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Die Gartenlaube (1896)/Heft 45

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[757]

Nr. 45.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Geschwister.

Roman von Philipp Wengerhoff.

  (7. Fortsetzung.)

9.

Wie fest sie geschlafen hatte! – Eben hob Annie die Lider und ließ einen müden Blick über die Wände gleiten – ach, sie träumte ja noch – träumte einen Traum, den sie unzähligemal in diesem Winter geträumt hatte! Sie schloß die Augen wieder und legte sich auf die andere Seite – aber das Rascheln der seidenen Decke, die ungewohnte Weite des Bettes erweckten sie aufs neue. Etwas bewußter öffnete sie jetzt die Augen und sah sich um. Nun kamen auch die Gedanken noch deutlicher; mit einem leisen Schrei sprang sie auf, eilte ans Fenster, schob die Gardine ein wenig beiseite und starrte auf die Straße. Also kein Traum, es war Wirklichkeit – beseligende Wirklichkeit – sie war in Berlin! Wie mit einem Schlage war alle Schlaftrunkenheit von ihr genommen, sie schlüpfte in die Kleider mit einer Hast, als sei jede Minute Zeit ein erheblicher Gewinn, strich dann glättend über das wellige Haar, und als sie im Nebenzimmer ihres Vaters Schritte hörte, klopfte sie ganz flott an die Verbindungsthür und fragte mit munterem Tone, ob sie nicht zusammen frühstücken würden.

Die Antwort des Obersten klang zwar freundlich, aber doch nicht so heiter als sie erwartet hatte. Und als sie nun bei ihm eintrat und nach einem innigen Guten Morgenkuß liebevoll in sein Gesicht schaute, las sie darin von verhaltenem Aerger.

Auf ihre Frage wies er nach dem Tisch und reichte ihr dann selbst einen dort liegenden geöffneten Brief.

„Von Tante Emma – aber denke Dir, aus Friedrichroda! Müssen die gerade verreist sein, wo ich Deinetwegen so sehr auf ihre Anwesenheit hier gerechnet! Du schriebst ihr ja die Adresse unseres Hotels, und so war sie wenigstens in der Lage, uns gerade noch rechtzeitig davon in Kenntnis zu setzen!“

Das Erscheinen des Kellners mit dem Kaffee schnitt ihm die weitere Aussprache seines Aergers ab. Er schwieg verstimmt. Sein Töchterchen aber, die nun für sich den Brief der Tante überflog, ließ sich ihre heitere Stimmung durch seinen enttäuschenden Inhalt gar nicht verderben. Und während sie dann daranging, in hausmütterlicher Fürsorge dem Vater das Frühstück zurechtzustellen, sagte sie zuversichtlich zu diesem: „Das ist freilich schade, daß Tante Emma verreist ist – aber nicht wahr, Väterchen, Du läßt Dir dadurch nicht weiter die Laune trüben! Nennst mich ja so gern Dein tapferes Soldatenkind! Du wirst mir schon sagen können, was ich auch ohne Begleitung von den Sehenswürdigkeiten Berlins besuchen darf.“

Der zuversichtliche Ton, den das Mädchen zu finden wußte, zerstreute sichtlich die Sorgen, welche den Vater noch eben beherrscht hatten.

„Recht so, kleiner Kamerad,“ sagte er und trat an den Tisch, wo neben dem Kaffeeservice ein Plan von Berlin ausgebreitet lag; „es bleibt uns ja auch nichts übrig, als uns in die Lage zu schicken! Siehst Du, hier auf dem Plane habe ich Dir mit Rotstift den Weg bezeichnet, den Du heut’ gehen sollst. – Also merk’ auf! Unser Hotel liegt dicht an den ,Linden‘“ – er öffnete das Fenster und zeigte ihr die nahe Straße, ohne sehen zu können, wie heftig sein sich mit herausbeugendes Kind bei diesem Worte errötete. Die „Linden“ – jubelte es in Annie – nur zwanzig Schritte, dann war sie da – und diese „Linden“ waren ja die ganze lange Zeit her das heimliche Ziel ihrer Sehnsucht gewesen! Hatte Elfe damals doch gesagt: wenn er nicht

Deutschlands merkwürdige Bäume: die „Armleuchterfichte“ bei Offenbach a. M.
Nach einer Photographie von Ludwig André in Offenbach a. M.

[758] beständig unter den „Linden“ promenierte, dann hätte das – mit dem Examen – nicht passieren können!

Der Oberst wandte sich wieder zurück. „Sieh, Kind, hier gehst Du die Straße in die Höhe, am Ende der ,Linden‘ siehst Du das Denkmal des Alten Fritz, und das Palais, vor dem das Standbild steht, war unseres alten Kaisers Wilhelm Wohnung. In gerader Richtung weiter – – “

„Ach, Papachen, weiter werde ich nicht gehen. Ich bleibe immer unter den ‚Linden‘. Du sollst nicht in Sorge sein, daß ich mich verlaufen könnte. Bis zum Mittagessen bleibe ich dort. Alle Welt sagt, da sei es am schönsten, warum soll ich also weiter gehen?“

Sie begannen das Frühstück und der Oberst sagte behaglich: „Nun, bis zum Königlichen Schlosse kannst Du’s schon wagen; den Weg zu verfehlen ist unmöglich – Lustgarten – Museum und nebenan die Nationalgalerie. Du kannst getrost dort hinein gehen, hast ja Zeit bis um fünf Uhr, so lange wirst Du unter den ‚Linden‘ nicht bleiben. – Sieh einmal her, Annie – dieses hier rechts ist die Friedrichstraße. Gleich zu Anfang ist eine Damenkonditorei – Buchholz, wenn ich nicht irre – dort nimmst Du um zwölf Uhr eine Tasse Chokolade und sonst was Gutes. Meine Schwestern haben dort auch oft gesessen, und im übrigen, wenn Du müde bist, kehrst Du ins Hotel zurück und erwartest mich hier. In keinem Falle entferne Dich zu weit.“

„Mache Dir keine Gedanken um mich, Papachen. Ich bin ja kein Backfisch, der zu Schaden kommen kann. Es wird herrlich sein, so ungestört Berlin anzusehen! Punkt fünf Uhr treffen wir dann hier zusammen und Du bestimmst das weitere.“

„Gut, Kind! Nach dem Essen gehen wir in die Oper!“ Er erhob sich. „Doch eh’ Du jetzt aufbrichst, höre, trink’ noch eine Tasse Kaffee und iß noch ein Brötchen! Du hast ja Zeit“ – er sah nach der Uhr – „volle sechs Stunden! Und damit Gott befohlen!“

Er schnallte den Säbel um, setzte den Helm auf. „Adieu, Annie, viel Vergnügen!“ Und sporenklirrend, doch den Säbel an sich ziehend, schritt er zum Zimmer hinaus, über den langen Korridor und die Treppe hinunter. Sie beugte sich vor und lauschte ihm nach, und wie der Ton verhallt war, der ihn begleitete, trank sie gehorsam eine zweite Tasse, sprang dann auf und eilte in ihr Zimmer, um Toilette für den heutigen großen Tag zu machen.

So umständlich war es dabei schon lange nicht zugegangen, obwohl Fräulein Annie mit vor Eile zitternden Fingern die Frisur ausführte, die Schleifen band und die Handschuhe straff zog. Immer wieder kehrte sie an den Spiegel zurück, ordnete die Löckchen noch ein wenig und warf einen bedauernden Blick auf ihre in dem hohen Wandspiegel so gar winzig erscheinende Gestalt.

Endlich war diese wichtige Frage erledigt, und sie eilte mit einer Hast die Wilhelmstraße hinunter, als erwartete sie an der Ecke der „Linden“ schon der, für den sie sich so sorgfältig geschmückt. Es war ihr nun fast feierlich zu Mute in der Erinnerung, wie oft und viel sie hierher gedacht hatte. Als sie in die prächtige Straße einbog, die jetzt in dem ersten frischen Frühlingsgrün einen köstlichen Anblick darbot, wallte die Sehnsucht, mit der sie sich im Geiste früher an diese Stelle versetzt, mächtig in ihr auf.

Langsamen Schrittes ging sie die rechte Straßenseite entlang, immer mit ihren Blicken das ganze Bild umfassend. Die wunderbaren Edelsteinauslagen, die neuesten Pariser Moden, die man in den Schaufenstern bewundern konnte, kosteten ihr kaum mehr als einen flüchtigen Blick, das Ganze, das in ihren Gedanken den Rahmen für eine so innig und zärtlich geliebte Gestalt ausmachte, interessierte sie viel zu sehr, als daß ihr Sinn durch Frauenputz gefesselt werden konnte. Jedes Haus, jeder Baum, jeder Stein gehörte mit zu diesem Rahmen. Hier: Café Bauer – auch das hatte Elfe damals genannt, wie entzückend es ihr erschien! – Man hatte die Fenster bereits zu Eingängen umgestaltet und durch die weiten, nur wenig von den Pomeranzenbäumen verkleinerten Oeffnungen sah sie ungehindert in den Raum. Die Frühlingssonne beschien das Pflanzenboskett, das die Mitte desselben einnimmt, und übergoß die fließenden Wasserstrahlen der Fontäne mit schimmerndem Glanze, während sie die Farbenpracht der von Meisterhand gemalten Wand- und Deckengemälde hell aufleuchten ließ.

Sie war stehen geblieben und schaute mit erstaunten Augen hinein, ahnungslos, daß sie selbst der Gegenstand der Beachtung geworden war. Erst als der junge Herr, der dem Eingange zunächst an einem runden Tischchen, eine „Schwarze“ schlürfend, saß, das Monocle fallen ließ und mit einem selbstbewußten Lächeln Miene machte, sich ihr zu nähern, merkte sie etwas davon, errötete und ging rasch weiter. Den Alten Fritz und das Palais unseres alten Kaisers sah sie aufmerksam an, denn sie wußte es, danach würden Papa und die Brüder zuerst fragen, aber ihre Blicke schweiften dabei doch immer wieder die „Linden“ entlang, und wie magnetisch von diesen angezogen, ging sie wieder denselben Weg zurück. Und wieder und abermals und zum vierten- und fünftenmal! Bei „Buchholz“ einzutreten, konnte sie sich nicht entschließen, es war ja so weit ab von dem Platze, den sie in ihrem Innern allein als „Berlin“ bezeichnete, und bei Kranzler saßen jetzt in der Mittagsstunde so viele Menschen, meistens sogar nur Herren, auf der schmalen Freitreppe und in dem engen Salon – wie sollte sie da wegen eines Stückchens Kuchen hineingehen? – Und dann – konnte sie nicht auf diese Weise leicht das Beste, was die Residenz ihr zu geben hatte, verpassen? – So wanderte sie weiter, immer müder wurde ihr Blick, immer langsamer ihr Schritt, an den Schaufenstern machte sie immer längere Stationen, und als es drei Uhr – dann vier und jetzt schon halb fünf Uhr schlug, bemächtigten sich ihrer quälende Zweifel und dann eine tiefe Traurigkeit. Ach, sie war vergebens hierher gefahren – die Sehnsucht ihres Herzens sollte ungestillt bleiben – das Wiedersehen, nach dem allein sie Verlangen trug, gönnte ihr das Schicksal nicht! Wie wenig kümmerte sie das großstädtische Menschengewühl, wenn der Eine drin fehlte! Die Gardeducorps waren vorbeigezogen mit klingendem Spiel, Karossen mit wundersam geschmückten Frauen im Fond rollten geräuschlos über den Asphalt des Fahrdammes, Reklamewagen und Reklameträger, Kavalkaden von Herren und Damen auf stolzen Rossen, Zeitungsverkäufer und Blumenmädchen, die ihr ganze Bündel von Maiblumen und Veilchen entgegenreichten – nichts erweckte jetzt mehr ihr Interesse. Schleppenden Ganges, abgespannt und hoffnungslos schleicht sie daher – in fünfzehn Minuten sind die sehnlichst herbeigewünschten Stunden, denen sie mit solcher grenzenlosen Freude entgegengesehen hat, vorüber – was haben sie ihr gebracht? – Wie will sie es fertig bringen, dem Vater ihre Stimmung zu verbergen, wie es verdecken, daß von dem Interesse, das sie Berlin entgegengebracht, jetzt schon nichts, aber auch gar nichts mehr vorhanden ist? …

Nun ist auch die Wilhelmstraße erreicht. Sie kann fast nicht mehr vorwärts, der Mangel an Nahrung, die stundenlange Bewegung in der Frühlingsluft haben ihre Kräfte verzehrt, aber sie wendet den Kopf doch noch einmal rückwärts, den „Linden“ zu, als sie in die andere Straße einbiegt, und wird deshalb von einigen jungen Herren, die, aus dem „Hotel Royal“ tretend, unter munterem Geplauder ihre Cigarren in Brand setzen und auf diese Weise auch nicht vorwärts sehen, fast umgestoßen. Der eine, der sie gestreift, murmelt einige entschuldigende Worte und lüftet etwas nachlässig den Hut, der andere dreht sich herum und sein Blick fällt auf das junge Mädchen. Er stutzt – besinnt sich und ist mit zwei Schritten neben ihr.

„Fräulein von Giersbach! – Gnädiges Fräulein, Sie sind’s, ich traue meinen Augen nicht! – Welche Freude! – Aber was ist Ihnen? – Hat man Sie verletzt, hat man Ihnen wehe gethan?“ Und Referendar Brückner wirft einen Blick voll Entrüstung auf seinen bisherigen Begleiter. „Dieser Tollpatsch! – Sie sind ja ganz weiß geworden – kann ich Sie stützen?“ Er greift ohne Umstände nach ihrer Hand und zieht sie durch seinen Arm. „Lehnen Sie sich nur fest auf mich, dann wird’s schon gehen. Aber, wo soll ich Sie hinführen – wo sind Sie hergekommen?“

„Papa reiste auf zwei Tage nach Berlin und nahm mich mit, Herr Referendar; wir wohnen hier im ,Reichshof‘ – und da wollte ich mir doch auch ein wenig die ‚Linden‘ ansehen.“

„So – und sie haben Ihnen gefallen? Ja! Wie mich das freut! – Und wie ist’s Ihnen ergangen? Immer flott und frisch gewesen, nicht wahr, immer viel getrubelt und getanzt? Kann’s mir ja denken, wie’s daheim zugeht!“

„Ich weiß nicht, ob es so gewesen ist. Ich habe nicht viel getanzt, und die andern –“

„Ach, die andern kümmern mich eigentlich gar nicht,“ unterbrach er sie, „aber daß Sie frisch und fröhlich sind, das sehe ich mit Freuden.“ Und er sah mit unverhohlenem Entzücken in die [759] Augen, die nun so wonnig strahlten, in das rosige Gesichtchen, das nun so herzlich lachte, als gäbe es keinen Hunger und keine Müdigkeit auf der Welt. – „Aber wollen wir nicht noch einmal zurück nach den ,Linden’? – Wir können uns jetzt doch unmöglich schon trennen, nachdem wir uns eben erst gefunden haben.“

„Papa erwartet mich zum Mittagessen um fünf Uhr – und pünktlich muß ich sein als – – “

„Soldatentochter,“ ergänzte er.

„Nein, als anständiger Mensch, sagt Papa immer.“

„Da hat er auch recht, und pünktlich sollen Sie auch sein. Aber sehen Sie her, wir haben noch zwölf Minuten, da gehen wir noch einmal bis zum Brandenburger Thor. Stützen Sie sich nur fest, der – Tölpel hat Ihnen vorhin gewiß wehe gethan!“ Und er sah auf ihre kleinen, in zierlichen Lackstiefelchen steckenden Füße mit solcher Teilnahme herab, als fürchtete er das Schlimmste für dieselben.

Sie lächelte und lehnte sich fest auf seinen Arm. Es that ihr himmlisch wohl, sich so beschützt, so umsorgt zu fühlen, und mit der ganzen Elasticität ihrer Jugend schwang sich ihre Seele aus dem Gefühl grenzenloser Verzagtheit in das unendlicher Glückseligkeit hinüber. – Wie schön es sich schwatzte, fast als wären sie alle Tage zusammen gewesen, als lägen nicht lange, schwere acht Monate dazwischen! Auf die „Linden“ fiel kein Blick von den beiden, ihre Unterhaltung nahm sie ganz in Anspruch, und laut und herzlich lachend wie früher im Ballsaal hatten sie nur Augen für einander.

Ein berittener Schutzmann sprengte durch das Thor.

„Die Majestäten!“ - rief Leo, machte Front und entblößte sein Haupt, während Fräulein Annie, zitternd vor Aufregung auch über diese Begegnung, mit der tiefsten Verbeugung in die kaiserliche Equipage grüßte, aus welcher ihr ein wohlwollender Gegengruß des Kaisers und ein freundliches Lächeln und Nicken der Kaiserin dankte.

„Sie haben mich angesehen!“ rief ganz begeistert das kleine Fräulein, „bemerkten Sie es, wie der Kaiser mir ins Gesicht sah?“

„Natürlich,“ sagte er, „er teilt die Eigentümlichkeit mit anderen Menschen, daß er auch gern etwas Schönes sieht.“

„Ach!“ – sie wandte sich weg, um die Purpurröte zu verbergen, die ihr über Stirn und Wangen flog, „Sie sind noch immer der alte Spottvogel!“

Er zog ihren Arm wieder durch den seinen und machte eine vorstellende Bewegung mit der rechten Hand: „Und hier, gnädiges Fräulein, schauen Sie her, das ist die zweite Ueberraschung, die ich für Sie veranstaltet habe: die kaiserlichen Prinzen!“

Wieder rollte blitzschnell ein Hofwagen daher – lauter muntere Kindergesichtchen drängten sich darin zusammen – laute jubelnde Zurufe erschallten von allen Seiten, und die Matrosenhütchen flogen von den blonden Köpfchen.

„Nun, habe ich’s gut gemacht?“ fragte Leo und freute sich an dem strahlenden Lächeln, das ihm dankte.

„Ach, dieses köstliche Berlin,“ schwärmte Annie, „es berauscht förmlich! Ich denke, auf der ganzen Welt giebt’s keinen schöneren Ort. Aber nun müssen wir wohl umkehren?“

Er hielt ihr seine Hand hin. „Sehen Sie, ich halte hier die Uhr – Sie sollen keine Minute versäumen, aber ich will auch keine verlieren.“ Und so gingen sie langsam, ganz langsam weiter und dann zurück. An dem Englischen Botschaftspalais blieb er stehen.

„Nun muß ich mich Wohl beurlauben; aber ist’s denn notwendig, Fräulein Annie, daß wir uns schon verabschieden? Darf ich dem Herrn Oberst nicht meine Aufwartung machen? Und wann? Vielleicht sofort, wenn Sie mir gestatten, Sie bis ins Hotel zu bringen?“

Sie nickte lächelnd, und bald standen die beiden im Hotel dem Oberst gegenüber, der eben sich vom Schreibtische erhob.

„Na – alle Wetter, Kleine, da bist Du ja – und in Gesellschaft! –“

„Papa, denke Dir, welch’ ein Glück – ich habe unterwegs Herrn Brückner getroffen, der so freundlich war, mir die Majestäten zu zeigen und mich hierher zu begleiten.“

„Ah, der Sohn unsres lieben Geheimrats? Sie sind ja wohl hier wegen Ihres Examens? Sehr freundlich von Ihnen, mein lieber Herr Brückner, daß Sie sich meiner Kleinen annahmen –“

„Bitte, Herr Oberst, es war mir eine große Freude – “

„Papa,“ unterbrach ihn Annie, „und die kleinen kaiserlichen Prinzen habe ich auch gesehen – süße entzückende Geschöpfe! – Ach, Papa, überhaupt – es ist doch köstlich, dieses Berlin!“ Sie drängte sich zärtlich an ihn. „Ich kann Dir nicht genug danken, daß Du mich mitgenommen hast.“

„Nun, das freut mich, Kind, freut mich aufrichtig. Ich fürchtete schon, das Alleinsein – –“

„Ach, Papachen,“ rief Annie dagegen, „wie kann man in diesem Menschentrubel sich allein fühlen? Und dann, wieviel giebt’s zu sehen – jeden Augenblick etwas Neues und Interessantes!“

„Ich würde mich glücklich schätzen, Fräulein Annie vielleicht morgen als Führer dienen zu können, wenn der Herr Oberst verhindert sein sollten. Vielleicht darf ich vormittags anfragen?“

„Sehr liebenswürdig – ich weiß aber in der That noch nicht – es wäre ja möglich –“

„Wenn Herr Oberst gestatten, würde ich mich um halb elf Uhr hier einfinden, um anzufragen –“

„Schön! Wird mir sehr angenehm sein.“

„So gestatten mir Herr Oberst, mich für heute zu empfehlen.“

Dieser reichte ihm freundlich die Hand, ebenso Annie, die selig lächelte.

„So, nun laß uns aber zu Tische gehen!“ rief der Oberst, nachdem der junge Mann sich entfernt hatte. „Ich hätte ihn gerne zum Essen dabehalten, aber ich ließ in Deinem Zimmer für uns decken und wir wollen dieses Geschäft schnell besorgen, da ich leider so viel wichtigere und dringendere habe.“

„Da wirst Du wohl gar nicht in die Oper gehen können, Papachen?“ fragte sie, während sie die Suppe hastig auslöffelte, indes er dabei in ein Blatt mit Notizen blickte, das er aus seiner Rocktasche hervorgezogen hatte.

„Ich bringe Dich hin, mein Kind, und hole Dich ab – selbst sie zu hören, ist mir unmöglich. Aber Du sollst darum nicht zu kurz kommen.“

„Ach, Papachen, erlaube doch, daß ich zu Hause bleibe! Man kam: doch nicht alles sehen! Ich bin recht müde – und mich hinzubringen und wieder abzuholen, würde Dir ja doch so viele Zeit kosten.“

„Ist es Dir nicht schwer, darauf zu verzichten, Annie, dann ist’s mir lieb. Ich habe so viel zu thun, daß wohl die halbe Nacht und mehr über die Schreiberei hingeht. Und morgen, Töchterchen, wird’s auch nicht viel anders sein. Ich muß wieder um elf Uhr fort und kann schwerlich mit Dir zu Mittag essen, da ich mit ein paar Herren aus dem Kriegsministerium ein gemeinschaftliches Zusammenbleiben verabredet habe. Es ging nicht anders, mein Kind – ich bedauerte schon, Dich hergebracht zu haben, da ich Dir so wenig bieten kann.“

„Aber, Papachen, das wußte ich ja, daß Du beschäftigt bist, und Du darfst Dich durch mich nicht stören lassen, ich amüsiere mich auch so ganz prächtig. – Ueberdies hat sich ja auch Herr Brückner angeboten –“

„Freilich, der junge Brückner – der Sohn vom Geheimrat – unser durchgefallener Referendar!“

„Nein, Papachen, eigentlich durchgefallen ist er doch nicht. Er muß nur einen Teil des Examens wiederholen.“

„Ach so,“ lachte jovial der Oberst, „nach dem Muster: ,weil er es so schön gemacht, soll er es gleich noch einmal machen,‘ sagte der Herr Examinator!“

Annie sah etwas vorwurfsvoll drein. „Er meint,“ berichtete sie, „es wäre für ihn sehr vorteilhaft, daß er so eingehende Studien hier hätte treiben können. Wahrscheinlich würde er nach dem Examen gleich ins Ministerium kommen und da so lange bleiben, bis sich auswärts eine günstige Stellung für ihn fände.“

Der Oberst horchte hin. „So, das wußte ich nicht,“ sagte er, „also so günstig sind seine Aussichten? Nun, das freut mich – freut mich wirklich sehr für den Geheimrat. Seit ich weiß, was uns die Jungen für Sorgen machen können, freue ich mich immer, wenn’s einem gut geht, für seinen Vater.“

„Papachen“ – der Atem ging bei Fräulein Annie plötzlich sehr schnell, sie meinte, man müßte ihr Herz klopfen hören – – „Papachen, der Herr Referendar hat mir angeboten, mir morgen das Zeughaus und die interessanten Geschütze dort zu zeigen, vorausgesetzt, daß Du es gestattest.“

Der Herr Oberst zog die Stirn kraus. „Was versteht der von Geschützen!“

[760]

Der Kampf um das Glück.
Nach dem Gemälde von G. Rochegrosse.

[761] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [762] „Na,“ meinte Annie, „er ist doch auch Offizier, wenn auch nur in der Reserve; da denke ich, so viel, als mir davon zu wissen gut thut, weiß er auch.“

„Freilich, so wird’s wohl sein, Du kleines kluges Kick-in-die-Welt! Und wenn’s nicht die Geschütze sind, so ist’s 6die Ruhmeshalle, da kannst Du Deine vaterländischen Geschichtskenntnisse repetieren, nicht? Möchtest wohl gern noch recht viel sehen, Kleine – natürlich! Na, ich habe nichts dagegen, wenn er so viel Zeit übrig hat. Er kommt ja morgen vormittag her. Da werden wir ja sehen –“

*               *
*

Am anderen Morgen – Annie war erst spät eingeschlafen – erweckte sie der sporenklirrende Schritt ihres Vaters vor ihrer Thür.

„Mach’ auf, Kind, ich muß Dich sprechen!“

Sie fuhr erschreckt aus den Kissen auf, drehte den Schlüssel um und huschte wieder unter das Deckbett, als der Oberst die Thür öffnete und ins Zimmer trat. Er sah ganz sorgenvoll drein und sagte: „Liebe Annie, ich muß schon jetzt ausgehen. Mit der verdammten Federfuchserei bin ich nicht zu stande gekommen, mir fehlen allerlei Notizen, die ich in der Kanzlei einsehen muß; da wollte ich Dir Adieu sagen. Und hier, mein Kind, ist eine Karte von Mama. Sie mahnt sehr, daß ich Dich in ein Theater führe. Bin’s aber außer stande! Das Anerbieten des jungen Brückner ist mir unter diesen Umständen sehr willkommen. Frage ihn in meinem Namen, ob er Dich auch in ein Theater begleiten kann. Er müßte aber auch für Deine ungefährdete Heimkehr eintreten – abends Dich allein zu lassen, ist mir zu ängstlich. Anders kann ich Mamas Wunsch nicht erfüllen.“

„Ach, Papachen, er thut’s gewiß sehr gern, wenn er euch eine Freude macht. Er ist ja so liebenswürdig!“

„So – liebenswürdig ist er?“ fragte etwas gedehnt der Oberst.

„Nun ja, Papachen, und ihr seid doch auch mit seinen Eltern befreundet, da ist es doch natürlich, daß er, so weit er kann, euch gefällig ist.“

„Freilich – ich meine das ja auch. Sage ihm nur, ich rechne auf ihn – zu Gegendiensten allezeit bereit und so weiter, und nun adieu, Kind, adieu!“

„Adieu, Papachen, und“ – viel Vergnügen! hatte sie rufen wollen, aber sie besann sich zur Zeit noch, daß sie es war, der das Vergnügen winkte, und so verschluckte sie schnell das Wort und zog die Decke über ihren Kopf, um dem hellen Jubel, der sie durchströmte, in einigen unartikulierten Tönen Luft zu machen. – Nein, dieses Berlin, dieses Berlin – was hatte es nicht alles zu geben! Wie zauberhaft war solch ein Tag wie dieser, der ihr jetzt entgegen lachte!

Und nun wieder dieses hastige Frühstücken, diese sorgfältige Toilette, dieses eifrige Erwägen, ob sie den Hut wohl mehr in die Stirn oder mehr in den Nacken setzen solle – dazwischen wieder ein Blick auf die Uhr, im Herzen aber immer die selige Gewißheit: nur noch eine Stunde – nur noch eine halbe – eine Viertelstunde – dann war die Erfüllung dieser Sehnsucht da!

Auch diese Viertelstunde verging – sie hatte kaum den letzten Knopf am Handschuh zugemacht, da klopfte es an die Thür, und Herr Referendar Brückner trat ein.

„Punkt halb elf!“ sagte er, die Uhr ziehend.

„Punkt halb elf!“ wiederholte sie.

„Wie ein anständiger Mensch!“ betonte er.

„Wie ein anständiger Mensch,“ bestätigte sie, und nun steckte er die Uhr ein, schüttelte herzhaft ihre Hand und fragte: „Zum Bleiben oder zum Scheiden?“

Und sie nickte. „Zum Bleiben – zum Bleiben! Papa läßt sich Ihnen empfehlen, er konnte nicht so lange warten, mußte in die Kanzlei, und läßt Sie nun bitten, sich seiner verwaisten Tochter anzunehmen!“

„Köstlich, köstlich! So, und nun machen Sie einmal diese Rosen fest, die werden Ihnen famos stehen – hier ist auch eine Nadel dazu – ja, wenn man eine Dame begleiten darf, muß man an alles denken. So – wirklich reizend!“

In glückseliger Stimmung verließen die beiden jungen Menschenkinder das Hotel.

„Und nun geben Sie mir den Arm, bitte,“ begann Leo auf der Straße. „Ja wirklich, gnädiges Fräulein, geben Sie ihn mir! Wenn Sie auch nicht so ermattet sind wie gestern, ich kann Sie besser davor schützen, daß Sie es nicht auch heute werden – und dann, Berlin ist anstrengend, man hält besser die Kräfte zusammen, wenn man sich vorsieht. So – das ist nett, ist’s nicht viel hübscher so zu zweien?“

Natürlich war’s hübscher, sie ging wie auf Wolken vor Glückseligkeit, und er führte sie so zart und so sorgsam und paßte seine Schritte so genau den ihren an – sie wünschte im Herzen, die „Linden“ wären so viel Meilen lang wie Minuten.

Aber wie köstlich war es auch im Zeughause! Während sie unter den Kanonen herumspazierten, erzählten sie sich allerlei Geschichten, die nichts mit Streit und Krieg zu thun hatten. Nur ab und zu machte er sie auf dieses oder jenes Geschütz aufmerksam und ermahnte sie, sich gründlich alles Beachtenswerte daran „für den Herrn Papa“ zu merken, und sie blickte ihn dann verständnisinnig, aber sehr errötend an und repetierte alles Gehörte „für den Herrn Papa“. Und dann gingen sie nach der Ruhmeshalle und begannen, sich die Daten und Zahlen zu den dort verewigten Geschichtsmomenten abzufragen, und lachten kindisch, wenn eines das andere überlistete. Und dasselbe lustige Belehren im Alten Museum, dasselbe Studieren der neueren Kunstwerke unter Jubel und Scherz in der Nationalgalerie – es war doch zu herrlich, dieses Berlin!

So gingen die Vormittagsstunden hin.

„Nun essen wir in den Wilhelmshallen zu Mittag und trinken den Kaffee bei Bauer,“ sagte er. „Da will ich einmal den Herrn von gestern neidisch machen. Ja, ja, so gut ist’s mir lange nicht gegangen.“

Sie lächelt und errötet und drückt ein ganz klein wenig seinen Arm – es war doch zu wonnig, in seiner lieben Gesellschaft zu sein, sich unter seinem ritterlichen Schutze geborgen zu fühlen - welches Glück, daß sie diesen Tag erleben durfte!

Auch dieser Teil des Programms wurde zur beiderseitigen Zufriedenheit erledigt, dann pfiff der Kellner nach einer Droschke, fort ging’s zum Tiergarten, und nun machten sie Standesvisiten, wie Leo sagte. Erst der Königin Luise, dann dem König Friedrich Wilhelm dem Dritten, nun den Königen im Reiche der Geister: Goethe und Lessing, und zuletzt dem König der Tiere, dem Löwen, der, wenn auch in Erz gegossen, mit seinen Klagelauten um die sterbende Lebensgefährtin den Park zu erfüllen scheint.

Wie herrlich das alles war – wie zauberhaft und wundersam! – Ihr fröhliches Lachen verstummte fast, sie gingen schweigend im Waldesschatten des Tiergartens auf und nieder, ganz überwältigt von der Lenzespracht um sie her. Die Sonne warf ihre schräg fallenden Strahlen durch das helle, zarte Frühlingslaub der Bäume, über die Gesträuche, die sich schon mit duftenden Blüten schmückten, schimmerte auf dem Sammet der grünen Rasenflächen und ließ ihre Reflexe spielend durch die Zweige gleiten, auf denen im Liebesgetändel die Vogelwelt zwitscherte.

Am Goldfischweiher auf einer Bank nahmen sie nun Platz, und ihr Gespräch wandte sich hier einer ganz anderen Richtung zu. Er blickte immer erstaunter auf ihre kindliche Erscheinung, wenn sie eine Bemerkung machte, die ihm von ihrem regen Geistesleben Kenntnis gab und ihn darüber belehrte, daß dieses blonde Köpfchen ganz ernster – eigentlich für ihre Jugend viel zu ernster Gedanken fähig sei. – Wie schnell ein Mädchen reift! dachte er. Ist es die Luft in ihrem Elternhause, sind es innere Erlebnisse, die diese Gemütstiefe entwickelten? Merkwürdig – Schwester Elfe war ganz anders! –

„So,“ sagte er nach einer Weile stillen Nachsinnens, „auch diese Stunde war ganz wunderschön, aber Sie sehen, mein Fräulein, die Sonne sinkt, und wenn wir noch ins Theater wollen, ist es höchste Zeit. Also, wohin nun?“

„Wo es lustig ist,“ antwortete das kleine Fräulein und strahlte schon wieder vor jugendlicher Fröhlichkeit.

„Wo es lustig ist,“ wiederholte er nachdenkend, „ja – wohin denn?“

„Ich weiß es!“ ruft sie plötzlich, „wir gehen ins Apollo-Theater!“

„Ins Apollo-Theater?“ fragt er staunend und sieht sie verwundert an, „was wissen Sie von dem?“

„Ja,“ erzählt sie eifrig und ganz voll Stolz, daß sie auch etwas vorzuschlagen weiß, „ich hörte davon. Kennen Sie es nicht? Es soll höchst amüsant sein. Trapez- und Zauberkünstler sind dort, die sah ich noch nie – und hernach tanzen wunderschöne Damen allerlei schnurrige Tänze.

[763] „Hm – hm – allerdings – das muß sehr hübsch sein; wer hat Ihnen denn das erzählt?“

„O, Lieutenant Kurz, er war Weihnachten hier!“

„Und unterhielt hernach die jungen Damen daheim mit seinen Erlebnissen – unglaublich!“ brummte Leo in sich hinein. „Man sollte wahrhaftig die kleinen Mädchen unter Glasglocken setzen, um sie vor solchen Strohköpfen zu schützen.“

„Nun, wie ist’s mit dem Apollo-Theater?“ fragte Annie.

„Nein, mein Fräulein, darauf wollen wir verzichten, das ist nichts für uns. Wir gehen ins Königliche Schauspielhaus und sehen uns das ‚Käthchen von Heilbronn‘ an. Heute ist’s mir so, als könnte man die Offenbarungen, die diese Dichtung predigt, fassen. Und vor dem Herrn Papa bestehen wir jedenfalls damit besser!“

*               *
*

Der Oberst und sein Töchterchen hatten das Coupé schon bestiegen, und während der Vater es bequem für sie beide da drinnen arrangierte, blickte Annie noch immer hinaus auf den Bahnsteig. – Leo hatte zwar nicht versprochen, zu kommen, im Gegenteil, als sie nach dem gestrigen unvergeßlichen Tage Abschied nahmen, hatte er ihr gesagt, daß er gern bei ihrer Abreise am Bahnhof sein würde, aber wegen dringlicher Arbeiten es nicht könne. Er würde in spätestens acht Wochen bei dem Herrn Oberst sich dieserhalb daheim entschuldigen, sie möchte ihm jetzt schon sagen, daß sie ihm verzeihe, und sie hatte wehmütig dreingeschaut, aber sich zu einigen scherzenden Worten gezwungen. Was sie indessen gestern geglaubt, heute glaubte sie es nicht mehr. Sie bangte sich ja jetzt schon so grenzenlos – und acht Wochen! – Wenn er diese kürzen kann, durch einen Gang hierher, so wird er es trotz allem auch thun, das weiß sie gewiß, das sagt ihr das heftig klopfende Herz.

Und wie nun langsam, ganz langsam der Zug sich in Bewegung setzt, sieht Annie die bekannte Gestalt hastig die Treppe in die Höhe springen. Sie winkt mit dem Tuche einen Gruß und biegt sich weit hinaus, alle Rücksicht auf den Vater und die Mitreisenden vergessend. Da hat er sie gesehen und läuft neben dem Wagen her.

„Leben Sie wohl, Fräulein Annie, leben Sie wohl – hier, ein paar Blumen zum Gedenken! – Ah, verehrtester Herr Oberst, meine gehorsamste Empfehlung, glückliche Reise! Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!“ – Und während sie heimlich eine Thräne trocknet, pfeift er ein Liedchen vor sich hin und denkt: „Das war gut abgepaßt! – Ja, der Kleinen mußte ich noch einmal in die blauen Augen sehen – aber der Alte mit seinen Erkundigungen nach dem Examen – brrr –“ (Fortsetzung folgt.)


Moderne Goldmacher.

Von W. Berdrow.


( gemeinfrei ab 2025)



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Ein Verbot.

Kulturbild von Marie von Ebner-Eschenbach.

Das Dörfchen liegt in einer Mulde, an einem sachten Abhang des Marsgebirges in Mähren, und ist im Westen von Waldungen umgeben. Es hat keine Kirche, nur einen Glockenturm, keine Schule, keine Schenke, an öffentlichen Gebäuden überhaupt nur ein Armenhaus, und was dieses wieder nicht hat, ist viel schwerer aufzuzählen als was es hat. Aus seinem völlig schwarz gewordenen Strohdach guckt ein Rauchfang hervor, bei dem man sich wundern muß, wie so viel Kürze so viel Schiefheit aufbringen kann. Die Mauern sind mit hellen Punkten, den Resten der ehemaligen Tünche, übersät. Vier Löcher, ein größeres, das mit alten, zusammengenagelten Latten geschlossen ist, und drei kleinere, die im Sommer bis zur Hälfte, im Winter beinahe ganz mit Lehmziegeln verlegt werden, bilden die Thür und die Fenster.

In dem Armenhause leben in zwei Zimmern fünf Personen. Zwei Männer, ein Weib und zwei Kinder. Senior ist der einst wohlhabendste Grundbesitzer des Ortes, ein achtzigjähriger Greis, dem man heute noch ansieht, daß er bessere Tage gekannt hat. Seine Schwäche gegen seine nichtsnutzigen Kinder war’s, die ihn ins Elend brachte. Jetzt ist er selbst zum Kinde geworden und gutmütig und nachgiebig geblieben. Zur Sommerszeit verdient er noch etwas mit Gänsehüten und Erdbeerenpflücken und weint nur – gerät aber nie in Zorn – wenn seine Leidensgefährten ihm die erworbenen Pfennige wegnehmen.

Kürzlich hat er an dem ehemaligen Schweine- und Ziegenhirten einen Stubengenossen erhalten.

Der wandelnde Branntweinrausch dieser Mensch! Gelb, kahl, Wahnsinn im stieren Blick; seine Sprache ein unverständliches Gelalle, sein Gesang – einst sein Vergnügen und sein Stolz – ein tierisches Geheul. Als die „Stärkungen“, die er unaufhörlich zu sich nahm, ihn so schwach gemacht hatten, daß er umfiel, wenn er mit der Peitsche knallte, steckte man ihn ins Armenhaus, wo er die Qualen einer notgedrungenen Alkohol-Entwöhnungskur litt.

Die weibliche Bewohnerin der humanitären Anstalt war Franzka, die Arbeitsscheue. Sie hatte Schimpf und Schande und Prügel erduldet, ihr angebornes Laster aber siegreich durchgesetzt. Zur Arbeit war sie nicht zu bringen gewesen, hatte immer vom Betteln und Stehlen gelebt, dank ihrer Zudringlichkeit und ihren guten, scharfen Diebsaugen besser als mancher Fleißige.

In der Pfründnerei war sie als Köchin angestellt worden und diesem Amt gewachsen, da es ja so gut wie nichts zu kochen gab. Auch hätte ihr niemand auch nur eine Zwiebel anvertraut. So setzte die starke und gesunde Person ihre altgewohnte Thätigkeit fort, bettelte jeden Vorübergehenden an und stahl, wo und was sie konnte.

Auch ihr Junge, ihr Franzko, mußte stehlen, mußte immer etwas mitbringen, wenn er nach Hause kam: ein wenig Holz, einige Nüsse, Erdäpfel oder Rüben. Kam er mit leeren Händen, waren ihm Schläge gewiß, doch nicht gar arge, denn Mutter Franzka mochte sich auch beim Züchtigen ihres Sohnes nicht anstrengen.

Er war brustkrank, hinkte und sah aus wie ein Sieben-, nicht wie ein Zehnjähriger, der er war. Sein mageres, blasses Gesichtchen hatte hübsche Züge und einen gutmütigen Ausdruck. Seine dunkelbraunen Augen blickten so neugierig und lebhaft, als ob sie sich beeilten, zu erschauen, was ihnen nur irgend möglich war in der kurzen Zeit, die sie hatten, sich in der Welt umzusehen.

Um zwei Jahre mehr als Franzko zählte die Waise Milenka, der fünfte Gast des Armenhauses. Ihre Mutter, eine bildhübsche Bauernmagd, war nach der Geburt des Kindes gestorben, der Vater hüllte sich in Anonymität. Obwohl sie in höchster Armut aufgewachsen war, mißhandelt und verachtet wurde, hatte doch niemand sie je betrübt gesehen, eine übermütige, wilde Lustigkeit lag ihr im Blute. Sie war von ihr besessen und von einer wahren Arbeits- und Erwerbswut. Ueberall wußte sie sich nützlich zu machen, scheute keine Mühe, keine Plage, vor den Pflug hätte sie sich spannen lassen, um ein paar Heller zu verdienen. Und nicht nur beim Taglöhnern zeichnete sie sich aus. In der Schule des benachbarten Ortes Wolitz, die von den Kindern des Dörfchens besucht wird, erhielt sie immer gute Zeugnisse, und zweimal nacheinander hatte sie schon einen ersten Preis für Fleiß und gutes Verhalten beim Religionsunterricht errungen. Daheim war sie ein Satan, und gewöhnlich die Geißel, manchmal aber auch die Spaßmacherin ihrer Hausgenossen. Sie hatte Einfälle, die sogar den Senior lächeln machten.

Der Alte mußte freilich jedesmal „blechen“ für die Unterhaltung. Milenka nahm ihm sein Geld nicht weg wie Franzka und der Hirt thaten; sie schmeichelte es ihm ab, nachdem sie ihn in gute Laune versetzt hatte.

Dann sah er abwechselnd sie und seine leeren Hände an und sagte traurig: „Mädel, Du bist schlecht.“

Und sie ganz bös: „Schimpf mich nicht! Ich werf’ Dir Deine lumpigen Heller vor die Füß’ und Du wirst schon seh’n …“

Sie wußte selbst nicht, was er sehen würde, und er konnte sich ebenfalls keine Vorstellung davon machen, aber die vage Drohung erschreckte ihn und er versuchte einzulenken: „Warum sollst Du nicht schlecht sein? Kinder sind schlecht. Meine Kinder sind auch schlecht.“

Der Aelteste und der Jüngste im Hause erlitten den Einfluß der willensstarken kleinen Person. Für Franzko war’s ein seliges Leiden. Er bewunderte seine Spielgefährtin immer, ihr Anblick machte ihm immer Freude, nur wenn sie von ihrem baldigen Scheiden sprach, fühlte er sich unglücklich.

Sie sah es wohl und es schmeichelte ihr und war ein Grund mehr für sie, recht oft davon zu sprechen.

„Zu Pfingsten geh’ ich in Dienst nach Wolitz,“ sagte sie einmal wieder mit einem Stolz, wie wenn sie gesagt hätte: Ich gehe zur Krönung. „Es ist schon alles ausgemacht. Ich krieg’ dreißig Gulden aufs Jahr und ein neues Gewand. Und zehn Gulden hab’ ich schon beim Herrn Pfarrer und fünf verdien’ ich mir heuer noch dazu mit Erdbeerbrocken.“

In dem Jahre waren zum Glücke des Armenhauses die Erdbeeren wunderbar geraten, und Absatz für sie fand man reichlich. Besonders gut wurden sie bezahlt in dem Badeort an der Petsch, eine Viertelstunde Weges hinter Wolitz. Der Wald wimmelte von dörflichen Besuchern und dabei mehrten sich täglich die Frevel an den Kulturen und an dem Wilde. Den ärgsten Unfug trieben nachweisbar die Armenhäusler. In seiner Kinderunschuld zertrat der Senior die jungen Anpflanzungen, und Franzka that’s aus Faulheit, um sich einen Umweg zu ersparen. Man fand jämmerlich verendete Hasen und Rehe in Fallen, die – darüber herrschte nur eine Stimme – der Hirt gelegt hatte.

An der Spitze des Forstamtes in Wolitz, dem der Wald unterstand, hatte ein langmütiger Oberjägermeister sich befunden, der zu den Unthaten der Dörfler ein Auge zudrückte. Um das andere war er vor langer Zeit durch einen Schuß aus dem Gewehr eines Wilderers gekommen.

Nach dem Tode des alten Herrn trat sein Sohn an seine Stelle, machte der schwachen Regierung ein Ende und begann einen energischen Kampf ums Recht zu führen.

Erste Verordnung: Niemand darf mehr ohne Erlaubnis in den Wald! Die kann sich aber jeder Arme im Forstamt holen. Sie wird in Gestalt eines nummerierten Blechplättchens erteilt. ZweiteVerordnung: Außer dürrem Holz, Erdbeeren und Schwämmen darf aus dem Walde nichts fortgetragen werden!

Die beiden Erlasse erweckten unendliches Gelächter. Was? Man darf nicht mehr ohne Erlaubnis in den Wald? Seit Menschengedenken haben ihn alle Leute als ihren Nährvater und als ihren Belustigungsort betrachtet. Er lieferte ihnen Holz und ab und zu einen Braten, und Streu und Gras für ihr Vieh. Er war das Stelldichein der Liebenden, die Wonne der Freunde unbefugter Jagd. Und was er gewesen ist, wird er bleiben. Es fällt niemand ein, sich an die neuen Verordnungen zu kehren. Wenn „die oben“ sehen werden, daß sie sich umsonst plagen mit ihrem Verbieten, werden sie es schon aufgeben. Maßloses Staunen brach aus, als die ersten Strafen erfolgten, als eine Fuhre Waldstreu konfisziert und der Dieb bei Gericht angezeigt wurde.

Der Spott verwandelte sich plötzlich in Erbitterung; den Schaden, den man dem Walde bisher durch Unachtsamkeit und Mutwillen zugefügt hatte, verursachte man ihm jetzt durch Trotz

[765]

Am Togosee.
Nach einer Originalzeichnung von Franz Leuschner.

[766] und durch Bosheit. Mehrmals erteilte, dringende Abmahnungen und Warnungen blieben unberücksichtigt. Da ergriff das Amt die strengste Maßregel, ließ sämtliche Blechplättchen als ungültig erklären und untersagte allen Ortsbewohnern das Betreten des Waldes. Als einige Erdbeerpflücker auch diesem Befehl zuwiderhandelten, wurden die Beeren weggeschüttet und den Sammlern gedroht: „Wenn ihr wiederkommt, zerschlägt man euch überdies die Töpfe.“

Die Töpfe zerschlagen? Heilige Dreieinigkeit! das sollen sie nur probieren, die Spitzbuben, die Menschenschinder! Es giebt, Gott sei Dank, ein Bezirksgericht, das arme Leute in Schutz nimmt gegen die höllischen Teufel auf dem Forstamt!

Alle Klugen im Orte rieten, das Bezirksgericht aus dem Spiele zu lassen. Eine Krähe hackt der andern die Augen nicht aus, ein Gericht läßt ein Amt nicht im Stiche. Am besten ist, eine Weile Ruhe halten. Der Eifer des neuen Oberjägermeisters wird sich schon legen, und gute Zeiten werden wiederkommen.

„Nein! nicht Ruhe halten! nicht nachgeben! nicht eine Weile, nicht einen Augenblick!“ Die phlegmatische, träge Franzka war’s, die das ausrief, und wenn sie einmal in Aufregung geriet, ließ sie sich nicht leicht beschwichtigen. Sie mahnte die Armenhäusler an alle Unbill und Härte, die sie von ihrer Gemeinde erfahren hatten, und schwor hoch und heilig, die Leute im Dorf seien die letzten, von denen sie einen Rat annehmen werde.

Der Senior saß auf dem Bänklein am Hause und staunte zu ihr empor. „Die kann reden,“ sprach er in höchster Verwunderung zu Milenka, die in der Thür lehnte, das seltene Schauspiel, das Franzka im Zorne bot, aufmerksam betrachtete und einen Genuß davon hatte.

Am selben Nachmittage noch geschah etwas Unerhörtes. Franzka nahm den Kochtopf vom kalten Herde und erklärte, „in die Erdbeeren“ gehen zu wollen. Geht jemand mit, ist’s gut, geht niemaud mit, ist’s auch gut. Sie weiß nur eins: entweder kommt sie mit dem Topf voll Erdbeeren zurück, oder ohne Topf. Dann hat sie ihn eben an dem Schädel des Hegers zerschlagen, der ihn ihr nehmen wollte. Nach einigem Zögern entschloß sich der Hirt, sie zu begleiten. Die Rückkehr der beiden wurde im Armenhaus mit namenloser Spannung erwartet und bereitete eine traurige Enttäuschung. Die Franzka hatte ihre Heldenthat nicht ausführen können. Richtig war sie überrascht worden, richtig war ihr das bißchen Erdbeeren, das sie gesammelt hatte, ausgeschüttet und der Topf zerbrochen worden – der einzige, den das Armenhaus im Augenblick besaß! Der zweite war gestern beim Kochen der Kartoffeln zersprungen. Schreiend, weinend, schimpfend erzählte sie’s, und der Senior fragte mit gutmütig blöder Neugier:

„Gehst jetzt zu Gericht?“

Zu Gericht? O der alte Esel! Das wollen sie ja, „die oben“, das weiß sie ja, und der Heger, der sie erwischt hat, der Vikukal, der Sohn der alten Hexe, hat es ihr bestätigt.

Den Senior überlief’s, als sie den Namen aussprach, und Franzko drückte sich an seine Mutter und verbarg sein Gesicht in ihrem Kleide.

Der Hirt wollte sich ins Gespräch mischen; Franzka gebot ihm, zu schweigen. Er sollte sich schämen, der Lump, der Feigling! Sie wollte nur wissen, wozu er eigentlich mit ihr gegangen war! Nicht eine Beere hatte er gebrockt, und davongelaufen war er vor dem Heger wie die Katz’ vorm Wassersturz!

„Geh’st jetzt klagen?“ fragte der Senior wieder.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein!“

„Warum denn nicht?“

Darum nicht, weil der Hexensohn zu ihr gesagt hat: Geht doch klagen, geht! Wir wünschen uns nichts Besseres. Wir werden schon sehen, was alles herauskommen wird vor Gericht. „Ja, das hat er gesagt. O, der Hexensohn! und o, der Feigling, der lumpige Hirt!“

Sie stöhnte, sie schluchzte, stieß den Franzko von sich, ging in die Kammer und warf sich dort auf ihr Bett.

Milenka hatte nicht ein Wort gesprochen, nur mit größter Spannung zugehört. Ueber ihr bewegliches Gesicht hatte es gezuckt wie kleine, aufblitzende Lichter. Lauter spitzbübische, nichtsnutzige Einfälle. Eine Weile wartete sie und horchte. Der Senior und der Hirt hatten sich aufs Bänklein vor das Haus gesetzt; in der Stube wurde Franzkas kräftiges Schnarchen laut.

„Jetzt ist’s gut, jetzt komm, jetzt thun wir etwas,“ flüsterte Milenka ihrem Spielkameraden zu. „Komm mit, wir machen’s besser, wir sind gescheit, die andern sind dumm, so dumm, so dumm!“ Sie nahm Franzko bei der Hand und ging mit ihm dem Dorfe zu. Ganz langsam, so lange sie von den beiden Alten gesehen werden konnte; einmal außerhalb ihres Gesichtskreises, immer schneller immer schneller. Im Dorfe rannte sie von Haus zu Haus, von Thür zu Thür, und schrie in einer Art Rhythmus, daß es klang wie ein wildes Lied: „Erdbeerbrocken verboten! Die Heger zerschlagen einem die Töpf’! Nehm’t euch in acht!“

Es war ein förmliches Jauchzen in ihrer Stimme. Mit triumphierendem Entzücken verkündete sie ihre traurige Botschaft. Die Leute traten aus den Häusern und blickten ihr nach, wie sie dahinraste und schrie und Franzko, ihr Trabant, ihr nachlief, hustend und hinkend.

Ein wahrer Jammer, der Bub’! Die dicke Frau des Gemeindeboten blieb mitten auf der Straße stehen mit ihrer ganzen Ladung gestohlenen Holzes auf dem Rücken und rief:

„Geh’ nach Hause, Franzko! Hast ja keinen Atem!“

Sie ärgerte sich nicht einmal, daß er nicht gehorchte, ein menschlich Rühren ergriff sie. Sein Jäckchen ging in Fetzen, die ausgefranste Hose aus Sackleinwand reichte ihm bis zur halben Wade am kürzeren Bein und bis zum Knie am längeren. Ein Hemd hatte er sein Lebtag nicht am Leibe gehabt, und so legt seine Mutter ihn in den Sarg, sie ist’s imstande! Die Botenfrau nimmt sich vor, dem Buben, wenn er stirbt, was ja bald geschehen wird, ein ,ausgewachsenes‘ Hemd von ihrem Jüngsten zu schenken.

Die Kinder hatten ihre Runde beendet und näherten sich jetzt einem unheimlichen Bereiche, dem der Hexe, der Vikukalka, die nur einige hundert Schritte hinter dem Armenhause wohnte. Ihre Hütte sah von außen sehr verfallen aus, sollte aber im Innern großen Reichtum bergen. So wenigstens behaupteten die Leute; und warum sollte es nicht sein, die Vikukalka konnte ja den Teufel beschwören! Wie viele hatten sie schon gesehen, wie sie auf dem First ihres Daches saß und Beschwörungsformeln flüsterte. Was sie da sagte, konnte man nicht verstehen, aber ihre Reden mußten Gräßliches enthalten, denn ein Grauen ergriff jeden, der das leise Murmeln der geheimnisvollen Worte vernahm. Vor ein paar Jahren noch durfte man der Hexe nicht „Hexe“ sagen, da wurde sie bös und machte einem Schaden am Vieh oder an den Feldfrüchten. Jetzt durfte man ihr sagen, was man wollte, denn sie war ganz taub geworden.

Milenka blieb stehen. „Schau, wie sie neugierig schaut!“ sprach sie. „Die Tauben sind alle schrecklich neugierig, selbst wenn sie Hexen sind und ohnehin alles wissen. Aber wart’, jetzt machen wir uns einen Spaß mit ihr!“

In unbändigem Uebermut trat sie an den Zaun fast bis auf Armeslänge heran und schrie: „Verboten! Erdbeerbrocken im Wald verboten! Wenn Ihr vielleicht Lust habt, laßt sie euch vergehn!“

„W – as?“ Die Vikukalka streckte ihren braunen, dürren Hals, daß er zum Entsetzen lang wurde. „Was?“ und Milenka sprang einen Schritt zurück, schnitt Gesichter und äffte sie nach.

„Was? ein alt’s Faß! Sitzen drei Weiber d’rauf, weiß keine was! Ich werd’ mich da nicht heiser schrei’n mit Euch. Ihr seid taub wie eine tote Gans!“

O des grauenhaften Wunders; das hatte die taube Hexe gehört. Wut verzerrte ihr Gesicht. „Gans?“ zischte sie. „Gans? Du Auswürfling!“ und ein Hagel von Worten prasselte aus ihrem zahnlosen Munde. Lauter Flüche, gewiß lauter schändliche, gotteslästerliche Flüche in der Hexensprache.

Dem Franzko schauderte die Haut, Schrecken lähmte ihn.

„Lauf!“ rief Milenka. „Jesus Maria, laufen wir!“

Wieder war sie voran und wieder keuchte er hinter ihr her. Und plötzlich flog etwas über seinen Kopf weg an den Kopf Milenkas – der Reisigbesen, den die Hexe ihr nachgeschleudert hatte, und der sich in ihren Haaren verfing, sie ihr verwirrte, und den sie ein Stück Weges hinter sich herschleifte.

Franzko hatte die Nacht hindurch wüste Träume und stand am Morgen todmüde auf; er hätte sich am liebsten gleich wieder hingelegt. Aber Milenka duldete es nicht. Sie befand sich in ihrer allermuntersten Laune, und auch er sollte munter sein. Sie zog ihr bestes Kleid an, weil Sonntag war, und lief und wirtschaftete im Hause herum „wie von der Tarantel gestochen“. [767] Offenbar führte sie irgend einen Streich im Schilde; Unternehmungslust funkelte ihr aus den Augen.

„Weiß der liebe Herrgott, was die wieder vorhat,“ sagte der Senior, wackelte mit dem Kopfe, zog seinen Rosenkranz aus der Tasche und fing an zu beten.

Der Hirt und Franzka gingen in die Kirche nach Wolitz. „Könntest auch mit, Du,“ hatten sie Milenka ermahnt und ein paar Anti-Kosenamen hinzugefügt.

„Geht nur voraus, ich hol’ euch ein!“ hatte sie geantwortet und ihnen, als sie den Rücken gewandt, eine lange Nase gemacht. Jetzt stand sie auf der Straße allein mit dem dummen Buben und war unbeschränkte Herrin der Situation. „So, jetzt komm“, sprach sie, „setzt thun wir’s!“

„Was denn?“

„Was – w – as? fragst wie die alte Hex’ – w – as? – Das also! Heute traut sich keine Seel’ in den Wald, ich hab’ ihnen allen gestern eine gehörige Angst eingejagt, heute gehen wir und klauben alles zusammen, alles allein, wir zwei!“

Er meinte, daß sie ihn zum besten habe wie so oft, zuckte die Achseln und sagte: „Was Dir einfällt!“

Sie faßte ihn entschlossen bei der Hand. „Wirst schon sehen, was mir einfällt, komm nur! Ich zeig’ Dir einen Platz, wo so viel Erdbeeren sind, wie Du in Deinem ganzen Leben nicht gesehen hast.“

Ihr überzeugter Ton machte Eindruck auf ihn, besiegte aber seine Zweifel nicht. „Wie sollen wir sie denn nach Hause bringen, die Erdbeeren? Wir haben ja keine Töpf’!“

„Wir leihen uns halt ein paar aus.“

„Ja, just, wer wird nns was leihen?“

Sie zeigte ihm die Zunge.

„Wer? Der’s nicht weiß, daß wir uns bei ihm was ausborgen. Komm!“ Und sie schlug den Weg ein, der zum Haus der Hexe führt. Ja wahrhaftig, zum Haus der Hexe, und als Franzko ihr dahin nicht folgen wollte, stieß sie ihn mit Fäusten und Füßen und nannte ihn einmal ums andere Kalb.

Und dann schmeichelte sie ihm und vertraute ihm ein Geheimnis an. Die Hexe ging, wie er ja wußte, zu Mittag immer fort mit ihren Ziegen, um sie am Waldesrand grasen zu lassen, und kam vor Abend nicht heim. Diese Zeit hatte Milenka schon einmal benutzt, um ins Hexenhaus einzusteigen.

„Einzusteigen! Verwundere Du, ,zerkreuzige‘ Dich!“ beantwortete sie seinen Ausruf des Entsetzens bei dieser vertraulichen Mitteilung. „Ich war drin. Den Laden, hinten beim Stall, den hab’ ich aufgemacht. Wie? – halt so – – man muß halt geschickt sein!“ …

Und was sie alles gesehen hatte im Hause der Hexe! Einen Schlangenkopf mit einer goldenen Krone, und eine abgeschnittene Hand, eine weiße, schmale, mit Fingern und Nägeln – ach – ach! … Und ein Messer, viel, viel länger und spitziger als die Zinken der größten und spitzigsten Heugabel, und die graue Haube, die die Hexe aufsetzt, wenn sie eine andre Gestalt annehmen will, oder wenn sie sich unsichtbar machen will. Und auf dem Bort ueben dem Herd fünf schöne, glasierte Töpfe, zwei grüne, zwei braune und einen weißen mit einer Rose drauf.

Und zwei von diesen Töpfen wollte sie jetzt holen gehen und Franzko mußte Wache halten, während sie einstieg bei der Hexe. An der Ecke des Zaunes, befahl sie ihm, stehen zu bleiben. „Und wenn Du jemand von weitem kommen siehst, gluckst Du wie eine Henne, verstehst?“

Es war aber weit und breit kein Mensch zu sehen. Franzko hörte auch nichts außer dem dumpfen Dröhnen in seinem Kopfe und dem Klopfen seiner Adern an den Schläfen. Gott, Gott! wenn sie doch käme! wenn sie heil zurück käme aus dem Hexenhaus! … Wenn ihr nichts geschehen wäre, müßte sie längst da sein. Er betete ein Vaterunser, er zählte bis zwanzig und betete wieder, verging fast vor Angst um sie und stöhnte: „Milenka! Milenka!“ Seine Angst stieg aufs höchste und er begann zu glucksen. O Seligkeit! da war sie und brachte zwei Hafen mit. Für ihn einen vom Drahtbinder schon geflickten, für sich – unfaßbare Keckheit! – den mit der Rose.

Und nun vorwärts, im Laufschritt in den Wald, ums Dorf herum, auf den schmalen Hohlweg, in dem man sich so gut verstecken kann hinter den üppigen Weißdorn- und Haselbüschen, wenn einem ein Angeber begegnen sollte. Die Kinder begegneten aber nur einem jungen Mädchen, das ihnen lachend zurief: „Gesindel!“ und einem alten Mann, der eine störrische Kuh auf die Weide führte.

„Schon wieder in den Wald, verfluchtes Pack?“ wetterte er die beiden an. „Wißt ihr nicht, daß es verboten ist? Das Pack macht Schaden im Wald und uns jagt man hinaus.“

Milenka lachte laut und frech, und er schnalzte mit der Peitsche nach ihr – sie duckte sich, Franzko empfing den Streich, der ihr gegolten hatte und einen roten Striemen auf sein Gesicht hinmalte vom Ohr bis zum Mundwinkel. Das machte ihm keinen Eindruck, auch er lachte.

„Ach, Du, Milenka, beinah’ hätt’ er Dich erwischt!“

Sie rannten weiter, und der alte Mann, der seine Kuh nicht verlassen konnte, schimpfte ihnen nach.

Und nun im Walde!

Ja, das ist wahr, Milenka weiß die besten Plätze! Eine Viertelstunde nur geradeaus hinauf gestiegen zwischen den schlanken Buchen und Erlen, und man ist auf der Stelle, auf der im vorigen Jahr der Holzschlag war! Die Baumklötze sind noch da und treiben gewaltig aus, es wuchert alles in dem guten Waldboden, die Blütenkerzen des Fingerhuts in ihrer wechselnden Farbenpracht, das dichtblättrige Bilsenkraut, der kampflustige Stechapfel stolzieren als Bäumchen, und zu ihren Füßen schimmert es rot: Erdbeeren, lauter Erdbeeren! Man braucht sich nur zu bücken und hat die Hände voll. Im Nu ist der braune Hafen und der mit der Rose mehr als zur Hälfte mit Früchten gefüllt.

Milenka wirft einen raschen Blick nach der Ernte Franzkos, steht plötzlich auf, ergreift mit beiden Händen seinen Hafen und leert ihn in den ihren aus, daß die Erdbeeren hoch aufgetürmt an allen Seiten niederrieseln.

Er kniet auf dem Boden, schaut wie erstarrt zu ihr hinauf. „Milenka, was thust?“

Sie stellt den Hafen auf ihr Tüchlein, das sie vom Kopf genommen hat, knüpft die vier Enden zusammen, hebt sie in die Höhe und läuft davon.

Franzko macht keinen Versuch, ihr zu folgen, er weiß, daß er ihr nicht nachkommen kann, sie ist wie ein Reh. Nur schreien kann er und schreit denn aus allen seinen Kräften: „Milenka, Milenka! Diebin, abscheuliche!“ Bald aber ergreift ihn eine furchtbare Wehmut; sein Zorn erlischt. „Milenka, liebe Milenka! Erbarm’ Dich meiner! Komm zurück! komm zurück, Milenka!“ In allen Tönen des Schmerzes und der Zärtlichkeit wiederholte er ihren Namen.

Sie hört ihn nicht, sie ist fort, hat ihn bestohlen und verlassen.

Was soll er anfangen? Er war noch nie im Badeort, hat dort noch nie Erdbeeren verkauft, das hat immer die Mutter besorgt. Verzweifelnd wirft er sich auf die Erde und weint, und schluchzt über sich, über Milenka, über sein Elend und über ihre Schlechtigkeit. In Strömen laufen die Thränen ihm über das Gesicht, er kommt sich unaussprechlich arm und bedauernswürdig vor. Immerfort weinend und schluchzend fängt er nun aber doch an, die verschütteten Erdbeeren aufzulesen, fängt auch zu pflücken an, und der Beeren scheinen immer mehr zu werden, sie drängen sich förmlich von selbst unter seine Finger, rufen ihn förmlich an: Pflück’ uns! Pflück’ uns! – Es ist wie im Märchen, wie im Traum.

Ein paar Schritte weiter – da strotzt es von Erdbeeren, so groß wie Haselnüsse. Von solchen Erdbeeren weiß nicht einmal die verräterische Milenka, nur er allein! Sein Stolz, sein Trotz erwachen: sie soll auch nichts von ihnen wissen, er sagt ihr nichts, er braucht sie nicht, wird seine Erdbeeren verkaufen ohne sie. Er wischt sich mit dem Aermel die letzten Thränen vom Gesicht und weint nicht mehr, weil er nicht mehr weinen will. Ueber das schwere Schluchzen, das seine schmale eingesunkene Brust stoßweise hebt, hat er keine Macht, das dauert fort und beengt ihm den Atem. Er muß innehalten, sich aufrichten auf den Knien, den Kopf erheben … Allmächtiger! … Wie gebrochen sinkt er im selben Augenblick in sich zusammen … Der kleine alte Jäger Slamek mit den krummen Beinen und dem lehmfarbigen Gesicht steht da, hat einen Hund an der Leine, und der ist auch alt und ist halb blind und schnüffelt und wittert am Boden herum, giebt aber keinen Laut. Unhörbar sind sie herangekommen. Franzko hat ihnen wohl selbst die Richtung angegeben, in der sie zu suchen haben, als er wie sinnlos nach Milenka schrie. Der Jäger wirft einen Blick auf den Buben und sieht dann weg. Gerührt sein ist [768] nicht seines Amtes. Doch muß er denken: Welches Elend! und: Ich lass’ ihn laufen!

Da knallt ein Schuß und gleich darauf ein zweiter … Der Oberförster ist im Wald, jagt an der Wolitzer Lehne. Daß er herüber kommt, hat keine Wahrscheinlichkeit, aber schon das Bewußtsein: Er ist im Wald! fährt einem in die Glieder … Slamek kriegt plötzlich ein Rückgrat von Eisen, wird ein Mann der Pflicht vom Wirbel bis zur Sohle. Es sind scharfe Weisungen erteilt worden, und ein paarmal schon hat Slameks nächster Vorgesetzter ihn lau im Dienst genannt. So bückt er sich denn, nimmt den Hafen, hebt ihn hoch, schleudert ihn mit aller Gewalt zur Erde und tritt dann auf die Scherben. – „Merk’ dir’s,“ sagt er.

Der Junge hat aufgestöhnt: „Herr Jäger, Herr Jäger, ich hab’ Ihnen keinen Schaden gemacht!“

Der Jäger brummt etwas Unverständliches in seinen zerzausten und schütteren Bart hinein und geht seiner Wege.

Franzko hockt regungslos auf dem Boden. Ganz starr betrachtet er die Scherben, die vor ihm liegen.

Wie ein greller Blitz schießt es ihm durch den Kopf. Die Hexe! … Was wird die Hexe sagen, wenn sie am Abend ihren Hafen auf dem Bort vermißt?

Alles andere, sein Schmerz über Milenkas Verrat, seine Freude über sein Finderglück, die Wonne des auflebenden Mutes, alles vergessen – alles verschlungen von einem entsetzlichen Gefühl: – Todesangst! Was wird die Hexe sagen? Wer ihr ihren Hafen genommen hat, weiß sie natürlich gleich, dafür ist sie eine Hexe. Herrgott im Himmel! am Ende weiß sie es jetzt schon, macht sich auf … Herrgott, wenn der Jäger die Scherben wenigstens nicht zertreten hätte, der Hafen wäre vielleicht zu reparieren gewesen!

Auf einmal raschelt’s – ein Wiesel? ein Erdzeisel? über den abgehauenen Baumstamm mit den vielen Wurzeltrieben ist etwas hingelaufen. Kleine Augen haben Franzko aus dem Laube angeglänzt … Die Hexe kann allerlei Gestalten annehmen. O! o! Er sprang auf. Ein Vogel, ein großer schwarzer, ist aufgeflogen – das wird sie sein! Seine Haare sträuben sich – jetzt wird es ihm gehen, wie es Milenka gegangen ist. Er besinnt sich ganz deutlich, die Hexe hat den Besen nicht nach Milenka geworfen, sie selbst ist über Milenka hergeflogen und rittlings auf dem Besen gesessen, hatte ihre dunklen Beine vorgestreckt und mit den Krallen an ihren Zehen Milenkas Haare gefaßt … Und Milenka hat geschrieen: „Jesus, Maria!“ und ist ihr entwischt. Vielleicht entwischt auch er, wenn auch er ruft: „Jesus, Maria!“ Maria – wie er den heiligen Namen ausspricht, da fällt ihm ein: beim Muttergottesbild oben an der großen Eiche, da fände er Heil. In die Nähe der Muttergottes wagt eine Hexe sich nicht. Nur hinkommen, hinkommen bis zu der großen Eiche, das müßte man! Franzko rennt so rasch er nur kann den steilen Weg aufwärts und keucht und betet: „Lieber Gott, hilf, mach’ sie tot, die Hexe, daß sie mich nicht packen kann … Ihr Heiligen, all ihr lieben, guten, thut ein Wunder, gebt ihr ihren Topf zurück! Heilige Maria, Mutter des kleinen Jesuskindleins, Du hast die Kinder gern, gieb mir Kraft, gieb mir Atem, daß ich laufen kann bis zu Dir!“

Und jetzt ist ihm, als ob er lachen hörte. Sein kurzer Fuß versagt plötzlich den Dienst, will nicht mehr mit. Franzko hüpft nur noch in kleinen Sätzen. Die Hexe hat ihn, spielt mit ihm wie die Katze mit der Maus. Sie ist hinter ihm, über ihm, neben ihm, streckt den Hals, ihre runzlige Wange streift seinen Arm, und sie blickt ihm von unten hinauf ins Gesicht. Und die Totenhand greift nach ihm, er fühlt sie eisig kalt im Genick. O die Nägel! … die Nägel stechen ihn in den Rücken … Der Schlangenkopf ist auch da, rollt ihm vor die Füße … züngelt nach ihm …

Weiter, weiter mit Schaudern, Stöhnen, Weinen …

Die Sonne steht im Scheitel, dunkel ragt der Wald vor dem weißglühenden Horizont, und einzelne Lichtstrahlen zittern durchs Laub … O gnädiges Licht! Es hat die Eiche getroffen. Es gleitet über ihren Stamm. Er sieht das heilige Bild. Der glänzende Schein um das Haupt der Gebenedeiten leuchtet ihm Trost und Erbarmen ins verzweifelnde Herz. Und das himmlisch holde Angesicht lächelt! … Da bin ich, komm zu mir!

Eine höchste, letzte Anstrengung. Franzko faltet die Hände und schreit auf.

Die Hexe hat ihr Aergstes gethan, sie hat ihm ihr Messer in die Brust gestoßen … Blutstropfen perlen auf seinen Lippen …

Aber einige Schritte nur noch, und er ist am Ziel. Die heilige Jungfrau neigt sich ihm zu, öffnet die Arme, breitet den blauen Mantel aus, und das Kind stürzt sich hinein, schmiegt sich in seine weichen Falten und betet, gerettet, erlöst: „Gegrüßet seist Du, Maria, Du bist voll der Gnaden.“

*               *
*

Milenka kam rechtzeitig heim, stellte den Hafen an seinen alten Platz, ging stolz ins Armenhaus und klimperte mit den kleinen Münzen in ihrer Tasche. Ihre erste Frage war nach Franzko.

„Ist der dumme Bub’ noch nicht da? Er hat sich gewiß erwischen lassen, und sie haben ihm den Topf zerschlagen, und jetzt traut er sich nicht nach Hause.“

Eine Weile wartete sie, dann ging sie ihn suchen.

Von weitem schon erblickte sie ihn. Er lag auf der Erde vor der großen Eiche.

„Fauler Schlingel!“ rief sie und eilte auf ihn zu und stieß mit ihrem Fuße gegen sein ausgestrecktes Bein: „Rühr’ dich!“ … Das Wort erstarb auf ihrer Zunge, schaudernd wich sie zurück. In die weitaufgerissenen Augen, mit denen sie ihn anstarrte, schoß es ihr brennend heiß. Der rührt sich nimmer, der ist tot. Sie wußte es gleich, sie ging ja von jeher jeden im Dorf Verstorbenen ansehn. Fast alle hatten einen friedlichen Ausdruck gehabt – keiner einen so still glückseligen. Von dem durchsichtig blassen Kindergesicht ihres kleinen Freundes ging ein förmliches Leuchten aus. Sein Kopf war im hohen, weichen Moose eingebettet wie auf einem roten Polster. Es waren aber nicht Erdbeeren, was den Boden färbte, es war Blut.


Dunkle Gebiete der Menschheitsgeschichte.[1]

Von Dr. P. Schellhas.
Die Basken.

Eins der Merkmale, an denen sich die uralten, in unbekannte und vorgeschichtliche Zeiten zurückreichenden Beziehungen zwischen den Völkern der Erde erkennen und erforschen lassen, ist die Sprache. Das gesprochene Wort, so leicht und flüchtig es auch scheint, ist der Zeuge einer fernen Vergangenheit, es ist älter als alle anderen geschichtlichen Denkmäler, die der zerstörenden Zeit entgangen sind, es ist in gewissem Sinne dauerhafter als Marmor und Erz. Wenn es auch im Laufe der Jahrhunderte Wandlungen durchmacht, im Gesamtbilde der Sprache kommt doch die Kunde von Völkerbeziehungen auf uns, die in den Erinnerungen der Völker selbst längst verschollen und vergessen sind. Die Wissenschaft der vergleichenden Sprachforschung sucht diese Beziehungen zu ermitteln, und sie hat fast in allen Teilen der Erde nachgewiesen, wie die einzelnen Völker untereinander verwandt sind, und welche von ihnen zu Gruppen, zu Völkerfamilien zusammengehören, deren Sprachen nur Zweige eines großen gemeinsamen Stammes sind. So gilt das ja auch für Europa, und die Sprachengruppen unseres Erdteils und ihre Verwandtschaftsgrade sind im allgemeinen genau bekannt.

Wenn wir nun eine „Sprachenkarte“ Europas vornehmen, eine Landkarte, auf der die einzelnen zusammengehörigen Sprachengebiete durch verschiedene Farben bezeichnet sind, so finden wir im nordwestlichen Winkel Spaniens und in den nächsten Grenzgebieten Frankreichs, zu beiden Seiten am Fuße der Pyrenäen, einen Fleck, der mit besonderer Farbe bezeichnet ist. Am Rande der Karte sehen wir, daß diese Farbe eine „isolierte“ Sprache bedeutet, eine Sprache, die mit keiner anderen verwandt, in keiner Gruppe unterzubringen ist. Wir haben in der angedeuteten Gegend des südwestlichen Europas einen Volksstamm vor uns, dessen Sprache uns vor ein dunkles Gebiet der Menschheitsgeschichte stellt.

Es ist der Volksstamm der Basken, oder wie sie selbst sich nennen, der „Escualdunac“, der dort wohnt, und ihre Sprache ist das Baskische oder das „Escuara“. Mitten im Gebiete der romanischen

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Photogravüre im Verlage von H. O. Miethke in Wien.
Gute Fastenspeise.
Nach dem Gemälde von E. Grützner.

Völker sitzt dort ein vereinsamtes Volk, das mit keinem seiner Nachbarn und überhaupt mit keinem Volke der Erde Verwandtschaft zeigt und eine ganz eigene Sprache spricht, ein Glied der Menschheit, das wie ein Fremdling unter den europäischen Völkern erscheint und dessen Herkunft und Abstammung mit einem fast undurchdringlichen Geheimnis umgeben ist.

Das Gebiet dieses merkwürdigen Volkes läßt sich noch näher bezeichnen, indem man den Winkel des Meerbusens von Biscaya, zu beiden Seiten der Pyrenäen, dafür angiebt. Das Hauptgebiet der Basken liegt in Spanien, drei seiner nordwestlichen Provinzen sind ausdrücklich die „baskischen“ Provinzen benannt. In Südfrankreich gehört noch ein Stück des Departements Niederpyrenäen dazu mit der Stadt St. Jean de Luz, die noch vorwiegend baskische Bevölkerung hat. Im ganzen schätzt man die Zahl der Basken auf etwa 400 000, wovon ungefähr ein Viertel auf Frankreich entfällt. Sie nehmen von Jahr zu Jahr ab, wie das bei ihrer vereinzelten Stellung unter den übermächtigen Einflüssen der Nachbarvölker sehr erklärlich ist, und eine lebhafte Auswanderung nach Amerika trägt ebenfalls dazu bei, ihre Zahl zu vermindern. Ihre Stammeseigentümlichkeiten verlieren sich zum Teil auch schon dadurch, daß eine große Anzahl Basken ihren Verdienst in anderen Provinzen Spaniens sucht und infolgedessen fremde Sprache und Sitte annimmt.

[770] Schon körperlich und im Volkscharakter unterscheiden sich die Basken von den umwohnenden Romanen. Leider hat das Baskenvolk im Laufe der Jahrhunderte so zahlreiche fremde Elemente aufgenommen, daß die Feststellung bestimmter körperlicher Merkmale sehr erschwert ist. Die darauf bezüglichen Untersuchungen der französischen Gelehrten, die sich in neuerer Zeit mit den Basken lebhaft beschäftigt haben, widersprechen einander vielfach in der merkwürdigsten Weise. Immerhin zeichnen sich die Basken durch Größe und schönen Wuchs vor den umwohnenden Romanen aus, und auffallend ist ihre helle Hautfarbe und das zahlreiche Vorkommen von blauen Augen und blondem Haar unter ihnen. Sie haben die Charaktereigenschaften eines freien und stolzen Gebirgsvolkes: eine glühende Liebe für ihr Land, einen lebhaften Unabhängigkeitssinn, Kühnheit und Unerschrockenheit, sie sind abgehärtet und von patriarchalischer Einfachheit, an alten Sitten und Gebräuchen halten sie zähe fest. Berufszweige, die Körperkraft, Mut und Gewandtheit erfordern, lieben sie besonders: sie sind tüchtige Seeleute und Fischer und – an der Grenze – gefürchtete Schmuggler. Neigung zu ausgelassener Fröhlichkeit ist ihnen ebenso eigen wie leidenschaftliche Erregbarkeit. Der Baske ist von alters her unabhängig gewesen, eine bäuerliche Unterthänigkeit, eine Feudalherrschaft hat es in seinem Lande nie gegeben. Daher ist der Stolz des armen Mannes nicht geringer als der des Begüterten. Die Frauen sind arbeitsam wie die Männer und – abweichend von den meisten Spanierinnen und Französinnen – tüchtige Hausfrauen. Ackerbau und Industrie blühen im Lande dieses thätigen Volkes wie nirgends in Spanien.

Die seltsamste Eigentümlichkeit des Baskenvolkes ist nun aber seine Sprache, und diese ist es vor allem, die uns zeigt, daß wir es hier mit einem ganz vereinzelten Ueberbleibsel vergangener Abschnitte der Menschheitsgeschichte zu thun haben. Die baskische Sprache weicht von allen europäischen in auffallender Weise ab, sie zeigt das Gepräge hohen Alters und hat noch die Merkmale eines frühen Entwicklungsstandpunktes bewahrt. Um eine Vorstellung von der Eigentümlichkeit der Baskensprache zu geben, wird es genügen, zu sagen, daß sie in ihrem Bau am meisten den Sprachen der – Indianer Nordamerikas ähnlich ist! An Wortstämmen ist sie arm wie die Sprache eines einfachen Urvolkes, das keine Veranlassung hatte, einen reichen Wortschatz zu bilden. Erstaunlich ist dagegen die Fähigkeit, Zusammensetzungen zu bilden, und ganz besonders gruppiert sich das Zeitwort im Satzbau mit einer unendlichen Anzahl von Anhängseln, die alle erdenklichen Beziehungen ausdrücken. Schon die Deklinationsformen sind außerordentlich zahlreich. Zu den vier bis sechs Fällen, mit denen sich die Grammatik der bekannten europäischen Sprachen begnügt, fügt das Baskische noch eine ganze Reihe weiterer, so daß leicht etwa zehn bis fünfzehn Fälle herauskommen. Was würden unsere über das Lateinische und Griechische seufzenden Gymnasiasten sagen, wenn sie sich mit dem Baskischen beschäftigen müßten, angesichts der Thatsache, daß man in dieser merkwürdigen Sprache ohne Schwierigkeiten einige hundert Konjugationen aufstellen kann! Das Zeitwort drückt in seiner Form nicht nur alle erdenklichen Beziehungen des Sprechenden zum Objekt aus, sondern es bildet sogar von jeder Konjugationsart wieder vier verschiedene Formen, je nachdem der Sprechende eine ihm gleichstehende Person anredet, einen Höherstehenden, einen Niedrigerstehenden oder eine Frau! Diese unendliche Fülle von Formen, die ein Ganzes von fast mathematischer Regelmäßigkeit der Kombination bilden, machte den Sprachgelehrten von jeher so große Schwierigkeiten, daß der Jesuit Larramendi, der im Jahre 1729 eine Grammatik des Baskischen herausgab, dieser den Titel vorsetzte: „El imposible vencido“ (Das Unmögliche möglich gemacht). Er meinte damit, daß es ihm gelungen sei, den Weg durch dieses Labyrinth zu finden.

Welches ist nun der Ursprung dieses rätselhaften Volkes? Ist es der letzte Überrest eines gänzlich ausgestorbenen Völkergeschlechts, der letzte völlig verwaiste Sproß einer untergegangenen Rasse, oder giebt es heutigestags noch irgendwo auf der Erde Völker, mit denen die Basken näher oder ferner verwandt sind und von denen sie vielleicht in Urzeiten durch Wanderungen oder Völkerumwälzungen Hunderte und Tausende von Meilen getrennt worden sind? Diese und ähnliche Fragen haben die Forschung von jeher lebhaft beschäftigt, die abenteuerlichsten Erklärungsversuche sind aufgestellt und Beziehungen zu den entferntesten und verschiedenartigsten Völkern gemutmaßt worden. Es giebt eine merkwürdige Liste, wenn man alle die Völker zusammenstellt, mit denen die Basken nach den mehr oder minder scharfsinnigen Theorien der verschiedenen Gelehrten verwandt sein sollen. – Da ist zunächst eine halb mythologische Idee zu verzeichnen, die in vergangenen Jahrhunderten ihre Vertreter fand und nach welcher die Basken von dem Patriarchen Thubal abstammen, der einer alten Legende zufolge in Spanien eingewandert war. Man sieht, daß schon in früheren Zeiten, denen eine streng wissenschaftliche Methode noch entbehrlich schien, der Ursprung der Basken bedenkliches Kopfzerbrechen gekostet hat.

Die neuere Wissenschaft hat zunächst ihr Augenmerk auf die Völker an den Küsten des Mittelmeeres gerichtet und hier Anknüpfungspunkte für die Basken gesucht. So haben einige französische Forscher in der Sprache der alten Aegypter gewisse Fingerzeige für eine Verwandtschaft mit den Basken finden wollen; indessen diese angeblichen Aehnlichkeiten sind so schwach, daß man mit einigem Geschick in allen möglichen Sprachen solche Aehnlichkeiten finden kann. Dasselbe gilt von dem Versuche, die alten Etrusker – ein merkwürdiges, jetzt untergegangenes Volk im heutigen Mittel- und Norditalien, das ebenfalls zu mancher ungelösten Frage Anlaß bietet – als Verwandte der Basken auszugeben. Andere stellen allgemeiner die Behauptung auf, daß die Basken aus Italien stammten, wieder andere haben die Phönicier oder die Punier, die Bewohner Karthagos, Völker semitischer Abstammung, zum Vergleich herangezogen, weil in einem Lustspiel des römischen Dichters Plautus sich einige Verse in punischer Sprache finden, die angeblich Uebereinstimmungen mit dem Baskischen zeigen sollen.

Mit kaum mehr Erfolg hat man versucht, ganz allgemein die Basken in einer der großen Sprachen- und Völkergruppen der Alten Welt unterzubringen. Für das Baskische als eine semitische Sprache sind mehrere Forscher eingetreten, ohne indessen ihre Gegner überzeugen zu können. Wie schwach die Begründung dieser Ansicht sein muß, ergiebt sich schon zur Genüge aus dem Umstande, daß andere Gelehrte die Basken ganz im Gegenteil zur indogermanischen Völkerfamilie, zu der auch wir Germanen gehören, zählen wollen. Und nicht genug damit: wieder andere meinen, daß nur in den Sprachen des uralaltaischen Stammes, zu dem beispielsweise die Türken, die Ungarn, die Finnen gehören, Anklänge an das Baskische zu entdecken seien. Ganz besonders im Finnischen hat ein französischer Forscher dergleichen nachweisen wollen. Endlich hat eine vereinzelte Stimme gar im besonderen uns Deutsche und unsere nächsten Verwandten als Vettern der Basken angesprochen; diese sollten germanischen Ursprungs sein, Abkömmlinge germanischer Söldner, die von den spätrömischen Kaisern zum Schutze der Engpässe in den Pyrenäen nach Spanien geschickt worden seien! Wie man sieht, sind damit die in Europa vorkommenden Völkergruppen beinahe erschöpft, und gäbe es noch mehr, so würden sicher auch noch einige Theorien mehr zu verzeichnen sein. Der Gedanke, in den Basken die Urbewohner Spaniens selber zu sehen, soll noch später nähere Erwähnung finden.

Eines steht fest: keine der europäischen Sprachen, keine lebende und keine tote, hat irgend welche Aehnlichkeit mit dem Baskischen.

Aber die Blicke der Forscher richteten sich weiter hinaus über die Grenzen Europas und der Alten Welt. Wenn die europäischen Sprachen keinen Anhaltspunkt für die Erklärung des Ursprungs der Basken boten, so lag es nahe, anzunehmen, daß sie aus anderen Erdteilen her eingewandert seien. Und warum sollte das nicht möglich gewesen sein in den ungeheuren Zeiträumen der Menschheitsgeschichte? Einige solcher Versuche, die Herkunft der Basken von außereuropäischen Völkern abzuleiten, sind bereits erwähnt, so diejenigen, in den alten Aegyptern oder in den Phöniciern Stammverwandte der Basken nachzuweisen. Auch andere Völker des nördlichen Afrika sind schon zum Vergleich herangezogen worden. Ebenso ist bereits die merkwürdige Thatsache erwähnt, daß der Bau der Escuarasprache mit den Sprachen der nordamerikanischen Indianer einige Aehnlichkeit zeigt. Diese Aehnlichkeit war es, die den Anlaß bot zu einer vielfach erörterten Hypothese, nämlich zu der vom amerikanischen Ursprung der Basken.

In der That, die ferne Neue Welt ist von vielen Seiten als das geheimnisvolle Ursprungsland des seltsamen Volkes an den Pyrenäen bezeichnet worden. Die geographische Lage des Baskengebietes ist ja einer solchen Vermutung insofern günstig, als es sich gerade an einer der westlichsten Küstenstrecken Europas befindet, sozusagen „gegenüber von Amerika“. Eine ganze Reihe von Gelehrten hat Untersuchungen in diesem Sinne angestellt und im Lautsystem, im Bau und in der Grammatik des Baskischen mehr [771] oder weniger auffallende Aehnlichkeiten mit amerikanischen Sprachen zu finden geglaubt, Aehnlichkeiten, auf die näher einzugehen uns hier allzu sehr in das Gebiet der Fachgelehrsamkeit führen würde. Daß solche Aehnlichkeiten in der That vorhanden sind, hat schon Wilhelm von Humboldt in einer im Jahre 1821 veröffentlichten Schrift über die Urbewohner Spaniens anerkannt, ja er hat diese Vergleichung „in sich treffend und in hohem Grade merkwürdig“ genannt. Sein Bedenken, daraus Schlüsse zu ziehen, hat andere Forscher nicht abgehalten, sich mit Entschiedenheit für die Annahme bestimmter Beziehungen des Baskischen zu Amerika auszusprechen. Man hat bald die Sprachen des alten Inkareiches Peru, bald die centralamerikanischen Sprachen (der Azteken in Mexiko u. a.), bald die der nordamerikanischen Indianer, so verschieden alle diese selbst wieder untereinander sind, als verwandt mit dem Baskischen bezeichnet.

Naturgemäß entsteht bei allen diesen Versuchen nebenher die Frage: wie sollen amerikanische Völker nach Europa gelangt sein? Indessen solche Fragen haben die Vertreter gewagter Hypothesen entweder einfach dahingestellt sein lassen oder durch weitere noch mehr gewagte Hypothesen beantwortet. Wir besitzen keinen zuverlässigen Anhaltspunkt dafür, daß jemals vorgeschichtliche Völker die großen Oceane überschritten haben, welche die Erdteile trennen, und es ist undenkbar, daß amerikanische Völker in früher Zeit auf Schiffen den gewaltigen Atlantischen Ocean durchquert haben sollten. Der amerikanische Mensch ist dem ganzen Altertum fremd gewesen, und wenn auch jüngst ein Forscher in einem Bildwerk aus der Römerzeit, welches einen Barbaren darstellt, die Merkmale des amerikanischen Typus hat finden wollen, so ist das lediglich eine Hypothese auf zufällige Aehnlichkeiten hin. Keine Spur deutet auf die Anwesenheit des amerikanischen Menschen im damaligen Europa hin. Aber man hat versucht, diese Bedenken mittels einer anderen, noch unsichereren Annahme zu entkräften.

Es ist bekannt, daß nach sagenhaften Ueberlieferungen im fernen westlichen Ocean eine große, von gesitteten Völkern bewohnte Insel Namens „Atlantis“ gelegen haben soll, die von den Wogen des Meeres verschlungen wurde. Man hat darin die Reste der Erinnerung an das thatsächliche Vorhandensein eines untergegangenen Erdteils im Atlantischen Ocean vermutet. Diese Annahme mußte die Brücke bilden, auf der sich Amerika mit Europa in frühen Zeiten verbinden ließ, und zwar wurde diese Verbindung des näheren in der Weise bewerkstelligt, daß man lehrte, die Bewohner jenes untergegangenen Landes hätten Amerika bevölkert, und ein kleiner Teil von ihnen wäre nach Europa ausgewandert, ein Teil, von dem uns Reste eben in den Basken erhalten seien.

Der Gedanke, daß einst ein Erdteil im Atlantischen Ocean die Beziehungen zwischen Europa und Amerika vermittelt habe, ist von vielen Gelehrten als eine Grundlage für kühne Vermutungen benutzt worden. Karl Vogt, der den Lesern der „Gartenlaube“ wohlbekannte Genfer Naturforscher, einer der ersten, der die Theorie von dem amerikanischen Ursprung der Basken zu begründen suchte, hat sich bemüht, auch noch andere als sprachliche Gründe dafür beizubringen, er hat einzelne Uebereinstimmungen in körperlichen Eigentümlichkeiten und in Gebräuchen betont. Nach seiner Meinung bestand in der Tertiärzeit eine Landverbindung zwischen der Halbinsel Florida und Europa, auf welchem Wege eine Einwandernng amerikanischer Völker in Europa stattgefunden habe.

Allein schon früher war, wie gesagt, Wilhelm von Humboldt der Theorie von dem amerikanischen Ursprung der Basken entgegengetreten, er meinte, daß die Uebereinstimmungen zwischen dem Escuara und den amerikanischen Sprachen zu gering seien, um eine Verwandtschaft darauf begründen zu können. Er hat eine andere Lehre aufgestellt, von der man sagen kann, daß sie die einfachste und natürlichste ist, sie wird denn auch heutzutage als die herrschende angesehen.

Danach sind die Basken die Reste eines europäischen Urvolkes, derjenigen Bevölkerung Europas, die in grauer Vorzeit in unserem Erdteil ansässig war, bevor noch die Indogermanen und die übrigen europäischen Völker einwanderten, lange vor dem Beginn unserer geschichtlichen Ueberlieferungen. Sie sind danach die ältesten Bewohner Europas, die letzten Trümmer der unbekannten Rasse, die bei der Einwanderung verdrängt und vernichtet wurde, und stehen demnach zu den europäischen Völkern etwa in dem Verhältnis wie der aussterbende Indianer Amerikas zu den weißen Eindringlingen.

Nach den Berichten antiker Schriftsteller haben zur Römerzeit in Spanien die „Iberer“ gesessen, ein Volk, welches ehemals das Land vollständig beherrschte. In diesen hat man die Urbevölkerung Spaniens vermutet. Als ein Stamm von ihnen werden die „Vasconen“ genannt, in denen man danach die unmittelbaren Vorfahren der Basken zu sehen hätte. Sie tauchen in der Geschichte zum erstenmal auf zur Zeit des zweiten Punischen Krieges, wo Vasconen in den Heeren des Hannibal dienten. Daß ganz Spanien einstmals baskische Bevölkerung hatte, dafür spricht schon die bedeutsame Thatsache, daß der Name des Landes selbst, „Hispania“, spanisch „España“, aus dem Baskischen stammt. Die Iberer wurden von den einwandernden Kelten verdrängt und vermischten sich zum Teil mit diesen, ihre Volksstämme verschwanden schließlich gänzlich bis auf den kleinen Rest, der noch heute in den Basken erhalten ist.

Gegen diese an sich gewiß unbedenkliche Lösung der Frage haben freilich wieder andere Gelehrte nicht ohne Grund eingewendet, daß die alten Schriftsteller, wenn sie von Iberern sprechen, nur rein geographisch die vielleicht sehr verschiedenartigen Bewohner Spaniens meinen, ohne damit bestimmte ethnographische Begriffe zu verbinden. In der That war man ja im Altertum bei der Unterscheidung von Völkerschaften weit entfernt von der heutigen wissenschaftlichen Gründlichkeit; ist doch die Ethnologie eine der jüngsten Wissenschaften.

So bleibt denn auch die befriedigendste und wahrscheinlichste Lösung des Rätsels nicht ohne Bedenken. Und selbst wenn man diese Lösung annimmt, so setzt sie auch nur ein Unbekanntes an Stelle eines anderen. Denn es bleibt immer noch die Frage übrig: welcher Völkergruppe gehörten die Iberer an? Waren sie ein isoliertes Volk wie die heutigen Basken, oder besaßen sie Verwandte, und wenn dies der Fall ist, giebt es heute noch Nachkommen dieser Verwandten und wo sitzen sie?

Wie dem nun auch sei, wenn man nicht ganz in das Gebiet unsicherer Hypothesen geraten will, so befriedigt doch nur die eine Annahme: die Basken sind der letzte Rest eines europäischen Urvolks, ganz abgesehen davon, ob man sie mit den alten Iberern in Verbindung bringen will oder nicht.

Endgültig gelöst ist also die Frage noch nicht. Das Baskenvolk aber schwindet unaufhaltsam dahin, seine Sprache ist amtlich und in Schule und Kirche verboten, seine so lange zäh festgehaltenen Eigentümlichkeiten verwischen sich, und das merkwürdige Volk wird in nicht allzu ferner Zeit von der Erde verschwunden sein, ohne daß das Rätsel seiner Herkunft seine Deutung gefunden haben wird.

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Blätter und Blüten.


Am Togosee. (Zu dem Bilde S. 765.) Die große Masse der deutschen Leser begann sich für Specialkarten von Afrika[WS 1] erst zu interessieren, als die Besitzergreifungen in Afrika deutscherseits stattfanden. Auf den ersten Karten, die beim Beginn der Kolonialbewegnng herausgegeben wurden, bildete das deutsche Schutzgebiet Togoland nur eine schmale Nehrung, hinter der sich ein ungeheurer, etwa 3000 Quadratkilometer großer See erstreckte: die Avonlagune genannt, weil sie von den Offizieren des englischen Kriegsschiffes „Avon“ zum erstenmal in die Seekarten eingetragen wurde.

Bis zum Jahre 1884 hatte keiner von den an der Küste ansässigen Europäern diese Lagune befahren oder gesehen. Man drang damals nicht gern in den Busch vor, und ein paar Kilometer landeinwärts von der Küste war noch das ganze Togogebiet völlig unbekannt. Kaum aber waren auch an dieser Stelle die deutschen Flaggen gehißt, als sich sofort der Forschergeist regte. Hugo Zoeller war der erste, welcher Lagunenfahrten im Togogebiet anstellte. Nach vielen Mühen, langen Fahrten durch schmale Kanäle konnte er feststellen, daß die Avonlagune lediglich in der Einbildung der englischen Offiziere bestanden hat; dagegen entdeckte er eine etwa 7 Kilometer breite und 9 Kilometer lange Ausbuchtung, der er den Namen „Togosee“ gab. Er selbst schilderte seine Entdeckung mit folgenden Worten: „Die Lagune hatte sich inzwischen zu einem wirklichen und wahrhaften, allerwärts von niedrigen Höhenzügen eingeschlossenen See erbreitert .... Zwar waren die Ufer ringsherum sichtbar, aber doch zu entfernt, als daß man ohne Fernglas Einzelheiten, wie Bäume oder Häuser, hätte entdecken können. Von Süden her wehte eine, nicht unbedeutende Dünung erzeugend und mehrfach tüchtige Spritzer über unser Boot hinüber entsendend, erfrischende Seebrise. Sobald wir uns nur ein wenig dem Lande näherten, zeigten sich stets die gewöhnlichen Bewohner der Lagune, nämlich Habichte, Reiher und Krähen; auch wurde die Scenerie durch über ein Dutzend halsbrecherischer Kanoes belebt, die, mit Waren vollgepfropft, vom heute abgehaltenen Markte von Gbome herkommend, nach allen Richtungen hin den See durchfurchten.“

Undurchdringliche Schilfdickichte, Grasbarren, wie sie nur in den Tropen zu beobachten sind, verhinderten Zoeller, vom See aus dessen [772] Zuflüsse zu entdecken. Es gelang ihm aber später, zu Lande den größten derselben, den Hahofluß, zu erreichen – das erstentdeckte fließende Gewässer in jenem deutschen Schutzgebiet. Das Landschaftsbild war von entzückender Schönheit. Das Waldesdickicht der den Fluß beschattenden Riesenbäume ließ den 25 bis 40 Meter breiten, sehr tiefen, aber zur Zeit bloß wenig Strömung zeigenden Wasserweg tiefdunkel erscheinen. Stellenweise versperrten umgestürzte Baumstämme einen Teil des Flusses, an anderen Stellen beugten sich elegante Palmen herüber und hinüber, allerwärts aber spendeten laubreiche und blühende, von Lianen und Schlinggewächs überwucherte Tropenbäume Schatten und Kühlung. Die Mündung des Flusses war vollständig mit Schilf verwachsen, an ein Eindringen in dieselbe war nicht zu denken, und erst in späterer Zeit gelang es, die Barre zu öffnen und so einen Wasserweg einige Kilometer weit ins Innere zu bahnen.

Auf der Nehrung des Togosees liegt an der Meeresküste Porto Seguro, und Expeditionen, die von hier aus in das Innere aufbrechen, pflegen über den Togosee nach dem Negerorte Abobo zu setzen. Unser Bild auf S. 765 zeigt uns den Landungs- oder Einschiffungsplatz mit den niedrigen Hütten der Eingeborenen und einigen Booten aus dem weichen Holze des Affenbrotbaumes. Im Hintergründe dehnt sich die Spiegelfläche des Togosees aus.

Bei klarem, freundlichem Wetter ist die Landschaft an der Lagune recht lieblich und anmutend zu nennen. Im Norden erblickt man leichte Hügelketten, mit Wald und Gebüsch bestanden; die Lagune selbst ist mit hohen Schilfgräsern und anderen Wasserpflanzen bestanden, welche die beträchtliche Höhe von 6 Metern und mehr erreichen. Darüber ragen überall vereinzelt mächtige Fächerpalmen empor, die bei dem geringsten Luftzug ein eigenartiges Geräusch erzeugen, wie wenn mit Blechtafeln zusammengeschlagen würde. Meist jedoch ist der Himmel bleiern und schwer, die Luft erdrückend; wohl brennt die Sonne, doch die schwüle heiße Luft läßt das klare Blau des Himmels nicht sichtbar werden; die Farbe der Pflanzen des Wassers ist grau, alles eintönig und tot, nur belebt von den Eingeborenen, welche in ihren Kanoes die stille Wasserfläche durchstreifen, mit wohlgearbeiteten Netzen dem Fischfang obliegen oder am Ufer baden, waschen und sonst ihr Wesen treiben.

Seefahrten werden im allgemeinen als Vergnügen betrachtet. So beschaffen ist eine Fahrt über den Togosee nicht. Es dauert 5 bis 6 Stunden, bis man den gegenüberliegenden Landungsplatz erreicht, von dem die Karawanen nach dem Innern aufbrechen. Die Kanoes der Eingeborenen sind an und für sich nicht bequem, und dann giebt es kurz vor Abobo eine stundenlange Strecke, auf welcher das Boot keineswegs auf glattem Wasserspiegel schaukelt. Wasserpflanzen, faulende Zweige und Blätter verwandeln den See in einen vollständigen Sumpf. Nur langsam, Schritt für Schritt, kann das Boot mit Stangen vorwärts geschoben werden. Dem dicken schmutzigen Brei entsteigen wahrhaft betäubende Miasmen, wahre Pestgerüche, die den Reisenden mitunter veranlassen, die Nase zuzuhalten, während dicht hinter dem Boote sichtbare dunkle Massen langsam nachfolgende Krokodile verraten. Die oft herrlich blühenden riesengroßen Wasserblumen haben alsdann keinen Reiz, umsomehr als Myriaden von Moskitos mit wütender Gier über den Reisenden herfallen.

Kein Wunder, daß trotz der frischen Seebrise in diesen Niederungen das Fiebergift heimisch ist und der Reisende sich sehnt, wieder an die Seeküste zurückzukehren oder bald das landeinwärts aufsteigende Gebirge zu erreichen. *      

Der Kampf um das Glück. (Zu dem Bilde S. 760 und 761.) Das rastlos gierige Streben der Menschheit nach Glück, Erfolg und Gold in einem Brennpunkt zusammengefaßt, das ist der Gegenstand des vorliegenden Bildes. In packender Realistik ringt sich der wütende Menschenknäuel übereinander empor nach der Höhe, wo das flatternde Gewand der Glücksgöttin schwebt. Künstler, Arbeiter, Dichter, Politiker, Frauen, alles schiebt und drängt aufwärts, rücksichtslos grausam einander niedertretend, oder selbst getreten – ein entsetzliches Schauspiel! Von rückwärts her, aus der Region der Fabrikschlöte und Werkstätten, führt der Weg zu diesem Gipfel des Erfolges; zu seinen Füßen aber liegt der Abgrund, aus dem die weißen Kreuze heraufschimmern. In seine Tiefe stürzt, wer oben strauchelt; verzweifelnd fallen die meisten, nur das junge Liebespaar hält sich noch im Absturz innig umschlossen – sein letztes Glück wird das gemeinsame Grab sein. Und immer Neue drängen nach, aller Augen sind in Hoffnung, Angst und Gier nach dem Phantom emporgerichtet, das in seelenloser Gleichgültigkeit seinen Flug über ihre Häupter wegnimmt, ohne sich von den ausgestreckten Händen haschen zu lassen, oder den ersehnten Goldregen niederzustreuen. – Die einzelnen Köpfe des figurenreichen Bildes sind vortrefflich charakterisiert, es wirkt mit viel massenhafteren Mitteln als die uns Deutschen wohlbekannte tiefsinnige Allegorie Hennebergs „Die Jagd nach dem Glück“. Aber beide Künstler, der Franzose wie der Deutsche, sprechen, jeder aus seine Weise, denselben Gedanken aus und predigen so vernehmlich, als dies durch ein Kunstwerk möglich ist, ihrer über der Begierde nach äußeren Glücksgütern des besten Glückes, der inneren Zufriedenheit vergessenden Mitwelt! Bn.     

Deutschlands merkwürdige Bäume: die „Armleuchterfichte“ bei Offenbach a. M. (Zu dem Bilde S. 757.) In Nr. 19 dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“ haben wir unseren Lesern die Priorlinde an der Kluse bei Dahl a. d. Volme in Bild und Wort vorgeführt, heute bringen wir die Abbildung eines anderen merkwürdigen Baumes, der durch seine seltsame Erscheinung das Auge des Beschauers fesselt. Ungefähr eine Stunde von der Stadt Offenbach a. M. entfernt, befindet sich in einem herrlichen Waldreviere die sogenannte Armleuchterfichte. Es ist dieses eine ausgewachsene Fichte von ziemlich beträchtlichem Umfang, deren Krone von seltsamer Form ist. In der Höhe von ungefähr 8 Metern läuft der Baum in 4 starken Seitenästen von je 2 bis 3 Metern Länge aus, auf denen sich insgesamt 14 wohlgeformte, kräftig entwickelte schlanke Fichten erheben, die kerzengrade zum Himmel streben. Man hat den Eindruck, als ob in den alten Aesten neue selbständige Bäume Wurzel geschlagen hätten. Von weitem hat der merkwürdige Baum das Aussehen eines riesigen Armleuchters. Ueber die Entstehung dieses Naturspiels war leider bisher nichts in Erfahrung zu bringen, doch ist wohl anzunehmen, daß durch ein elementares Ereignis die Krone einstmals zerstört wurde, daß hierauf die ihr zunächst stehenden Seitenäste sich zu Hauptästen entwickelten und durch Emportreiben der 14 Fichten eine neue 14fache Krone bildeten. Es ist wahrscheinlich, daß auch menschliche Hilfe noch mitwirkte, dem Baume seine jetzige Gestalt zu geben, doch ließ sich bis jetzt Bestimmtes darüber nicht feststellen. L. A.     


Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

Hedwig B. in Hamburg. Wir müßten eine eigene Abhandlung schreiben, um Ihre Frage nach den Hauptfabrikmarken der alten Porzellanmanufakturen zu beantworten. Sie sind viel zahlreicher, als die meisten Käufer von Antiquitäten nur ahnen. Diese begnügen sich häufig mit der Kenntnis, daß zwei gekreuzte Schwerter Meißen bedeuten, die verschlungenen L Sèvres, der Namenszug C T Frankenthal. Aber was würden sie wohl sagen bei der Entdeckung, daß es im ganzen über 200 Porzellanmarken giebt, wovon allein 25 auf die Fabrik Sèvres, 31 auf Paris und das übrige Frankreich fallen? England hat 40 Zeichen, darunter 20 alte der Fabriken von Staffordshire, Liverpool, Swansea, Bristol etc.; Meißen-Dresden besitzt 6 alte Zeichen, welche für den Kenner genau die kurfürstliche, königliche und Marcoliniperiode anzeigen. Den interessantesten Geschichtskommentar jedoch liefern die Zeichen der Fabrik Sèvres. Von 1753–93 herrschten die beiden verschlungenen L der Bourbonen. Dann folgt bis 1799 R. F. (République Française), um alsbald durch M. N. (Manufacture nationale) zu M. I. (impériale) und dem napoleonischen Adler zu gelangen. 1814 kehrt dann das majestätische Bourbonenzeichen wieder, 1848 aber aufs neue R. F. und hinterher wieder der Adler sowie das gekrönte N. Alle diese und noch viel mehr Zeichen und Buchstaben muß kennen, wer beim Ankauf von altem Porzellan nicht betrogen werden will! Wollen Sie sich genau über dieses trotz seiner Beschränktheit sehr interessante Gebiet unterrichten, so empfehlen wir Ihnen das Werk von Jännicke „Grundriß der Keramik in Bezug auf das Kunstgewerbe“. Dazu gehörig, besonders gebunden, „Jännicke, Marken und Monogramme auf Fayence, Porzellan und Steinzeug“. Stuttgart, 1877–78.


Inhalt: Die Geschwister. Roman von Philipp Wengerhoff (7. Fortsetzung). S. 757. – Deutschlands merkwürdige Bäume: die „Armleuchterfichte“ bei Offenbach a. M. Bild. S. 757. – Der Kampf um das Glück. Bild. S. 760 und 761. – Moderne Goldmacher. Von W. Berdrow. S. 763. – Ein Verbot. Kulturbild von Marie von Ebner-Eschenbach. S. 764. – Am Togosee. Bild. S. 765. – Dunkle Gebiete der Menschheitsgeschichte. Die Banken. Von Dr. P. Schellhas. S. 768. – Gute Fastenspeise. Bild. S. 769. – Blätter und Blüten: Am Togosee. S. 771. (Zu dem Bilde S. 765.) – Der Kampf um das Glück. S. 772. (Zu dem Bilde S. 760 und 761.) – Deutschlands merkwürdige Bäume: die „Armleuchterfichte“ bei Offenbach a. M. S. 772. (Zu dem Bilde S. 757.) – Kleiner Briefkasten. S. 772.



[ Verlagswerbung für E. Werners Werk-Ausgabe – hier nicht dargestellt]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 45. 1896.

Neue Anwendungen des Ganswindtschen Tretmotors. Vor längerer Zeit (vgl. Beilage zu Nr. 5 dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“) haben wir unsere Leser auf einige Vorzüge aufmerksam gemacht, die ein von Hermann Ganswindt in Schöneberg bei Berlin erfundener Motor aufweist. Als Beispiel der Nutzanwendung haben wir die Tretmotordroschke beschrieben. Inzwischen hat Ganswindt unermüdlich an der Vervollkommnung seiner Erfindung gearbeitet und versucht, ihr neue Gebiete zu erschließen[.] An die Tretmotordroschke reihte sich ein Tretmotorfeuerwehrwagen, der in Berlin die Probe bestand.

Wie unsere Abbildung zeigt, ist es ein Gefährt, auf dem sechs Mann nebst den für die erste Hilfe bei Bränden nötigen Löschgerätschaften untergebracht werden können. Derselbe wird durch Treten des Motors von seiten der Mannschaft fortbewegt. Bei den ersten Proben, die von der Berliner Feuerwehr angestellt wurden, legte der Wagen eine Strecke von 6700 m in einer um 2½ Minuten und von 7040 m in einer um 1½ Minuten kürzeren Zeit zurück, als Pferdegespanne es erfahrungsgemäß vermögen. Er ist darum in hohem Maße geeignet, die erste Löschhilfe schnellstens zu leisten.

Tretmotor-Feuerwehrwagen.

Eine andere sehr beachtenswerte Neuerung, die Ganswindt auf einer von ihm veranstalteten Ausstellung bei Schöneberg in neuester Zeit vorgeführt hat, ist der sechsscharige Tretmotorpflug. Derselbe arbeitet ähnlich wie der Dampfpflug, indem er an Drahtseilen zwischen zwei Ankerwagen fortgeleitet wird.

Auf unserer Abbildung ist der eine der Ankerwagen im Hintergrunde sichtbar. Zum Treten des Motors genügt die Kraft eines Mannes. Lösen sich nun im Treten zwei Mann ab, so können mit dem neuen Pflug bei einer Furchentiefe von 15 cm in zwölfstündiger Arbeitszeit etwa 4000 qm umgepflügt werden. Das ist eine Leistung, die hinter der eines Joches Ochsen nicht wesentlich zurückbleibt. Ob der Tretmotorpflug unserer Landwirtschaft besondere Vorteile bieten wird, ist noch nicht entschieden, sicher aber dürfte er sich in Gebieten bewähren, in welchen Zugtiere selten und teuer sind, also in vielen tropischen Kolonialländern.

 Tretmotor-Pflug.

Sofakissen. Ein wirklich geschmackvolles, originelles Sofakissen stellt man nach folgender Beschreibung her. Man wählt helle und dunkelgrüne, oder weiße und goldgelbe, 6 cm breite Atlasbänder und schneidet von der einen Farbe 30 cm, von der anderen 48 cm lange Stücke. Die längeren Bänder befestigt man an beiden Seiten eng nebeneinander auf ein Stück Steifmoll und zieht nun die kürzeren Bänder nach Art der Flechtarbeit durch, so daß sich helle und dunkle Vierecke bilden; an beiden Enden näht man die Bänder fest. Hierauf bemalt man die dunklen Flächen mit kleinen Sträußchen. Wer des Malens nicht kundig ist, spannt das Ganze in einen Rahmen und stickt die Blumen ein. Ist dann das Kissen mit einer Rückwand versehen und gefüllt, so besetzt man es ringsum mit einer sehr reichen 14 cm breiten Atlasgarnierung von gleicher Farbe wie die des hellen Bandes. A. S.     


Hauswirtschaftliches.

Weingelee aus unreifen Trauben zu machen. Gerade in diesem Jahr dürfte vielen Hausfrauen das nachfolgende praktische Rezept willkommen sein. Man pflückt die Beeren von den Trauben, thut sie in einen Kessel, gießt so viel Wasser darauf, daß die Beeren bedeckt sind, und läßt sie gut auskochen. Dann gießt man den Saft durch ein Tuch und wägt ihn ab: auf ein Pfund Saft kommt ein Pfund Zucker. Die Mischung kocht man so lange, bis das Gelee dick ist und eine schöne rote Farbe hat.

Praktische Ratschläge für die Küche. Es giebt mancherlei einfache Mittel, durch die in der Küche viel erspart, verbessert und erhalten werden kann. So z. B. grabe man ein übriggebliebenes Stückchen Speck in Salz ein, und es wird nach 14 Tagen noch ebensogut zum Spicken des Bratens zu verwenden sein. Auch eine schon angeschnittene Zitrone in Salz gelegt, trocknet darin längere Zeit nicht aus. Sardellen übergieße man mit starkem Salzwasser, worin sie sich wochenlang wohlschmeckend halten.

Ein angeschnittener Schinken bleibt saftig und gut, wenn man ein Stück des Fettes davon nimmt und den Anschnitt jedesmal damit einreibt, bevor der Schinken zurückgestellt wird.

Viele Leute lieben nicht, das Wildbret in Essig zu legen. Um nun das Fleisch doch mürbe und zart zu bekommen, gebe man reichlich Milch darüber, lasse diese daran sauer werden und wende das Wildbret täglich darin um. Bevor der Braten in die Röhre kommt, wird er nochmals gewaschen und dann, an Stelle des Essigs mit Wein gebraten. Auf diese Art wird Wildbret vorzüglich.

Hat man einen Kuchen gebacken, der nicht aus der Form will, so stelle man diese auf ein kaltes nasses Tuch und nach einigen Minuten wird der Kuchen sich leicht ablösen. Sülze dagegen lässt sich schnell stürzen, wenn man auf die Form ein feuchtes heißes Tuch legt.

Eine alte Henne wird viel früher weichgekocht sein, wenn man dieselbe tags zuvor salzt, den Schlitz, durch den sie ausgenommen wurde, wieder zunäht und so siedet. A. S.     

Aufbewahrung der Sommerschuhe. Feine, leichte Lederschuhe, die man nur für die Sommerzeit hat und während der anderen Zeit aufhebt, schimmeln, wenn man nicht einen völlig trockenen Aufbewahrungsort hat. Will man dies vermeiden und auch zugleich verhüten, daß das Leder hart und spröde wird, so muß man das Schuhwerk von Zeit zu Zeit erst mit etwas Eiweiß, und wenn dies eingedrungen ist, mit Terpentin einreiben. Die nötige Eiweißmenge kann sich jede Hausfrau aus den Resten sammeln, die beim Gebrauch frischer Eier in den Schalen zurückbleiben. L. H.     

[772 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]


  1. Vergl. Nr. 24 des laufenden Jahrgangs.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Asrika