unseren Rassen näher stehen, zuweilen auch der Fall sein soll. Nur ist es den Chinesinnen leichter, die Haarfarbe des Chignons zu treffen, denn sie sind durchweg rabenschwarz. Eine blonde oder rote Chinesin würde vielleicht größeres Aufsehen erregen als die siamesischen Zwillinge. Junge Mädchen tragen das Haar lang herabfallend. Frauen verleihen ihrem gewöhnlich sehr üppigen Haarwuchs erhöhten Glanz dadurch, daß sie es in harzigen Flüssigkeiten baden und sorgfältig kämmen. Haarbürsten sind den orientalischen Völkern unbekannt.

Durch Zufall sah ich einmal mit Hilfe des Feldstechers der Haartoilette einer Dame zu – eine gewiß verzeihliche Indiskretion, wenn man bedenkt, daß ich sie nur in ethnographischem Interesse und um die Europäerinnen vielleicht etwas Neues zu lehren, beging. Die blatternarbige „Schöne“ saß auf ihren Fersen auf dein Boden. Sie kämmte ihr reiches Haar von der Stirne glatt zurück und hob es etwas vom Kopfe dadurch, daß sie einen Finger darunter hielt. Dann wurde der flache Haarstrang am Scheitel nach voru umgebogen, so daß er eine Schleife bildete, und mit einer langen Nadel festgesteckt. In ähnlicher Weise bildete sie mit dem Seitenhaar Schleifen, die weit vom Kopfe abstanden, und steckte sie am Scheitel mit Nadeln fest. Dann schmückte sie das Haar mit Juwelen und Blumen, von denen die hübscheste in ein kleines schmales Gesäß gesteckt wurde, das sie in dem Haar verbarg.

In den mittleren Provinzen Chinas wird das Haar von rückwärts nach auswärts gekämmt und in einem hohen, vom Kopfe abstehenden Bogen nach vorn geführt, wo es festgesteckt wird. Ein chinesischer Poet besingt eine Schöne mit folgenden Worten: „Wangen wie die Mandelblüte, Lippen wie die Pfirsichblüte, den Leib wie ein Weidenblatt, Augen, so munter wie in der Sonne glitzerndes Wassergekräusel, und Füße wie die Lotosblume.“ [564] 0


Blätter und Blüten.

Schutzhaus Mandronhütte in der Adamellogruppe. Als vor dreißig Jahren der späterhin so berühmt gewordene Nordpolfahrer Julius v. Payer durch seine vorzüglichen Arbeiten über genauere Erforschung der Ortler- und Adamellogruppe (Petermanns Monatshefte) die Aufmerksamkeit der gebildeten Welt auf sich lenkte, gab er zu gleicher Zeit dem im Entstehen begriffenen Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereine den Hinweis auf ein reiches Feld für dessen uneigennützige Thätigkeit.

Bald entschlossen sich die Sektionen Prag und Leipzig dieses Vereins, gemeinschaftlich auf den Tabarettawänden des Ortlers ein Schutzhaus, „Die Payerhütte“, zu erbauen; nachdem jedoch die Prager Sektion erklärte, daß sie allein diesen Bau auszuführen gedenke, errichtete die Sektion Leipzig im Jahre 1878 auf der Mandronalpe inmitten der herrlichen Adamellogruppe, oberhalb des schönsten Gletschers der Ostalpen ihr erstes Schutzhaus und erschloß damit zugleich dieses bis dahin fast unbekannte Hochalpengebiet der Bergsteigerwelt. Dasselbe ist erst vor kurzem (vergl. Jahrg. 1895, S. 654) in Bild und Wort den Lesern der „Gartenlaube“ ausführlich geschildert worden.

Die Hütte, 2470 m über dem Meeresspiegel, nordöstlich von den Laghi di Mandrone gelegen, ist vollständig aus Stein (Tonalit) gebaut, hat 1 m starke Wände und kostete 14 239 Mark (Wegbau 2077 Mark).

Von dem malerischen Städtchen Pinzolo (Judicarien) gelangt man durch das schöne, so oft und mit Recht gepriesene Val di Genova znr Mandronhütte. Am Thaleingange, gleichsam als Waldespforte, liegt idyllisch auf hohem Felsvorsprunge das reizende Kirchlein San Stefano. Der Weg führt nun an dem Ufer der rauschenden Sarca zwischen Waldhängen an zahlreichen, im Sonnenlicht hell glitzernden Wasserfällen vorüber bis zum großen Wiesenplane vor der Casa Bolognini. Dort hemmt der Wanderer unwillkürlich seine Schritte, denn das Bild ihm gegenüber ist in seiner Großartigkeit von einer so packenden Gewalt, daß man es nicht genug bewundern kann. Gleichsam über den Wipfeln der Nadelhölzer, welche das reizend gelegene Tridentiner Schutzhaus umrahmen, neigt sich die prächtige Gletscherzunge der Vedretta del Mandrone, wild zerrissen, fast senkrecht herab, während zu ihrer Linken die rauhen und dunklen Wände des Felskolosses Lobbia bassa massig emporsteigen. Wölbt sich über diese Scenerie ein klares blaues Himmelszelt, so ist das Bild in seinem Farbenspiel das Vollendetste einer alpinen Landschaft. Nach genügender Rast steigt man den vorzüglichen Weg zur Mandronhütte bergan. Zu oben erwähntem Gletscher gesellt sich bald ein zweiter mächtiger Eisstrom, die von Süden in das Thal eindringende Vedretta della Lobbia.

Schutzhaus Mandronhütte in der Adamellogruppe.
Nach einer Originalzeichnung von E. T. Compton.

Mehr und mehr überschauen wir die große Ausdehnung des Mandrongletschers, während die Lobbia bassa allmählich ihre imponierende Herrschaft verliert.

Je näher der Hütte, desto großartiger entfalten sich auch die Felspartien im Norden, bis man die gewaltige Tonalitkette, welche von der Presanella bis zur Cima lago scuro streicht und dann, nach Süden umbiegend, den Thalschluß des Val di Genova bildet, in ihrer ganzen Ausdehnung bewundern kann. Das Schutzhaus wird nach sechsstündiger Wanderung erreicht. Unser Bild giebt einen Teil des köstlichen Panoramas, welches man von der Hütte übersieht, prächtig wieder. Zur Linken sehen wir die Bergkette von der Punta del Orco bis zum Crozzon di Lares und Corno di Cavento, davor die Vedretta di Lares; in der Mitte erscheinen Lobbia bassa und alta, sowie der Dosson di Genova, unterhalb des Schutzhauses senkt sich der mächtig zerklüftete Mandrongletscher zu Thal und über dem Dache erblickt man in weiter Ferne das Corno bianco (Vorgipfel des Adamello), während ganz rechts der zum Corno di Bedole hinaufziehende Grat beginnt.

Alljährlich besuchen begeisterte Bergsteiger zahlreich dieses Asyl, um von dort denu Adamello und die Hingebenden Gipfel zu ersteigen. Bereits bis an den Rand des Mandrongletschers ist seitens der Sektion Leipzig der Weg fortgesetzt. Ein schwierig herzustellender Gebirgspfad zum Cercenpaß ist geplant, um auch die Ersteigung der herrlichen Presanella in das Bereich der von der Mandronhütte auszuführenden Hochtouren aufzunehmen, und ein neuer größerer Zubau zu derselben wird fernerhin wachsenden Ansprüchen gerecht werden.
Oskar Schumann.     

Der Maler im Dorf. (Zu dem Bilde S. 553.) Es muß ein weit von der Eisenbahn entlegenes venetianisches oder umbrisches Dörfchen sein, wo eine im Hof aufgepflanzte Malerstaffelei noch einen solchen Zusammenlauf veranlassen kann. Dichtgedrängt umsteht sie die ganze Einwohnerschaft des alten räucherigen Hauses: der glückliche Vater Fleischermeister, der seine Kunden im Lädchen warten läßt, um zwischendurch einen Blick auf das werdende Konterfei seines Bambino zu werfen, die hübsche junge Mutter mit den älteren Kindern, der zahnlose Großvater, dessen Neugier, dem Maler zuzusehen, ihn das Gewicht des Gemüsekorbs auf seiner Schulter vergessen läßt, dann der Herr Kurat, die oberste Kunstautorität im Dörfchen, der hier vor versammelter Nachbarschaft wieder einmal sein Licht leuchten läßt und mit gewichtiger Miene ein übers andere Mal ruft: „Schön, sehr schön! Zum Sprechen ähnlich ist das kleine Herzchen!“ und jedesmal dem Künstler noch etwas näher auf den Leib rückt. Aber dieser läßt sich dadurch nicht aus der Fassung bringen: derlei gehört zum Handwerk und kommt nicht in Betracht gegen die mögliche schlechte Laune des Modells im kurzen Hemdchen. Noch gestern brüllte und schlug „das kleine Herzchen“ wie ein junger Teufel, heute aber ist es gut aufgelegt und lacht in den Armen seiner Marietta vergnügt den Mann an, der hinter der großen Tafel „Guck, guck!“ macht. So steht zu hoffen, daß er sein Bild ungehindert vollenden möge, und wenn er auf der nächsten Ausstellung nicht die erste Medaille bekommt, so ist der kleine Peppino sicher nicht schuld daran, denn der hat dafür gethan, was er konnte, und die ganze Hauseinwohnerschaft nebst dem Herrn Kuraten kann’s bezeugen! Bn.     

Heiteres Quartier. (Zu dem Bilde S. 561.) „Das Ganze Halt!“ schmettern die Signalhörner. Die Manöverschlacht ist heute unentschieden geblieben, und nach der Kritik des Höchstkommandierenden rücken die einzelnen Truppenteile in ihre Quartiere ab, froh, daß für diesen Tag die Strapazen vorüber. Im allgemeinen dürfen unsere Soldaten wohl überall zufrieden sein mit der Aufnahme, die man ihnen angedeihen läßt, aber wer es so gut trifft in seinem Quartier wie die beiden Jnfanteristen auf dem ansprechenden Bilde von Karl Müller, der darf freilich von Glück sagen. Gleich beim Eintritt ist ihnen der Besitzer des Gehöftes mit freundlichem Gruße und biederem Händedruck entgegengetreten, dem alsbald ein guter Bewillkommnungsschluck und alsdann ein kräftiges, wohlbereitetes Mahl folgte. Die ganze Aufnahme hat den beiden Soldaten gezeigt, daß sie willkommen sind und sich hier wie zu Hause betrachten dürfen. Auch das schmucke Töchterlein verkehrt mit ihnen so unbefangen und freundlich, als ob sie schon alte Bekannte wären. So herrscht denn allerseits das beste Einvernehmen, und die Zeit verrinnt den beiden Kriegern unter so angenehmen Quartierverhältnissen wie im Fluge. Allein „des Dienstes immer gleichgestellte Uhr“ bleibt auch im Manöver nicht stehen, und so heißt es denn, sich nicht zu spät für den abendlichen Appell rüsten. Schon ist der eine der beiden Soldaten auf unserem Bilde eifrig mit dem Putzen seines Gewehres beschäftigt, während im Vordergrunde der andere, der zu den Spielleuten gehört, sich mit dem Tornister zu schaffen macht.

Diesen Augenblick hat die immer zu lustigem Scherz aufgelegte Haustochter benutzt, sich seines Signalhorns zu bemächtigen. Aus Leibeskräften bläst sie hinein, so daß es „Stein’ erweichen, Menschen rasend machen kann“. Der auf der Truhe an der Wand sitzende und sein Pfeifchen schmauchende Alte hält sich mit der Linken das Ohr zu, der „Blasius“ protestiert lachend gegen diese Entweihung seines Instruments, aber das Mädchen läßt sich nicht stören. – Dies „heitere Quartier“ wird den beiden Marssöhnen sicherlich in angenehmer Erinnerung bleiben, und sie werden noch oft davon erzählen. E. M.     


Inhalt: Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (9. Fortsetzung). S. 549. – Ist’s erlaubt? Bild. S. 549. – Der Maler im Dorf. Bild. S. 553. – Die friesischen „Schlickrutscher“. Von Schulte vom Brühl. S. 554. Mit Abbildungen S. 554, 555, 556 und 557. – Fräulein Nunnemann. Erzählung aus vergangenen Tagen. Von Eva Treu (Schluß). S. 557. – Leben, Trachten und Sitten der chinesischen Frauen. Von Ernst v. Hesse-Wartegg. I. S. 560. Mit Abblidungen S. 562 und 563. – Heiteres Quartier. Bild. S. 561. – Blätter und Blüten: Schutzhaus Mandronhütte in der Adamellogruppe. Von Oskar Schumann. Mit Abbildung. S. 564. – Der Maler im Dorf. S. 564. (Zu dem Bilde S. 553.) – Heiteres Quartier. S. 564. (Zu dem Bilde S. 561.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 33. 1896.


Der Untergang des deutschen Kanonenbootes „Iltis“. Ein schwerer Schlag hat die deutsche Kriegsmarine durch den Untergang des lange Jahre auf der ostasiatischen Station in Verwendung gewesenen Kanonenbootes „Iltis“ betroffen. Nach einer telegraphischen Meldung des Chefs des deutschen Kreuzergeschwaders, Kontreadmirals Tirpitz, aus Tschifu, hat sich die Katastrophe, die überall einen tiefschmerzlichen Eindruck gemacht hat, am 23. Juli neun Seemeilen nordnordöstlich von South-East-Promontory an der Ostküste von China im Gelben Meer zugetragen. Seit dem Untergange des „Großen Kurfürsten“ am 31. Mai 1878, der Kreuzerkorvette „Augusta“ Anfang Juni 1885 und des Kreuzers „Adler“ und des Kanonenbootes „Eber“ vor Samoa am 16. März 1889 hat unsere Marine kein so schweres Unglück zu verzeichnen gehabt. Nach amtlicher Feststellung haben mit dem „Iltis“ 68 wackere Seemänner den Tod gefunden; mit dem Kommandanten, Kapitän-Lieutenant Braun, dem Lieutenant zur See v. Holbach als erstem Offizier, den Lieutenants zur See Fraustaedter und Prasse, dem Assistenzarzt Dr. Hildebrandt und dem Obermaschinisten Hill ging die ganze Bemannung bis auf 12 Personen zu Grunde (Marineunterzahlmeister Loß befand sich im Lazarett zu Tschifu).

Kapitän-Lieutenant Braun,
Kommandant des „Iltis“.

Das Kanonenboot „Iltis“ ist 1877 vom Stapel gelaufen. Es war auf der Kaiserlichen Werft zu Danzig erbaut worden, gehörte der Nordseestation an und wurde 1880 für die ostasiatische Station in Dienst gestellt. Es war 42,4 m lang, 7,7 m breit und hatte etwa 3 m Tiefgang. Die Armierung bestand aus 7 Geschützen: auf jeder Seite im Bug befand sich eine kurze 8 cm-Kanone; auf dem Heck eine kurze 12,5 cm-Kanone und eine zweite gleichen Kalibers auf dem Oberdeck; drei Revolverkanonen waren auf der Reling befestigt. Im Sommer 1880 trat der „Iltis“ zum erstenmal die Reise nach den ostasiatischen Gewässern an und kehrte im Frühjahr 1886 nach Deutschland zurück, um einigen Reparaturen unterzogen zu werden. Inzwischen hatte das Schiff 1885 auf der Insel Yap der Karolinengruppe unter dem Kommando des Kapitän-Lieutenants Hofmeier bei schwierigen Verhältnissen die deutsche Flagge gehißt, wodurch es beinahe zu einer ernsten Verwickelung mit Spanien gekommen wäre. 1887 trat es zum zweitenmal unter Kapitän-Lieutenant v. Eickstedt die Reise nach Ostasien an und war bis jetzt auf der dortigen Station in Dienst. Besonders that es sich während des chinesisch-japanischen Krieges hervor, indem es eine große Anzahl chinesischer Soldaten nebst dem in chinesischen Diensten stehenden Hauptmann v. Hanneken, die sich auf einem von den Japanern in Grund gebohrten Kriegsschiffe befanden, das Leben rettete und nachher bei der Insel Formosa mit drei Schuß ein chinesisches Fort zum Schweigen brachte, das einen die deutsche Flagge führenden Dampfer nicht aus dem Hafen lassen wollte. Die jetzige Besatzung des „Iltis“ hatte Deutschland am 26. März 1895 verlassen und würde im Juni 1897 in die Heimat zurückgekehrt sein.

Der Kommandant, Kapitän-Lieutenant Braun aus Rhein, gehörte zu den begabtesten Offizieren der Marine, in die er am 21. April 1877 eingetreten war. Er machte in den Jahren 1878 bis 1880 an Bord des „Prinz Adalbert“, mit dem Prinzen Heinrich, dessen persönlicher Freund er war, die große Weltumsegelung mit. Er arbeitete später drei Jahre beim Oberkommando der Marine und hatte erst im Frühjahr dieses Jahres das Kommando des „Iltis“ übernommen.

Der Schauplatz, auf dem der „Iltis“ ein Opfer der elementaren Naturereignisse wurde, ist South-East-Promontory, eine niedrige kleine Insel im äußersten Südosten des Vorgebirges Shantung. Von der Seeseite, an der ganzen Ausdehnung der Insel entlang, erstrecken sich ausgedehnte Riffe, von denen einige weit in die See hinein liegen, so daß das Fahrwasser hier äußerst gefährlich ist. Es darf deswegen auch höchstens auf eine englische Meile angesegelt werden.

Der „Iltis“ hat nun wohl während des am 23. Juli herrschenden Unwetters versucht, die freie See zu gewinnen, aber die Maschinenkraft war zu schwach gegen die entfesselten Elemente und, ein Spiel der Wellen, wurde das nun hilflose Schiff auf die Riffe geschleudert, wo es zerschellte.

Ohne Aussicht auf Rettung ging die tapfere todesmutige Mannschaft, ihr voran der Kommandant und die Offiziere, mit drei Hurras auf den Kaiser in den Tod.

Fern von der Heimat haben so viele brave Männer, an ihrer Spitze ein hervorragend tüchtiger Seeoffizier, auf dem Meeresboden ihr frühzeitiges Grab gefunden, und nicht allein die Hinterbliebenen und die Marine fühlen den Verlust, sondern das ganze deutsche Vaterland trauert mit und wird den als Opfer der Pflicht Gebliebenen eine warme, unverlöschliche Erinnerung bewahren. Die Deutsche Marinestiftung hat bereits eine Sammlung für die Hinterbliebenen des „Iltis“ eröffnet; man bittet, Beiträge an die Hauptkasse der Königlichen Generaldirektion der Seehandlungs-Societät in Berlin, Jägerstraße 21, zu senden.

Das Kanonenboot „Iltis“.
Nach einer Originalzeichnung von Willy Stöwer.

[564 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]