Die Gartenlaube (1896)/Heft 43

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[725]

Nr. 43.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Geschwister.

Roman von Philipp Wengerhoff.
(5. Fortsetzung.)
6.

Auf besonderes Verlangen der Frau Geheimrätin hatte man von der Veröffentlichung der Verlobung vorläufig abgesehen. Ihr Leo fehlte ja – wie konnte man da Freudenfeste im Hause feiern! Aber sobald er nach dem Examen heimgekehrt sein würde, dann war auch der große Tag da, an dem sie die Gratulationen für beide so wichtige und so erfreuliche Ereignisse in ihrer Familie gleichzeitig entgegennehmen wollte.

Elfe murrte zwar anfangs über diese Anordnung, denn sie brannte darauf, alle die schönen und wertvollen Sachen, mit denen ihr Bräutigam sie in ganz verschwenderischer Weise überschüttete, ihren Bekannten zu zeigen, aber schließlich siegte über diesen Wunsch die Erwägung, daß Lieutenant Lüdeke dadurch Zeit gewänne, sich über ihren Verlust zu trösten, und somit die Gefahr vermindert werde, eine unbedachte Gefühlsäußerung könnte ihn und sie verraten.

So brachte das neue Verhältnis zunächst keine äußere Veränderung mit sich. Ein paarmal in der Woche verlebte Walden seine Abende im Brücknerschen Familienkreise; aber um diese dann für ihn ganz frei zu halten, verabredete man im voraus sein Kommen, wodurch die Frau Geheimrätin auch in stand gesetzt wurde, für diese Besuche die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Er selbst hatte sich in die Verzögerung dann erst gefunden, als man ihm zugesagt, seine Hochzeit solle durch dieselbe keinen Aufschub erleiden, und man würde sogar in dieser verhältnismäßig stillen Zeit schon viele dafür notwendigen Arbeiten erledigen können.

Für Lisbeth hatte sich nun ein so großes Feld der Thätigkeit im Hause gefunden, daß sie wirklich in Verlegenheit war, die Zeit, die sie vor ihrer Fahrt nach D. dem alten Herrn Römer geschenkt hatte, auch weiter zu erübrigen. So war es meistens das Dämmerstündchen, in dem sie neben dem alten Manne saß, ihm von seinen Kindern und der Hauptperson des jungen Haushaltes, seinem süßen, kleinen Enkelchen, erzählte und sich die Briefe vorlesen

Strickende Schäferin.
Nach dem Gemälde von Max Liebermann.

[726] ließ, welche von völliger Besserung und baldiger Heimreise der alten Frau Rektor berichteten.

Es war wenige Tage vor dieser Heimkehr, und eben war Lisbeth von ihm gegangen, als der Rektor durch einen Besuch überrascht wurde. Die Dame nannte sich Frau Baumeister Eichberg und kam in Frauenvereinsangelegenheiten, sich zu erkundigen, wie bald man wieder auf die Teilnahme seiner Gattin rechnen könne.

Der alte Herr wurde etwas ausführlich in seinem Bericht über das Mißgeschick der letzten Monate, und Frau Eichberg hörte ihm so aufmerksam zu, als interessierte sie sich lebhaft für dies alles.

„Als ein wahrer Engel,“ schloß er, „hat sich in dieser Leidenszeit die Freundin unserer Tochter, Fräulein Lisbeth Brückner, erwiesen. Sie war bei der Nachricht von der jammervollen Lage der Meinen sofort nach D. gereist, und ihrer treuen, sorgsamen Pflege verdankt unsere Tochter ihr Leben und meine Frau ihre schnelle Genesung.“

„Das war wohl die junge Dame,“ fragte Frau Eichberg, „der ich hier beim Eintritt ins Haus im Flur begegnete? Eine hübsche, blühende Erscheinung!“

„O, ihr anmutiges Aeußere ist noch ihr geringster Vorzug,“ sagte mit väterlich zärtlichem Ton der alte Herr, „es ist nicht zu sagen, welch’ ein großes treues Herz in ihrer Brust schlägt und wie ihr edler Sinn sich nie an Aufopferung und Menschenliebe genug thun kann!“

„Sie ist eine Verwandte des Provinzial-Steuerdirektors hier?“ fragte Frau Eichberg.

„Die Tochter desselben - die Tochter!“ bestätigte der Herr Rektor. „Ja, es ist dem Herrn Geheimrat auf Erden viel Gutes geworden, und ich gönne ihm alles; aber um diesen Schatz beneide ich ihn.“

Frau Eichberg lächelte über den Enthusiasmus des alten Herrn.

„Ihr Geschmack, lieber Herr Rektor, scheint nicht einzig dazustehen. Wie ich hörte, ist die junge Dame Braut und macht eine sehr glänzende Partie.“

Der alte Herr machte ein ganz verschmitztes Gesicht. „Nicht sie,“ sagte er, „nicht sie ist das, ihre jüngere Schwester ist die Braut! Ich sollte eigentlich nicht darüber sprechen, aber die Verlobung wird nun in der nächsten Zeit öffentlich, da ist es doch kein Geheimnis mehr. Ja, die Kleine hat sich schnell entschlossen; Lieschen ist wählerischer. Freilich sagt man ja, der Bräutigam wäre ein prächtiger Mensch von großen geistigen Gaben und schwer reich, aber es will mir gar nicht gefallen, daß er so viel älter als Fräulein Elfe ist. Er soll über die Mitte der Vierzig sein - und dazu dieses junge Kind – das giebt selten etwas Gutes!“

„Nun,“ fragte Frau Eichberg sehr interessiert, „sie ist doch wohl nur ein Jährchen jünger als die ältere Schwester – und Elfe heißt sie? Welch’ seltsamer Name!“

„Elfriede ist sie getauft, das klingt weniger romantisch. Aber weil die Kleine so wunderbar lieblich, zart und biegsam war, wie man sich die Elfen wohl vorstellt, so wurde ihr der Name ganz von selbst. Sie ist sehr schön, diese zierliche Elfe, sehr schön und reizend, und unser Lieschen hängt an ihr mit übergroßer Zärtlichkeit und wohl auch Verblendung. Aber sie hat das Schwesterchen so aufwachsen sehen und mit ausgezogen, denn Elfe ist acht Jahre jünger als sie; da greisen dann leicht solche Ausartungen mütterlicher Gefühle Platz.“

„Acht Jahre jünger, aber ich bitte Sie, da muß sie ja noch völlig Kind sein.“

„Sie ist siebzehn Jahre alt, nun; jung gefreit, hat nie gereut, sage ich noch immer nach alter Weise, wenn es auch für die jetzige Zeit nicht mehr gilt aber die ungleichen Jahre wollen mir nicht gefallen. Ich finde, der Regierungsrat von Walden hat vielen Mut, daß er sich eine so junge Frau nimmt.“

Frau Eichberg war aufgestanden, man wechselte noch ein paar höflich freundliche Worte, und dann ging sie. Erst lebhaft, dann wurden ihre Schritte immer langsamer, und als ihr die hellen Fenster ihrer Wohnung entgegen blinkten, blieb sie auf der Straße stehen und atmete schwer.

„Arme Hermine,“ sagte sie leise vor sich hin, „mein armes Kind – wie wird es Dich schmerzen! Aber ich bin doch froh, daß ich mir Gewißheit geholt habe. Dieses Langen und Bangen ist ja zu aufreibend! Wird sie es nun endlich begreifen, daß sie ihm nichts anderes war als ein Spielzeug für müßige Stunden? Ich

hoffe doch, und dann wird ihr Stolz sie lehren, diese unheilvolle Liebe zu bezwingen. Ein scharfer Schnitt in die Wunde ist in solchen Fällen die wirksamste Kur.“

Sie erstieg die Treppen und hatte kaum die Eingangsthür geöffnet, als ihr Hermine schon entgegen kam. Das schmale, blasse Gesicht war in den letzten Monaten noch um vieles schmaler geworden, und trotz der Röte der Erregung, die jetzt darauf lag, erschien es krankhaft zart und durchsichtig.

„Nun, Mütterchen, da bist Du ja endlich,“ sagte sie zärtlich und nahm der Eintretenden Hut und Mantel ab. „Sind Deine Geschäfte besorgt und hast Du den Besuch bei Römers gemacht?“

„Ja, Hermine.“

„Und “ sie zog die Mutter aufs Sofa – „was sagte man Dir?“

Frau Eichberg legte den Arm um des Mädchens Schulter. „Es ist wahr, mein Kind. Das Gerede hat einen Grund: demnächst wird die Verlobung veröffentlicht werden.“

„Nein, Mutter, nein! Das ist doch nur Mutmaßung?“

„Durchaus nicht, Hermine. Ich traf die älteste Tochter von Brückners bei Herrn Römer, und er hat die Nachricht aus ihrem eigenen Munde: Walden ist Bräutigam von Fräulein Elfriede Brückner.“

Ein stöhnender Laut entfuhr den Lippen der Zuhörenden und mit geisterbleichem Gesicht lehnte sie sich in die Polster zurück.

„Und mir,“ flüsterte sie dann, „und mir noch diesen Brief vor kurzen vier Wochen!“

„Nun,“ sagte die Mutter, die aufgestanden war und erregt im Zimmer auf und ab schritt, „er hat ja wohl Uebung in solchen mit leeren Redensarten gefüllten Briefen, die ein zärtliches Herz alles ahnen lassen, doch zu nichts verpflichten - also schrieb er Dir einen solchen und ließ Deine thörichte Liebe noch einmal aufflammen. Gott strafe ihn für diese Frivolität!“

„Mutter, Mutter, wie darfst Du das sagen,“ unterbrach Hermine sie und ein paar schwere Thränen rannen langsam über ihre Wangen, „wie darfst Du Gottes Zorn über ihn herabrufen!

Weißt Du nicht, daß, was ihn trifft, mich mit schmerzt?“

„Mein Kind,“ sagte die Mutter und stand vor ihr still, „nur bis zu einem gewissen Grade kann ich in diesem Fall mit Dir Mitleid haben. Wenn Dir jetzt Dein weiblicher Stolz nicht hilft, diese Liebe zu überwinden, dann –“

„Weiblicher Stolz?!“ rief Hermine, „mein Gott, weiblicher Stolz – wer hat den, wenn er liebt?“

„Das ist Schwäche, Hermine,“ sagte die Mutter ernst, „ein vernünftiger Mensch läßt sich nicht so von einer Empfindung beherrschen. Kämpfe dagegen an, und es wird nicht lange währen, so hat der Kopf die Ueberhand über das thörichte Herz! Du sagst es Dir dann selbst, daß solch’ ein gewissenloser Mensch nicht der Liebe und nicht der Trauer wert war, die Du ihm weihtest.“

Langsam wandte das Mädchen ihr bleiches Gesicht der Mutter zu. „Du meinst es gut, aber Du ahnst nicht, was Du von mir verlangst. Dir ist es so gut geworden, zur rechten Zeit Liebe und Glück zu finden, Du brauchtest nicht zu kämpfen, sondern hast alle Kräfte deines Wesens im Sonnenschein entwickeln dürfen. Ich stehe im Schatten, meine Jugend ist bald vorüber – seit Jahren ist Ueberwinden und Entsagen mein Teil. Und nun, nach all den stillen, leeren Zeiten ein solches Gefühl – ein solches Verstehen und Seligsein! … Wenn es mir auch jetzt zum Elend wird, ich möchte doch die Erinnerung nicht hergeben! Habe Geduld mit mir, Mütterchen, und verlange nicht, daß ich jetzt ‚vernünftig’ sein soll! Ich will es in mich verschließen, dies Gefühl, und nicht mehr darüber sprechen. Verwinden aber – das weiß ich bestimmt, verwinden werde ich es nie!“

Voll tiefen Mitleids faßte die Mutter ihr Kind in die Arme. „Ich werde Dir helfen, mein Herz, dann zwingst Du es schon. Morgen packen wir und reisen zu Tante Bertha. Da hat man es so schön in dem prächtigen Gutshause und sie leben so gesellig, es wird uns nicht an Abwechslung und Zerstreuung fehlen. Sind aber erst die Wintermonate herum, dann gehen wir nach Pyrmont. Wie oft hat schon der Arzt Dir diese Kur empfohlen – hätte ich Dich doch lieber dorthin als nach Ilmenau geschickt - aber nun wollen wir beide für den ganzen Sommer hin, und kommen wir zum Herbste zurück, bist Du frisch und gesund an Körper und Seele.“

„Mein Mütterchen, all Deine Opfer sind umsonst!“ [727] „Das fürchte ich nicht, ich kenne mein Kind. Komm jetzt ins Eßzimmer, trinke ein Schlückchen Thee und dann lege Dich nieder - morgen haben wir einen arbeitsvollen Tag, da kann man nicht zeitig genug zur Ruhe kommen.“


7.


In dem Gefühl, sich zu lange bei ihrem väterlichen Freunde verplaudert zu haben, eilte Lisbeth hastigen Schrittes nach Hause. Sie fühlte einen heftigen Schrecken, als bei ihrem Eintritt in den Vorflur der Vater ihr entgegen kam und sie in sein im Parterregeschoß gelegenes Bureauzimmer führte. Dort erst, bei dem Hellern Schein der Lampe, bemerkte sie, was ihr vorher entgangen, daß sein Gesicht ganz farblos war und große Erregung zeigte. Als er die Thür geschlossen und sich mit seiner Tochter allein sah, brach er gleich mit der Mitteilung hervor: „Ich erwartete Dich hier, um mich mit Dir über eine traurige Angelegenheit zu beraten – uns hat Schweres getroffen! Eben erhielt ich diesen Brief aus Berlin: Leo ist durchs Examen gefallen! Wie wird Mutter das tragen? Ob wir es ihr überhaupt mitteilen müssen?“

„Aber, Papa, wie könnte man es ihr vorenthalten?“ rief Lisbeth, die jede Aeußerung ihres Kummers um des Vaters willen unterdrückte, „wie wäre es auch möglich, ihr die Sache zu verheimlichen? Sie wartet ja schon Tag für Tag auf die Nachricht von der glücklich bestandenen Prüfung, geht kann, mehr aus dem Hause, um den Telegraphenboten nicht zu verpassen, und baut alle ihre Pläne darauf. Nein, nein je schneller sie es erfährt, je besser wird es sein! Du mußt nur selbst erst ruhig werden, Väterchen, und stellst Du ihr dann vor, daß es viel Schlimmeres giebt als solch eine Schlappe, dann findet sie sich auch damit ab. Ihre große Zärtlichkeit für Leo, die Freude, ihn wieder hier zu haben, wird ihr über die Enttäuschung hinweg helfen. In erster Reihe beklagt sie doch nur die Nachteile, die er davon hat.“

„Wenn er noch ein dummer oder auch nur ein mittelmäßig begabter Mensch wäre“, klagte der Geheimrat. „Aber er ist ein feiner Kopf, feine Logik in allen juridischen Fragen hat mich oft überrascht, desto mehr muß ich jetzt an seinem Charakter zweifeln! Mit welchem Leichtsinn muß er vorgegangen sein – wie wenig muß er seine Zeit benutzt haben, daß er einer Kommission gegenüber, bei welcher ich meine nächsten Bekannten, ja Freunde habe, nicht einmal bestehen konnte! Und was soll das werden?“

„Nun, Papachen,“ sagte Lisbeth beschwichtigend und legte ihre Arme um ihn, „er wird sich eine Lehre daraus ziehen, und in ein paar Wochen ist die Scharte dann ausgewetzt.“

„In ein paar Wochen!“ rief der Geheimrat. „Er ist auf neun Monate zurückgestellt, die längste Frist, die es überhaupt dabei giebt – schon das beweist mir, wie es mit seinem Wissen bestellt ist!“

Er lief wieder hastig im Zimmer auf und ab.

„Aber ich Will ihm nun gehörig auf die Finger sehen! Hat er mein Vertrauen in sein Ehrgefühl so schwer getäuscht, so soll er meine rücksichtslose Energie empfinden. Arbeiten soll er lernen, arbeiten – arbeiten! Ach,“ brach es dann plötzlich wie ein Jammerlaut über seine Lippen, „es nützt doch alles nichts mehr, die Zukunft hat er sich total verpfuscht, ich kann mir das nicht verhehlen. Eine große Carriere, die ich für ihn erhofft hatte, die giebt es für ihn nicht mehr! Von der Erreichung höherer Grade ist er absolut ausgeschlossen! - Lisbeth,“ sagte er dann zögernd, nachdem er eine Weile still vor sich hin gesonnen hatte, „nimm es mir ab, der Mutter die Nachricht zu bringen! Ich bleibe hier; komme, wenn Du es an der Zeit findest, mich zu rufen, wieder zurück, mein Kind.“

Kaum war Lisbeth gegangen, als ihn die Angst packte, seiner Frau könnte der Schmerz und die Aufregung schädlich werden. Im Zimmer auf und nieder schreitend, blieb er jedesmal an der Thür stehen und lauschte hinaus, ob man ihn noch nicht rufe, oder ob oben Unruhe entstehe, die feine Befürchtungen bestätige. Als aber alles still blieb, ward ihm noch schwüler. Was ging da oben jetzt wohl vor? Gehörte er nicht jetzt an ihre Seite, war es nicht seine Pflicht, ihr beizustehen, sie zu trösten? Wie konnte er einem anderen - und wenn es auch ihr Kind war - dies überlassen?! Er eilte die Treppe hinauf, durchschritt den Vorsaal und trat hastig in das Wohnzimmer. Lisbeth und Elfe standen im eifrigen Gespräch neben der Mutter, die, mit scharf gerötetem Gesicht und blitzenden Augen, ihm zuwinkte und mit gedämpfter Stimme ihm entgegen rief: „Schmidt und Hanne sind im Nebenzimmer wegen des Kronleuchters, bitte, sprich leise, sie könnten es hören!“

Dann trat sie dicht an ihn heran und sagte mit vor Zorn bebender Stimme: „Welche Schande der Schlingel über uns bringt! Ich finde vor Empörung keine Worte!“

„Fasse Dich, Käthchen,“ mahnte er, „die Aufregung könnte Dir schaden und Dich krank machen. Und glaube mir, Frauchen,“ setzte er, in dem Verlangen, sie zu trösten, hinzu, „so schlimm ist die Sache nicht.“

„Nicht schlimm? Noch nicht schlimm genug?“ brach es über ihre Lippen. „Ich weiß nicht, ob er uns noch eine größere Schmach hätte anthun können! Man muß sich ja schämen, von ihm zu sprechen, man wird die Demütigung hinnehmen müssen, daß die Leute unseren Sohn unseren einzigen Sohn, Erich künftig hin als Strohkopf, als Idioten ansehen werden! Ach Gott, ich habe immer so leichthin über das Examen gesprochen, mir schien solch’ ein Ende dieser Angelegenheit unmöglich, und nun die Schadenfreude der Leute - nein, das überlebe ich nicht!“

„Aber Mama“, sagte Lisbeth besänftigend, „Du fassest die Sache doch wirklich falsch auf. Es ist eine schwere Enttäuschung und eine große Unannehmlichkeit, wer wollte das verkennen; aber von Schande und Demütigung ist dabei doch nicht die Rede, und der Himmel wird euch davor bewahren, daß Leo uns wirklich einmal Schande macht.“

„Ach, verteidige ihn nur nicht,“ rief Elfe dazwischen, „ich bin ganz wütend über ihn! Hier hat er immer nur auf dem Sofa gelegen, wenn er einmal vom Früh- oder Abendschoppen heimkehrte, und dort flanierte er tagsüber „Unter den Linden“ und abends machte er Theaterstudien, vor und hinter den Coulissen. Man hat’s von jedem hören können, der in dieser Zeit in Berlin war, und nun haben wir den Schaden von seinem Leichtsinn. Bei uns hieß es nur immer: ,Sparen sparen’, damit der cher frére das Geld verprassen konnte. Und um seinetwillen durfte gar meine Verlobung nicht veröffentlicht werden! Walden wird außer sich sein über den Nichtsnutz!“

„Aber, Elfe!“ rief Lisbeth vorwurfsvoll dazwischen, und der Vater sagte bitter: „Nun, Elfe, Du sprichst ja sehr schwesterlich liebevoll von ihm, das muß ich sagen!“

„Sie hat ganz recht,“ grollte die Geheimrätin. „Ein Sohn, der so die Rücksicht gegen seine Eltern außer Augen setzt, ist selbst keiner Rücksicht mehr wert. Von Dir, Lisbeth, sind wir ja gewöhnt, daß Dir das Urteil der Gesellschaft keinen Respekt abnötigt, wir aber wissen, wie viel von ihm abhängt! Wie sollen wir uns überhaupt äußerlich dazu stellen? Ist es möglich, Erich, daß wir den Ausfall der Prüfung unseren Bekannten verheimlichen oder ihn totschweigen können?“

„Aber, Käthchen,“ sagte er mitleidig, „wie kannst Du so fragen? Du weißt es doch, wie vielen Du es selbst gesagt hast, daß in diesem Monat Leos Examen ist, und liegt Berlin denn auf einem anderen Planeten? Ich bin überzeugt, in den nächsten Tagen weiß es hier alle Welt, wir haben gar nicht nötig, zu überlegen, ob wir es melden oder verschweigen wollen.“

Sie stöhnte laut auf, schlug die Hände vor ihr Gesicht, und zwischen den Fingern tropfte nun das langverhaltene heiße, bittere Naß hervor.

„Nein, nein, ich ertrag’ es nicht! Ich fühle sie schon, diese bedauernden oder spöttischen Blicke, und mir vorstellen zu müssen, wie man mit teilnehmenden oder tröstenden Worten sich mir nähert - es ist entsetzlich! Man möchte vergehen vor Scham. Wenn ich nur niemand jetzt sehen müßte!“ „Nun, zunächst kommt die große Gratulationscour zu meiner Verlobung!“ sagte Elfe. „Länger wartet Walden nicht darauf; denn immerhin müssen von da ab noch vier bis sechs Wochen bis zur Hochzeit verstreichen, und Du hast ihm versprochen -

„Aber davon kann gar nicht die Rede mehr sein,“ fiel ihr mit großer Bestimmtheit die Mutter ins Wort. „Ich werde das mit Walden vereinbaren. Er kann es mir nicht zumuten. Weder die Verlobung noch die Hochzeit werden wir feiern, ehe diese Angelegenheit nicht aus der Welt geschafft ist!“

„Aber, Mama,“ rief Elfe.

„Liebe Mutter, das geht nicht,“ bat Lisbeth, und der Geheimrat legte mahnend seinen Arm um die Schulter seiner Frau und sagte: „Nein, Käthchen, das Wort mußt Du zurücknehmen,

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Datei:Die Gartenlaube (1896) b 0728.jpg

Ein ländliches Fest in Spanien.
Nach dem Gemälde von P. Salinas.

[729] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [730] nehmen, wir können in der That Walden nicht darunter leiden lassen. Die Hochzeit ist in sechs Wochen, und die Verlobung wollen wir schon deshalb schleunigst veröffentlichen, damit die Leute über etwas anderes als das verunglückte Examen zu reden haben. Leo mag erst Ende der Woche zurück kommen, dann hat der Trubel hier im Hause sein Ende erreicht, das wird auch ihm lieb sein.“

„Leo zurückkommen als durchgefallener Examenskandidat!“ Sie sah ihn starr an. „Nimmermehr! Das wirst Du mir doch nicht zumuten?“

„Ich dachte,“ meinte er, „Du hättest Dich so sehr nach Deinem Sohne gesehnt und –“

„Von meinen persönlichen Gefühlen sehe ich da ganz ab,“ unterbrach sie ihn. „Ich halte es für richtig, das; er den Leuten hier nicht täglich vor Augen kommt, damit sie aufhören, dieser erniedrigenden Angelegenheit zu gedenken. Ich wäre auch gar nicht imstande, nach dem, was er uns angethan hat, ihn immer um mich zu haben.“

„Aber das wird kaum anders gehen, Käthchen, dieses Vierteljahr in Berlin hat mir schon ein unglaubliches Geld gekostet. Wie wollen wir es noch eine doppelt so lange Zeit aushalten’?“

„Was, ein halbes Jahr?“

„Beinahe so lange, Käthchen, beinahe! Bedenke dieses Opfer für unseren ganzen Haushalt.“

„Und wenn ich hungern sollte, Erich, es ist mir lieber, als ihn jetzt beständig vor Augen zu haben!“

„Er würde hier viel besser arbeiten, Frauchen. Ich habe es mir schon vorgenommen, ihn bei seinen Studien gründlich zu unterstützen. In Berlin sind so viele Verlockungen für einen jungen Mann, so viele Veranlassungen, die ihn abziehen –“

„Nein, nein, Erich, kein Wort weiter; wir sind es uns schuldig, daß wir ihn nicht zurücknehmen, ehe er diese Blamage vergessen gemacht hat! Wenn er ernstlich will, wird er auch dort seine Pflicht thun; wie sollte er denn anders, er wird doch so viel Ehrgefühl haben, daß er sich schämt, in Gesellschaft zu gehen.“

„Er schreibt mir, Käthchen, er wäre körperlich sehr indisponiert, und dieser Zustand hätte wohl auch das Ergebnis beeinflußt. Nun weißt Du, wie er an häusliche Pflege gewöhnt ist, Du hast ja Tag und Nacht nicht geruht, wenn Deinem Jungen etwas fehlte.“

„Ja,“ sagte sie bitter, „und so lohnt er es mir! Mag er sich selbst helfen, er hat’s nicht besser verdient. Aber mit Deiner Verlobung, Elfe, habe ich es mir anders überlegt: wir verschicken in den nächsten Tagen die Karten und machen dann alle bei den Besuchen, die darauf folgen, ein sehr vergnügtes Gesicht. Das führt die Menschen irre, und sie glauben uns, wenn wir von einen: ,teilweisen Mißerfolg’ sprechen.“

Und damit hatte die Frau Geheimrätin auch nicht unrecht.

Als der Strom der Gratulanten sich nach ein paar Tagen in die prächtig geschmückten Räume der Geheimrat Brücknerschen Wohnung ergoß, konnte niemand an den Familienmitgliedern eine Spur von Aufregung oder Kummer entdecken, und schon die zuerst gekommenen flüsterten es den neu eintretenden Gästen zu: die Neuigkeit scheint erfunden zu sein. Schließlich erwähnte dann die Frau Geheimrätin ganz beiläufig der kleinen Enttäuschung, die ihnen durch eine für notwendig befundene teilweise Wiederholung des Examens geworden wäre, und die als unangenehmste Folge ihnen den Sohn jetzt entzöge.

Frau Kommerzienrätin Grimm und Fräulein Dora waren auch unter den ersten Besuchern, letztere in merklich kühlerer Haltung, die nach diesen so leicht hingeworfenen Worten sich jedoch wesentlich milderte, namentlich als die Frau Geheimrätin sie zärtlich um die Taille faßte und, abermals dieses kleinen Malheurs gedenkend, meinte: „Mir thut der arme Junge so leid, nun muß er noch länger fern bleiben, und die Sehnsucht nach hier,“ ein bezeichnender Blick half das Wort betonen, „ist doch allein die Veranlassung der fatalen Sache!“

Fräulein Dora lächelte befriedigt und versöhnt. Dann küßten sich beide sehr, sehr innig.

Oberst Giersbach und seine Gattin waren auch gekommen, um ihre Glückwünsche darzubringen. Der Oberst hatte einen noch bärbeißigeren Gesichtsausdruck als sonst, und Frau von Giersbach brachte die Gratulation in solchem larmoyanten Ton hervor, daß dieser mit ihren Worten im schärfsten Kontrast stand. Aber die Atmosphäre von Glück und Heiterkeit, die hier wehte, machte auch bald ihre Wirkung geltend, und in ganz veränderter Stimmung verließen sie das gastliche Haus.

„Die Geschichte ist rein erlogen,“ brummte der Oberst, als sie das Freie erreicht hatten, „wie könnten die Eltern wohl sonst so vergnügt sein! Weiß Gott, die Neuigkeiten, die ihr euch in euren Frauenzimmergesellschaften erzählt, sind allemal Dichtung.“

Fräulein Annie war nicht mitgegangen, ihre Mutter hatte sie entschuldigt: „Das Kind ist so nervös, kann nicht schlafen und regt sich über alles bis zu Thränen auf.“ Nun kam sie, als die Eltern zurückkehrten, ihnen entgegen gelaufen, half beim Ablegen der Mäntel und horchte eifrig, was sie ihr von diesem Besuche erzählten, leider ohne den gewünschten Erfolg. Sowohl der Oberst als seine Frau sprachen kein Wort von der Examensangelegenheit.

Am andern Tage sah sie bei einem Geschäftsgänge Elfe auf der Promenade, aber es gelang ihr, mit einer schnellen Wendung in eine Nebenstraße einzubiegen und so dieser Begegnung auszuweichen. Dagegen ging sie zehn Minuten später sehr eilig quer über einen Platz, um Lisbeth zu erreichen, die sie dort, allem des Weges kommend, erblickte.

Sie wurde sehr freundlich empfangen und begrüßt und ihre Gratulation zur Verlobung der Schwester recht warm aufgenommen. Auf ihre Frage, ob sie sich bei diesem Gange anschließen dürfe, reichte ihr Lisbeth den Arm und meinte herzlich, sie hatte sich längst solch ein Plauderstündchen mit ihr gewünscht. Nun schritten die jungen Mädchen einem Promenadenwege zu, ergingen sich erst in allgemeinen Gesprächen über das Wetter, die gemeinsamen Bekannten und kleinen Vorkommnisse im Gesellschaftskreise, dann kam wieder das neue Brautpaar und dessen Interessen an die Reihe, und nun stieß Fräulein Annie plötzlich hervor:

„Ja, wenn aber die Hochzeit schon in so kurzer Zeit sein soll, wird Ihr Herr Bruder sie dann auch mitmachen können?“

Da war es heraus. Sie erschrak furchtbar, als sie die Worte klingen hörte, um derentwillen sie Lisbeth angesprochen hatte. Was würde diese nur von ihr denken und wie würde sie es auffassen? – ob sie es ihr wohl ansah, wie rasend jetzt ihr Herz klopfte?

Aber Lisbeth blickte ganz ruhig und ernst und schien mit ihren Gedanken viel zu sehr beschäftigt zu sein, um etwas Auffallendes in dieser Frage zu finden.

„Leo – nein, doch wohl keinesfalls. Sie wissen es wohl schon? Er hat Malheur gehabt und muß nun noch einmal ins Examen. Ich habe es sehr gewünscht, daß er zu den weiteren Studien hierher zurückkommen sollte, namentlich da er körperlich so sehr herunter ist, aber die Eltern hielten sein Dortbleiben für richtiger.“ Sie warf einen Blick auf Annie, deren große Augen, wie sie mit gespanntem Ausdruck an ihren Lippen hingen, jetzt ganz voll Wasser standen. „Der ungünstige Ausfall ist ja doch kein Unglück,“ fuhr sie tröstend fort, „und läßt sich bald reparieren.

So unendlich vielen passiert es; und ist dann in ein paar Monaten das Ziel erreicht, ist solche Unannehmlichkeit auch bald vergessen“ „Gewiß,“ meinte Annie und fuhr sich versteckt mit dem Taschentuche über die Augen, „vielleicht dauert es nicht einmal so lange, aber jetzt leidet er doch durch die Enttäuschung, und wenn er nicht einmal gesund ist, doppelt!“

Sie wendete wieder ihr Köpfchen weg, es wäre schrecklich, wenn Lisbeth es merkte, wie die dummen Thränen ihr immer in die Augen schossen! Es war ja nur von der Kälte heute, aber man konnte es am Ende anders auffassen!

„Es ist etwas so Trauriges um zerstörte Hoffnungen,“ sagte sie dann altklug, „wer wüßte nicht davon. – Mein Bruder Paul sollte Michaeli nach Quarta kommen, wir haben immer zusammen so fleißig gelernt und dachten gewiß, er würde genügen, und dann blieb er sitzen und grämte sich so sehr! Da haben wir immer zusammen geweint.“

„Ja, solche kleinen Leute haben auch schon ihre Schmerzen,“ meinte Lisbeth und gab sich sichtlich Mühe, auch für diesen Kummer die richtige Würdigung zu finden.

„Mama sagt immer,“ fuhr Annie fort, „der Verlust einer Hoffnung ist der beklagenswerteste Verlust.“

Jetzt lächelte Lisbeth doch.

„Nun,“ sagte sie, „die Hoffnung auf das Versetztwerden wird der kleine Bursche wohl noch nicht aufgegeben haben.“

Annie sah sie, wie aus anderen Gedanken geweckt, verständnislos an und murmelte dann: „Ach, ich dachte jetzt gar nicht an Paul.“ [731] Endlich reichte man sich Abschied nehmend die Hand, nachdem es Lisbeth doch noch gelungen war, das kleine Fräulein heiterer zu stimmen, Sie hatte sie auf alle möglichen Vorkommnisse in ihrem elterlichen Hause zu sprechen gebracht, und im Erzählen mancher komischen Episode schwand die weltschmerzliche Stimmung, und ihr fröhliches Kinderlachen erfreute und entzückte Lisbeth und beruhigte ihr Gemüt. Erst bei der Trennung flog jener traurige Ausdruck wieder über das rosige Gesichtchen, und sie gab Lisbeths Hand nicht frei, als müßte sie sich zu dem, was sie noch sagen wollte, daran festhalten, bis sie dann endlich nach einem mühsam hervorgestotterten: „Grüßen Sie ihn doch sehr!“ davon lief. (Fortsetzung folgt.)


Johann Georg Fischer.

Zum achtzigsten Geburtstag des Dichters.

Am 25. Oktober d. J. feiert der schwäbische Dichter Johann Georg Fischer in Stuttgart seinen achtzigsten Geburtstag, ein Lebensziel, das zu erreichen von den jetzt noch lebenden Dichtern keinem vergönnt war, wenngleich einige derselben, wie Wilhelm Jordan, Heinrich Kruse, Hermann Lingg, Theodor Fontane, demselben rüstig zuschreiten. Nicht bloß das engere Vaterland des Dichters, in welchem die starken Wurzeln seiner Kraft ruhen, nicht bloß das Schwabenland wird an diesem Gedenktag sich dankbar seines Besitzes bewußt werden, sondern das ganze deutsche Volk, soweit es noch im Kampfe der Parteien sich den Sinn bewahrt hat für die Gaben der Musen und die Unbefangenheit, sie zu würdigen, auch wenn sie nicht von einem begünstigten Liebling der Mode, wohl aber von einem echten Dichter herrühren.

J. G. Fischer ist am 25. Oktober 1816 zu Groß-Süßen in Württemberg geboren. Er war anfangs Volksschullehrer, doch sein Wissensdrang trieb ihn nach Tübingen, wo er an der Universität mit großem Fleiß sowohl Naturwissenschaften als Philosophie und Geschichte studierte; er bekleidete dann mehrere Lehrerstellen, bis er 1860 Professor an der Oberrealschule in Stuttgart wurde. Im Jahre 1885 trat er in den Ruhestand. Wenn er aber auch seine Lehrerthätigkeit aufgab, so blieb seine Muse doch noch immer regsam, ein Beweis, daß sie aus einem frischen unversieglichcu Quell der Empfindung und Begeisterung schöpft. Als er vor etwa sieben Jahren den Schmerz erlitt, durch den Tod seine geliebte Gattin zu verlieren, feierte er deren Gedächtnis in Liedern von hinreißendem Gefühlsschwung („Auf dem Heimweg“), und erst ganz neuerdings hat eine neue Sammlung Gedichte, auf welche wir unten zu sprechen kommen, den Beweis geliefert, daß er wie Anakreon noch als Greis über die Empfindungsfrische eines Jünglings verfügt.

Die Zeit, in welcher die schwäbische Dichterschule im Vordergrund der poetischen Entwicklung unseres Volkes stand, ist freilich vorüber; wie aber so vieles, was ihre Meister geschaffen, noch im Volke lebt, wie Uhlands Poesie vor allem noch im Singen und Sagen des deutschen Volkes lebendig wiederklingt, so ist ihre Nachwirkung auf die Mehrzahl der heutigen schwäbischen Dichter noch eine unmittelbare. Das innige Versenken in die Stimmungswelt der anmutigen Natur ihrer Heimat, die Begeisterung für die große historische Vergangenheit des schwäbischen Bodens, auf dessen burggekrönten Bergen drei deutsche Kaisergeschlechter ihre Wiege hatten, kräftiger Sinn für Freiheit und Mannesstolz ist mit Ludwig Uhland der unter seinem Vorbild herangereiften schwäbischen Dichtergeneration gemeinsam. Doch nicht äußere Nachahmung hat dieses Verhältnis bewirkt: es sind tiefbegründete Eigenschaften des schwäbischen Volkscharakters, es sind die Quellen poetischer Anregung, welche die schwäbische Heimat all ihren Kindern darbietet, die diese Nachfolge, bei freiester Offenbarung scharfkantiger Besonderheit, bedingen. An J. G. Fischer zeigt sich dies vor allem. Auch auf ihn haben die großen Schwabendichter, die ihm vorausgingen, von Schiller und Hölderlin bis auf Mörike, der persönlich sein Freund ward, vorbildlich gewirkt, aber ihre Richtung empfingen sein Geist und sein Talent direkt von der schwäbischen Natur, die ihn umgab und die in ihm war.

Die Vögel im Wald seines weltabgelegenen Heimatthals weckten in ihm, wie er selbst gesagt hat, die Freude am Lied; gern hat er diese „Lehrzeit“, da er, der Dorfjunge, sich „barfuß, nur in Hemd und Hose“ in den Wäldern des bergumhegten Filsthals umhertrieb und die gefiederten Sänger belauschte, in späteren Gedichten heraufbeschworen. Auf ländlichen Festen – ein frischer Bursch unter andern Dorfkindern – lernte er ferner die schwäbischen Volkslieder singen, deren innigen und doch kernigen Ton später seine Kunstpoesie so glücklich zu treffen verstand. Zwei Stunden von seinem Heimatsort Süßen erhebt der Hohenstaufen seine majestätische Kuppel, von Sage und Geschichte verklärt; auf anderen Höhen der Gegend ragen Rinnen empor, die noch unmittelbarer anf eine Vorzeit voll Glanz und Herrlichkeit zurückdeuten. In solcher Umgebung gewann sein Geist ganz selbständig jenen Sinn für das Heldenhafte, welcher später in seinen Balladen und politischen Zeitgedichten, wie in seinen Dramen, zu so kraftvoller Aussprache gelangte. Für all diese poetischen Antriebe fand er gewiß in Uhlands Dichtung wegweisende Muster, aber er schloß sich seinem Vorbild auf eigene Weise an. Was diese dichterische Eigenart betrifft, so trägt die Fischersche Muse gewisse Charakterzüge des schwäbischen Naturells noch schärfer ausgeprägt an sich als die jenes älteren Meisters: das bisweilen schwerfällig Tiefsinnige, das volkstümlich Derbe seines Humors, jene „Knuppen und Knorren“, von denen er selbst einmal spricht. Das Leichte, das sich graziös einschmeichelt, aber auch gehaltlos ist, liegt ihr fern. Seine Muse bietet mehr Früchte als Blüten, und manche dieser Früchte haben einen harten Kern; aber sie schüttet dieselben aus einem reichen Füllhorn von Gedanken aus und der ausgegorene Wein, den er spendet, ist oft von jener Art, deren Wohlgeschmack mit dem Alter zunimmt.

Seine erste Gedichtsammlung erschien 1854; ihr folgten „Neue Gedichte“ 1865. Naturbilder und Liebesgedichte lösen sich darin ab; sie sind alle nicht nach herkömmlicher Schablone gedichtet; sie haben einen originell kräftigen Zug. Bisweilen freilich wird die einheitliche Stimmung unterbrochen, wenn irgend eine volkstümlich naive Wendung sich in den schwunghaften Erguß mischt. In den Gedichten „Für unsere Zeit“ spricht sich eine warme patriotische Gesinnung aus, die ihre besondere Farbe von der Ueberzeugung erhält, daß große befreiende Thaten im Völkerleben große thatenkühne Persönlichkeiten zu ihrer Ausführung erheischen. Da, wo die Sänger der Freiheit, die, wie Freiligrath, der Bewegnng von 1848 ihre Heroldsrufe hatten voraustönen lassen, mit ihren Hoffnungen an der rauhen Wirklichkeit gescheitert waren, knüpfte er an. Den Männern des Ideals hatten die Männer der ausführenden That gefehlt. In den Tagen des Zusammensturzes jener stolzen Freiheits- und Einheitsträume – schon 1849 – entrang sich Fischers Brust jener gewaltige Sehnsuchtsruf: „Nur einen Mann aus Millionen“, der für seine politische Zeitdichtung so bezeichnend ist und zuerst durch die „Gartenlaube“ den Weg zum Herzen des Volks fand, jenes Gedicht, das sich heute wie eine Prophetie der Einigung liest, welcher später Bismarcks thatenstarke Persönlichkeit das deutsche Volk entgegenführte. In anderen Gedichten, wie „Das Lied der Zukunft“, „Der Protektor“, gelangte derselbe Gedanke im Bunde mit warmer Begeisterung für die Rechte des Volks und seinen Anspruch auf Freiheit zum Ausdruck.

Als schwäbischer Frauenlob erscheint Fischer in seiner Sammlung „Den deutschen Frauen“ (1869), in welcher sich Liebeslieder von einer gewissen geistigen Tiefe befinden und außerdem eine geschichtliche Frauengalerie, welche Porträts von lebendigstem Kolorit enthält. Schwunghafte Gedichte, welche die Schönheit der Natur feiern, Hymnen im Goetheschen Stil finden sich in der Sammlung „Aus frischer Luft“ (1872). Im Liedercyklus „Merlin“ (1877) hat der Dichter aus dem Stoff nicht eine dämonische Gedankendichtung wie Immermann und neuerdings Kurt von Rohrscheidt geschaffen, sondern ein Werk in der Art von Rückerts „Weisheit des Brahmanen“, vieles darin Gesagte ist schön und tiefsinnig, manches in einer etwas knorrigen Form.

Fischers Trauerspiele haben alle zur Grundlage den Kampf mit den weltlichen Machtansprüchen der Geistlichkeit, aus welchen Jahrhunderten er auch seine Stoffe wählen mochte. Auch hieran erkennt man den im Weichbild des Hohenstaufenberges und in der Wiege des Ghibellinentums zur Welt gekommenen Dichter. In [732] „Saul“ (1862) ist diese Grundlage eine biblische, in „Friedrich der Zweite von Hohenstaufen“ (1863) eine mittelalterliche, in „Florian Geyer“ (1866) ist sie der Zeit des Banernkriegs, in „Kaiser Maximilian von Mexiko“ (1868) der neuesten Zeitgeschichte entnommen. In allen Dramen herrscht ein kräftiger, dem Ideal der Aufklärung zugewandter Geist. Das letztgenannte ist in Bezug auf dramatische Technik das gelungenste, reifste. Wenn auch in ihm manches Historienhafte mit hereinspielt, so hat doch die Charakterzeichnung, besonders diejenige des einfachen Republikaners Juarez und der interessanten Prinzessin Salm, Kraft und Mark, auch der Wahnsinn der Kaiserin ist in ergreifender Weise dargestellt. Das Wagnis, einen Stoff aus so naher Vergangenheit, aus der Zeitgeschichte zu wählen, erscheint uns durchaus gerechtfertigt; die Vorbilder der griechischen und englischen Tragiker sprechen für solche Berechtigung. Leider aber erschweren die Rücksichten, welche unsere besseren Theater meist nehmen müssen, ihre Aufführbarkeit.

Sehr überrascht hat der Nestor der schwäbischen Poeten durch seine neueste, wie die früheren im Cottaschen Klassikerverlag erschienene Gedichtsammlung, welcher er den Titel: „Mit achtzig Jahren“ gab, indem er den Mut besaß, alle die Gemeinplätze herauszufordern, mit denen man die Poesie der Hochbejahrten abzufertigen liebt. Geistig verkrustet und versteinert soll das hohe Alter sein und das Saitenspiel der Dichtung nur matt unter seiner welken Hand erklingen. Und doch weiß die Geschichte in allen Zeiten von betagten Sängern zu melden, welche nicht geringeren Dichterruhm erworben haben als die aufstrebende feurige Jugend. Man wird dem greisen schwäbischen Dichter nicht nachsagen können, daß er eine lahme Hand hat, welche nur noch altersmüde Verse auf das Papier kritzelt. Mag hier und dort auch in der Form eine kleine Versteifung eingetreten sein: bei weitem stärker ist der Eindruck, daß Fischers Lyrik noch immer aus einem Empfindungsquell von seltener Frische schöpft. Diese Sammlung ist reich an Versen von melodischem Fluß bei tiefsinnigem Gedankeninhalt, an Liedern von jenem feurigen Guß, wie er sonst nur der Jugend eigen zu sein pflegt. Wie schön besingt er „seine Muse, seine Liebe“:

„All meine Sinne sind bei dir,
Ich geh’ mit dir, du gehst mit mir,
Du Glück an meiner Seite;
Und fühlst du, wie das Herz mir bebt
Und wie mich von der Erde hebt
Dein unsichtbar Geleite?

So bleibe mein! Und unverwandt,
Du Tröstung, die mir Gott gesandt,
Laß mich dein Bild umfassen;
Du hast mich reich und froh gemacht
Und neues Leben mir gebracht,
Sonst wär’ ich ganz verlassen.

Sprach’ alle Welt: Es ist ein Spiel,
Und ob die Welt in Trümmer fiel’,
Du wärst es, was mir bliebe,
Das Ein und Alles lebte doch,
Dich, meine Muse, säng’ ich noch,
Dich, ewig meine Liebe!“

J. G. Fischer.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph H. Brandseph in Stuttgart.

Die Mehrzahl der Liebesgedichte trägt den Stempel des Selbsterlebten; meist sind es Erinnerungsblätter, die ein einst besessenes Glück wieder aufleben lassen. Doch der Schwerpunkt ruht auf den Gedichten, in denen die Weisheit des Alters, das Gedankenvolle, überwiegt. Sehr gehaltvoll sind die Epigramme, in denen weniger der scharfe als der milde Ton vorherrscht, und manches Gedicht in Distichen zeugt von tiefer Weltanschauung und ist bezeichnend im Ausdruck, von großer Treffsicherheit, ohne mit besonderer Künstlichkeit zugespitzte Pfeile zu wählen; andere wie „Im Fiebertraum“ haben wieder in freier rhythmischer Bewegung hinreißenden Odenschwung. Wie der Dichter aber auch noch immer den schlichten Volkston zu treffen und ihn mit innigstem Empfindungshauch zu beseelen vermag, das beweist das Gedicht „Selige Nacht“.

„O wie linde kommt die Nacht:
Ncbelglanz und Mondenstrahl
Hüllt dich ein, du liebes Thal,
Das uns heut’ so froh gemacht;
O wie linde kommt die Nacht!

O wie leise haucht die Nacht,
Die in Duft und Lichtgewand,
Bestes Herz und liebste Hand,
Ueber deinem Schlummer wacht;
O wie leise haucht die Nacht!

O wie süß verschwebt die Nacht:
Selig träumen ich und du
Schon dem neuen Tage zu,
Der uns morgen zugedacht;
O wie selig ist die Nacht!“

„Mit achtzig Jahren“ und noch in Reih’ und Glied mit den jungen Sängern – da kann man wohl dem Veteranen seinen Glückwunsch darbringen – und das wollen wir und das wird das deutsche Volk nicht versäumen! †      


Das Jubiläum der tiroler Freiheitskämpfe.

Von J. E. Platter.0 Mit Illustrationen von W. Humer.

Mit dem heurigen Jahre begann die Gedenkzeit der großen tiroler Freiheitskriege, welche Anno 1796 mit dem glücklich abgewehrten Franzoseneinfall in Südtirol ihren Anfang nahmen und erst nach vielen blutigen Kämpfen im Jahre 1813 ein glückliches Ende erreichten. In jenen Zeiten schwerer Bedrängnis haben die tiroler Schützen und Landsturmmänner in Sieg und Unglück zahlreiche neue Lorbeerblätter dem altererbten Ruhmeskranze eingefügt, und Heldenthaten, wie sie z. B. am Tage von Spinges, dann später im Jahre 1799 an der Schweizergrenze, ferner in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts an verschiedenen Grenzpässen vollbracht wurden, sowie die Berg Isel-Schlachten von „Anno Neun“ und die Erstürmung der Mühlbacher Klause nebst den übrigen siegreichen Kämpfen des Jahres 1813 werden im Lande wohl ewig unvergeßlich bleiben. Nach altem tiroler Brauche hatte sich die Bevölkerung gleich zu Beginn der Freiheitskriege in religiöser Begeisterung, durch ein Gelöbnis zum Herzen Jesu, des göttlichen Beistandes versichert, und als nun die hundertjährige Gedenkzeit herannahte, so wurde der Jubiläumsfeier durch Erneuerung dieses Landesgelübdes zunächst ein mehr kirchlicher Charakter aufgeprägt und dementsprechend im Monat Juni in Bozen ein großes Herz Jesu-Fest veranstaltet. Die gleichzeitig geplante weltliche Jubiläumsfeier mußte wegen der durch Ableben des Erzherzogs Karl Ludwig im österreichischen Kaiserhause eingetretenen Familientrauer verschoben werden und hat nun in Form eines sehr schön verlaufenen tiroler Schützenfestes am 27. September in der Landeshauptstadt Innsbruck stattgefunden. Schon am Vortage hüllte sich die Stadt in reichen Fahnen- und Flaggenschmuck und von allen Seiten marschierten die Schützenkompagnien von Berg und Thal mit klingendem Spiele und fliegenden Fahnen in die Feststadt ein. Alle Eisenbahnzüge brachten neue Scharen, auf dem Landeshauptschießstande begannen die Stutzen zu knallen und allenthalben ertönte Musik und Gesang als Vorbeginn des mit [733] großer Spannung erwarteten Festes. Dieses selbst wurde am frühen Morgen mit Fanfarenklängen vom Stadtturm eingeleitet, wonach sich die Schützenkompagnien mit ihren Fahnen und Musikkapellen auf dem weiten Festplatze an der Innsbrucker Hauptkaserne zur Feldmesse und Fahnenweihe sammelten. Hierzu erschienen als Vertreter des Kaisers Franz Josef dessen Bruder Erzherzog Ludwig Viktor und in Stellvertretung der Kaiserin Elisabeth die Großherzogin von Toskana, Erzherzogin Alice.

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Die Gruppe der Senseler von Volders.

Zum Beginn des Festaktes stellten sich die Träger der alten Kriegsfahnen vor dem Feldaltare auf, und der Landeshauptmann Graf Brandis heftete als Landes-Oberstschützenmeister von Tirol den vielfach zerschossenen, schlachterprobten Feldzeichen die vom tirolischen Hauptschießstande in Innsbruck gewidmeten silbernen Gedenkmünzen an.

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1. Pfitsch-Thal bei Sterzing. 2. Kastelruth (XVIII. Jahrhundert) 0
3. Buchenstein. 4. Alt-Kastelruth. 5. Wildschönau. 6. Alt-Lüsen.
7. Wippthalerin. 8. Lüsener Schützentracht. 9. Pusterthal-Lienz.
10. Zillerthal. 11. Alpach. 


Volkstypen vom tiroler Schützenfest. 

Hierauf folgte die kirchliche Weihe des von der Kaiserin für die altehrwürdige Sturmfahne aus der Spingeser Schlacht gespendeten rotweißen Fahnenbandes, welches die Erzherzogin Alice an der Fahne selbst befestigte. Landes-Oberstschützenmeister Graf Brandis dankte für dieses kaiserliche Geschenk und übergab darauf die Fahne dem Oberschützenmeister des Landes-Hauptschießstandes Anderlau. Den Schluß dieses ersten Teiles der Feier bildete die vom Abte von Fiecht gelesene Feldmesse mit dem Gebete für das Kaiserhaus und dem allgemeinen Kirchensegen, wonach sich all die Tausende von Schützen, Musikern und Veteranen zum Festzuge [734] durch die Straßen der Stadt in Bewegung setzten. Es war ein ungemein fesselndes, lebensvolles Bild, das sich vor den Augen der Zuschauer entrollte, die auf dem ganzen Wege in dichten Massen Spalier bildeten oder an den reich dekorierten Fenstern standen und von dort aus unter allgemeinem Jubel die Schützen, Veteranen und Musiker mit duftenden Blumensträußchen und grünen Kränzen bewarfen.

Weit über zehntausend Schützen und Veteranen marschierten in fast endloser Reihenfolge im Zuge mit, die blühende Jugend, kräftige Männer mit den siegerprobten Stutzen, betagte Greise im Silberhaar, die Brust mit Ehrenkreuzen und Medaillen geschmückt, dann wieder neben den Schützen die Feldkapläne, ferner lustige Zieler in ihrem grellfarbigen Kostüm, Bergknappen, Marketenderinnen und Invaliden, kurz das tiroler Volk in Waffen, wie es seit alters die Schutzwehr des Landes gebildet hat. Da kam zuerst die stattliche Schar der Vorarlberger Schützen mit Musik und Fahnen, unter welch’ letzteren sich auch die alte Schwedenfahne befand, die im Jahre 1647 von den tapferen Bregenzerwälderinnen den nordischen Feinden abgenommen wurde. Daran reihten sich die Nonsberger und sonstigen Südtiroler mit helltönenden Fanfaren; besonders zahlreich war das Pusterthal vertreten und hier erschienen ganze Musikkapellen und Schützenkompagnien in prächtigen, farbenbunten Volkstrachten, die zum Teile selbst beim großen Bundesschießen im Jahre 1885 und auch bei der Enthüllung des Hofer-Denkmals vor drei Jahren nicht zu sehen waren. So z. B. die Musiker von Abfaltersbach mit hohen schwarzen Spitzhüten, braunen Joppen und roten Leiblen (Westen), den obligaten kurzen Lederhosen und Gürteln, oder die Schützen von Lienz in den ehrwürdigen langen Röcken mit violetten Stulpen, buntgeblümten Leiblen, blauen Strümpfen zur kurzen Hose und niedrigen Bundschuhen, die Niederdorfer und Gsieser mit roten, grün eingefaßten Jacken und halbkegelförmigen Hüten, die Leute von Bruneck und Ampezzo, von Taufers und Enneberg-Buchenstein, letztere in kurzen Fräcklein mit breiten, schmucklosen Hüten, und endlich die wackeren Schützen von Jnnichen, welche nebst den alten Kriegsfahnen eine erbeutete, dreiläufige Kanone mit sich führten. Auf die Pusterthaler folgten die Festteilnehmer aus dem Eisakthale und von der Etsch und da erregten wieder zahlreiche, besonders schöne Gruppen allgemein Staunen und Bewunderung. So hatten die Schützen von Layen, der mutmaßlichen Heimat Walthers von der Vogelweide, vier Hellebardenträger in uraltem Bauerngewande mitgebracht, welches der Alt-Lüsener Tracht aus der Brixner Gegend fast zum Verwechseln ähnlich sieht. Noch mehr aber als die grünen Jacken und weißen Halskrausen dieser vier scheinbaren Zeitgenossen des gleichfalls in der Nähe geborenen Minnesängers Oswald von Wolkenstein wurden die Kastelruther mit jubelndem Zuruf begrüßt. Diese hatten ihre ganze Musikkapelle in die ortsübliche Volkstracht des fünfzehnten Jahrhunderts gekleidet, und es war wohl nicht zu verwundern, daß die strammen Musiker vom Fuße des Schlern in ihren breiten gelben Hüten mit langen Pfauenfedern, den schwarzen, rot ausgeschlagenen Röcken und mächtigen weißen Halskrausen, weißem, rotgezierten Wams und den kurzen schwarzen Tuchhosen allgemein das größte Aufsehen erregten, um so mehr, als auch die breiten schweren Leibgürtel mit reichem Metallzierat und die weißen, rotausgeschlagenen Lederschuhe fast einzig im langen farbenprächtigen Zuge erschienen. Die Schützen von Kastelruth dagegen trugen teils die Bauerntracht des vorigen Jahrhunderts, teils die jetzt übliche Kleidung. An den drei verschieden kostümierten Gruppen aus Kastelruth konnte man deutlich den allmählichen Uebergang wahrnehmen, wie er sich in der Volkstracht vom farbenbunten Kleide der Vorzeit zum nüchternen, einfarbigen Gewande von heute vollzogen hat. Noch im vorigen Jahrhundert trug man in Kastelruth zur braunen Joppe ein rotes Leibl, Faltenstiefel und einen originellen schwarzen Halbcylinderhut; heute ist die altertümliche Joppe einer Lodenjacke mit neuerem Schnitt, das rote Leibl einer Sammetweste und der breite Gurt einer schmalen Leibbinde gewichen, während der Halbcylinder gar einem modernen weichen Hute Platz machen mußte. Nur die kurze Hose mit den Faltenstiefeln und weißen Strümpfen hat sich noch im Volke erhalten.

Neben den Schützen von Kastelruth erregten dann weiter jene von Lüsen mit dem reichen Kunstblumenschmuck auf den Hüten und den grellroten Jacken, ebenso die Leute vom Eggenthal, vom Regglberg, mit ihren langen, kanariengelben Röcken besonderes Aufsehen, ferner die schmucken Bozner und Meraner, erstere zum großen Teil in der kleidsamen Neu-Rittener Tracht, letztere in der noch allgemein üblichen, farbenschönen Kleidung des Burggrafenamtes. Einen eigentümlichen Eindruck machte die Gruppe aus dem bei Lana-Meran ins Etschland mündenden Ultenthal. Schwarze Hüte mit Krempen von geradezu riesiger Breite, schwarze Quasten, dunkle Jacken, schwarze Kniehosen, fürwahr, wenn nicht die roten Leiblen und die weißen Strümpfe gewesen wären, so hätte man glauben mögen, ganz Ultenthal befinde sich in tiefster Familientrauer. Die Schützen von Passeier führten die Andreas Hofer-Fahne im Zuge mit, und die Veteranen aus Kurtatsch-Tramin, vom südlichsten deutschen Bezirke des Landes, thaten sich, nebst ihren alten zerschossenen Fahnen, besonders viel auf eine Kriegstrommel zu gute, die ihre Vorfahren den Franzosen vor hundert Jahren abgenommen hatten.

Auch die Oberinnthaler von Ried bis Reutte und herab nach Zirl waren sehr stark beim Feste vertreten; allen voran glänzten die wackeren Männer von Jnzing in ihren prachtvollen weinroten Röcken und den breiten gelben Hüten; sie paradierten auch diesmal wieder mit dem in der Berg Jsel-Schlacht erbeuteten französischen Legionsadler. Die Schützen aus Paznaun schwenkten eine eroberte bayrische Fahne im Zuge, die Leute von Telfs konnten mit Stolz die goldene Ehrenkette zeigen, die ihnen Kaiser Leopold I. nach Abwehr des kurbayrischen Einfalls im Jahre 1703 verliehen hatte. Außerordentlich zahlreich waren die Wippthaler und Stubaier erschienen; erstere stellten die Musikkapellen von Matrei und Steinach in den charakteristischen rot-violetten Röcken, letztere entsendeten aus den verschiedenen Thalgemeinden ein ganzes Scharfschützen-Bataillon mit einem bäuerlichen Major zu Pferde nach Innsbruck. Unweit vom Galawagen der beiden Landes-Oberstschützenmeister von Tirol und Vorarlberg wurde von einem stämmigen Fähnrich die mit dem Bande der Kaiserin geschmückte Spingeser Sturmfahne getragen. Vom Unterinnthal bildeten außer der Bergknappen-Kapelle von Hall die Partisanenträger von Thaur und noch mehr die Senseler von Volders besonders interessante Gruppen, welche allenthalben mit hellem Jubel begrüßt wurden. Die auf unserem Bilde der Fahnenweihe im Vordergrunde ersichtlichen Partisanenträger von Thaur erinnern in so mancher Hinsicht an die Volkstracht von Alt-Kastelruth, so daß die beiden Gruppen mehrfach verwechselt wurden. Die Senseler hatten als alte tiroler Kriegsmusik ihre Schwögel (eine Art Querpfeife) und Trommel an der Spitze, und dahinter marschierten nebst einer Wippthalerin mit schmucker Fazelkappe die verwitterten Mannen mit Sensen und Morgensternen, uralten Hellebarden und Heugabeln, sogar eine mit rostigen Eisenreifen umspannte Holzkanone aus den Freiheitskämpfen war in der Gruppe bemerkbar, welche überhaupt als ein prächtig gelungenes Bild vom „letzten Aufgebot“ sich präsentierte. Man fühlte sich wundersam angemutet beim Anblick dieser wetter- und sturmharten „Mander“; es schien, als wären sie dem Grabe von Spinges entstiegen, wo ihre Vorfahren mit dem Schützenhauptmann Reinisch, dem „Senseler“, an der Spitze sich in die französischen Bajonette stürzten, um den Tirolern aus der feindlichen Umklammerung freie Bahn zum Siege zu brechen. Reinisch, „der Senseler“, fiel dabei als tirolischer Winkelried von elf Stichen durchbohrt und Dutzende von Landsleuten fanden mit ihm den Tod, aber sie alle waren von feindlichen Leichen rings umgeben; Stutzenkolben und Sensenwaffen hatten blutige Arbeit gethan. – Aehnlich konnten auch viele der Schützenkompagnien im Zuge auf Heldenthaten ihrer Vorfahren zurückblicken, so z. B. die Männer von Hall und Schwaz, dann die Kitzbichler, Kufsteiner und Zillerthaler, sowie die Alpacher und Wildschönauer in ihren Spitzhüten und schweren Lodenröcken. Der Schützenbund von Jenbach-Achenthal führte eine Trommel mit sich, die im Jahre 1799 bei Verfolgung der aus dem Lande zurückgeschlagenen Franzosen in Graubünden erbeutet wurde, während die Musikkapelle von Hötting einen Tambourstab besitzt, der aus dem Schaft einer beim Sturm auf die Jnnsbrucker Jnnbrücke eroberten französischen Standarte angefertigt wurde. –

Eine ganze Stunde lang brauchte der Festzug zum Vorbeimarsch an der kaiserlichen Burg, auf deren Altane Erzherzog Ludwig Viktor und Erzherzogin Alice die begeisterte Huldigung der Schützen und Veteranen in freundlichster Weise entgegennahmen. Im ganzen konnte der Beschauer an 70 Musikkapellen zählen und der Schützenfahnen waren es nicht weniger als 244, von denen [735] mehr als 50 die Feuerprobe bei den verschiedenen feindlichen Angriffen auf das tiroler Land in alter und neuerer Zeit mit allen Ehren bestanden haben.

Nachmittags entwickelte sich sodann auf dem neuerbauten Landes-Hauptschießstande ein äußerst reges Leben und Treiben. Das war ein Geknatter wie in den Zeiten der Freiheitskriege, dazu die hellen Juchzer und Musikklänge allüberall, am Schießstande wie in den Straßen und Gasthäusern der Stadt! Das war ein Volksfest im vollsten Sinne des Wortes, dem das so herrlich gelegene Innsbruck mit seinem prachtvollen Gebirgspanorama einen würdigen und charakteristischen Rahmen verlieh. Die fröhliche Menge, die in seinen Straßen auf und ab wogte, glänzte und schillerte in allen Farben. Das bot dem Auge des Beschauers wiederum einen neuen Reiz, denn zu den markigen Männergestalten, die man erst vor kurzem in dem Festzuge bewundert hatte, gesellten sich die schmucken tiroler Frauen und Mädchen in ihren so abwechslungsreichen und so malerischen Trachten. Aus dieser reichen, fast unerschöpflichen Fülle anziehender Volkstypen konnte unser Zeichner nur einige wenige herausgreifen. Wir führen sie in dem Gruppenbilde auf S. 733 unseren Lesern vor. Die meisten von ihnen waren selbstverständlich im Festzuge vertreten und sind auch in der obigen Schilderung desselben eingehend gewürdigt worden.

Der Landes-Hauptschießstand in Innsbruck.

Zahlreiche Festgäste besuchten das Andreas Hofer-Denkmal auf dem Berg Jsel und Tausende strömten auf dem Ausstellungsplatze zur Besichtigung des Kolossalpanoramas der vierten Berg Jsel-Schlacht zusammen. Dieses Panorama wurde vor wenigen Monaten von den Malern Diemer, Burger, Flaucher und Niedermaier fertiggestellt und, wie von vielen anderen, so auch von Erzherzog Ludwig Viktor bei seinem Besuche als das schönste Schlachtenpanorama bezeichnet, das er bis jetzt gesehen habe. Der Beschauer des imponierenden Rundbildes hat seinen Standpunkt hoch oben am Abhang des Berges, und von dort aus entfaltet sich eine herrliche Rundschau über die Stadt Jnnsbruck, den Jnnfluß und die im Schimmer der Abendsonne strahlenden Berge ringsumher, während thalauf und thalab die letzten Kämpfe des denkwürdigen Schlachttages wüten. Von der Ebene herauf stürmen unter persönlicher Führung des Marschalls Lefebvre in Massen die feindlichen Scharen vor, die Kanonen auf den Feldern von Wilten glaubt man förmlich donnern zu hören und dahinter steht die bayrische Kavallerie zur Attacke bereit, während die Tiroler oben an den Höhen den Angriff in blutigem Handgemenge zurückschlagen und die Bauernhöfe im Bereiche des Kampfgebietes in Flammen aufgehen. Mitten im Handgemenge stürmt Pater Haspinger, der „Rotbart“, mit hocherhobenem Kreuze den Feinden entgegen, indes auf einer nahen Anhöhe Andreas Hofer selbst die Abwehr des letzten verzweifelten Ansturmes leitet und Speckbachers Scharen tief unten im Thale die Brücke am Ausgange der Sillschlucht erstürmen. Von besonderem Effekte erweisen sich auf dem Kolossalrundgemälde naturgemäß die malerischen, farbenprächtigen Volkstrachten der Tiroler, und gerade in dieser Hinsicht steht das Panorama der Berg Jsel-Schlacht wohl einzig da unter all den vielen sonstigen Schlachtenpanoramen, auf welchen die immer wiederkehrenden Uniformen der Soldaten doch schließlich etwas ermüdend auf den Beschauer einwirken müssen. Diese schönen charakteristischen Trachten! Ja, in ihnen besitzt das tiroler Volk herrliche Schätze, die, schon halb verloren, nun mit Sorgfalt dem Lande wieder erhalten werden. Seitdem vor ungefähr drei Jahren das in Innsbruck konstituierte „Komitee zur Erhaltung der Volkstrachten in Tirol“ einen warmen Aufruf zur Wiedereinführung des alten Bauerngewandes erließ und dann sich auch redlich bemühte, durch Aufbringung von Geldmitteln zu diesem Zwecke die Sache zu fördern, seitdem hat sich wieder vieles zum Bessern gewendet. Allenthalben werden die alten, halbvermorschten Kostüme aus Kasten und Truhen hervorgeholt, aufgefrischt, und nach den besten Mustern neue Trachten angeschafft. Musikkapellen und Schützenkompagnien legen die halbstädtischen, oft höchst geschmacklos-phantastischen Uniformen ab und kehren zur Lodenjoppe und Lederhose der Altvordern zurück; die Folgen dieser lobenswerten Bestrebungen haben sich bei dem so schön verlaufenen Jubiläums-Schützenfeste in einer jede Erwartung übersteigenden Weise gezeigt und es ist deshalb die Hoffnung vollauf berechtigt, daß die alten tiroler Trachten dem Volke wirklich erhalten bleiben gleich dem kernigen, wehrhaften Sinn, von welchem der Dichter singt: <poem> „Von gleichem Eisen sind ja noch Die Jungen wie die Alten; Tiroler Adler, lebe hoch! Du wirst den Kranz behalten.“


Der laufende Berg.

Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer.

 (19. Fortsetzung.)
Ueber die helle Freude, mit welcher Michel und die Seinen nach all dieser harten Prüfung jetzt die Rettung ihres Heimwesens hätten begrüßen können, war der dunkle Schatten gefallen, der vom Purtschellerhof den Weg in die Simmerau gefunden hatte.

Auch Schorschl, der zu Beginn der Arbeit in glücklich übermütiger Laune jeden Pickelhieb am liebsten mit einem Jauchzer begleitet hätte, robottete Stunde um Stunde in gedrückter Stimmung. Mit tiefem und herzlichem Erbarmen dachte er der unglücklichen Frau dort unten und dennoch verstand er nicht, wie Vroni und Mathes dieses Unglück so schwer nehmen konnten, als hätt’ es nicht fremde Menschen, sondern sie selbst getroffen. Doch ohne klar zu sehen, litt er in seinem verliebten Herzen unter der Sorge und bangen Erregung, die er auf Vronis Züge geschrieben fand, und immer wieder konnte er den scheu bekümmerten Blick gewahren, mit welchem die Schwester den Bruder suchte.

Mathes hatte, seit er die Arbeit wieder aufgenommen, kaum ein Wort gesprochen. Er arbeitete wie einer, der nicht weiß, was seine Hände treiben und was rings um ihn her geschieht. Nur manchmal ließ er den Pickel ruhen, richtete sich schwer atmend auf, wischte mit dem Aermel über die Stirn und spähte verstörten Blickes ins Thal hinunter.

Als drunten die Elfuhrglocke gezogen wurde, traten die paar Leute, die mit den Schmiedegesellen zur Hilfe in die Simmerau gekommen waren, den Heimweg an. Und wenige Stunden später war man des Wassers so weit Herr geworden, daß Schorschl auch die beiden Gesellen heimschicken konnte. Die Bäche, welche von der Höhe des Berges niederströmten, begannen spärlicher zu fließen [736] und sprudelten auf den Wegen, die ihnen die Arbeit der Menschenhände angewiesen hatte, mit gleichmäßigem Rauschen zu Thal. Nur einige Gräben waren noch zu ziehen, um das nachquellende Sickerwasser vom Sockel der Mauern abzuleiten.

Als auch dieses Letzte gethan war, legte Michel erschöpft den Spaten aus der Hand und sagte: „Jetzt haben wir’s! Und Gott sei Dank, muß ich sagen … denn lang’ hätt’ ich’s nimmer weiter g’macht! Jetzt bin ich fertig, ja! Jetzt geht’s mir wie dem Mathes … jetzt muß ich ’nein in d’ Stuben und muß mich niedersetzen!“ Langsam und mit gekrümmtem Rücken ging er zur Hausthür. Vor der Schwelle blieb er aufseufzend stehen, und während er an der Mauer seines Hauses hinaufblickte, erwärmte ein zufriedenes Lächeln seine welken, müden Züge. „Die Kammissoni! Schau Dir nur an! Die g’scheite Kammissoni! ’Nunter, hat s’ g’meint, ’nunter wird’s noch müssen, mein Häusl! ’Nunter? So so?“ Zärtlich strich er mit den schlaffen Händen über die feuchte, des Mörtels halb entkleidete Mauer. „Gelt, mein Häusl! Jetzt haben wir Dich aber mit Gotteshilf’ halt doch schön sauber durch ’bracht! Ja!“ Er wollte in den Hausflur treten: doch auf der Schwelle wandte er das Gesicht. „Vergeltsgott, Kinder! Fest habts mitgeholfen! Ja! Das muß ich sagen! Vergeltsgott, meine lieben Kinder!“

„Geh, Vater,“ sagte Mathes mit erloschener Stimme, „da braucht’s doch kein Vergeltsgott! Jetzt laß Dir halt d’ Ruh’ schön schmecken!“

„Ja, Bub! Ja! Die laß ich mir schmecken jetzt!“ Nickend wischte sich Michel den Schweiß von Stirn und Wangen und trat ins Haus.

Mathes arbeitete noch eine Weile, dann stellte auch er die Schaufel an die Mauer und wusch sich am rauschenden Bach die Hände und das Gesicht. Mit schmerzlichem Lächeln nickte er der Schwester und dem Daxen-Schorschl zu, sprang über den Bach, stieg mit schweren Schritten über den verwüsteten Grashang hinauf, und bei der kahlen Haselnußhecke, aus deren Zweigen er einst als Knabe die lustig tönenden Pfeifen für das kleine Linerl geschnitten hatte, setzte er sich in die Sonne. Die zitternden Arme um seine Kniee schlingend, spähte er mit heißen Augen hinunter ins Thal.

Schorschl und Vroni wußten nicht, was sie jetzt noch schaffen sollten. Aber sie machten sich bald hier, bald dort noch ein bißchen Arbeit, und dabei gingen sie schweigend und verlegen aneinander vorüber. „No ja,“ sagte Schorschl endlich mit unsicherer Stimme, während er mit einem Span den Schlamm von seinem Pickel kratzte, „d’ Arbeit is gar … jetzt kann ich heimmarschieren!“ Er hob den Pickel auf die Schulter. „Oder net, Madl?“

Da kam sie mit glühendem Gesicht auf ihn zugegangen und legte die Hand auf seinen Arm. „No schau … jetzt hast Dich so viel plagt … so kann Dich d’ Mutter jetzt doch net heimgehen lassen! Magst net zum Essen dableiben?“

„Freilich! Ja freilich!“ stotterte er und sah sie mit glücklichem Lachen an. „Das kannst Dir doch denken, daß ich gern dableib’! Recht gern!“

„No also!“ Sie atmete erleichtert auf. „Bleibst halt da!“ Die nassen Hände an der Schürze trocknend, ging sie zur Hausbank. Und als sie saß, rückte sie gleich auf die Seite, damit er neben ihr sein bequemes Plätzchen hätte.

„Mit Verlaub!“ sagte er, lehnte den Pickel an die Mauer und setzte sich auf die Kante der Bank.

Broni sah ihn verwundert an. „So geh! Ruck doch ein bißl zu! Es is ja Platz da!“

Da rutschte er gleich so dicht heran, daß sein Ellbogen den ihren drückte. Dazu lachte er mit dem ganzen Gesicht. „Ja ja ja ja … so geht’s halt!“ Etwas Klügeres fiel ihm nicht ein.

Das machte sie verlegen. Und dann sprang sie auf.

„Was is denn?“ stotterte Schorschl erschrocken. „Wirst doch um Gotteswillen jetzt net davonlaufen?“

„No ja,“ stammelte sie, „ich muß doch sagen drin, daß d’ Mutter mit’m Essen auf Dich antragt!“

„Aber kommst gleich wieder, gelt?“

„Ja, gleich wieder!“ Sie huschte ins Haus und fand die Mutter in der Küche beim flackernden Herdfeuer. „Du, Mutterl,“ sagte sie und suchte mit den Händen das heiße Gesicht zu kühlen, „der Schorschl bleibt da zum Essen!“

In Mutter Katherl schien eine Ahnung aufzudämmern. „Was? Der Schorschl? Gleich da bleiben thut er? Ah, da schau her!“

„Aber Mutter! Das bißl Mittagmahl hat er sich heut’ doch ehrlich verdient, mein’ ich … und mehr hab’ ich net g’sagt!“

„Na na! Gott bewahr’!“ Mutter Katherl schmunzelte gerührt und vergnügt. „Mehr hast net g’sagt!“

„Geh, Du … der da draußen plagt mich … und jetzt plagst mich Du auch noch!“ Mit schwerem Seufzer verließ Vroni die Küche; doch im Flur fragte sie über die Schulter: „Sag’, Mutter! Hast doch ein bißl was gut’s?“

„Ja! Tirolerknödel mach’ ich!“

„Gott sei Lob und Dank! Die macht Dir so gut net bald eine nach! Die müssen ihm schmecken!“

Mit sichtlich erleichtertem Herzen kehrte Vroni zur Hausbank zurück. Schorschl haschte ihre Hand und wollte sie an seine Seite ziehen. Aber sie machte sich verlegen wieder los, ging zum Fenster und spähte in die Stube.

„Da schau her!“ sagte sie lächelnd. „Der Vater is schon drüben … auf der Ofenbank liegt er und schlaft!“

„Geh? Is’ wahr?“ Auf den Fußspitzen kam Schorschl zum Fenster geschlichen, legte den Arm um Vronis Schultern, schmiegte seine Wange an die ihre und so guckten sie alle beide in die Stube.

„Ja, Du,“ flüsterte Vroni, „so fest und gut hat er fein schon lang’ nimmer g’schlafen!“

„Da müssen wir ihm aber das bißl Schlaf vergunnen und müssen uns schön stad halten!“ zischelte Schorschl, während er den Arm noch enger um das Mädchen schlang. „Komm, Schatzl, setzen wir uns wieder auf d’ Hausbank … sonst rumpelst am End’ noch ans Fenster an und weckst den Vater auf!“

„Ja, hast recht!“

Mit glänzenden Augen blickte sie zu ihm auf und ließ sich führen.

Da saßen sie nun in der warmen Sonne des Nachmittages, Wange an Wange geschmiegt, mit fest verschlungenen Händen. Verträumt und alles um sich her vergessend lauschten sie dem eintönigen Rauschen der Bäche und genossen wortlos die erste Freude ihres jungen Glückes, mit dem sie schneller fertig waren als Mutter Katherl mit ihren Tirolerknödeln.

Während Schorschl die Geliebte umfangen hielt, suchte er mit lachenden Augen drunten im Thal das Dach seines Hauses. „Die Bäckenmahm’! Jesses na! Die wird aber d’reinschauen!“ dachte er sich. Als er diesen Gedanken aussprechen wollte, sah er, daß Vroni, deren Kopf an seiner Zchulter ruhte, die Augen geschlossen hatte. Scheu streifte er mit den Lippen ihre zerzausten Haare und flüsterte: „Herzerl? Schlafst denn?“

Tiefatmend öffnete sie die Augen, blickte in Verwirrung zu ihm auf und stammelte: „Aber na, so was! … No schau, ich hab’ halt ein bißl viel schaffen müssen die letzten Tag’ und Nächt’ her … und da hab’ ich jetzt so ein schön’s und ein warm’s Platzl g’habt … und so viel gut is mir’s Rasten g’wesen … meiner Seel’, da wär’ ich jetzt schiergar ein bißl eing’schlafen! Bist mir doch net harb d’rum, gelt?“

„Aber na! Gott bewahr’! Ich kann mir’s ja denken, daß D’ müd’ bist!“ Er preßte sie zärtlich an sich. „Ich thu mich recht schön stad halten … schenier’ Dich nur gar net und mach’ Deine lieben Guckerln wieder zu!“

„Na na!“

„So geh’, warum denn net?“ Er wollte ihren Kopf recht bequem an seiner Schulter betten und diese Gelegenheit auch gleich benutzen, um ihr den ersten Kuß zu geben.

Aber das wehrte sie ihm erschrocken und blickte scheu über den Wiesenhang hinauf. „Geh, Schorschl, net! … Jetzt net! … Weißt, der Mathes schaut her … und das möcht’ ich doch net, daß er jetzt so was sehen muß!“

Er begriff diese Sorge nicht und verstand ihre Worte falsch. „Geh, was hast denn?“ sagte er schmollend. „Der Mathes weiß doch eh’ schon lang, wie’s steht mit uns! Und schenieren mußt Dich doch auch net wegen meiner! Ich bin ja nimmer der Schorschl, der ich g’wesen bin! G’wiß wahr! Jetzt bin ich ein anderer!“

„Ja, Schorschl! Ein ganz ein anderer!“ Sie sah mit stolzer Freude zu ihm auf. „Du! Das hab’ ich fein lang’ schon g’merkt!“

„Und so bleib’ ich, weißt! Denn was bei mir einmal richtig drinsitzt im Blut, das laßt nimmer aus. Das bleibt! Ja! Grad’ so wie die drei weißen Stricherln da …“ er zeigte ihr die Hand mit den Kratznarben, „die sieht man noch allweil! Da schau her!“

Als sie schwieg und ihn so merkwürdig ansah, lachte er. „Ich trag’ Dir’s fein gar net nach! Ah na! Weißt, ich an Deiner Stell’

[737]

Vom Jubiläum der tiroler Freiheitskämpfe:0 die Fahnenweihe im Kasernenhofe zu Innsbruck.
Nach dem Leben gezeichnet von W. Humer.

[738] hätt’ selbigsmal auch ’kratzt! … Ja, ich weiß schon: ein bißl gar grob hab’ ich zugriffen!“

Sie machte immer größere Augen. „Aber Schorschl! Was red’st denn jetzt da? Wer soll Dich ’kratzt haben? Ich?“

„Geh!“ Er blinzelte sie lustig an. „Verstell’ Dich net so … Du!“

„Aber Schorschl!“ Sie sah seine Hand an, sah ihm wieder in die Augen und schüttelte den Kopf. „Und jetzt fallt’s mir auch wieder ein, wie D’ allweil g’red’t hast im Herbst … Katzerl, Katzerl … allweil: Katzerl! Jetzt möcht’ ich doch endlich wissen …“

„Ah, da hört sich doch alles auf!“ Er lachte, schien aber dabei doch zu denken, daß sie die Verstellung ein wenig zu weit triebe. Aber ihre Augen sahen ihn so ehrlich an und der Ausdruck ihrer Züge war so wahrhaft erstaunt, daß Schorschl verblüfft sein Lachen einstellte und nicht mehr wußte, was er glauben sollte. „Vronerl! No geh! Weißt es denn wirklich nimmer?“

„Was denn?“

„No ja … selbigsmal in der Nacht …“ Er hob die Hand und machte mit gekrümmten Fingern eine leicht verständliche Bewegung.

Dennoch verstand sie nicht und schüttelte wieder den Kopf. „Wann in der Nacht?“

„Aber geh’! So b’sinn’ Dich doch ein bißl! Wie ich’s zweite Mal bei Dir am Fensterl war!“

„Du? … ein zweitsmal? Da weiß ich ja gar nix davon!“

„Aber hörst!“ Jetzt schüttelte auch er den Kopf. Und nur ihre so vollständig eingeschlummerte Erinnerung wieder zu wecken, wurde er immer deutlicher und erzählte immer ausführlicher von jener stillen, stockfinsteren Nacht, in welcher er vor einem „g’wissen Fensterl“ all seine guten Vorsätze gebeichtet und um freundlichen Beistand auf dem harten Weg seiner Besserung gebettelt hatte.

Bald gerührt, bald wieder seltsam gespannt und beklommen hörte ihm Vroni zu. Verdächtig begann es um ihre Mundwinkel zu zucken und ehe Schorschl noch völlig zum Ende jener nächtlichen Fenstergeschichte kam, brach Vroni plötzlich in lautes Lachen aus. Das war ein Lachen, so hell und lustig, wie man es seit Jahresfrist in der Simmerau nicht mehr gehört hatte.

Mutter Katherl erschien mit dem Kochlöffel in der Hausthür und zog, um von dem jungen Paar nicht bemerkt zu werden, hurtig und schmunzelnd den grauen Kopf wieder zurück. In der Stube erwachte Michel aus seinem Schläfchen, kam verwundert zum Fenster, drückte die Nase an die Scheibe und lächelte zufrieden. Und droben auf dem verwüsteten Grashang, bei den kahlen Haselnußstauden, erhob sich Mathes und blickte auf das kleine Haus hinunter, als hätte ihn dieses laute, herzliche Lachen aus schweren Träumen geweckt.

Nur Vroni selbst erschrak vor diesem Lachen. „Jesus Maria!“ stammelte sie, gewaltsam gegen den Lachreiz kämpfend, der sich nicht wollte unterdrücken lassen. „Lachen kann ich! Lachen! Und da droben der Mathes … und da drunt’ im Dorf …“ sie sprach nicht zu Ende, denn ob sie wollte oder nicht: sie mußte lachen! Und dabei kamen ihr die Thränen.

Schorschl saß neben ihr wie ein begossener Pudel. Jetzt verstand zur Abwechslung er nicht! Er mußte mitlachen, denn der Frohsinn dieses Lachens wirkte ansteckend; aber er war doch so verblüfft, daß er eine Weile brauchte, bis er die Frage fand: „Aber Madl? Jesses na! Was hast denn? Bist denn narrisch worden?“

„Schorschl … Schorschl …“ Vroni preßte die Hände auf ihre Brust, denn dieses Lachen wider Willen that ihr weh. „Aber Schorschl! Ich hab’ ja doch selbigsmal gar net in meiner Kammer g’schlafen!“

„Was?“ Schorschl riß die Augen auf, so weit er konnte. „Ja sag’ mir um Gott’swillen: bei wem hab’ denn ich nachher g’fensterlt?“

„Bei unserm Katzl!“ Lachen konnte sie nicht mehr – jetzt mußte sie schreien.

Schorschl verstand nicht gleich. Dann aber kam ihm die Erleuchtung, und er platzte los. Vroni suchte ihn zu beschwichtigen, und die eigene Lachlust mühsam bekämpfend, stammelte sie ein um das andere Mal: „Net so laut, Schorschl … ich bitt’ Dich, net so laut!“ Aber es währte lange Zeit, bis er sich beruhigen konnte.

Die Zähren von den Backen wischend und erschöpft vom Lachen, schlang er den Arm um Vroni. „Sag’ mir, Schatzerl … wenn Du in der Kammer g’wesen wärst … hättst Du mich auch ’kratzt?“

Sie besann sich. „Na, Schorschl … ich glaub’ doch net!“

Ganz gerührt von diesem Bekenntnis, wollte er sie küssen. Aber da stand Mathes vor ihnen, und erschrocken schob Vroni den Geliebten von sich. Mit nassen Augen blickte sie zu dem Bruder auf und stotterte: „Geh, thu mir net harb sein, Mathes … ich hab’ lachen müssen … schau, ich kann net anders …“

Stieg ihm das warme Blut in die bleichen Wangen, oder war’s nur die Sonne, die seine vergrämten und erschöpften Züge so warm überhauchte? Er lächelte, und dem jungen Paar seine Hände auf die Schulter legend, sagte er: „Schau, Schwester, so von Herzen, wie ich, vergönnt Dir keiner Deine junge Freud’! Seids halt gut miteinander! Und thuts fest z’sammhalten in Lieb’ und Treu’! Sonst hat ja ’s Leben kein’ Wert!“ Er wollte ins Haus treten; doch auf der Schwelle wandte er sich um und fragte, ohne die Schwester anzusehen: „Thust nur ein G’fallen, Vroni?“

„Ja, Mathes!“ sagte sie, mit Thränen in der Stimme. „Alles thu ich Dir, was D’ willst.“

„So mach’ nach’m Essen ein Sprüngerl ’nunter zu ihr, gelt? Damit s’ doch ein’ Menschen hat!“

„Ja, Mathes, gleich auf der Stell’ geh ich ’nunter!“ Und zögernd fragte sie: „Magst net mit?“

Er preßte die Lippen aufeinander, daß sie weiß wurden, und schüttelte den Kopf.

Als Mathes in der Thür verschwunden war, erhob sich Schorschl mit ernstem Gesicht. Er mochte empfunden haben, daß hier neben seinem hellen Glück ein dunkler Schatten das kleine gerettete Haus umwandelte. Er wollte fragen, doch er brachte nur ein einziges Wort über die Lippen: „Schatzerl?“

Dem Schluchzen nahe, schlang Vroni die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn, als hätte sie Angst, ihn zu verlieren. Und in heißer Liebe erwiderte sie seinen ersten Kuß.

Mutter Katherl rief aus dem Hausflur: „Kommts, Kinder, ich hab’ schon auftragen!“

Das gab eine stille Mahlzeit. Dem Alten fielen während des Essens vor Müdigkeit schon halb die Augen wieder zu, und Mutter Katherl stach in schweigsamer Fürsorge einen Knödel um den anderen aus der Schüssel heraus und legte ihn schmunzelnd auf Schorschls Teller. Mathes sprach kein Wort und aß kaum einen Bissen – und das verliebte Paar bedurfte der Sprache nicht; das hatte sich genug mit den Augen zu sagen.

Hier weilte die wortlose Freude vertraulich neben dem stummen Schmerz, so wie an einem stillen Abend der Tag einhergeht neben der Nacht. Doch wenn die Sonne zu sinken droht, verspricht sie mit ihrem letzten flammenden Gruß: Ich komme wieder, verjage die Nacht, und dann herrsch’ ich allein!

Als die Mahlzeit vorüber und das Gebet gesprochen war, sagte Vroni: „Vater? Verlaubst mir’s, daß ich ein bißl ’nunterschau zur Linerl?“

„Ja, Madl, gern! Und thu mir s’ grüßen, die arme, gute Frau! Gleich morgen geh’ ich selber ’nunter, heut kann ich nimmer! Wie abg’schlagen sind mir d’ Füß’! … Und gelt, bring’ mir die Kinder mit heim! So viel bangen thut’s mich nach die lieben Hascherln … und jetzt haben s’ ja wieder ihr sicheres Bleiben im Häusl da! Gott sei Dank! … Und thu mich aufwecken, gelt, wenn die Kinderln heimbringst! Denn heut schlaf’ ich gleich ein! Ja! Gleich!“ Er humpelte zur Kammerthür, und in seiner Müdigkeit vergaß er völlig, dem Daxen-Schorschl gute Nacht zu wünschen.

Die Almen und Felsenzinnen leuchteten im Gold des Abends, und die ersten grauen Schatten verschleierten schon das tiefe Thal, während Vroni und Schorschl am Ufer des neu entstandenen Bergbaches über die Gehänge hinunterstiegen.

Mathes stand bei der halb zerstörten Scheune und blickte den beiden nach.

So lange Vroni ihn sehen konnte, winkte sie immer wieder mit der Hand zu ihm hinauf. Als die Hügel ihn endlich verdeckten, seufzte sie und umklammerte die Hand des Geliebten.

„Geh, sag mir’s,“ flüsterte Schorschl, „was hat er denn, der Mathes?“

„Du därfst es ja wissen jetzt …“ scheu blickte sie um sich, als hätte sie Sorge, daß jemand in der Nähe wäre, der sie hören könnte. Und ganz leise wisperte sie: „’s Linerl hat er gern!“

Der stammelnde Laut, den Schorschl zur Antwort fand, ging unter im Rauschen des Baches. Doch hinter seinem Schreck kam [739] gleich die Freude wieder: daß die Geliebte sich eins mit ihm fürs Leben fühlte, das hatte ihm kein Händedruck, kein leuchtender Blick und auch nicht ihr Kuß so deutlich gesagt wie dieses leise, zitternde Wort, mit dem sie ihm das Geheimnis des Bruders anvertraute! In tiefer Bewegung umschlang er sie.

Und da blickte sie zu ihm auf und flüsterte: „So viel gut bin ich Dir … schau, so viel gut!“

„Und auf mich kannst Dich verlassen! Fest, sag’ ich Dir … fest!“

Weiter sprachen sie kein Wort. Eng aneinander geschmiegt, stiegen sie Schrittlein um Schrittlein thalwärts im stillen, leuchtenden Frühlingsabend.

Am Himmel glomm der Schein des ersten Sternes auf, als man drunten im Dorf den Abendsegen läutete.

Der schwebende Hall war schon eine Weile verstummt – da wurde noch eine andere Glocke gezogen: das Zügenglöckl, das einen Tod verkündete.

Die beiden hörten den klagenden Ton dieser Glocke nicht. So ganz versunken waren sie in ihr lebendes Glück!

Es wurde dunkler Abend, bis sie das Dorf erreichten. Sie hatten den Weg an der Daxen-Schmiede vorüber genommen, und so sehr es Vroni zu Karlin’ zog, auf ein Grüßgott mußte sie doch bei Schorschls „dickem Mutterl“ vorsprechen und sich ein „Schnauferl“ in der Luft des Hauses vergönnen, in dem sie wohnen und schalten sollte als junge Frau. In der durch die Fürsorge der Bäckenmahm’ so traulich verwandelten Stube fanden sie den Tisch gedeckt und daneben im Lehnstuhl die Mahm’, die seit der Heimkehr der Gesellen mit zappeliger Ungeduld auf ihr „Schorscherl“ gewartet hatte. Da gab es nun eine Scene, bei der die dicke Mahm’ vor freudigem Staunen dicke Thränen vergoß; und das „liebe Bildl“ des jungen Paares, beteuerte sie, thäte ihrem Herzen doppelt wohl nach dem jammervollen Anblick, den sie hätte mit ansehen müssen: vor einer Stunde, als sie im Lehnstuhl vor der Hausthür gesessen, hätte man den Purtscheller als stillen Mann auf der Straße vorübergetragen, und neben der blutigen Reisigbahre wäre die arme Frau gegangen – –

„Jesus Maria!“ stammelte Vroni, aus all der stillen Freude ihres Glückes aufgerüttelt. Und da war sie nicht mehr zu halten. „Ich bitt’ Dich, Schorschl, hol’ mir die Kinder von der G’vatterin … ich lauf zur Linerl ’nüber …“ Sie stürzte davon und hörte nicht mehr, was Schorschl ihr nachrief.

Eine halbe Stunde später stand der junge Schmied mit den beiden Simmeraukindern vor dem Purtschellerhof und wartete. Die Straßenlampe, die am Stamm einer Pappel hing, warf ihren matten Lichtschein über den dunklen Weg. Der Vorgarten des Purtschellerhauses war mit Leuten angefüllt; sie redeten halblaut zu einander, schlichen durch die Hausthür aus und ein, oder drängten sich um die Fenster, welche vom Schein der Wachskerzen wie festlich beleuchtet erschienen. Hastigen Schrittes ging der Pfarrer, der das weiße Chorhemd trug, an Schorschl und den Kindern vorüber, und ihm folgte der Meßner mit dem Weihbrunnkessel.

„Du?“ fragte das kleine Zenzerl den Daxen-Schorschl. „Thun s’ Hochzet halten da drin?“

„Ja, mein Mäderl!“ sagte Schorschl, von diesem Kinderwort erschüttert. „Freilich thut einer Hochzeit halten … Hochzet für alle Ewigkeit! Und ’s Bräutl heißt Leben, und der Hochzeiter heißt Stehnimmerauf!“

„Stehnimmerauf?“ plapperte das kleine Mäulchen und lachte. „Is das aber ein g’spaßiger Nam’!“

Neugierig lugten die Kinder nach den erleuchteten Fenstern und wollten wissen, wann die „Musi“ käme.

Schorschl vergaß zu antworten, denn er sah, daß sich Vroni durch die im Garten stehenden Leute gegen die Straße drängte. „Schatzer!!“ rief er. „Da bin ich schon!“

Sie zitterte vor Erregung an allen Gliedern und hatte verweinte Augen. „Schorschl, Schorschl,“ stammelte sie, während die beiden Kinder sich jubelnd an ihre Schürze hängten, „wie mich das arme Frauerl da drin derbarmt, das kann ich Dir gar net sagen! So gern wär ich d’ Nacht über blieben bei ihr … aber mit der eiskalten Hand hat’ s’ mir so viel lind über’s G’sicht g’strichen und hat’s Köpfl g’schüttelt … und g’sagt hat s’ kein Wörtl net!“ Sie brach in Schluchzen aus.

Das fanden nun die Kinder merkwürdig, daß bei einer Hochzeit geweint wurde. Doch Pepperl grübelte sich für dieses Rätsel eine Lösung aus: „Gelt, Vronerl, thust weinen, weil D’ jetzt schon heim mußt vom Tanzen? Geh, bleiben wir noch ein bißl da, bis d’ Musi anfangt!“

Erschrocken sah sie den Knaben an; aber als ihr Schorschl die Erklärung dieser Kinderworte zuflüsterte, sagte sie: „Ja, Schorschl, lassen wir s’ drauf! Besser, sie glauben an d’ Freud’ im Leben, als wie ans andere!“ Ihre Thränen von den Wangen trocknend, küßte sie die Kinder, kniete vor ihnen auf die Straße nieder, knöpfte ihnen die Kittelchen zu und wand ihnen die wollenen Tüchel fürsorglich um die Hälschen, damit sie die Kühle des Abends nicht spüren möchten. (Schluß folgt.)



Blätter und Blüten.


Nochmals das Bluten der Marienkäfer. In Nr. 19 des laufenden Jahrgangs der „Gartenlaube“ wird in dem Aufsatz „Aus dem Arsenal der Tierwelt“ auch das Bluten der Marienkäfer besprochen. Ganz richtig heißt es dort, daß schon der Altmeister Leydig erkannt hat, daß jene gelbe Flüssigkeit, welche die Käferchen in wirklicher oder vermutlicher Gefahr absondern, mit dem Blute der Tiere identisch ist. Die weitere Angabe aber, daß dieser Vorgang dadurch entstehe, daß der Druck des plötzlich zum Stillstand gebrachten Blutes die Haut in den Punkten des geringsten Widerstandes sprenge und so ein Tropfen herausgepreßt werde, beruht auf einer ganz irrigen Annahme des französischen Gelehrten Cuénot. Ein deutscher Forscher, K. G. Lutz, hat kürzlich überzeugend nachgewiesen, daß das Blut durch eine Spalte in der Gelenkhaut des Knies austritt. Wenn beim „Sichtotstellen“ das Blut infolge starker Zusammenziehung der Hinterleibsringel in die Beine gepreßt und gleichzeitig am Zurückfließen gehindert wird, so wird durch die Kontraktion des Beugemuskels des Unterschenkels (tibia) – vorausgesetzt, daß sie das normale Maß übersteigt – die Bahn frei. Durch die starke Beugung des Unterschenkels lockert sich nämlich der feste Verschluß zwischen Sehne und Oberschenkel, und indem der Unterschenkel wie die Klinge eines zuklappenden Taschenmessers zwischen die beiden Kanten des Oberschenkels eingedrückt wird, tritt infolge des erhöhten Druckes das Blut durch die Spalte der Gelenkhaut aus dem Kniegelenke. Bei dem bekannten gemeinen Marienkäfer, der auf roten Flügeldecken sieben schwarze Punkte trägt, hat Lutz oft beobachtet, wie er die Tarsen (die Fußglieder) während des Blutens an den Rand der Vertiefung, in welche die Beine eingelegt werden, anstemmt, wodurch die Beugung des Unterschenkels noch wesentlich unterstützt wird. Sobald die Kontraktion des Hinterleibes und damit die Zurückdrängung des Blutes, sowie ferner die verstärkte Kontraktion des Beugemuskels des Unterschenkels aufhört, wird auch das Bluten unmöglich. Sehr schnell trocknet die Blutflüssigkeit ein und wird dann so klebrig und zähe, daß die Käfer nicht selten mit ihrem eigenen Blute kleben bleiben; deshalb bemühen sich die Tiere auch stets, das geronnene Blut zu entfernen. – Während man früher das Bluten der Marienkäfer (welches nur beim „Sichtotstellen“ erfolgt) als einen bewußten, überlegten Akt der Tierchen auffaßte, hat in der letzten Zeit die Ansicht die Oberhand gewonnen, daß man es mit einer Art Starrsucht vor Angst und Schrecken zu thun hat. Doch wohl mit Unrecht! Beruht das Sichtotstellen auf einem Starrkrampfe (Tetanus), so ist das Bluten die Folge desselben; wenn aber die Starre von der Willkür des Tieres abhängt, so ist auch die Blutung eine willkürliche. Nun sind schon Fälle von willkürlichem Blutspritzen aus der Insektenwelt bekannt. So lebt in der Sahara eine Heuschrecke (Eugaster Guyoni), welche aus 40 bis 50 cm Entfernnng ihren Verfolger mit Blut bespritzt, welches durch Poren der dünnhäutigen Oberseite zwischen Hüfte und Schenkelring unter hohem Drucke ausgespritzt wird. Da wir nun in dem Bluten der Marienkäfer ein Verteidigungsmittel gegen insektenfressende Tiere erblicken, so müssen wir es als einen willkürlichen, durch Vererbung überkommenen Vorgang ansehen. Auch das Anstemmen der Tarsen während des Blutens ist ein Beweis dafür, daß es sich nicht um einen Starrkrampf, sondern um einen willkürlichen Vorgang handelt. Endlich geht aus der Beschaffenheit der Spalte, welche von einer doppelt konturierten Haut gebildet wird, hervor, daß sie nicht erst unmittelbar vor dem Blutaustritt entsteht, sondern schon vorhanden ist, wenn der Käfer die Puppenhülle verläßt. H. Reeker.     

Strickende Schäferin. (Zu dem Bilde S. 725.) Trübe Herbststimmung beseelt dieses Bild, das für die Landschaft, die es uns vorführt, wie für den Maler, der es geschaffen hat, gleich bezeichnend ist. [740] Im schärfsten Gegensatz zu der Hirtenidylle der klassischen wie der romantischen Kunst, zu den realistischen Bildern aus unsrer deutschen Gcbirgswelt, auf denen gesunde Volkskraft sich voll Anmut und Frohsinn äußert, zeigt uns Max Liebermann hier die armselige Oede einer unwirtlichen Gegend, deren spärlicher Graswuchs Schafen und Ziegen zur Nahrung dient, belebt mit wenigen dieser Tiere und einer jungen Hirtin, die der anmutigen Reize ebenso ermangelt wie ihre Umgebung. Hinter dem welligen Boden dieser kargeu Weidetrift haben wir eine der Dünen Nordhollands zu suchen, welche die kulturfeindliche Brandung der Nordsee bespült. Wie schon bei früherer Gelegenheit an dieser Stelle ausgeführt wurde (vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1894, S. 484), gehört Liebermann zu den entschiedensten Vertretern jener Richtung der modernen Malerei, welche aus Antipathie gegen alles Zurechtgemachte, Glatte, Einschmeichelnde in der Kunst die Natur gerade da am liebsten belauscht und zu unmittelbarster Darstellung bringt, wo sie rauh, herb, und sogar nach dem herkömmlichen Begriff – häßlich ist. Der Berliner Max Liebermann geriet in diese Richtung aus eigenem Antrieb, längst ehe dieselbe die Gunst der Mode genoß. Er war von den deutsehen Malern der erste, der bei den bahnbrechenden französischen Meistern, die wie François Millet in der Umgebung von Barbizon sich ansiedelten, um in freier Tagesbeleuchtung ihre Bilder treu nach der sie umgebenden Natur zu malen, direkt in die Schule ging. Holland bot dem aus Berlin stammenden Künstler dann diejenigen Anregungen und Vorbilder, die seinem Geschmack am meisten zusagten. Seit Jahren verbringt er fast jeden Sommer in dem kleinen Zantvoort an der holländischen Küste. Jn der Beschränkung, die er sich selbst auferlegt, und in der Eigenart, die seiner Natur entspricht, hat es Liebermann zu einer Meisterschaft gebracht, die sowohl im Ausland wie neuerdings auch in der Heimat durch Preise und Galerieankäufe hervorragende Anerkennung gefunden hat. Für seine Fähigkeit, mit geringem Aufwand der Mittel das Charakteristische einer Gegend, eines Stück Volkstums zu treffen, und der Natur auch da noch einen malerischen Reiz abzugewinnen, wo sie herb und spröde ist, zeugt auch diese „strickende Schäferin“: in ihrer Unverdrossenheit und Treue, wie in ihrem freudlosen Ausdruck, das echte Kind ihrer von den Stürmen des Meeres beherrschten Heimat, in deren dürrem Weidegras keine Blumen gedeihen. P.      

„Musterblätter für künstlerische Handarbeiten“ nennt sich ein höchst beachtenswertes Unternehmen, das kürzlich in Berlin im Lipperheideschen Verlag erschienen ist. Die Kunststickerei unserer Tage hat nach langem Daniederliegen rasch einen Höhepunkt erreicht, der sich mit den besten Zeiten der alten Klosterarbeit messen kann und, was Vielseitigkeit betrifft, sie weit hinter sich läßt. Ist doch durch die Gewerbemuseen ein ganzer Schatz von abend- und morgenländischen Techniken und Mustern erschlossen, welcher freilich erst gehoben und der Allgemeinheit vermittelt werden muß, soll er direkt fruchtbringend wirken. Um dieses schwierige Vermittlergeschäft hat sich die inzwischen verstorbene Herausgeberin, Frau Frida Lipperheide, die allergrößten Verdienste erworben: sie giebt im Zusammenhang mit den in der „Illustrierten Frauenzeitung“ gebrachten Vorzeichnungen von Stickmustern in einer fortlaufenden Reihe von Sammelmappen farbige Blätter, die ausgeführte Stickerei in Stichlage, Farbe und Wirkung so vorzüglich darstellend, daß jede geschickte Hand mit Leichtigkeit nach diesem Vorbild arbeiten kann. Was hier zusammenruht an wundervoll künstlerischer Handarbeit, an alter orientalischer und nordischer Leinenstickerei, spanischer, deutscher, italischer Plattstich- und Aufnäharbeit, an Flechtstich, Stramin- und Filetstickerei, in prachtvoll modernen, halb gemalten, halb gestickten Mustern, das stellt eine Hochschule des Geschmacks und der Geschicklichkeit dar. Ein vortreffliches Lehrbuch, „Die dekorative Kunststickerei“, führt, durch Abbildungen unterstützt, in die gesamte Technik ein und giebt als Supplement prachtvolle Blätter größten Formates mit alten und neuen Mustern, deren volle Farbenwirkung in Sammet, Gold und Seide durch den vorzüglichen Plattendruck zur Geltung kommt. Kunststickerinnen von Fach, sowie die zahlreichen Dilettantinnen, vor allem diejenigen, welche von großen Städten entfernt wohnen, seien auf dies grundlegende und bis zur Vollendung fortbauende Werk aufmerksam gemacht, welches zugleich ein glänzender Beweis dessen ist, was eine künstlerisch hochgebildete und praktisch geschulte Frau in zielbewußter Arbeit zu leisten vermag. R. B.     

Ein ländliches Fest in Spanien. (Zu dem Bilde S. 728 und 729.) Die spanischen Städte entbehrten früher vielleicht noch mehr als heute des Schmuckes der Vegetation, öffentlicher Anlagen und hübscher Gärten. Von Speisehäusern, in denen man im Freien seine Mahlzeiten einnehmen kann, war und ist vollends keine Rede. Ausflüge in die Nachbarschaft waren daher zu allen Zeiten und sind auch gegenwärtig noch sehr beliebte Unterbrechnngen der Eintönigkeit des häuslichen und öffentlichen städtischen Lebens und natürlich für die Jugend besonders erwünscht.

Die Wirte selbst ganz kleiner und ärmlicher Merenderos oder Ventas, Wirtshäuser oder Kneipen, in der Nähe der größeren Ortschaften machen daher stets gute Geschäfte, namentlich wenn sie es verstehen, ihren Gästen den Aufenthalt angenehm zu gestalten. Das Essen und Trinken spielt bei solchen Gelegenheiten eigentlich eine sehr untergeordnete Rolle, denn die Spanier sind im allgemeinen so mäßig und so bescheiden, daß oft die denkbar einfachsten Gerichte auch die verwöhntesten Salonhelden bei solchen ländlichen Gastmählern völlig befriedigen. Dringend erwünscht ist es aber, daß sich in der Gesellschaft einige Musik- und Sangeskundige befinden, denn ohne Gesang, Spiel und Tanz, ohne die Improvisationen kleiner, geistvoller Gelegenheitslieder, der Coplas, ist kein solches Fest denkbar, das bald genug die ganze Nachbarschaft anlockt und sich zum fröhlichen Volksfest gestaltet. Wo erst einmal die Guitarre oder Bandurria erklingt, da ertönt auch bald das fascinierende, aufregende Geklapper der Kastagnetten, und der schöne, feurige Wein thut dann das seinige dazu, die im allgemeinen sehr wenig trinkenden Spanier rasch in Feuer und in die leidenschaftlichste Erregung zu versetzen. Freilich kommt es dabei oft vor, daß schließlich ein leichter Rausch und die schnell erwachende Eifersucht die für weibliche Schönheit so sehr empfänglichen Männer in Streit bringen, und nur zu häufig enden solche fröhliche Feste mit „dem Klappen des Messers“, das stets Trauer nach sich zieht.

Bei diesen Festen trägt jeder Teilnehmer das Seine zur Belustigung der Anwesenden nach Kräften bei, sei es durch musikalische Leistungen, sei es durch Erzählung von allerlei Schnurren, sei es durch die Vorführung kleiner Kunstfertigkeiten. Auf unserem Bilde sehen wir ein Beispiel der letzteren Art. Während die beiden schönen Mädchen zur Linken die Huldigungen der jungen Männer anhören und offenbar mit der den Spanierinnen eigenen Schlagfertigleit erwidern, während der in der Mitte sitzende Guitarrespieler vielleicht im Gedanken an seine ferne novia, seine Brant oder Geliebte, für sich auf seinem Instrument phantasiert, ergötzt der daneben am Tisch sitzende Trinker seine Nachbarn durch die Geschicklichkeit, mit der er sich den Wein aus dem hoch erhobenen Behälter in die Kehle fließen läßt.

Schon der Umstand, daß die reich gekleideten Tafelgenossen dies beachten, läßt uns schließen, daß es vornehme Städter, wahrscheinlich Madrider Herrschaften, sind, die mit den Gewohnheiten der Landleute nicht vertraut sind; denn welcher Bauer oder Schäfer würde seinen Wein, den er in der Bota, seinem Schlauch, bei sich führt, anders trinken als so wie es hier dargestellt worden, und wehe dem, der es unternähme, ihnen nach ihrer Art Bescheid zu thun, ohne dies lange geübt zu haben! Hemd und Wams und Beinkleider sind verloren, wenn man als Unkundiger und Unerfahrener zum erstenmal in solcher Weise aus der Bota oder der entsprechend gestalteten Glasflasche trinkt. Der Herr auf unserm Bilde versteht’s – seine Tischgenossen würden aber wahrscheinlich noch vielmehr belustigt sein, wenn er sich das Gesicht und die kostbaren, goldgestickten Sammetkleider mit dem roten Wein begösse.

Nichts Heitereres und zugleich Harmloseres kann man sich denken als diese Picknicks und kleinen ländlichen Feste wie das hier dargestellte; und wohl dem, der an ihnen teilnehmen und unter dem heiteren Lachen, dem Spiel, Gesang und Tanz entzückender, von Lebenslust erfüllter Mädchen und schöner Jünglinge für einige Zeit die Mühen und Sorgen des Alltagslebens vergessen kann! G. Diercks.     

Wieviel Zündhölzchen werden jährlich in Europa verbraucht? Ein „Neugieriger“ unter unsern Lesern stellt an uns diese Frage. Wir wollen versuchen, sie wenigstens annähernd zu beantworten. Da in Frankreich das Zündhölzchen-Monopol besteht, besitzt man in Paris eine sehr gemaue Statistik der jährlichen Zündhölzchenerzeugung. Im Jahre 1894 z. B. wurden in Frankreich rund 28 Milliarden Zündhölzchen fabriziert und etwa 4 Milliarden vom Auslande eingeführt. Diese Masse wurde auch annähernd im Lande verbraucht. Auf den Kopf der Bevölkerung kommen somit in Frankreich jährlich etwa 840 Zündhölzchen. In Deutschland steht die Zündhölzchenfabrikation bedeutend höher und der Verbrauch ist demgemäß stärker. Man wird nicht irre gehen, wenn man ihn auf mindestens 50 Milliarden Stück im Jahre schätzt. Nehmen wir ferner an, daß der Zündhölzchenhedarf der Völker Europas im Durchschnitt gleich dem französischen sich gestaltet, so können wir herausrechnen, daß Europa mit seinen 357 Millionen Einwohnern jährlich das runde Sümmchen von 300 Milliarden Zündhölzchen verfeuert.

An der Quelle. (Zu unserer Kunstbeilage.) Die junge angehende Priesterin ist mit dem schön gehenkelten Krug zum Brunnen geschritten, um das Quellwasser für den Tempeldienst zu holen. Nun das Gefäß voll ist, könnte sie eilends zurückkehren, aber der Abend ist so balsamisch düftereich, zum Brunnenrauschen tönt so lieblich das Flüstern der alten Platanen und Sykomoren – sie kann sich noch von dem stillen Plätzchen nicht trennen und bleibt, die schönen Arme aufgestützt, die großen Augen wehmutsvoll fragend ins Weite gerichtet, in Gedanken und Träume verloren über den Marmor geneigt. Das Heimweh nach der Welt ihrer Kindheit bewegt ihre Seele, von dem wir auch Goethes Jphigenia ergriffen sehen, wenn sie, „der Göttin stilles Heiligtum“ im Rücken, träumerisch ihre Blicke über das Meer wandern läßt, „das Land der Griechen mit der Seele suchend“.


Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

P. R. B. Der in Nr. 27 dieses Jahrganges abgebildete und beschriebene Wettin-Obelisk in Dresden ist in der Kunsterzgießerei von H. Howaldt in Braunschweig hergestellt worden.

K. M. in Mannheim. In dem bereits in fünfter Auflage erschienenen Werke von A. Dreger, „Die Berufswahl im Staatsdienste“ (Dresden und Leipzig. C. A. Kochs Verlagsbuchhandlung) finden Sie eine genaue Zusammenstellung der wichtigsten Vorschriften über Annahme, Ausbildung, Prüfung, Anstellung und Beförderung in sämtlichen Zweigen des Reichs- und Staats-, des Militär- und Marinedienstes, sowie über die wissenschaftlichen Erfordernisse, die Ausbildung und Prüfung der Aerzte, Apotheker, Zahnärzte und Tierärzte etc., als auch der Maschinisten und Steuerleute in der Handelsmarine. Dieses alterprobte Buch ist noch immer der beste Ratgeber für Eltern, welche ihre Söhne im Staatsdienst unterbringen wollen.


manicula0 Hierzu die Kunstbeilage XII: „An der Quelle“. Von D. Coomans.

Inhalt: Die Geschwister. Roman von Philipp Wengerhoff (5. Fortsetzung). S. 72S. – Strickende Schäferin. Bild. S. 725. – Ein ländliches Fest in Spanien. Bild. S. 728 und 729. – Johann Georg Fischer. Zum achtzigsten Geburtstag des Dichters. S. 731. Mit Bildnis S. 732. – Das Jubiläum der tiroler Freiheitskämpfe. Von J. C. Platter. S. 732. Mit Abbildungen S. 733, 735 und 737. – Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (19. Fortsetzung). S. 735. – Blätter und Blüten: Nochmals das Bluten der Marienkäfer. Von H. Reeker. S. 739. – Strickende Schäferin. S. 739. (Zu dem Bilde S. 725.) – Musterblätter für künstlerische Handarbeiten. S. 740. – Ein ländliches Fest in Spanien. Von G. Diercks. S. 740. (Zu dem Bilde S. 728 und 729.) – Wieviel Zündhölzchen werden jährlich in Europa verbraucht? S. 740. – An der Quelle. S. 740. (Zu unserer Kunstbeilage.) – Kleiner Briefkasten. S. 740.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 43. 1896.


Niemand zu Liebe, niemand zu Leide! Mit dieser Unterschrift hat unser Kaiser eine Zeichnung der Öffentlichkeit übergeben, welche er selbst entwarf und durch Professor Knackfuß in Wirkung setzen ließ. Eine heliographische Nachbildung derselben ist in Professor Roeses Meisteratelier der Reichsdruckerei zu Berlin hergestellt worden und dieses Kunstblatt giebt die untenstehende Abbildung in Holzschnitt wieder. Diese bildliche Darstellung erinnert an eine Stelle in der Rede des Kaisers, welche er bei der Enthüllungsfeier des Kaiser Wilhelm-Denkmals in Frankfurt a. M. am 10. Mai dieses Jahres hielt: „Und so hoffe ich, daß ein jeder mit mir darin übereinstimmen wird, daß es unsere Pflicht ist, unser Volk in Waffen hoch zu halten, zu achten und zu ehren … daß auch wie bisher der deutsche Michael in goldener Wehr strahlend, vor dem Thore des Friedenstempels der Welt stehend, dafür sorgen wird, daß niemals böse Geister im stande sein werden, den Frieden unseres Landes ungerächt zu stören.“

Demgemäß erblickt man auf der Zeichnung einen tempelartigen Bau, unter dessen säulengetragener Halle im Hintergrunde allegorische Gestalten der Beschäftigungen und Künste des Friedens: Musik, Kunstgewerbe, Geschichte, Landwirtschaft, Industrie, Unterricht, sichtbar sind. Am Eingang zur Halle steht in ruhiger stolzer Haltung zwischen zwei die Treppen flankierenden Löwen der deutsche Michael, die Rechte aufs Schwert gestützt, in der Linken den Schild mit dem Adler haltend, auf der Brust ein großes Eisernes Kreuz. Gegen die Stufen des Friedenstempels stürmen vergeblich die Dämonen des Kriegs an mit Flammenschwert und Lanze, mit Brandfackel und Geißel. Das Bild mit seiner Unterschrift „Niemand zu Liebe, niemand zu Leide!“ ist also eine Art gezeichneten Friedensmanifests unseres Kaisers und wird schon als solches allseitiges sympathisches Interesse erwecken.

Wieviel ist der Genfersee wert? Im Zusammenhang mit der Thatsache, daß das Becken des Genfersees in etwa 64000 Jahren durch den Schlamm der Rhone ausgefüllt sein dürfte, welche dann an der Stelle des Sees nur einen schmalen Wasserstreifen durch eine allmählich austrocknende Ebene ziehen wird, behandelte der Schweizer Naturforscher Forel neuerdings die Frage, ob die Bewohner der Umgegend (falls es deren alsdann noch geben wird) Grund haben werden, mit der eintretenden Wandlung der Dinge unzufrieden zu sein. In landschaftlicher Beziehung bildet natürlich der wundervolle Spiegel des Sees einen ungleich schöneren Anblick, als sein ausgefülltes Becken es jemals kann, aber in wirtschaftlicher Hinsicht scheint es ein wenig anders zu liegen. Den Nutzertrag des Sees liefert heute hauptsächlich die Fischerei, die selten mehr als 200000 Franken im Jahre ergiebt, während der später angeschwemmte Boden in seinem Umfang von 58000 Hektaren selbst bei der wenig einträglichen Waldwirtschaft eine Jahresrente von 7 Millionen Franken versprechen würde. Indessen auch so stimmt das Exempel wiederum nicht ganz. Das große Becken des Genfersees ist für die ganze Umgebung ein klimatischer Faktor ersten Ranges und zwar in durchaus günstiger Weise. Sein Spiegel fängt während des ganzen Jahres eine ungeheure Wärmemenge auf und strahlt etwa ein Drittel davon auf die Berge des Ufers zurück, wo die Ueppigkeit der Felder, der Gärten und Weinberge vom Verbleib dieser reflektierten Sonnenstrahlen zeugen. Im Herbst beginnt der See endlich alle jene Massen von Wärme wieder auszuatmen, die er während des Sommers eingeschluckt hat und mit deren Hilfe er nun die Temperatur der Umgebung erhöht, als ob die Wasser des Golfstromes die Küsten bespülten. Dieser Vorteil für die Fruchtbarkeit, die Gesundheit und Milde des Klimas am Genfersee läßt sich nicht ziffermäßig nach Millionen berechnen, aber er ist ohne Zweifel groß genug, um es als eine Erleichterung empfinden zu lassen, daß dieses herrlichste aller Schweizer Becken erst in einem Zeitraum von 64 Jahrtausenden von der Erde verschwinden soll. Bw.     

Das Alter der Nadeln des Tannenbaumes. Immergrün nennen wir die Nadelhölzer, denn sie werfen nicht wie die Laubbäume ihre Blätter in jedem Herbste ab. Wie lange aber bleiben die Nadeln an den Zweigen der Bäume hängen? Die Frage ist noch nicht genau beantwortet. Nach neuesten Untersuchungen, über die in der „Zeitschrift für Forst- und Jagdwesen“ berichtet wurde, läßt sich von der Lebensdauer der Nadeln folgendes berichten: Bei den meisten Kiefern bleiben die Nadeln 2½ bis 3 Jahre am Zweige, beim Krummholz der Hochgebirge werden sie bis 7½ Jahre alt; bei den Fichten währt die Lebensdauer etwa 3 Jahre, während sie bei den Tannennadeln durchschnittlich 7 bis 8, oft aber sogar bis 12 Jahre beträgt.

[740 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]