Die Gartenlaube (1896)/Heft 42

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[709]

Nr. 42.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Geschwister.

Roman von Philipp Wengerhoff.

  (4. Fortsetzung.)

5.

Der Regierungsrat von Walden schritt trotz der unfreundlichen Witterung und der vorgeschrittenen Nachmittagsstunde zwischen den in winterlicher Oede daliegenden Parkanlagen, die den Platz vor dem Provinzial-Steuerdirektorium schmückten, spazierend auf und ab. Es wurde ihm sichtlich schwer, ein gleichmäßiges Tempo dabei festzuhalten. Zuweilen verlangsamte er seinen Gang und dann beschleunigte er ihn wieder; er focht mit dem Spazierstöckchen, das er in der Hand trug, durch die Luft, sah alle fünf Minuten nach seiner Uhr und hob sie dann sogar in die Höhe, um zu prüfen, ob sie auch gehe. Dabei blickte er unablässig nach den hellerleuchteten Fenstern des ersten Stockwerks des Direktionsgebäudes, hinter welchen man durch die Spitzengardinen verschiedene Personen sich bewegen sah. Ab und zu trat eine Gestalt bis dicht an die Scheiben, lehnte sich gegen das Fensterkreuz und schaute auf die dunkle Straße, dann klopfte ihm plötzlich das Herz ganz laut und er machte eine Bewegung, als wollte er einen Gruß hinauf senden.

So mochte eine halbe Stunde vergangen sein; immer war er den Begegnenden ausgewichen, nun hörte er plötzlich ganz dicht hinter sich Schritte, und eine muntere Stimme rief auch schon, ehe er sich noch umgewandt: „Also richtig gefunden, Walden! Erst traf ich Sie nicht mehr im Bureau, dann suchte ich Sie in Ihrem Heim – ebenfalls ohne Erfolg – um Sie nun glücklich hier zu treffen! Merkwürdige Tageszeit, die Sie sich für Spaziergänge wählen! Man sieht bei diesem trüben Himmel und der zu Ehren des heute im Kalender stehenden Mondscheins verringerten Laternenbeleuchtung wirklich nicht die Hand vor den Augen.“

„Man muß die Feste feiern, wie sie fallen,“ gab der Angeredete darauf zurück; „wer am Tage nicht Zeit für eine Promenade hat, muß die Abendstunden dazu benutzen. Uebrigens liegt es auch in der That nur an der Bewölkung, daß es so spät scheint – es kann kaum sechs Uhr sein.“

„Lassen Sie sie nur stecken,“ sagte der andere, als jener eine Bewegung machte, um die Uhr hervorzuziehen, „es ist in der That noch nicht voll Sechs, also gerade die


Copyright 1896 by Franz Hanfstaengl in München.
Reineke in Nöten.
Nach dem Gemälde von J. Schmitzberger.

[710] Stunde, in der man in unserem cabinet séparé das Löwenbräu ansticht. Sie gehen doch mit? Darum folgte ich so beharrlich Ihren Spuren. Sie sollen uns heute nicht wieder vergebens warten lassen, Sie, der Stifter dieses Vorabendschoppens!“

„Ich weis wirklich nicht, Kollege,“ meinte Walden zögernd, „ich habe heute abend noch viel zu thun. Der Chef hat mir ja zu meinem ohnehin umfangreichen Decernat noch eine Vertretung aufgepackt, und – da muß ich noch einen Bericht -“

„Als ob nicht morgen dafür Zeit wäre!“ unterbrach ihn der andere. „Thun Sie doch nicht so! Ihr verwohnten Herren von der Direktion beklagt euch schon, wenn ihr einmal drei Stunden am Tage festsitzen müßt! Kommen Sie einmal aus die Regierung und sehen Sie sich die Aktenberge an, die jetzt mein Zimmer zieren - na, und es muß auch gehen. Man muß rasten, um zu hasten, wo käme man sonst hin! Also Sie gehen mit – wie? Die schöne Sophie wird sich ihre schwarzen Augen über ihren ungetreuen Ritter schon blind geweint haben –“

Walden, der ein paar Schritte neben jenem gegangen war, blieb plötzlich stehen.

„Sehen Sie, Kollege, so lächerlich es ist, es ist wahrhaftig auch ein Grund, weshalb ich unserem Kreise fern blieb. Solcher Person fehlt doch gänzlich das Feingefühl, es zu merken, wann der andere nicht mehr will. Sie attackiert mich ja förmlich mit ihren Blicken – was müssen die anderen denken? Und obenein hier in diesem Krähwinkel – unter diesen Philistern! Man hat noch zu riskieren, daß es publik wird, und dann –“

„Ja, was wollen Sie?“ gab jener zurück, „unsere kleinbürgerlichen Verhältnisse übersahen Sie doch bald, denen können Sie nicht den Vorwurf machen, daß sie sich Ihnen verhüllten. Und was die Sophie betrifft – sie hält sich wohl, weil sie eine Verwandte des Wirtes ist, für etwas Besseres als die anderen Bierheben – da spuken denn immer gleich weiß Gott was für romantische Ideen in dem Köpfchen. Na, und sie ist auch noch sehr jung und weiß noch nicht, daß – im Wechsel das Glück liegt. Aber kommen Sie nur mit; der Gefahr nicht ausweichen, ist ja schon halber Sieg.“

„Ich hätte immerhin nur ein knappes Stündchen. Eine Einladung zum heutigen Abend vom Chef –“

„Ah – ich verstehe!“ er pfiff durch die Zähne, „die schöne Elfe zieht! Ja, da können wir freilich nicht mit. Aber ein Stündchen ist besser als kein Stündchen. Und mit nehme ich Sie nun jedenfalls – was ist das hier für eine vertrackte Situation für Sie, in diesem feuchten, nebligen Wetter!“ Er klopfte ihm neckisch auf die Schulter und parodierte mit launig pathetischem Ton:

„Und so stand er viele Tage,
Stand viel Monde lang - -

– Wahrhaftig, Walden, da ist sie! Sehen Sie hin! Wirklich reizend, ganz reizend die Silhouette! Dieses feine Profil, dieses ganze entzückende Persönchen, so dunkel abgehoben von dem lichten Hintergründe! Na, haben Sie nun genug? Dann also zum Schoppen!“ Er lachte lustig: „Ja, Walden, wenn das nicht Schwärmerei ist?! Und da sagen die Menschen noch, daß unserer materiellen Zeit alle Poesie fehle!“ - -

Schrägüber jenen hellen Fenstern hatte man jetzt, kaum fünf Minuten, nachdem die Herren vorübergegangen, etwas verspätet eine Laterne angezündet, die in dieser dichten Atmosphäre ihren Schein nur auf einen geringen Umkreis warf. Aber sie genügte doch, die glänzenden Knöpfe an dem Mantel des jungen Mannes, der sich fest darin eingewickelt und die Mütze tief in die Stirn gedrückt hatte, Heller blinken zu machen, als er für einen kurzen Augenblick in diesen Lichtkreis trat. Er sah erwartungsvoll in die Höhe. In dem Augenblick erschien jene Gestalt wieder am Fenster, das zierliche Köpfchen neigte sich nah’ und näher an die Scheiben, dann trat sie zurück und der Offizier verschwand im Dunkel einer Baumgruppe.

Eine kurze Weile später wurde die schwere Eingangsthür des großen Hauses ein wenig geöffnet und durch die schmale Spalte schlüpfte eine kleine Gestalt. Das schwarze über die ganze Figur gebreitete Tuch, das sogar den Kopf und teilweise das Gesicht verdeckte, ließ, wenn in der herrschenden Dunkelheit ihr jemand begegnet wäre, nicht erkennen, wer unter der Hülle steckte.

Die Vermummte lief eilig über den Fahrdamm dem blätterlosen Gebüsche zu, und als sie niemand dort erblickte, rief sie leise: „Fredi!“

„Hier,“ antwortete eine Stimme halblaut, und der junge Offizier trat neben sie, ohne ihre suchende Hand zu ergreifen.

„Hast Du meinen Brief erhalten?“ fragte sie im Flüsterton.

„Ja, darum bin ich hier, obwohl es mich einen Kampf gekostet hat, Dich unter diesen Umständen noch zu sprechen.“

„Warum? Ich gehöre mir doch noch selbst und kann thun, was ich will!“

Sie hatte sich zu ihm herangetastet und lehnte sich nun leicht an ihn.

„Du bist nicht ehrlich mit mir gewesen, Elfe. Allem Gerede zum Trotz hast Du mich immer glauben lassen, es sei nichts an der Sache, und nun –“

„Willst Du mir aus unseren Verhältnissen einen Vorwurf machen? Leide ich nicht mehr darunter als Du?“

„Du wirst mir wohl erlauben, daran zu zweifeln,“ antwortete er. „Wie sollte ich wohl jetzt noch an Deine Liebesversicherungen glauben, wo ich von Dir selbst erfahre, daß Du in kurzer Zeit die Braut eines anderen wirst!“

Sie drängte sich fester au ihn: „Hast Du mich lieb, Fredi?“

„Leider nur zu sehr – viel zu sehr!“

„Und Du fühlst es nicht, wie mein Herz nur Dir gehört?“

„Ich habe eben den Gegenbeweis erhalten. Kann man den einen heiraten, wenn man den anderen liebt?“

„Doch, Fredi, doch, wenn es sein muß!“

„Ich kann mich diesem ,Muß’ nicht fügen.“

„So will ich den Mut für uns beide haben.“

„Vermutlich weil es Dir nicht schwer wird, weil Du nun genug hast an dem Vergnügen, mir armem Kerl den Kopf zu verdrehen!“

„Fredi, Fredi, Du bist grausam!“ Sie hatte beide Arme um ihn geschlungen, drückte ihren Kopf an seine Brust, und er fühlte es an dem Beben ihres Körpers, daß sie heftig weinte. Ein inniges Mitgefühl stieg plötzlich in ihm auf und er legte seine Arme wie tröstend um ihre Gestalt.

„Verzeih’,“ sagte er, „meine Empfindung riß mich hin; aber wie soll ich es ruhig ertragen, wenn Du Dich von mir trennen willst!“

„Ich verliere Dich doch auch,“ schluchzte sie, „aber Du denkst nur an Dich!“

„Du bist vor mir im Vorteil, denn Du hast dieses Ende kommen sehen; mich trifft es unvorbereitet.“

„Unvorbereitet?“ sie hob den Kopf und sah ihn verwundert an. „Du hast es Dir doch sagen können, daß es über kurz oder lang so kommen mußte!“

„Weshalb?“ fragte er erstaunt.

„Ich, die Tochter eines vermögenslosen Beamten, und Du, ein armer Lieutenant, können wir uns je erreichen?“

„Mein Gott,“ gab er zurück, „wir sind ja jung genug, um zu warten.“

„Ja, worauf denn? Aendert die Zeit etwas an diesen Thatsachen?“

„Nun, andere Leute haben doch auch aufeinander gewartet, und mit der Zeit werde ich doch auch Hauptmann.“

Sie zuckte leicht die Achseln.

„Fünfzehn Jahre warten, und dann, wann wir alt und grau geworden sind, eine Häuslichkeit, die von der Hauptmannsgage bestritten wird – wirklich, Fredi, das ist kein Ziel.“

Er richtete sich straffer auf und diese Bewegung veranlaßte sie, sich etwas zurückzuziehen.

„So bleibt mir also nichts, als Dir die Dauer alles Guten zu wünschen und – Dir Lebewohl zu sagen, Elfe!“

„Lebewohl?!“ sie stieß es angstvoll heraus, „jetzt schon, Fredi? Kannst Du nicht noch ein wenig bei mir bleiben?“

„Was hätte das für einen Zweck? Laß uns scheiden, Elfe, ich fürchte, daß meine Fassung nicht stand hält, daß ich bittere Worte nicht länger zurückdrängen kann. Leb’ wohl! Und nun gieb mir die Hand zum Abschied, ich will danach streben, daß ich Deiner ohne Groll gedenke.“

Sie stand schluchzend vor ihm und bedeckte ihr Antlitz mit den Händen. „Nimm mich noch einmal an Dein Herz, Fredi!“

„Wozu noch? Einmal müssen wir ja ein Ende machen!“

„Fredi - -“

Der klagende Ton überwältigte ihn, er nahm sie stumm in seine Arme und drückte sie an seine Brust. Dann riß er sich los – „Leb’ wohl!“ -– und ging hastig ein paar Schritte vorwärts.

„Fredi – Fredi –

Und noch einmal kam er zurück, noch einmal umarmte er sie stürmisch, nahm dann ihr Köpfchen zwischen seine Hände, und [711] seine Lippen auf die ihren drückend, als wollte er ihren Atem aufsaugen, murmelte er: „Leb’ wohl, Elfe, leb’ wohl für ewig!“ –

Wenige Minuten später war sie wieder oben. Sie fand die Thür des Vorsaales nur angelehnt, wie sie dieselbe gelassen hatte, und au der Thür zum Wohnzimmer lauschend, horte sie der Eltern und Lisbeths Stimme in ebenso lebhafter Unterhaltung wie vorhin. Man hatte sie also gar nicht vermißt! Wie gut, daß sie gerade den Tag von Liesels Rückkehr sich für das Rendezvous ausgewählt! Lautlos huschte sie in ihr Stübchen und warf sich hochatmend in den Stuhl. Gottlob, das war vorüber! Wie sie sich davor gefürchtet hatte! Der Fredi, der arme, liebe Fredi – sie hatte ihn doch sehr lieb – schade, schade! Sie warf einen Blick in den Spiegel.

Himmel, wie sie aussah! Das Gesicht gerötet vom Weinen, die Frisur zerzaust, und die Stirnlöckchen hingen von der feuchten Lust wie Zwirnstränge hernieder. Wenn sie nun jemand so sah und nach der Ursache fragte! Schnell steckte sie die Spirituslampe an, legte die Brenneisen auf und griff einstweilen zur Puderquaste.

Da öffnete die Frau Geheimrätin die Thür.

„Ach, Elfchen, Du bist schon bei der Toilette? Nun, mache Dich nur recht niedlich, und hörst Du, bleibe hier, bis er da ist, und dann kommt ihr zusammen hinein und stellt euch vor!“

„Wie wird Lisbeth es aufnehmen, Mama?“ fragte Elfe unsicheren Tones, ohne sich umzuwenden, und beugte sich tiefer über die Spirituslampe, damit der Flamme die Röte ihres Gesichtes zuzuschreiben sei.

„Wie soll sie es aufnehmen?“ tönte es zurück. „Wenn Du sie vorher um Rat gefragt hättest, würde sie wohl allerlei dagegen zu sagen gewußt haben: aber in eine vollendete Thatsache findet sich ein vernünftiger Mensch immer. Uebrigens, was kann man ernstlich dagegen einwenden? Walden ist ein prächtiger Mensch, er hat Dir in Wahrheit eine Zukunft zu bieten, und ihr liebt euch – sind da nicht alle Bedingungen erfüllt?“

Sie ging und setzte sich wieder zu ihrem Gatten, der eben vor Lisbeth allerlei Briefe von Leo ausgebreitet hatte und, über deren Schulter mit einsehend, genauere Erklärungen zu den einzelnen Bemerkungen gab. Auch die Geheimrätin griff nach einem Blatte. „Er schreibt doch reizend interessant, unser Junge,“ sagte sie mit so viel mütterlichem Stolz im Ton, als sich nur irgend hinein legen ließ. „Was sind das für flotte Schilderungen vom Berliner Leben! Wie schneidig kritisiert er die neuen Bühnenstücke und wie pikant scherzt er über die allzu freien Amüsements der Spezialitätentheater hinweg. Wirklich, man könnte jeden dieser Briefe direkt zum Druck geben! Das wäre doch etwas anderes als diese sogenannten Plauderbriefe der professionsmäßigen Zeitungsschreiber.“

„Das ist alles sehr schön,“ sagte Lisbeth, indem sie einen Brief zusammenfaltete; „ich dächte nur, es wäre besser, wenn Leo dieses Studium des Berliner Lebens bis nach dem Examen ließe. Was wird ihm für Zeit dadurch verloren gehen und wie sehr wird ihn das zerstreuen! Hernach wäre es ein wohlverdienter Lohn für die Anstrengung, und er könnte es auch mit viel leichterem Herzen genießen.“

„Nach dem Examen soll er nicht dort bleiben,“ erwiderte die Mutter, „ich brauche ihn dann zu nötig wegen unserer gesellschaftlichen Verpflichtungen und sehne mich auch schon zu sehr nach ihm.

Außerdem ist auch noch eine andere da, die schwer unter der Sehnsucht nach ihm leidet; hoffentlich kommt auch das nach seiner Rückkehr schleunigst in Ordnung!“

Der Geheimrat erhob sich.

„Aha, nun sind wir wieder bei dem richtigen Thema. Du mußt nämlich wissen,“ wandte er sich lächelnd an Lisbeth, „diese letzte Bemerkung geht auf Fräulein Dora Grimm. Sie hat es herausgebracht, daß Mama an jedem Sonntag ihren Brief von Leo bekommt, und seitdem macht es sich immer so zufällig, daß sie Montags hier eine Visite zu machen oder irgend etwas zu besprechen hat – kurz, sie tritt hier an, läßt sich ,von ihm’ erzählen, erwidert seinen Gruß, und wenn dann schließlich der Brief hervorgeholt und ihr vorgelesen wird, lauscht sie eifrig wie einem Evangelium. Du siehst also, hier diese unsere Mutter verbirgt unter ihrem Kleide ein paar echte, richtige Engelsflügel, die sie sich von dem berüchtigten, neckischen Götterknaben geliehen hat, und ist sozusagen der postillon d’amour der beiden.“

Die Mama lächelte geschmeichelt.

„Ja, ja,“ meinte sie, „und doch, was hat mir der Junge mit seinem Leichtsinn in diesem Punkte schon für Sorgen gemacht! Noch die letzten Tage seines Hierseins! Erstens bekam ich ihn nicht dazu, bei Grimms eine Abschiedsvisite zu machen, das sei nicht üblich, das thäte man nicht, wenn man zum Examen ginge, sagte er, und dabei blieb er. Als ob man in solchem Fall, wo so viel auf dem Spiele steht, nicht eine Ausnahme machen könnte; gerade dadurch wird sie doch bedeutungsvoll. Und dann, denke Dir nur die Geschichte: bei seiner Abreise begleite ich ihn also nach dem Bahnhof. Wir haben uns verabschiedet, er sitzt schon im Coupé, da reicht er mir ein Blatt Papier aus dem Fenster zu: ,Begleiche doch die Rechnung bei dem Gärtner, Mamachen’, und leiser flüstert er hinunter: ,Für Fräulein Dora“. Ich drohte ihm wegen dieser bequemen Manier, seine Rechnungen los zu werden, und freute mich doch im Herzen, daß er auf solche feine Art sich empfiehlt; und wie ich dann im Wagen sitze, schlage ich das Blatt auseinander – was ist das? – zwei Bouquets vom heutigen Tage stehen da notiert! Ich hielt es natürlich für einen Irrtum, es war doch nicht möglich, gleich zwei Bouquets zu schicken: das wäre ein bißchen knüppeldicke Galanterie, auch ein wenig knüppeldick für meinen Geldbeutel! Aber im Geschäft, wo ich, die Sache zu ordnen, vorfahre, erwartet mich ein neuer Schrecken: denke Dir, die Rechnung stimmte! Zwei Bouquets je fünfzehn Mark, das eine für Fräulein Dora Grimm, das andere für Fräulein Annie von Giersbach, jedes von seiner Karte begleitet, mit einen:: ,Auf Wiedersehen!’ Wie findest Du das? Ich war außer mir. Was hatte nun diese ganze zarte Aufmerksamkeit für einen Wert, wenn Dora es hörte, daß er dieselbe noch für eine andere gehabt? Und wie leicht konnte das geschehen! Ich habe wirklich ein paar Nächte nicht geschlafen und ihm dann einen Brief geschrieben – solch einen hat er von mir noch nicht erhalten! Hernach machte es sich besser als ich geahnt: die kleine Giersbach hat niemand von diesem Bouquet etwas gesagt. Wahrscheinlich hatte sie Äugst vor dem brummigen Alten und hat es in ihre Schieblade gesteckt, um es dort in aller Heimlichkeit zu bewundern. Wir waren acht Tage später bei Grimms zu einem Diner geladen, da wußten weder der Oberst noch seine Gattin etwas von Leos Abreise, und als Dora das Gespräch darauf brachte, saß die Kleine so verschüchtert und so verlegen dabei wie ein verflogenes Hühnchen auf der Stange; da wußte ich, was die Glocke geschlagen hat.“

„Das arme, kleine Ding,“ sagte Lisbeth mitleidig. „Es ist abscheulich, daß Leo so mit ihrem Herzen spielt!“

„Ach ja, es ist nicht recht von ihm,“ erwiderte die Mutter, „aber so ein wenig Flirt glauben sich die jungen Herren von heute erlauben zu dürfen, und es ist ja auch weiter nichts dabei. Wenn jede Galanterie sogleich als ein Grund zum Herzbrechen aufgefaßt würde, könnten sie schließlich gar nicht mehr in Damengesellschaft gehen. Nach einer Seite verlangt man so viel Ritterlichkeit und Höflichkeit als möglich, und nach der anderen erklärt man das für ein frivoles Spiel mit Herzen. Was sollen sie denn thun, um allen Ansprüchen gerecht zu werden? Man kann es ihnen nicht verdenken, wenn sie es schließlich vorziehen, nur noch ins Gasthaus zu gehen!“

„Es ist schon etwas Wahres daran,“ meinte Lisbeth beschwichtigend, „er müßte sich aber doch diejenigen ansehen, denen er so kommt, ob sie es auch verstehen. Sieh, wenn er sich mit Fräulein Dora so amüsiert, die hat es selbst oft geübt, die verträgt’s schon, auch wenn es ihm mir ein Spiel wäre -“

„Da wird er sich schön hüten,“ schaltete die Mutter ein, „so unvernünftig ist er nicht, wenn er auch immer so thut.“

„Aber dieses junge Kind, das noch an jedes Wort glaubt, ist doch wohl zu gut, um als Versuchsobjekt für seine Unwiderstehlichkeit zu dienen.“

Draußen hatte die Glocke eben hell und laut angeschlagen, nun hörte man flüsternde Stimmen auf dem Korridor. Das Ehepaar sah sich verständnisinnig an und dann lächelnd auf Lisbeth. Da wurde die Thüre weit aufgeschlagen, Regierungsrat von Walden trat ins Zimmer, und an feinen: Arm hing, ebenso strahlend und glücklich aussehend wie er – Elfe.

„Liebste Lisbeth,“ sagte der Geheimrat heiter, „laß Dir das neueste Brautpaar vorstellen und begrüße unseren lieben Walden als Deinen künftigen Schwager!“

Lisbeth stand noch ganz erstarrt und blickte wortlos auf das Paar, da fiel ihr Elfe um den Hals.

„Lieb’ Schwesterherz, gratuliere uns doch, Du siehst es ja: Wir lieben uns und sind glücklich!“

[712]
Datei:Die Gartenlaube (1896) b 0712.jpg

Morgenandacht.
Nach dem Gemälde von Walther Firle.

[713] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [714] Und Walden beugte sich über ihre Hand, führte sie an seine Lippen und wiederholte: „Wir sind glücklich – unaussprechlich glücklich.“

„Nun,“ sagte Lisbeth, die sich gewaltsam gefaßt hatte, Elfe in ihre Arme schließend, „dann kann ich nur einen Wunsch für euch haben: Gott erhalte euch immerdar die Liebe füreinander!“

Die Frau Geheimrätin zuckte leicht die Achseln. „Wie steif und gezwungen,“ dachte sie, „hätte sie nicht auch ein wärmeres Begrüßungswort für solchen Schwager haben können!“

Elfe aber hielt ein schimmerndes Kleinod gegen die Lampe und rief triumphierend: „Papa, Mama, seht her: wieder ein neues Armband, welch eine Pracht – ist es nicht entzückend?“

(Fortsetzung folgt.)


Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Neue Bahnen.

In unserm verkehrslustigen Zeitalter häufen sich mit fast erschreckender Geschwindigkeit die Erfindungen für die Personenbeförderung. Wagen, Bahnen, Schiffe, Fahrräder und Fahrstühle erhalten neue Formen oder neue Verwendungszwecke. Viele dieser Erfindungen haben sich die Anerkennung noch nicht erstritten. So suchen die Erfinder denn ihre Neuerungen im kleinen dem Publikum vorzuführen und wählen dazu mit Vorliebe die modernen Ausstellungen in unseren Großstädten. Andere Neuerungen wiederum sind im Grunde genommen weiter nichts als geistreiche Spielereien, dazu bestimmt, die Volksmassen zu belustigen und zu unterhalten. Auch die Erfinder dieser „Neuheiten“ stellen sich auf den Ausstellungen ein und finden dort in der That ein dankbares Publikum und – was ihnen die Hauptsache ist – ihre Rechnung.

Die große Berliner Gewerbeausstellung hatte auf diesem Gebiete manches Originelle aufzuweisen. Es tauchten auf ihr einige neue oder bisher nur wenig bekannte Bahnen auf, die, sei es im Ernst, sei es im Spiel, ein so großes allgemeines Interesse erweckten, daß sie eine nähere Betrachtung wohl verdienen.

Die elektrische Turmbahn.
Nach einer Photographie von Max Ziegra in Berlin.

Unsere Zeitgenossen streben gern empor und sind eifrige Freunde schöner weiter Aussichten. Auf allen Berggipfeln baut man Aussichtstürme und auch auf den Ausstellungen dürfen dieselben nicht fehlen. Je höher sie sind, je weiter und umfassender sich der Ausblick von ihren Zinnen gestaltet, desto größer ist der Zulauf. Das Treppenklettern ist jedoch nicht jedermanns Liebhaberei und für den müden Ausstellungsbesucher auch zu beschwerlich. Er will mühelos hinaufbefördert werden, und darum müssen die Türme mit Fahrstühlen ausgestattet werden. Einen besonderen Reiz übt aber ein solcher Aussichtsturm aus, wenn der Fahrstuhl von den gewöhnlichen Mustern abweicht und das Verweilen in demselben während der Auffahrt Bequemlichkeit und einen „noch nie dagewesenen“ Genuß bietet. Etwas derartiges ist nun in diesem Jahre auf der Berliner Ausstellung durch die elektrische Turmbahn geschaffen worden. Unsere nebenstehende Abbildung giebt eine Ansicht derselben wieder. Inmitten einer großen Rotunde, die natürlich eine Restauration enthält, steigt ein schlanker Turm bis zu der Höhe von 60 m auf. Um den Turm hängt, wie der Ring um einen Finger, leicht und elegant ein kreisförmiger Fahrstuhl. Das Eigentümliche der neuen Beförderung liegt in der doppelten Bewegung, die der Fahrstuhl ausführt. Während er langsam seiner stolzen Höhe zustrebt, beschreibt er eine aufsteigende Schraubenlinie und dreht sich somit fortdauernd um seine Axe. Der Beobachter, der in dem Fahrstuhl sitzt, ist somit in der Lage, während sein Blick weiter und weiter schweift, stets neue Landschaftsbilder zu bewundern, die sich vor ihm aufschließen. Er empfängt geradezu den Eindruck, als ob er frei im Raume schwebe.

Der schlanke Turm, der in der luftigen Eisenkonstruktion einen äußerst eleganten Eindruck macht, wurzelt in energischer Weise in dem Erdboden. Und wenn der Sturm noch so stark an seinem Fuße rütteln wollte, er würde nichts vermögen; denn der Turm ist an 90 stählernen Ankern und mächtigen Trägern gefesselt, und schon das Gewicht seines Fundamentes, das allein 400000 kg ausmacht, widerstrebt jeder Erschütterung. Außerdem wurden noch 350000 kg Eisen zum Aufbau des Turmes verwendet. In dem Fahrkorb, der von acht mächtigen Stahldrahtseilen gehalten wird, können 60 Personen befördert werden; er hat einen Durchmesser von 12 m und wird durch ein Gegengewicht von 38000 kg, das aus Bleiplatten besteht, im Gleichgewicht erhalten. Zur Bewegung der fast 1500 Centner wiegenden Last dienen Elektromotoren, welche 40 Pferdekräfte entwickeln.

Wenn die elektrische Turmbahn die Schaulust in hohem Maße befriedigt, so ist eine andere Erfindung, die Wasserbahn, wohl geeignet, das Entzücken derjenigen hervorzurufen, die ihrem Vergnügen gern etwas Uebermut beizumengen pflegen. Im Vergnügungsparke der Berliner Ausstellung lag das Wirtshaus zur Alm. Von seinen geschnitzten Balkons aus konnte der Besucher erstaunt oder belustigt auf ein merkwürdiges Schauspiel herabschauen, das durch unsere Abbildung auf S. 716 vergegenwärtigt wird. An einer künstlichen „Gebirgswand“ erhebt sich unter bedeutender Steigung eine 36 m lange Bahn bis zur Gipfelhöhe von 12 m. Der Neugierige, der die Wunder der Wasserbahn an seinem eigenen Leibe erfahren möchte, besteigt ein Boot am See und wird mit wenigen Ruderschlägen der auf unserm Bilde am Drahtgitter befindlichen Stelle zugeführt, von der aus ein Fahrstuhl das Boot in die Höhe trägt. Außerdem führt eine Treppe zum obersten Stockwerk der Bahn. Das Boot besitzt vier am Rande ausgekehlte Rollen und bildet gewissermaßen den Uebergang zwischen Land- und Wasserfahrzeugen. Auf der Höhe des Fahrstuhles setzen die Bootsrollen in Schienen ein und dann saust das Fahrzeug mit großer Geschwindigkeit in die Tiefe. Mit gewaltigem Geräusch und wildem Aufschäumen des Wassers stürzt es endlich in den See. So ist hier die Wasserbahn mit der Rutschbahn verbunden.

Viel wichtiger ist die dritte Bahn, die wir unseren Lesern vorführen: die elektrische Stufenbahn, die zuerst auf der Weltausstellung in Chicago und dann auch auf der Berliner Gewerbeausstellung in Betrieb gesetzt wurde. In ihr haben wir keine bloße Spielerei vor uns, sondern vielmehr ein neues [715] Beförderungsmittel, das nach Ansicht vieler Fachmänner berufen sein dürfte, den Verkehr in den Großstädten noch vollkommener zu gestalten.

Hauptportal
W. Stöwer

Ansicht eines Wagens

Querschnitt der Plattform

Die kleine Versuchsanlage in Berlin machte im Aeußeren auf den ersten Blick den Eindruck eines Riesenkarussells. (Vgl. die nebenstehende Abbildung.) Bestieg man den Perron, so hatte man vor sich eine sehr große Zahl von Bänken, die sich in weiter in sich selbst geschlossener Kurve immer nach der gleichen Richtung und mit derselben Geschwindigkeit bewegten. Diese Bänke eilen dahin mit der Schnelligkeit unserer elektrischen Straßenbahnen und halten gar nicht an. Trotzdem können Fahrlustige dieselben mit aller Bequemlichkeit besteigen oder verlassen. Dies ist infolge einer sinnreichen Einrichtung möglich. Betrachten wir die Anlage der Stufenbahn genauer, so sehen wir, daß sie aus zwei Plattformen besteht. Die erste, die nach innen zu gelegen ist, bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von 5 km in der Stunde, also ebenso schnell wie ein gut vorwärts schreitender Fußgänger. Die zweite, die den äußeren Ring bildet, liegt einige Centimeter – eine Stufe – über der ersten und eilt ununterbrochen doppelt so schnell, also 10 km in der Stunde dahin. Es ist nun klar, daß es überaus leicht ist, die erste langsam fortschreitende Plattform zu besteigen oder zu verlassen, sobald man sich nur in der Fahrtrichtung hält. Mit derselben Bequemlichkeit können wir ja auch einen nicht zu geschwind dahinfahrenden Trambahnwagen besteigen oder von ihm abspringen. Steht nun der Fahrgast auf der inneren Plattform, so bewegt er sich mit dieser fort, sein Körper hat bereits eine Geschwindigkeit von 5 km in der Stunde und die äußere, mit Bänken besetzte Plattform läuft für ihn eigentlich nur mit einer Geschwindigkeit von gleichfalls 5 km in der Stunde vorwärts. Sobald also der Fahrgast in der Fahrtrichtung fortschreitet, kann er mit derselben Gemächlichkeit die schneller kreisende Plattform besteigen. In gleicher Weise wird auch das Verlassen der Bahn erleichtert.

Sehr originell ist der innere Mechanismus der Stufenbahn. Um ihn zu verstehen, wollen wir zunächst die Bewegung eines gewöhnlichen Wagenrades beobachten. Der Wagen steht still auf der Straße. Wir machen auf ihm mit der Kreide zwei Punkte, den einen auf der Wagenachse, den anderen am äußeren Umfang des Rades, am Radkranze. Nun setzen wir den Wagen in Bewegung, das Rad rollt und wir beobachten die Punkte. Wir bemerken sofort, daß der Punkt am Radkranze doppelt so schnell sich bewegt als der an der Achse; denn während die Achse nur in der Richtung der Straße fortschreitet, legt der Punkt am Radkranze zwar dieselbe Strecke zurück, beschreibt aber zu derselben Zeit noch einen Kreis um die Achse. In der Stufenbahn werden nun die Bewegungen der Achse und des Radkranzes für sich getrennt ausgenutzt.

Auf der Stufenbahn.
Nach einer Originalzeichnung von W. Stöwer.

Das geschieht in folgender Weise. Die Stufenbahn hat zunächst ein Schienengeleise wie die gewöhnlichen Bahnen. Auf diesen Schienen sind nun vierrädrige Wagen aufgestellt, die dicht aneinander gekoppelt sind und durch Elektrizität fortbewegt werden. Die Radkränze sind ausgekehlt, so daß sie die Schienen umfassen. Auf den Achsen dieser Wagen ruhen Gerüste, die nach der Innenseite der Bahn überstehen (vergl. oben die Abbildung „Querschnitt [716] der Plattform“). Dieselben tragen die einzelnen Platten, aus denen sich die innere Plattform zusammensetzt. Diese Gerüste haben, wenn die Wagen fahren, die Geschwindigkeit der Achse und diese beträgt bei unserer Stufenbahn 5 km in der Stunde.

Der Aufbau der äußeren Plattform gestaltet sich im wesentlichen folgendermaßen. Wir haben zunächst für dieselbe ein Geleise, das aus zwei ineinandergeschlossenen, endlosen, aber aus einzelnen Stücken zusammengesetzten Schienen besteht. Diese Schienen liegen oben in den Kehlen der Wagenräder. Setzen wir nun die elektrischen Wagen in Bewegung, so werden auch die Schienen durch die Reibung an den Radkränzen fortbewegt, sie laufen darum auch doppelt so schnell als die Achsen; bei der Stufenbahn also mit einer Geschwindigkeit von 10 km in der Stunde. Auf diesem Schienengeleise sind nun die Platten befestigt, die sich zu der äußeren schneller kreisenden Plattform zusammenfügen. Die von uns abgebildete Stufenbahn setzte sich aus 122 Wagen und 124 Einzelplatten zusammen; ihre Gesamtlänge betrug 500 m.

Die Wasserbahn in der Berliner Gewerbeausstellung.
Nach einer Originalzeichnung von W. Stöwer.

Würde nun die Stufenbahn, falls sie im großen ausgeführt werden sollte, sich nutzbringend erweisen? Für verkehrsreiche Großstädte ist die Frage ohne Zweifel zu bejahen. Auf den Linien unserer Straßenbahnen verkehrt nur in Pausen von mehreren Minuten ein Wagen und hält nur an bestimmten Punkten. Das sind Uebelstände, die für das eilige Publikum mit Zeitverlusten verbunden sind. Die Stufenbahn ist frei von den genannten Uebelständen. Sie rollt unaufhörlich, zu jeder Zeit, an jedem Punkte der Strecke kann sie bestiegen oder verlassen werden. Fürwahr, ein idealeres Beförderungsmittel läßt sich kaum denken! Aus Rücksicht auf den Verkehr könnten Ringbahnen nach diesem System natürlich nur als Hoch- oder Tiefbahnen ausgeführt werden. F. B.     


Der laufende Berg.

Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer.

 (18. Fortsetzung.)
Während Vroni und Mutter Katherl in den Hausflur traten, ging Mathes mit dem Vater zum Stall; sie lösten die beiden Ziegen von den Stricken, nahmen der Kuh die Kette ab, öffneten das Gitter des Hühnerkäfigs und banden die Stallthür offen an die Mauer fest, damit die Tiere in drohender Gefahr einen freien Weg zu ihrer Rettung hätten.

Als sie in die Stube kamen, in welcher die Hängelampe brannte, fanden sie den Tisch bestellt.

„Geh’, Michel,“ sagte Mutter Katherl, „thu’ noch ein Bröserl essen! Hast ja seit Mittag kein’ Bissen nimmer g’habt! Völlig schwach mußt sein … und ’s lange Beten, wenn man richtig dabei is, strengt ein’ doch auch noch ein bißl an.“

Sie bekreuzten sich und nahmen am Tische Platz. Schweigend tranken sie die Milch, kauten langsam das schwarze Brot und schnitten kleine Stücke von dem Rauchfleisch, das Mutter Katherl aus dem Kamin geholt hatte. Während Michel aß, blickte er fortwährend in der Stube umher, prüfte sorgenvollen Blickes die Decke und strich mit der Hand ein paarmal über die weiße Mauer.

Die Mahlzeit währte nicht lange.

„So!“ Michel erhob sich. „Fangen wir halt an!“

„Vater? Soll ich Dir ’s Büch’l holen?“ fragte Vroni.

„Dank’ schön! Na! Das brauch’ ich net!“ Michel hatte in all diesen Wochen der Gefahr die Litanei zur Gottesmutter schon so oft gesprochen, daß er sie auswendig wußte.

Seufzend drückte er die steifen Kniee zu Boden und faltete über dem Tisch die Hände. Sein Weib kniete neben ihm, und hinter ihnen, mitten in der Stube, knieten ihre Kinder.

Michel machte mit schwerer Hand das Zeichen des Kreuzes und betete vor:

„Herr, erbarme Dich unser!“

„Erbarme Dich unser!“ fielen die anderen ein; ihre Augen hingen an der niederen Decke, und inbrünstige Andacht sprach aus dem bebenden Klang ihrer Stimmen.

„Christus, erbarme Dich unser!“

„Erbarme Dich unser!“

„Gott Vater vom Himmel, Gott Sohn, Erlöser der Welt, Gott heiliger Geist!“

„Erhöre uns!“

„Du heilige Maria!“

„Bitt’ für uns!“

„Heilige Gottesgebärerin!“

„Bitt’ für uns!“

„O Mutter Christi … Du gute, Du!“

„O bitt’ für uns!“

So beteten sie weiter, Ruf um Ruf, in heißer Andacht und zitterndem Hoffen.

Als Michel zu der Stelle kam: „Du Pforte des Himmels, du Morgenstern!“ – da versagte ihm die Stimme; denn ein dumpfes Dröhnen tönte durch die Nacht und rollte über das Haus hinweg – es klang, als hätte man auf der Höhe des Berges den Schuß einer riesigen Kanone gelöst.

Mathes erhob sich, während Mutter Katherl sich erbleichend an den Arm ihres Mannes klammerte.

„Sorg’ Dich net! Na! Thu’ Dich nur gar net sorgen!“

[717]

Copyright 1895 by Franz Hanfstaengl in München.
Ein Nimmersatt.
Nach dem Gemälde von Hermann Kaulbach.

[718] stammelte Michel. „Das macht uns nix! Das muß ganz droben g’wesen sein in der Höh! Der Boden hat sich net g’rührt bei uns, und kein bißl net hat ’s Häusl ’zittert! Das hätt’ ich ja spüren müssen … da hab’ ich ein G’fühl dafür, ein ganz ein feines! Thu’ Dich net sorgen, Mutter! Beten wir weiter! Und nur recht fest einfallen, Kinder! Recht fest!“ Zähren erstickten fast seine Stimme, als er wieder die Litanei aufnahm: „Du Pforte des Himmels! Du Morgenstern!“

„O bitt’, o bitt’ für uns!“ fielen die anderen ein, und ihre Stimmen klangen wie ein vereinter Schrei um Hilfe.

„Du Heil der Kranken!“

„Bitt’ für uns!“

„Du Trösterin der Betrübten!“

„Bitt’ für uns!“

„Geh, sei doch so gut und thu’ doch für uns ein bißl, grad’ ein bißl was … Du Hilfe der Christen, Du!“

„O bitt’ für uns!“ riefen die Mutter und Mathes, während Vroni sich zitternd erhob. „Vater! Vater!“ stammelte sie. „Hörst denn das g’spaßige Sausen net, droben in der Höh’! Kann’s denn ein Wetter sein, was aufzieht?“

„Thu’ beten, mein Madl! Thu’ net ums Wetter fragen … ein Wetter thut uns nix!“ Michel hob die verschlungenen Hände gegen die Decke. „Du Königin der Engel!“

„Bitt’ für uns!“

„Du Königin der Propheten!“

„O bitt’ für uns!“

Wie ein Frühlingssturm, der mit Toben und Brausen über die Berge fährt, so klang es durch die Nacht von der Höhe der fernen Almen herunter, immer deutlicher, immer näher dem bedrohten Haus.

„Du Königin der Apostel!“ betete Michel mit versagender Stimme, zitternd an all seinen müden Gliedern. „Königin der Märtyrer!“

„O bitt’, o bitt’ für uns!“

„Du Königin der Jungfrauen! Königin aller Heiligen!“

„Bitt’ für uns!“ fielen Vroni und die Mutter ein, während Mathes aufsprang, vor Erregung bleich bis in die Lippen. „Vater! Vater! Ja hörst denn net?“ Mit beiden Händen umklammerte er den Arm des Vaters. „Das kann ja kein Wetter net sein! So thut kein Sturm! Hör’ an, Vater, so hör’ doch an! Das thut ja, als ob ’s ein Wasser wär’ …“

„Wasser…“ stotterte Michel. Dann war lautloses Schweigen in der Stube, und mit verhaltenem Atem lauschten sie alle.

Da hörten sie es deutlich, dieses dumpfe Strömen und Rauschen, das über die Gehänge des laufenden Berges niederkam. Jetzt klang es schon ganz in der Nähe … jetzt war ’s, als hätt’ es den Garten schon erreicht … jetzt ging es mit dem Tosen eines mächtigen Wasserfalles zur Linken und Rechten des kleinen Hauses vorüber und jagte dem Thal entgegen. Und mitten in diesem dumpfen Brausen hörte man, wie freundliches Kinderplaudern, das helle Glucksen und Geplätscher der kleinen Wellen, die gegen den Sockel der Mauern schlugen.

„Heilige Mutter!“ schrie Michel wie von Sinnen und raffte sich auf. „’s Wasser is da! ’s Wasser! ’s heilige Wasser!“ Nach Atem ringend fuchtelte er mit den Armen, und in seiner jäh erwachten Hoffnung und Freude stürzten ihm die Thränen aus den Augen, „’s Wasser is g’stiegen aus der Tief’! ’s Wasser is wieder am Licht! ’s Wasser hat uns g’holfen … und die heilige Mutter!“ Seinen Buben beiseite stoßend, rannte er zur Thüre und eilte hinaus in die von rauschendem Lärm erfüllte Nacht.

Als ihm Mathes mit stammelnden Worten folgte und Vroni und die Mutter ihm schluchzend nachliefen, hörten sie ihn bald im Hof und bald ihm Garten schreien: „Ja schauts doch das Wasser an! Das schöne Wasser! Das viele Wasser! Meiner Lebtag’ hab’ ich so viel Wasser noch net g’sehen!“

Rauschende Bäche, deren tanzender Schaum auch in der dunklen Nacht noch weißlich schimmerte, sprudelten von allen Seiten über die steile Böschung nieder und überschwemmten fußhoch den ganzen Hofraum, während die größeren Massen des aus dem Inneren des Berges hervorgebrochenen Wassers brausend ihren Weg durch die das Gehöft begrenzenden Mulden und Gräben nahmen.

„Michel! Michel! Wo bist denn?“ rief Mutter Katherl mit Schluchzen. Und Mathes und Vroni schrieen: „Um Gottswillen! Vater! So komm’ doch!“

Bis zu den Hüften von Wasser triefend, lachend und weinend, kam er aus einem der Sturzbäche hervorgestiegen und ließ sich zur Hausthür führen. Da machte er seine Hände wieder frei und fuchtelte.

„Mutter! Kinder! ’s Wasser is wieder da! Jetzt können wir ausschnaufen! Unser Häusl is g’sichert jetzt! Das hat ja die Kammissoni g’sagt: wenn ’s Wasser wieder steigt, so muß er sein Laufen einstellen, der närrische Berg! Der! Hat g’meint, er kann treiben, was er will! Jetzt hat er aber doch eine g’funden, die noch ein bißl stärker is als er! … Katherl! Kinder! Kommts her!“ Die Freudenthränen erstickten seine Stimme fast. „Jetzt sagen wir aber gleich der Gottesmutter unser Vergeltsgott! Aber recht ein fest’s!“

Sie wollten ihn in die Stube ziehen, aber er that es nicht anders: inmitten des den Hofraum überschwemmenden Wassers warf er sich auf die Kniee nieder und lallte das Salve Regina, in dessen Worte er das Gestammel seines eigenen Dankes mischte:

„‚Gegrüßt seist Du, Königin, Mutter der Barmherzigkeit, unser Leben, unsere Süßigkeit und Hoffnung, sei gegrüßt!’ … Schau, tausendmal sag’ ich Dir Vergeltsgott, Hunderttausendmal, daß Dich ein bißl ang’nommen hast um Dein’ alten Michel und sein Häusl! … ,Zu Dir rufen wir Kinder Evas, zu Dir seufzen wir Trauernde und Weinende in diesem Thal der Zähren!’ … Und schau, ich will Dir’s danken, daß D’ mich g’hört hast, danken mein Leben lang! Und so oft ich’s auf meine alten Tag’ noch anschau’, mein Häusl, mein liebs, will ich mir sagen: das hat Dir die Himmelsmutter geschenkt! … ,O Du, unsere mächtige Fürsprecherin, wende Deine barmherzigen Augen auf uns!’ … No freilich hast Deine gütigen Augen g’wendt auf uns! Und schau, vergelten will ich Dir’s nach meiner schwachen Kraft! An die hundert Markln hab’ ich mir g’spart! Die g’hören Dir ganz! Da b’halt’ ich kein’ Pfennig davon! Dein heiligs Bildl will ich schön g’wanden lassen! Und wächserne Kerzln zünd’ ich Dir an, Tag für Tag eins, bis sie sich jähren thut, die heutige Freudennacht! … ‚O Du gütige, o milde, o süße Jungfrau Maria!‘“

Taumelnd erhob er sich, umhalste unter Thränen sein Weib und seine Kinder, riß sich los von ihnen und watete wieder in einen der schäumenden Bäche hinein. „Das Wasser schauts an, das schöne Wasser!“ Lachend, wie ein Berauschter, griff er mit beiden Armen in das Gesprudel, als hätte er kein köstlicheres Gut an sein Herz zu drücken als diese tanzenden Wellen.

In Sorge jammerte Mutter Katherl über diese „Narretei“, und Mathes mußte hinzuspringen, um den Vater mit Gewalt aus dem kalten Sturzbad herauszuziehen: fast hätten die schießenden Wellen den von Mühsal und Freude Entkräfteten zu Boden geworfen.

Sie führten ihn in die Stube und Vroni lief, um ein trockenes Gewand für ihn zu holen.

Als er umgekleidet war, merkte er schon die Erkältung, die er sich in dem eisigen Schneewasser geholt hatte. Er mußte niesen.

Mutter Katherl schlug vor Schreck die Hände über dem Kopf zusammen. „No also, schau, jetzt hast Dich richtig verkühlt!“

„Macht nix, Mutterl!“ wollte er sagen. Aber da mußte er wieder niesen, gleich ein paarmal. Und als es vorüber war, lachte er: „Helf’ Gott, daß ’s wahr is!“


15.

Das dumpfe Rauschen der Bäche, die sich über die Gehänge des laufenden Berges in das Thal hinunterstürzten, weckte im Dorf die Bauern aus dem Schlaf und ließ sie mit Sorge an ihre Felder denken. Ehe der Tag noch anbrach, eilten sie schon mit Spaten und Pickeln aus allen Häusern.

Als der Daxen-Schorschl, der nach seiner schweren Tagesarbeit einen festen Schlaf gethan, in der ersten Dämmerung des klaren Frühlingsmorgens das Thor seiner Werkstätte öffnete, sah er auf der Straße die Leute rennen.

„He! Was is denn?“ fragte er.

„Auf dem närrischen Berg da droben is ’s Wasser wieder ausbrochen!“ rief man ihm zu. „Die ganzen Felder herunt’ überschwemmt’s, und droben reißt’s die halbe Simmerau davon!“

„Mar’ und Josef! ’s Wasser wird mir ja doch da droben das Madl net mitreißen?“ stotterte Schorschl im ersten Schreck. Dann rannte er um die Hausecke und spähte im Zwielicht des Morgens gegen die Simmerau hinauf. Was er gewahrte, weckte ein Gefühl in ihm, als hätte sich eine eiserne Klammer um sein Herz gelegt. Am vergangenen Abend, als vor dem Schlafengehen seine Blicke in einer Sehnsucht, die er sich selbst nicht hatte eingestehen wollen, suchend über die dämmrige Höhe emporgeglitten waren, hatte er, das kleine braune Dächlein mitten im welken Grün der Halden [719] und zwischen den braunen Schrunden des laufenden Berges liegen sehen. Und jetzt war alles weiß dort oben! Als wäre seit dem Abend neuer Schnee über die Simmerau gefallen! Aber dieser weiße Schnee schien Leben und Füße zu haben: er bewegte sich, er rieselte und schob sich durcheinander, machte Buckel wie eine flüchtige Natter und schlug einen Purzelbaum um den anderen wie ein ausgelassener Junge. Und dumpfes Rauschen klang im windstillen Morgen von der Höhe nieder, als wäre dort oben ein Mühlenrad mit hunderttausend Schaufeln in Bewegung.

„Jesus Maria! Das arme Madl da droben!“ stammelte Schorschl mit erblaßtem Gesicht. „Jesus Maria! Der narrische Berg, der is ja bloß g’laufen …, aber das Wasser, das rennt ja umeinander wie b’sessen! Jesus Maria! Das arme Madl!“

In dieser brennenden Sorge nahm sich der Daxen-Schorschl nicht mehr die Zeit, mit dem gewohnten Blick die Kratznarben auf seiner Hand zu betrachten. Er machte Sprünge wie ein Hirsch, der den Tritt des Jägers hörte. In der Werkstätte riß er einen schweren Eisenpickel aus der Ecke, und durch alle Räume des morgenstillen Hauses tönte seine gellende Stimme: „G’sellenleut’! He! G’sellenleut’! Da her zu mir! Pressieren thut’s!“ Er wartete nur, bis die beiden Gesellen kamen – – nicht, bis sie fertig waren. „Nur g’schwind, um Christiwillen! Laßts alle Arbeit liegen! Nehmts Pickeln und Schaufeln und laufts mir nach! G’schwind, sag’ ich! Geschwind! Jesus Maria! Das arme Madl!“ Er schwang den Pickel auf die Schulter und stürzte davon, ohne Hut und Joppe.

„He! Meister! Wohin denn?“ riefen die Gesellen. „Das müssen wir doch auch noch wissen!“

„Dalkete Dippeln übereinander!“ schrie Schorschl in hellem Zorn über die Schulter zurück, ohne seinen Sturmschritt zu verhalten. „In d’ Simmerau! Wohin denn sonst? Wie kann denn da ein Mensch noch fragen!“

Er eilte weiter, immer mit dem Blick in der Höhe, stolperte in seiner blinden Hast über jede Wasserfurche des Weges, rumpelte bei jeder Ecke gegen die Zäune und rannte die Straße hinunter, daß er schon außer Atem war, als er den Fuß des Berges erreichte. Keuchend hetzte er über den schief ziehenden Fußsteig empor, bis der Pfad unter den sprudelnden Bächen verschwand, die auf dem kreuz und quer zerklüfteten Berghang nach allen Seiten hin ihre Wege suchten: droben in der Höhe schimmerten sie weiß, hier unten aber waren sie gelb von all der Erde, die sie aus den Schrunden des Berges hervorgewaschen hatten und mit sich hinunterführten ins Thal, dessen Moorwiesen und Saatfelder in einen grauen See verwandelt waren. Schorschl verirrte sich in dem Netzwerk dieser mit jedem Augenblick sich verändernden Wassergassen und mußte, um wieder den Ausweg zu finden, hier einen Bach überspringen und dort eine breite Rinne durchwaten. Wenn er die Heubüschel, die geknickten Ruten und die zersplitterten Balkenstümpfe sah, die mit dem Schaum der Wellen von der Simmerau herunterschwammen, brach er immer wieder in den Stoßseufzer aus: „O mein Gott, mein Gott, das arme Madl! Alles reißt’s ihr davon!“

Erschöpft, von Schweiß und Wasser triefend, erreichte er die Nähe der Simmerau und gewahrte gleich den Schaden, den der letzte Erdrutsch und die fressenden Wellen an der Scheune angerichtet hatten.

„Mar’ und Josef! Der ganze Stadel is hin! Jetzt hat das Madl kein’ Stadel nimmer!“

Noch sah er keine Leute; doch im Lärm der Wellen hörte er die Stimmen des alten Simmerauer und seines Sohnes. Aufschnaufend hielt er inne und lauschte.

„Daß ich ’s Madl net hör! ’s Madl! ’s Madl!“

Plötzlich vernahm er die Stimme Vronis.

Jetzt hab’ ich’s gehört!“ Mit diesem Jubelruf sprang er so flink über den steilen Hang empor, daß ihm das Wasser der Pfützen, in die er trat, bis über den Kopf emporspritzte. Auf einem der Bäche, die an der Scheune vorübersprudelten, sah er ein langes Brett daherschwimmen. „Wart’ ein bißl, du! Das Madl braucht ihre Bretter!“ rief er, jagte mit hurtigen Sprüngen hinter dem schwimmenden Brett her, riß es aus den Wellen und trug es an eine sichere Stelle.

Als er in brennender Erregung und dennoch mit befangener Scheu den Hofraum betrat, war Michel der erste, der ihn kommen sah.

„Jeh, da schau! Da kommt der Daxen-Schorschl! Und den Pickel bringt er auch gleich mit!“ rief der Alte in heller Freude. „Grüß Dich Gott, Schorschl! Grüß Dich Gott tausendmal!“

Bei diesem Ruf ließ Vroni, die neben dem Brunnen einen Graben ausschaufelte, den Spaten sinken und fuhr mit dem Kopf in die Höhe. Sie sprach kein Wort und hatte nicht einmal einen stummen Gruß für den jungen Schmied, der bei ihrem Vater stand und mit scheuen Augen zum Brunnen herüberblinzelte. Aber die Röte, die auf ihren Wangen brannte, vertiefte sich noch, als Mathes ihr mit müdem Lächeln zuflüsterte: „Gelt, ich hab’ recht g’habt, daß er kommt?“

Tiefatmend nickte sie vor sich hin und begann die Arbeit wieder.

Schorschl schien wie auf Kohlen zu stehen; es zog ihn zum Brunnen, aber Michel hatte ihn beim Hemdärmel gefaßt und wollte nicht loslassen.

Erst mußte der Alte ein paarmal niesen, bevor er lachend sagen konnte: „Schau Dir an, Schorschl! Was sagst! Das Wasser umeinander! Das viele, schöne Wasser! Und alles reißt’s davon … den halben Stadel, die Bretter und Balken, den ganzen Boden im Garten … alles reißt’s mit ’nunter! Kruzifix noch einmal! Schau Dir nur an, wie alles schwimmt!“

Das sagte Michel mit so strahlendem Vergnügen, daß Schorschl den Alten erschrocken anstarrte und in Verblüffung stotterte: „Jesses! Michel! Was hast denn? Bist überg’schnappt? Oder hast ein’ Schwammer?“

„Ein’ Schwammer bloß?“ erwiderte der Simmerauer zwischen Lachen und Niesen. „Ah na! Ein’ ganzen Rausch hab’ ich! Ein’ ausg’wachsenen! Ja! Aber vom Wasser, weißt! Vom Wasser! Schau nur an, wie’s arbeit’t, das Wasser! Aber dem Häusl kann’s net an! Na na! Mein Häusl hat g’sunde Mauern! Dem hat der Berg mit seiner ganzen Lauferei nix machen können … dem kann auch ’s Wasser net an! Hatschiiiiih!“ Wäre die Sonne, welche die östlichen Grate vergoldete, schon in der Höhe gewesen, es hätte um Michels Nase her den schönsten Regenbogen gegeben.

„Aber helfen muß man dem Häusl halt, schön fleißig helfen, ja! Und gelt, Schorschl, hilfst mir ein bißl mit, daß wir ’s Wasser in die Gräben ’nüberdrucken?“

„No freilich, Michel! Deßwegen bin ich ja da! Und gleich pack’ ich’s an! Wo kannst mich denn brauchen?“

„Komm nur her da!“

Schorschl wollte den Pickel fassen, doch er zögerte und sah mit ratlosem Blick zum Brunnen hinüber. Es war ihm jener Herbstmorgen eingefallen, an welchem er dem Simmerauer mit so ehrlichem Willen seine Hilfe angeboten hatte – und da klangen ihm wieder Vronis zornige Worte im Ohr: „Na, Vater! Wenn wir allein unser Häusl net halten können … der hilft’s uns g’wiß net halten! Dem lauft ja ’s eigene Haus davon! Was der anrührt, schwimmt ’nunter in’ Bach! Der hat keine guten Händ’! Bleiben wir lieber allein, Vater!“

Schorschl wurde bei dieser Erinnerung rot wie ein Krebs und kraute sich unschlüssig hinter den Ohren.

„So geh’, Schorschl, mach’ weiter!“ rief der Simmerauer, während Mathes kam, um dem Daxen-Schorschl zum Gruß die Hand zu reichen.

Den schweren Atem durch die Nase blasend, spähte Schorschl ins Thal hinunter, in welchem das Dach seiner Schmiede mit dem spitzen Giebel deutlich hervorstach zwischen den anderen Dächern.

Dieser Anblick schien ihm Mut zu machen. Mit dem Ellbogen schob er die Hand zurück, die ihm Mathes reichte, und machte ein paar Schritte gegen den Brunnen.

Noch immer kehrte ihm Vroni den Rücken zu; sie schien nicht zu merken, was hinter ihr vorging, und arbeitete mit solcher Hast, als wäre für die Rettung des Hofes kein Augenblick zu verlieren.

„He! … Du! … Madl!“ klang es mit würgenden Lauten aus Schorschls Kehle.

Vroni ließ den Spaten ruhen und blickte langsam auf.

Als Schorschl diese glänzenden Augen sah, blies er die Backen auf, als ob ihm schwül wäre, und fragte kleinlaut: „Geh, sag’ … verlaubst mir’s denn, daß ich ein bißl mithilf’?“

Der Simmerauer machte große Augen, stemmte kopfschüttelnd die Fäuste in die Hüften und wandte sich zu seinem Buben: „Was treibt er denn da? Hab’s ihm ja ich schon verlaubt! Warum muß er denn erst noch ’s Madl fragen?“

„No mein’,“ flüsterte ihm Mathes zu, „haben thun s’ halt was miteinander, die zwei!“

„Ah! Da schau Dir an!“ Michel mußte niesen. Dann fuhr er sich mit dem Hemdärmel über die Nase und wiegte schmunzelnd [720] den weißen Kopf. „No ja … wär’ gar net einmal so übel … mein Madl und der Schmied! Jetzt hat er sein’ Sach’ wieder nobel bei ’nander!“ Mit vergnügten Augen musterte er das Paar und war sichtlich gespannt, was jetzt geschehen würde.

Vroni hatte den Spaten in die Erde gestoßen, und, sorgfältig die Hände an der Schürze säubernd, ging sie auf den Daxen-Schorschl zu. Wie hübsch sie war: mit diesem leuchtenden Blick in den nußbraunen Augen, mit dieser glühenden Röte auf den von der Arbeit erschöpften Zügen!

„Grüß Dich Gott, Schorschl!“ sagte sie beklommen und bot ihm die Hand, die er mit seinen schwieligen Rußpranken haschte, wie der Geier den Hasen greift. „Und ja, ich thät Dich schon selber recht schön drum anreden, daß dem Vater ein bißl hilfst! Ja … schau, auf Deine Händ’ liegt der Segen,“ sie hob die glänzenden Augen zu ihm auf, und herzliche Bitte lag in diesem Blick, „und solchene Händ’ sind allweil gut zur Hilf!“

Schorschl hielt zitternd die Hand des Mädchens umklammert, lachte nur immer wie ein unbehilfliches, verlegenes Kind und brachte kein Wort über die Lippen.

„Der is ja rein wie’s Staarl, eh’s reden kann!“ meinte der Simmerauer mit Schmunzeln. „Dem muß ich wohl ’s Züngerl lösen?“

Aber Mathes zog ihn am Aermel zurück. „Geh, Vater, laß die zwei ihr Sach’ allein miteinander ausmachen!“

„Ja, hast recht!“

Michel griff nach der Schaufel, nieste ein paarmal und nahm die Arbeit wieder auf. Da hörte er hinter sich zwar noch immer kein Wort aber einen klingenden Jauchzer und platschende Sprünge im nassen Schlamm. Und plötzlich stand der Daxen-Schorschl mit dem Pickel neben ihm, lachend über das ganze Gesicht, mit knallroten Wangen und blitzenden Augen.

„So, Vaterl, jetzt packen wir’s an!“ sagte er und that mit dem Pickel den ersten Streich. „Wart’ nur, das Luderwasser wollen wir bald unterkriegen!“

Schorschl begann zu arbeiten, daß der Simmerauer ein paarmal mahnen mußte: „Geh, thu nur net gar so narrisch!“ Aber in Schorschls Fäusten schien im besten Sinn des Wortes der „Loder“ lebendig geworden, von dem es in den Lumpen-G’stanzeln seligen Angedenkens hieß, daß er zwanzigmal im Tag das Unterste zu oberst kehrt. Er drosch mit dem Pickel drauf los, daß sich mit jedem Riß des Eisens der das Gehöft begrenzende Wassergraben, in welchen die den Garten überschwemmenden Sturzbäche geleitet werden sollten, um einen guten Bauernschuh erweiterte. So oft er für einen Augenblick die Arbeit unterbrach, um sich mit dem Aermel über die Stirn zu wischen, blinzelte er seelenvergnügt zum Brunnen hinüber, von wo ihm Vroni lächelnd zunickte.

Die Sonne kam hinter den schattigen Felsengraten emporgestiegen, ein warmes Leuchten goß sich über den blauen, wolkenlosen Frühlingshimmel aus, breite Fluten goldenen Morgenlichtes schwammen über die Gehänge des zur Ruhe gekommenen Berges hernieder und spielten schmeichelnd um die von den Wellen umrauschten Mauern des kleinen Hauses. Alle die Sturzbäche schienen in blitzendes Silber verwandelt, jeder Tümpel spiegelte das Himmelsblau, und während von der Sonnenwärme die feuchten Flecken am Sockel des Hauses zu trocknen begannen, kräuselten sich die zarten, bläulichen Wasserdünste spiegelnd an den Mauern empor.

Dieses Schimmern und Gleißen der Morgensonne goß den von der Arbeit Erschöpften neue Kraft und frischen Mut ins Herz und in die Glieder. Nur der alte Michel hatte über die Sonne zu schelten, denn dieses Glitzern und Blenden machte ihn niesen und immer wieder niesen, so daß ihm die Nase schwoll wie ein gebratener Apfel.

Schorschl stand fast eine Stunde schon bei der Arbeit, als seine Gesellen endlich kamen. Sie brachten aus dem Dorf noch ein paar andere Helfer mit. Und da gab es nun bei rastlosem Schaffen ein Reden hin und her über allen Schaden, den der laufende Berg seit dem Herbste angerichtet, über die löbliche Thatsache, daß er „jetzt endlich ein bißl Verstand ang’nommen hat’“, und über die Gefahr, die das ausgebrochene Wasser drunten im Thal den frisch bestellten Saatfeldern gebracht hätte. Da bekamen sie nun in der Simmerau auch das erste Wort von dem Unglück zu hören, das am vergangenen Abend im Purtschellerhof geschehen war. Und der Jammer um das verlorene Kind, erzählte einer der Gesellen, wäre nicht der einzige, den die arme Frau dort unten zu tragen hätte. „Grad’ jetzt haben wir’s g’hört drunten: der Purtscheller geht ab seit gestern am Abend. Mit ’m Rennwagl is er ’neing’fahr’n in d’ Stadt, daß er sich stellt beim G’richt und sein Unglück zur Anzeig’ bringt. Aber mitten in der Nacht is sein Rößl daherkommen, ohne Wagen, mit der ab’brochenen Gabel und so schauderhaft zug’richt’t, daß man dem armen Tier gleich den Gnadenstoß hat geben müssen, damit man’s doch von seinen Leiden erlöst. Und in der Nacht noch hat sich d’ Frau mit all ihre Leut’ aufg’macht gegen d’ Stadt ’nein … den Purtscheller suchen!“

„Um Gott’swillen! Ja um Gott’swillen!“ stammelte Michel, dem dieser fremde Jammer zu Herzen ging wie eigenes Leid. „Die arme Linerl, die arme! Die muß sich ja gar nimmer z’helfen wissen vor lauter Prast und Kümmernis! Mathes, Mathes! Ja sag mir nur …“ Dem Alten erlosch vor Schreck die Sprache, als er seinen Buben ansah. Zitternd auf den Stiel der Schaufel gestützt, bot Mathes den Anblick eines Menschen, dem das Leben aus dem Herzen rinnt, wie Blut aus einer klaffenden Wunde.

Michel sprang auf ihn zu. „Mein Bub, mein lieber! Jesus Maria! Was is Dir denn’?“

Mathes starrte die Leute an, die um ihn her standen, und tonlos kam es über seine weißen Lippen: „Ich weiß net, Vater … so g’spaßig in die Knie’ ’nein is mir’s g’fahren … ich mein’ schier, ich muß ein bißl in d’ Stuben und muß mich niedersetzen!“

„Ja, Mathes! Ja, mein Bub! Geh’ nur ’nein gleich auf der Stell’! Schau nur an: hast Dir halt doch ein bißl gar z’viel zug’mut’t die ganzen Tag’ und Nächt’ her! Und jetzt noch so was anhören müssen! Da glaub’ ich’s freilich!“

Michel wollte den Wankenden stützen. Aber Vroni, welche mit bleichem Gesicht Vom Brunnen gekommen war, hatte schon den Arm des Bruders genommen. „Komm, Mathes, ich führ’ Dich ’nein ins Haus!“

Er stützte sich schwer auf ihren Arm, und seine Kniee taumelten, als müßte er niedersinken bei jedem nächsten Schritt. Mit entstelltem Gesicht und nassen Augen blickte er zur Schwester auf und stammelte: „’s Linerl, Vroni! … ’s Linerl! … Und das liebe, gute Kindl!“

Vroni schwieg: sie wußte keinen Trost für den Schmerz, der aus diesem verstörten Blick und aus diesen tonlosen Worten redete. Noch fester klammerte sie den Arm des Brnders an sich, während ihr die Thränen über die zitternden Lippen rollten.

Im Hausflur kniete Mutter Katherl mit durchnäßten Röcken auf den Dielen und suchte mit einer Holzkelle das Wasser aufzuschöpfen, das vom Hof herein über die Schwelle geronnen war und die Küche überschwemmte. Als die beiden kamen, erhob sich die alte Frau erschrocken. „Um Christi willen! Mathes? Was is Dir denn?“

„Nix, Mutterl! Thu Dich net sorgen!“ sagte Vroni mit erzwungener Ruhe. „Ein bißl ungut is ihm halt! Und jetzt grad’ haben wir hören müssen …“

Ein flehender Blick des Bruders machte sie verstummen.

Sie führte ihn in die Stube und zur Holzbank. Da saß er mit schlaff hängenden Armen, den Kopf an die Wand gelehnt. Mit erloschener Stimme sagte er ein Vergeltsgott zu allem, was die Mutter in ihrer Sorge für ihn that; er leerte das Gläschen Enzian, das sie ihm brachte, und aß den Bissen Brot, den sie ihm zwischen die Lippen schob. Und als sie fragte: „Is Dir schon besser, Bub?“ da nickte er und sagte: „Ja, Mutter! Ich mein’, jetzt kann ich dem Vater schon wieder helfen … er braucht mich, weißt!“

„Aber geh’, so thu Dir doch grad’ ein bißl Rast vergönnen!“

„Na na!“ Schwer atmend erhob er sich. „Es geht schon wieder!“ Als er vor die Hausthür trat, irrte sein Blick hinunter ins Thal. Rote, brennende Flecken erschienen auf seinen bleichen Wangen, und mit zitternder Hand fuhr er sich über die Stirn, wie um einen Gedanken zu verscheuchen, der ihn marterte.

„Wie geht’s Dir denn, Mathes?“ fragte der Vater.

„Dank’ schön, ja, es thut’s schon!“

„Aber magst net lieber bei der Vroni drüben schaffen? Da hast es leichter.“

Mathes schüttelte den Kopf und stellte sich neben Schorschl an die Stelle, wo es die schwerste Arbeit zu leisten gab.

In hartem Schaffen vergingen die Stunden des Vormittags. Dem rastlosen Kampf all dieser fleißigen Arme gelang es, die den Garten überschwemmenden Sturzbäche in die beiden Bergfurchen abzuleiten, welche die Simmerau zur Rechten und Linken begrenzten, und im Hof begann die Sonne schon den aus dem verrinnenden Wasser auftauchenden Grund zu trocknen.(Fortsetzung folgt.)


[721]

In der Ramsau.
Nach dem Gemälde von J. G. Steffan.

[722]

Skizzen aus deutschem Frauenleben in fremden Zonen.

Ein Haushalt in Argentinien.
Von Hertha Ika.

Wanderlust war seit jeher dem Deutschen eigen. Nach allen Weltteilen ergossen und ergießen sich Ströme deutscher Auswanderer und in die fernen fremden Länder ziehen mit ihren Männern viele deutsche Frauen, um mit ihnen das ersehnte Lebensglück zu erkämpfen und das unvermeidliche Leid zu tragen. Beim Wechseln der Heimat fällt der Frau das härtere Los zu. Der Mann findet sich eher in die fremden Verhältnisse; er bleibt zumeist bei seinem Beruf, in einem ihm wohlvertrauten Wirkungskreise.

Die Frau fühlt sich doppelt fremd in der Fremde, denn zumeist ist sie gezwungen, ihren Haushalt bis in die kleinsten Dinge nach einem neuen Muster einzurichten. Man muß eine Frau sein, um fühlen zu können, was das bedeutet. Das deutsche Heim läßt sich nicht über das Meer tragen, und wenn auch in den deutschen Häusern jenseit des Oceans deutscher Geist und deutscher Fleiß walten, so ist doch die Wirtschaft eine andere, und erst nach vielen Mühen und herben Enttäuschungen pflegt sich die Ausgewanderte in die ihr völlig ungewohnten Verhältnisse zu finden.

Auch ich war einmal eine solche; auch ich habe jenseit des Oceans als deutsche Hausfrau aus bürgerlichem Mittelstande mein Haus besorgen müssen. Meine deutschen Schwestern in der Heimat werden gewiß gerne zuhören, wenn ich aus meinen Erinnerungen schöpfe und ein wahrheitsgetreues Bild eines argentinischen Haushalts entwerfe.

Die Seereise ist beendet; hinter uns liegt der weite Ocean, der uns von der Heimat trennt. Wir sind nun inmitten des bunten, uns so fremdartigen Treibens in einer argentinischen Stadt, in Buenos Aires oder Rosario, auf der Suche nach einer Wohnung. Da erlebt die deutsche Hausfrau in der Regel ihre erste Ueberraschung. Die meisten Häuser sind hier dem Klima entsprechend leicht gebaut und einstöckig; doch vergebens suchen wir unter ihnen eins, das nach unserem Sinne eingerichtet wäre. Es sind Bauten mit flachen Dächern, 8 bis 9 m Front und 70 bis 80 m Tiefe. Durch die mit einem schweren eisernen Klopfer versehene Hausthüre tritt man in den Flur, von dem aus eine Thür zu dem einzigen nach der Straße gelegenen Zimmer, der sogenannten Sala, führt. An diese Sala schließen sich nun alle übrigen Zimmer hintereinander an. Dieselben haben sämtlich Verbindungsthüren untereinander und je eine Thür nach dem Hof, die, mit Glasscheiben versehen, die Stelle eines Fensters vertritt. Dieser gemauerte Hof, Patio genannt, bildet einen wahren Reiz des argentinischen Hauses. Er ist fast in allen Fällen mit den schönsten Blattpflanzen in Kübeln, mit Rosen, Jasmin, Jelängerjelieber etc. ausgeschmückt, er ist der Tummelplatz der Kinder, die dort unter Aufsicht der Mütter im Schatten spielen können, und auch das Lieblingsplätzchen der Hausfrau, wenn sie am Nachmittag, mit einer Handarbeit oder einem Buche versehen, die Kühle genießen will.

Die Anordnung der Zimmer in dem argentinischen Hause ist fast immer dieselbe: erst kommt die bereits erwähnte Sala, dann, etwa 2 m zurückgebaut, die Antesala oder das Entree, darauf je nach der Größe des Hauses 2 bis 3 Schlafzimmer und das Eßzimmer, das den Patio abschließt. Hinter dem Eßzimmer folgen, wiederum 2 m zurücktretend, die übrigen Räume, etwa noch ein Schlafzimmer, die Vorratskammer und die Küche, von welcher außen eine Treppe zu dem über der letzteren gelegenen Mädchenzimmer führt. Ein Staket oder eine niedrige, zierlich durchbrochene Mauer schließt den durch das Zurücktreten der hinteren Zimmer gebildeten zweiten Patio ab, der aber meistens schmucklos und nur mit Ziegeln gepflastert ist, während der erste häufig grau und schwarze Mosaik oder sonst hübsche viereckige rote Ziegelplatten aufweist, mit denen auch die Hausgänge meistens ausgelegt sind, während sämtliche Thürschwellen, die nach außen führen, stets aus Marmor bestehen. Ein solches argentinisches Haus macht bei erster flüchtiger Besichtigung wohl einen gefälligen Eindruck; freilich vermißt die deutsche Hausfrau sogleich Räume, die ihr unentbehrlich scheinen, wie einen Trockenboden für die Wäsche und – den Keller. Unterkellert ist keins dieser leichtgebauten Häuser; manchmal nur zeigt der Vermieter mit großem Stolze eine versteckte Luke mitten im Eßzimmer; beim Oeffnen derselben wird ein viereckiges dunkles Loch sichtbar, das den Namen Sotano, d. h. Keller, führt. Das Loch hat etwa 1½ bis 2 m im Geviert, ist ungefähr 1 bis 2 m tief und ganz entsetzlich dumpf, da es nicht ausgemauert ist. Nach unseren Begriffen ist ein derartiger Keller natürlich unbrauchbar. Für ein solches Haus von 5 bis 7 Zimmern werden nach deutschem Gelde etwa 90 bis 150 Mark monatliche Miete verlangt.

Wir sind handelseinig geworden und beziehen unser neues Heim. Da thut vor allem eine gründliche Reinigung dringend not. Die eingeborenen Frauen sind nicht gerade fleißig und geweckt und die Dienstboten unsauber; so fehlt es auch in den Häusern nicht an Ungeziefer, für dessen Vermehrung ja das Klima des Landes sehr günstig ist. Wegen dieser Plage weisen auch die Wände der meisten Häuser keine Tapeten, sondern nur einen einfachen Wasserfarbenanstrich auf. Dafür sorgen die Argentinier durch eine andere Einrichtung für Nistplätze dieser Plagegeister. In den besseren Häusern sind die Fußböden mit festgenagelten Teppichen belegt, die höchstens bei einem Umzuge aufgenommen und gründlich gereinigt werden. Was sich darunter ansammelt und fröhlich lebt, läßt sich leicht denken.

Eine weitere Ueberraschung erlebt die Hausfrau in der Küche. Ein Glück, wenn sie jemand zur Hand hat, der die Sache schon kennt, denn mit dem Herd und dem Feuer weiß sie nicht fertig zu werden. In der argentinischen Küche ist ein gemauerter Herd vorhanden, der aber nicht die entfernteste Aehnlichkeit mit den deutschen Kochöfen hat.

Es ist ein etwa 1 m breites und 2 bis 3 m langes Gemäuer, in welchem sich 2 bis 4 Vertiefungen befinden. In jeder derselben ist ein eiserner Rost eingelassen und unter diesem befindet sich eine Oeffnung zum Herausnehmen der Asche. Das Feuerungsmaterial besteht aus Holzkohlen, welche durch rasches Fächern mit einem Palmblatt, der pantalla, zu prasselnder Glut entflammt werden.

In einfachen Verhältnissen, wo die Hausfrau selbst am Herde stehen muß, sieht man sehr bald die Vorteile eines solchen Holzkohlenfeuers ein. Dasselbe verbreitet sehr wenig Hitze, was bei dem heißen Klima von großem Vorteil ist, ist sehr sparsam, da es, einmal in Brand gesetzt, lange Zeit weiterglüht, ohne auszubrennen, und sehr reinlich, da es, einmal in Glut, absolut keinen Rauch entwickelt oder gar Ruß absetzt. Einen Kuchen kann man auf diesem offenen Feuer allerdings nicht backen, weil man keinen heizbaren Bratkasten (Ofenröhre) hat, aber die Verhältnisse des Landes bedingen eine leichte, einfache Küche, und wenn man länger im Lande weilt, gewinnt man auch der argentinischen Küche Geschmack ab, wo alle Gerichte schnell auf offenem Feuer zubereitet werden. Wenn man nicht zu anspruchsvoll ist, nicht zu sehr am Althergebrachten hängt, kann man in Argentinien ganz gut leben, sogar als Hausfrau des Mittelstandes bequemer als in Deutschland. Bäcker, Milchmann, Metzger und Kolonialwarenhändler kommen jeden Morgen vorgefahren und fragen nach den Wünschen ihrer Klienten. Ambulante Gemüse- und Obstverkäufer bieten täglich ihre Waren an den Thüren feil und die schönsten Flußfische werden frühmorgens von flinken Italienern ausgetragen, die hier namentlich als Händler fungieren. Das Fleisch ist prachtvoll und außerordentlich billig, da Argentinien einen ungemeinen Reichtum an Rindvieh-, Schaf- und Schweineherden besitzt.

In Zucker eingekochte Früchte, namentlich Pfirsiche, Feigen und Birnen sowie Quitten, werden in Mengen gegessen, die einer deutschen Hausfrau anfangs ganz unglaublich vorkommen. Sehr bald jedoch wird sie den Verhältnissen des Landes Rechnung tragen, wenn sie einigermaßen praktisch ist, und ihren Küchenzettel dem Klima anpassen, welches kräftige, leichtverdauliche Kost und sehr wenig erhitzende Gewürze vorschreibt. Ein Mittagessen nach deutscher Art wird zu kostspielig und die Bestandteile eines solchen sind in manchen Fällen gar nicht zu haben. Kartoffeln z. B. sind verhältnismäßig sehr teuer (das Kilo kostet 15 bis 20 Pfennig) und verschwinden deshalb als Ergänzung der Gemüse, wofür sie in Deutschland so beliebt sind. Statt dessen wird viel Brot gegessen, welches schön weiß, kräftig und schmackhaft ist. Auf Obstsuppen muß die Hausfrau auch verzichten, denn Heidel- und Kronsbeeren wachsen nicht in Argentinien, ebenso würde sie dort Johannistrauben, [723] Stachelbeeren und Himbeeren vergebens suchen. Vereinzelt kommen Kirschen vor, Erdbeeren dagegen giebt es in Hülle und Fülle, allerdings nicht im Walde, sondern in wohlgepflegten Anlagen. Das hauptsächlichste Obst sind Pfirsiche, die in großen Wäldern angepflanzt werden, und Trauben, während Birnen und Aepfel aus Uruguay, namentlich von Montevideo, importiert werden. Bananen und Feigen wachsen hier ebenfalls, haben jedoch nicht soviel Aroma wie in Brasilien, und Orangen kann man um geringen Preis das ganze Jahr haben. Im großen und ganzen lebt und ißt man kräftiger und besser als in Deutschland, wenn auch viel einfacher. Und doch ist das Leben in Argentinien nicht billig. Was es hauptsächlich verteuert, sind die Arbeitslöhne. Alle Handwerker, zumeist eingewanderte Europäer, lassen sich ihre Arbeiten sehr teuer bezahlen. Zu Umänderungen an Kleidungsstücken[WS 1], Reparaturen des Schuhwerks, zum Aufpolieren von Möbeln entschließt man sich darum äußerst schwer, weil neues nicht viel mehr kostet und besser aussieht. Eine Argentinierin bessert kein Leinenzeug aus, ebensowenig versteht sie Strümpfe zu stopfen oder zu stricken, und im Laufe der Zeit nimmt wohl auch die deutsche Hausfrau etwas von der Gleichgültigkeit und dem Sichgehenlassen ihrer südländischen Mitschwester an, weil das Klima eben dazu herausfordert.

In Deutschland arbeitet die Hausfrau am meisten an den gemütlichen langen Winterabenden im wohldurchwärmten Zimmer. In Argentinien kennt man die Annehmlichkeit geheizter Räume nur in sehr beschränktem Maße, da meistens nur ein Zimmer, gewöhnlich das Eßzimmer, sich einer Vorrichtung zum Heizen erfreut. Dieselbe besteht in einem offenen englischen Kamin, der bekanntlich den Davorsitzenden röstet, während die Entfernteren vor Frost schaudern. Es wird ja nun nicht sehr kalt in Argentinien, da das Thermometer fast nie auf den Gefrierpunkt sinkt, doch macht sich hier ein geringer Wärmegrad weit unangenehmer fühlbar, weil der Körper durch die große Sommerhitze viel empfindlicher wird. Wenn daher im Juni, Juli und August die kalten Winde wehen und das abscheuliche Regenwetter eintritt, geht die ganze Familie spätestens um 10 Uhr zu Bett, das den besten Schutz gegen alle Ungemütlichkeiten der Witterung gewährt. Im Sommer denkt man erst recht nicht viel an Stricken oder sonstige Handarbeiten in den Mußestunden. Wenn die Hausfrau bei +28 bis 30° Réaumur im Schatten die Kinder besorgt, die Zimmer gesäubert und die Mahlzeiten gekocht hat, ist sie in der Regel so müde und abgespannt, daß sie gern am Abend ausruhend im halbdunklen Patio sitzt, wo wenigstens hin und wieder ein Luftzug die heiße Stirne kühlt, während im Zimmer eine unerträgliche Schwüle herrscht und ein Schwarm Mosquitos, vom Licht angezogen, seinen Rundtanz um die Lampe aufführt.

Unter diesen Umständen ist eine deutsche Hausfrau in Argentinien auch gar nicht so sehr erpicht darauf, die in Deutschland vor allen großen Feiertagen üblichen Scheuerfeste zu feiern. Das im allgemeinen trockene Klima bedingt viel Staub, der beim geringsten Winde durch alle Ritzen dringt und sich überall festsetzt, bei heftig bewegter Luft aber alle Möbel und Geräte mit einer dicken Staubschicht bedeckt, so daß eine einigermaßen ordentliche Hausfrau Tag für Tag gründlich säubern lassen muß. Auch große Wäsche wird in den wenigsten Fällen abgehalten.

Es ist im allgemeinen Sitte, täglich die angesammelte Kinder-, Küchen- und Wollwäsche auszuwaschen, da dieselbe bei dem eigentümlichen Klima ein Aufbewahren in schmutzigem Zustande nicht verträgt. Größere Stücke an Leib-, Bett- und Tischwäsche übergiebt man ebenso wie die Stärkewäsche den Waschanstalten, welche dieselbe erstaunlich schnell und billig waschen und plätten, und zwar beides ganz vorzüglich. Auf dem Lande übernehmen Wäscherinnen dieses Geschäft, aber niemals im Hause, sondern stets in ihrer Wohnung oder am Fluß.

Die argentinischen Dienstmädchen mögen nicht allzuviel arbeiten, sind aber, hiervon abgesehen, bei richtiger Behandlung stets willig und dienstbereit. Sie nehmen mit der einfachsten Kost, dem bescheidensten Lager vorlieb und sind namentlich von einer rührenden Anhänglichkeit an die Kinder des Hauses, welche sie ganz ausgezeichnet zu unterhalten und zu beschäftigen wissen. Ausdauernd sind sie dagegen leider gar nicht, und gar leicht wird ihnen regelmäßige tägliche Arbeit zu viel. Wenn sie 6 bis 7 Monate auf einer Stelle gewesen sind, fühlen sie plötzlich das Bedürfnis, sich wieder einmal einige Zeit dem dolce far niente hinzugeben, und gestehen dies der Señora in naivster Weise ein. Kein Zureden hilft, sie warten im besten Falle, bis man anderweitig Hilfe gefunden hat, oder lassen auch die Hausfrau in der größten Arbeit sitzen. In Argentinien besteht nämlich beim Dingen von Dienstboten keine gesetzliche gegenseitige Kündigungsfrist. Man kann ein Dienstmädchen ohne Angabe stichhaltiger Gründe von einem Tage zum andern entlassen, anderseits können Dienstboten eine mißliebige Herrschaft ebenso behandeln, wobei die letztere in den meisten Fällen viel schlimmer wegkommt, da Dienstboten dort im Lande sehr gesucht sind und teuer bezahlt werden. Gute Köchinnen erhalten 40 bis 70 Mark monatlich, Stubenmädchen und „Mädchen für alles“ 25 bis 35 Mark, Kindermädchen von 10 bis 14 Jahren bereits 10 bis 20 Mark, und deutsche Dienstboten machen meistens noch größere Lohnforderungen.

Das sind die eigenartigen Verhältnisse, in welche viele deutsche Frauen jenseit des Oceans auf Argentiniens Boden sich schicken müssen.



Blätter und Blüten.


Alt-Frankfurter Sprichwörter. Fast gleichzeitig mit der Enthüllung des Stoltzedenkmals in Frankfurt a. M. erfolgte die Veröffentlichung einer Auswahl der nachgelassenen Schriften des Dichters, die den 5. Band seiner Gesammelten Werke bildet. Der kulturgeschichtliche und linguistische Wert, der, wie an den Werken eines jeden volkstümlichen Dialektdichters überhaupt, an denen Stoltzes haftet, tritt hier recht deutlich in der Sammlung „Frankfurt in seinen Sprichwörtern und Redensarten“ hervor, in welcher Stoltze jeden einzelnen Spruch in Bezug auf Herkommen und Bedeutung erläutert. Wir entnehmen derselben einige Beispiele.

Zu den Redensarten, die weit über das Weichbild der einstigen Freien Reichs- und Kaiserkrönungsstadt am Main bekannt worden sind, gehört: „Wenn Frankfurt ausfährt, fährt es vierspännig“ oder genauer „Frankfurt fährt selten aus, fährt’s aber aus, so fährt’s vierspännig.“ Die Veranlassung zu ihrer Entstehung gab der Brand von Hamburg 1842. Als die Kunde davon nach Frankfurt kam, ließ der Senat die „Ständige Bürgerrepräsentation“ und den „Gesetzgebenden Körper“ einberufen und stellte in beiden den Antrag, die Abgebrannten in Hamburg mit einer Summe von 2500 Gulden aus städtischen Mitteln zu unterstützen. Die Bürgerrepräsentation fand diese Summe für die Schwesterstadt viel zu niedrig, und derselben Ansicht war der Gesetzgebende Körper. Hier erhob sich Dr. Reinganum und sagte: „Frankfurt fährt selten aus, wenn es aber ausfährt, so fährt’s vierspännig.“ Die Versammlung faßte darauf den Beschluß, dem Senat von Hamburg für die Abgebrannten sofort die Summe von 100 000 Gulden aus der Stadtkasse zur Verfügung zu stellen. „Frankfurt fährt selten aus, fährt’s aber aus, so fährt’s vierspännig,“ sagt heute der Frankfurter scherzweise, wenn er bei einer Festlichkeit, bei einer öffentlichen Veranstaltung ein übriges thut. –

Die alten Frankfurter haben sich auch einmal das Sprichwort: „Was soll Saul unter den Propheten“ ins Ortstümliche übersetzt, und zwar in: „Wie kimmt e Christ zu em Derk?“ Das bezog sich auf die Figur eines Türken am Haus zum „Türkenschuß“ an der Ecke der Zeil und Hasengasse. Der „Türkenschuß“ war damals ein Wirtshaus und der W[i]r[t] und Besitzer hieß Christ. Dieses Türken, der ein Pistol abschießend dasteht, hat sich der Volkswitz noch in anderer Weise bemächtigt. Beim Umbau des Hauses kam auch an Stelle des alten Türken ein neuer. Der alte hatte nun mit seiner Pistole nach der „Schlimmen Mauer“, jetzt Stiftsstraße, geschossen, während der neue seine Waffe nach „Hinter der Rose“, jetzt Brönnerstraße, gerichtet hält. In den zwanziger Jahren befand sich dort das Etablissement „Vauxhall“, das dann fallierte. Als nun der neue Türke an den „Türkenschuß“ kam und nach „Hinter der Rose“ schoß, sagten die Frankfurter: „Jetz batt’s nix mehr! Häst de friher dem Vauxhall was vorgeschosse!“ – Wie hier äußert sich der behende Witz, der in der reichen Meß- und Handelsstadt allzeit in Flor stand, und die Freude am Wortspiel auch in der Redensart „Geldern leit in Flandern“. Geldern liegt weit von Frankfurt entfernt. Aber der Frankfurter wollte damit gar nicht sagen: Geldern liegt in Flandern, er gebrauchte das Wort leit, weit dieses wie „leiht“ klingt. Wenn es sich um Gelder handelte, die einer vom andern geborgt haben wollte, und jener war weit davon entfernt, das zu thun, so sagte er ihm mit jener Wendung: „Leiht euch in Flandern Gelder und nicht bei mir!“ – „Schaad for den scheene Dorscht!“ ist eine jetzt weitverbreitete Redensart, die ihren Ursprung dem alten Frankfurt verdankt. Sie stammt von drei armen reisenden Handwerksburschen. Eben durchs Thor gekommen, traten sie an den Adlerbrunnen, der sich damals noch nach der Zeil zu am Paradeplatz, dem jetzigen Schillerplatz, befand, und löschten da ihren Durst. Einer nach dem andern trank aus dem großen eisernen Löffel in vollen Zügen, und als sie sich alle drei satt getrunken hatten, sagte der eine seufzend zu dem andern: „Schaad um den scheene Dorscht!“ Sie hätten ihn lieber in Bier gelöscht, wenn sie sich dafür schon das Geld erfochten gehabt hätten. Stoltze fand die Redensart in seiner „Vadderstadt“ schon in frühester Kindheit im Schwange. P.
[724] Ein hundertjähriger Veteran von 1813. (Mit dem untenstehenden Bildnis.) Im Laufe dieses Sommers feierte einer der wenigen Veteranen aus den Befreiungskriegen, die noch unter uns weilen (vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1895, Seite 154 und 179), das seltene Fest seines hundertsten Geburtstages. Der würdige Greis, dem Gott eine eiserne Gesundheit geschenkt hat, heißt August Hering und wohnt gegenwärtig bei seinen Verwandten in Merseburg. Am 25. Juli 1796 erblickte er das Licht der Welt als Sohn des Gärtners und Försters Hering auf dem Rittergute Niegripp im Kreise Jerichow. Frühzeitig verlor er seine Mutter und kam nach deren Tode nach Burg bei Magdeburg, wo er die Bürgerschule besuchte und das Tischlerhandwerk erlernte. Im Jahre 1813 folgte der sechzehnjährige Jüngling dem Rufe seines Königs und nahm an der Erhebung des deutschen Volkes gegen Napoleon teil, indem er unter die Schützen des Landstnrm-Bataillons Burg trat. Er stand im Felde bei der Belagerung von Magdeburg und im siegreichen Treffen bei Möckern (Kreis Jerichow) am 5. April 1813. Später diente er beim 31. Regiment in Erfurt, wo er zum Feldwebel befördert wurde. Am 1. Januar 1834 trat Hering aus dem stehenden Heere aus und wurde zum Gendarm in Kösen ernannt. Neunzehn Jahre harrte er auf diesem Posten aus, bis er sich infolge körperlicher Leiden pensionieren ließ und nunmehr als Abschätzungs- und Versicherungskommissar der Landesbrandkasse der Provinz Sachsen beschäftigt wurde. 1879 mußte er auch aus dieser Stellung scheiden. Kaiser Wilhelm I. bewilligte dem alten Veteranen einen Zuschuß zu der Pension, so daß er an seinem späten Lebensabend von Nahrungssorgen frei ist. Der hundertjährige August Hering erfreut sich noch einer regen geistigen Frische; er kann ohne Brille lesen und nimmt lebhaften Anteil an den Zeitereignissen. Möge ihm diese Freude am Leben noch lange erhalten bleiben! *      

In der Ramsau. (Zu dem Bilde S. 721.) Ein kleines, aber von der Natur verschwenderisch mit landschaftlicher Schönheit ausgestattetes Alpenthal, zieht sich die Ramsau westlich aus dem prachtvollen Berchtesgadener Thalkessel ins Waldgebirge hinauf. Sie darf nicht verwechselt werden mit der steiermärkischen Ramsau, die an den Südabhängen des Dachsteingebirges entlang zieht. Auch in Ober- und Niederösterreich kommt der Name Ramsau vor. Die bayrische Ramsau, der unser Bild entnommen ist, hat eine Länge von etwa fünf Stunden; sie ist an ihren breitesten Stellen keinen Kilometer weit, größtenteils schluchtartig schmal. Die Nordseite dieses Thales bilden sanft abfallende, überaus reich bewaldete Höhen, an deren sanfteren Gehängen einsame Bauernhöfe liegen; an der Südseite dagegen steigen über finsteren Bergwäldern riesenhafte weißgraue Felsenberge empor: der Watzmann und der Hochkalter. Den westlichen Thalschluß bilden die – auf unserem Bilde sichtbaren – in grimmiger Steilheit aufragenden Mühlsturzhörner. Was der Ramsau ihren landschaftlichen Reiz verleiht, sind ihre prachtvollen Ahornhaine, die umhergestreuten Felsblöcke, der durch Schluchten und über Trümmergestein herabtosende Wildbach, üppig grünende Matten, über welche zahllose krystallhelle Wasser herabrieseln, und die schöngeformten Felsmauern der über all’ das aufragenden Berge, die – je nach der Bewölknng und Beleuchtung – bald silbergrau oder goldgelb, purpurn oder tief indigoblau erscheinen können. Im oberen Teile des Thales liegt, weltverloren und still, der Hintersee mit seiner klaren tiefgrünen Flut, in welcher die schroffen Felshörner des Hochkalters und die breite Wand des Reuteralpgebirges sich spiegeln. Die spärliche Bevölkerung des Thals ist ein tüchtiger stiller und ernster Schlag Menschen, der sich, da Ackerbau im ganzen Thale sehr wenig getrieben werden kann, fast nur von Sennereiwirtschaft und von der Holzarbeit in den mächtigen Staatswaldungen ernährt. Max Haushofer.     

Der Veteran August Hering.
Nach einer Photographie von F. Herrfurth in Merseburg.

Morgenandacht. (Zu dem Bilde S. 712 und 713.) Es ist der einfache niedrige Saal eines Mädcheninstituts, in welchem die Morgenandacht stattfindet, die uns der Maler belauschen läßt. Die jungen Mädchen, ihrer Tracht nach Holländerinnen, singen ihren Psalm mit heller Stimme, wohlgemut trotz des gebotenen Ernstes. Vor ihnen liegt ja die Zukunft mit ihren Hoffnungen, und in ihren Adern kreist fröhliches Jugendblut. Die alte Vorsteherin sitzt still im Lehnstuhl, hört dem Gesange zu und denkt ferner Tage, da auch sie erwartungsvoll dem schönen, verheißenden Leben entgegensah. Wieviel es ihr gehalten hat? … Die Kummerfalten und die weißen Haare geben Antwort darauf. Aber dennoch – sie blickt friedvoll und versöhnt auf das junge Leben um sie her, dessen Morgenrot freundlich ihren eigenen Abendschatten durchleuchtet, und ihre still resignierte Haltung mahnt an Hölderlins Worte:

„In jungen Tagen war ich des Morgens froh,
Des Abends weint’ ich; jetzt, da ich älter bin,
Beginn ich zweifelnd meinen Tag, doch
Heilig und heiter ist mir sein Ende.“ Bn.     

Zu Hause, in der Gesellschaft und bei Hofe. Unter diesem Titel veröffentlicht H. von Düring-Oetken im Verlag von Pfenningstorff in Berlin ein ganz eigenartiges Werk: ein Spiegelbild der Gesellschaft voll guter Erziehung in allen ihren Lebensverhältnissen, anmutig und interessant zu lesen und lehrreich sogar für solche, die im allgemeinen keiner Unterstützung ihrer Umgangsformen durch Bücher über den guten Ton zu bedürfen glauben. In solchen, auf dem Grund der alten „Komplimentierbücher“ erwachsenen Werken werden ja meist nur die Grundregeln der Schicklichkeit angegeben, welche jedem leidlich erzogenen Menschen geläufig sind, hier aber handelt es sich um die höheren Aufgaben einer schönen Geselligkeit, um die vielen scheinbar kleinen Dinge, deren Anwendung oder Unterlassung den Ton eines ganzen Kreises charakterisieren. Die vollkommene freie und schöne Sicherheit des Benehmens, die zur zweiten Natur gewordene gute Form sind seltene Zierden. Wer nicht so glücklich war, sie als Erbteil einer günstigen Familientradition mitzubekommen, der hat viel Beobachtung und Selbstschulung nötig, um sie sich anzueignen. In dem vorliegenden Buch findet er nun die vortreffliche, welt- und gesellschaftskundige Führerin, welche in ungezwungener und doch erschöpfender Weise alle Fälle des geselligen Lebens vorführt. Wie man häusliche Ereignisse und Feste feiert, in welchen Formen man einlädt und zu- oder absagt, wie die große und kleine Geselligkeit zu führen ist, welche Rücksichten bei Besuch, Anmeldung und Empfang zu walten haben, das Benehmen auf der Straße, im Theater, auf dem Ball, im Gasthof, auf Reisen – alle die vielen kleinen Zweifelfälle, in welche auch der wohlerzogene Mensch beim Eintritt in die große Welt kommen kann, sie finden hier ihre mustergültige Entscheidung. Der Abschnitt „Am Hofe“ giebt das gesamte Ceremoniell für die dabei beteiligten Kreise, aber auch den guten Rat für solche, die gelegentlich mit Fürsten in Berührung kommen, und die brieflichen Titulaturen. Unsere praktische Zeit neigt zu einer gewissen Nichtachtung der guten Umgangsformen, die Folgen aber zeigen sich oft genug in der Verrohung des gesellschaftlichen Tons. Ein Buch wie das vorliegende ist deshalb von hohem Wert; es eignet sich seiner zierlichen Ausstattung nach vortrefflich zu Geschenken und wird sicher für viele ein willkommener Familienbesitz werden. A.     

Ein Nimmersatt. (Zu dem Bilde S. 717.) Hermann Kaulbach, der Schilderer so mancher gemütlichen Kinderscene, führt uns hier zur Abwechslung einmal eine recht ungemütliche vor, eine wahre Schmälznudeltragödie, in welcher der gewissenlose Usurpator nach dem Grundsatz „Selber essen macht satt!“ die gefüllte Pfanne festhält, während die enttäuschten Kleinen mit traurigen Gesichtchen herumsitzen und starr die appetitlich lockende Nudel betrachten, die der naschhafte kleine Dicksack mit so viel Behagen verspeist. Hoffen wir, daß die tragische Gerechtigkeit ihn ereilt, ehe er sich an die zweite und dritte machen kann: mütterliche Prügel könnten dem Schlingel nicht schaden, den übrigens der Künstler doch so hübsch und frisch auf die Küchentreppe gesetzt hat, daß man ihn mit demselben Vergnügen betrachtet wie seine der Natur so glücklich abgesehenen Geschwisterchen. Bn.     

Reineke in Nöten. (Zu dem Bilde S. 709.) Ein Prachtkerl ist es, der da oben auf der alten Weide sitzt und forschenden Blickes über die weite Flut hinausspäht, ein Goldfuchs mit weißer Kehle und weißer Schwanzspitze oder, wie es in der Jägersprache heißt, mit weißer Blume an der Rute; aber trotz des kostbaren Pelzes ist es doch ein echter und rechter Lumpaci-Vagabundus. Vor achtundvierzig Stunden hatte er ein neues Jagdrevier aufgesucht und darin gepirscht kreuz und quer, bis er gar müde wurde vom Rennen und Fressen und in dichtem Gebüsch sich zur Nachtruhe niederlegte. Er schlief den festen Fuchsschlaf, aus dem so mancher Reineke erst durch den Hagel des Schützen oder den Knüppel des Treibers geweckt wird. Hoch stand schon die Sonne am Himmel, als der Goldfuchs erwachte und bedächtigen Schrittes sich zu neuem Vagabundieren anschickte. Doch siehe da, über Nacht hat sich die Landschaft verändert. Wo gestern grüne Wiesen im Sonnenschein sich dehnten, glitzert heute eine weite Wasserflut. Reißend schnell ist das Hochwasser gekommen und seine Wellen umspülen die kleine Anhöhe, auf welcher unser Reineke genächtigt hat. Da sitzt er ernst und sinnend und wartet in der Hoffnung, das feindliche Element werde ebenso schnell verlaufen, wie es gekommen ist. Aber wie arg wird er getäuscht! Höher und höher steigt die Flut und bedrängt nicht nur die Menschen in ihren Behausungen, sondern auch die Tiere in Wald und Flur. Leichte Wellen rieseln schon über seine Zufluchtsstätte und die höchste Wassersnot bricht über den Goldfuchs ein. In der Ferne am Waldesrande entdeckt jedoch sein scharfes Auge eine Anhöhe, die aus dem Wasser emporragt und auf der eine bunte Tiergesellschaft sich versammelt hält. Er erkennt Hirsche und Rehe und auch langohrige Lampegestalten. Ein „Rettungsberg“ ist es, den tierfreundliche Förster für das Wild im Ueberschwemmungsgebiet errichtet haben! Sichere Hoffnung belebt nun den schlauen Reineke, bald ist ein Schwimm- und Wateplan entworfen, und beherzt stürzt er in die Flut. Eine alte Weide bietet ihm ein Ruheplätzchen, auf dem er Kräfte zu weiterem Schwimmen und Waten sammeln kann. Der größte Teil des beschwerlichen Weges ist bereits zurückgelegt worden und zuversichtlich blickt Meister Reineke nach dem Rettungsberg. Bald wird auf ihm auch der Räuber friedlich unter Hasen und Rehen seinen Pelz trocknen, denn die große gemeinsame Not bringt auch die angebornen Feindschaften in der Tierwelt zum Schweigen. *      


Inhalt: Die Geschwister. Roman von Philipp Wengerhoff (4. Fortsetzung). S. 709. – Reineke in Nöten. Bild. S. 709. – Morgenandacht Bild. S. 712 und 713. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Neue Bahnen. S. 711. Mit Abbildungen S. 714, 715 und 716. – Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (18. Fortsetzung). S. 716. – Ein Nimmersatt. Bild. S. 7l7. In der Ramsau. Bild. S. 721. – Skizzen aus deutschem Frauenleben in fremden Zonen. Ein Haushalt in Argentinien. Von Hertha Ika. S. 722. – Blätter und Blüten: Alt-Frankfurter Sprichwörter. S. 723. – Ein hundertjähriger Veteran von 1813. Mit Bildnis. S. 724. – In der Ramsau. Von Max Haushofer. S. 724. (Zu dem Bilde S. 721.) – Morgenandacht. S. 724. (Zu dem Bilde S. 712 und 713) – Zu Hause in der Gesellschaft und bei Hofe. S. 724. – Ein Nimmersatt. S. 724. (Zu dem Bilde S. 717.) – Reineke in Nöten. S. 724. (Zu dem Bilde S. 709.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

[724 a] 0


Die Gartenlaube.

Beilage zu No 42. 1896.



Die neue „Loreley“, das deutsche Stationsschiff in Konstantinopel. Seit dem Jahre 1879 stand als Stationsschiff in Konstantinopel zur Verfügung des deutschen Botschafters der Radaviso „Loreley“. Das Schiff war das erste Fahrzeug, das von der kaiserlichen Werft in Wilhelmshaven im Jahre 1871 gebaut wurde. Es sollte ein preußisches Kriegsschiff ersetzen, das gleichfalls den Namen „Loreley“ getragen und in den Kriegen 1864 und 1866 ruhmreich gekämpft hatte. Der zweiten „Loreley“ war während ihres fünfundzwanzigjährigen Bestehens eine friedlichere Laufbahn beschieden. Von Konstantinopel aus machte sie Fahrten an den Küsten des Mittelmeeres, um Kulturinteressen zu fördern, auch stand sie wiederholt im Dienste der Wissenschaft, indem sie den Transport der kostbaren Ausgrabungen von Pergamon nach Smyrna besorgte. Der kleine Dampfer genügte jedoch mit der Zeit nicht mehr den Ansprüchen, die an ein Stationsschiff gestellt werden, so wurde er am 7. September d. J. außer Dienst gestellt und durch einen neuen Dampfer ersetzt, der wiederum den Namen „Loreley“ führt. Das neue Stationsschiff ist eine elegante größere Dampfjacht von 61 m Länge und 8,4 m Breite. Sie hat einen Tiefgang von 4 m, läuft 13 Knoten und führt zwei 5 cm-Schnellkanonen an Bord. Ihre Besatznng besteht aus 43 Mann mit 4 Offizieren. „Ersatz Loreley“ wurde im Frühjahr von der deutschen Marineverwaltnng in England angekauft und ist im Laufe des Sommers in Wilhelmshaven für den Kriegsgebrauch umgebaut worden. Unterstützt von dem deutschen Geschwader, das gegenwärtig im Mittelmeer kreuzt, wird das neue Stationsschiff die deutschen Interessen in dem unruhigen Orient mit Nachdruck wahren können.

„Ersatz Loreley“, Stationsschiff in Konstantinopel.
Nach einer Originalzeichnung von W. Stöwer.

Sitze für die Ladengehilfinnen. Eine lebhafte Agitation geht im Augenblick durch die deutsche Frauenwelt um einen anscheinend recht kleinen Anlaß: für die vielbeschäftigten Ladengehilfinnen will man die Erlaubnis erwirken, sich in den geschäftsfreien Augenblicken auf einen am Ladentische angebrachten Klappstuhl niederlassen zu dürfen. Angeregt wurde die Frage schon früher von dem Hilfsverein für weibliche kaufmännische Angestellte in Berlin, er erlebte auch die Genugthuung, daß verschiedene große Prinzipale sich sofort einverstanden erklärten, falls die Neuerung allgemein angenommen würde. Andere weigerten sich mit Hinweis auf die Mißbilligung der kaufenden Damenwelt. Also ist es wohl an dieser, unzweideutig auszusprechen, daß sie ihren ärmeren Mitschwestern ein kleines Ausrasten während des vielstündigen, anstrengenden und gesundheitsschädlichen Stehens von Herzen gönnt. Die diesjährige Frühjahrsversammlung der Frankfurter Ortsgruppe des Allgemeinen deutschen Frauenvereins hat den Anstoß zur Agitation gegeben; es heißt, daß besonders viele „Bazardamen“, welche die Annehmlichkeiten eines solchen Stehens und Kundenbedienens am eigenen Leibe erfuhren, unbedingt dafür sind, daß in dieser Frage etwas geschehen müsse. Es werden also jetzt von dem Frankfurter Verein überallhin Petitionsformulare versendet, welche schließlich an die Handelskammern gehen sollen. Wir hoffen, daß auch unsere Leserinnen dieser Sache ein lebhaftes Interesse zuwenden und in ihren Kreisen dafür werben werden, besonders in jenen Städten, wo dem Ladenschluß nach 9 Uhr abends vorderhand noch nicht beizukommen ist. Auch betreffs dieses letzteren Mißbrauchs soll man sich nicht an die Ausrede kehren, daß er unmöglich abzustellen sei. In München, das doch als Kaufstadt keinen geringen Rang einnimmt, schließen die Läden nach alter, zäh festgehaltener Sitte um – 7 Uhr abends! Die Fremden gehen lachend oder scheltend durch die noch im vollen Sommersonnenschein glänzenden Straßen, wo eilige Hausknechte einen Rollladen um den anderen herunterrasseln lassen. Wer dort kaufen will, muß eben vor Sieben kommen, das weiß die ganze Stadt und richtet sich danach. Nach dieser Zeit hat der Ladengehilfe ebensogut Feierabend, wie der Käufer, und beide befinden sich wohl dabei. Wäre anderwärts nachzuahmen! Freilich hat diese Frage weniger Aussicht auf günstige Lösung, als die oben berührte der „Sitzgelegenheit“, für welche die deutsche Frauenwelt hoffentlich recht energisch eintritt. Anfragen um Formulare sind zu richten an Frau Martha Back, „Verein zum Wohl alleinstehender Frauen und Mädchen“, Frankfurt am Main.


Bilderrätsel: „In der Theatergarderobe“.

Welche Oper wird heute gespielt?

Tiroler Fatschen heißen die hübschen blau- und rotgemusterten Borten von starker Webearbeit, welche sich aus den Meraner und Bozener „Laubengewölben“ rasch nach Deutschland verbreitet haben. Dem ursprünglichen Zweck eines Wickelbandes dienen sie wohl hier nicht, aber als Verzierung von Tisch- und Bettdecken erfreuen sie sich großer Beliebtheit. Eine ganz vorzügliche Verwendung besteht darin, mit ihrer Hilfe aus vier altmodischen großen Servietten, wie sie heute zurückgesetzt in vielen Linnenschränken lagern, ein hübsches Tischtuch zu machen. Zu diesem Ende nimmt man das Fatschenband (am besten das mit dem alten stilisierten Adlermuster) als Kreuz und setzt zwischen dessen Arme die Servietten mit feinen überwendlichen Stichen an, so daß sich zuletzt das Ganze völlig glatt auseinanderlegt. Nur muß man vorher das Fatschenband mindestens fünfzehn Minuten in Wasser kochen, weil es sonst ganz bedeutend einlaufen würde. Man kann selbstverständlich auch jede andere Borte oder groben Linneneinsatz statt der Fatschenbänder benutzen, aber diese sehen am hübschesten aus.

[724 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Keidungsstücken