Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1896)/Heft 46

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[773]

Nr. 46.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.

Das Kaiser Wilhelm-Denkmal an der Porta Westphalica.
Nach einer Aufnahme von J. Zoerb (Hülsenbecks Nachf.) in Minden i. W.

[774]

Die Geschwister.

Roman von Philipp Wengerhoff.

     (8. Fortsetzung.)

10.

Das große Ereignis der Neubesetzung des Oberpräsidentenpostens hielt zur Zeit die Gemüter des Ehepaars Brückner in nervöser Erregung. Erst hatte man durch täglich anderslautende Nachrichten über die Ernennung für diese Stelle viele innere Unruhe gehabt, nun, seit es nach Wunsch entschieden war, Excellenz und Gemahlin bereits eingetroffen und von ihren Rechten und Pflichten Besitz ergriffen hatten, galt es für Brückners als erstes Gebot, ihre Beziehungen zu jenen festzustellen.

Schon früher einmal, vor einer Reihe von Jahren, hatten die Herrschaften in einer sehr viel weniger hervorragenden Stellung in dieser Stadt gelebt und waren dann, ihrem günstigen Stern, der sie emportrug, folgend, nach einer anderen Provinz übergesiedelt, von wo aus das Vertrauen des Herrschers ihn für eine kurze Zeit zum Leiter eines Ministeriums berief. In einem konstitutionellen Staat ist solch’ ein Ministerposten sehr häufig nur der glanzvolle Uebergang zu einer anderen, weniger im Zenit allgemeinen Interesses stehenden, aber dauerhafteren Stellung. So geschah es auch hier, und nun war die ferne Provinz dazu ausersehen, ihn für die erlebte Enttäuschung zu entschädigen.

Damals, als er, ein noch sehr jugendlicher Oberregierungsrat, hier lebte, sympathisierte seine Gattin mit Frau Brückner sehr und die Ehepaare waren viel und gern zusammen gewesen. Diesem intimen Verkehr hatte die Versetzung des Oberregierungsrats ein Ende gemacht, wie das in dem Nomadenleben der Staatsbeamten nur ausnahmsweise anders ist. Der Umgangskreis, auf den man angewiesen, wechselt und verändert sich unaufhörlich, diejenigen, mit denen man jetzt zusammen lebt und die gleichen Interessen teilt, sind vielleicht in wenigen Wochen Hunderte von Meilen entfernt. Hier treten andere mit den gleichen Ansprüchen an ihre Stelle, dort finden jene auch eine Lücke, sowohl in amtlicher als geselliger Beziehung, die sie auszufüllen haben, und die Gegenwart verlangt, heute mehr als je, immer den ganzen Menschen. – Einige wenige Briefe, später noch ein paar Neujahrskarten hatten Brückners mit Regierungspräsidents gewechselt, dann ward einmal auf der einen Seite absichtslos die Antwort vergessen, und die Woge des Lebens rauschte über diese Freundschaft dahin.

Nun kam jener als Oberpräsident hierher zurück, als höchster Beamter der Provinz, und es war allgemein bekannt, daß der Verlust des Ministerpostens ihn keineswegs die Gnade des Monarchen gekostet, da dieser nur der Volksvertretung, bei welcher der Minister durchaus keine Sympathie zu erwecken verstanden, eine Konzession mit der Einwilligung in seinen Rücktritt gemacht hatte. Und von seiner Gemahlin sagte man gar, daß die Kaiserin sie persönlich stets ausgezeichnet habe. Mit solchen Leuten ein freundschaftliches Einvernehmen zu erneuern, war Geheimrat Brückners eine Ehrensache.

Die Frau Geheimrat flocht selbst die Kränze, mit denen man Excellenz’ Wohnräume zur Ankunft schmückte, dichtete Verse, die an Längstvergangenes anknüpften und die Erinnerung beleben sollten, und verbarg diese sehr sichtlich in die Bouquets, die sie in das Boudoir der Frau Oberpräsidentin stellte. Dafür wurde ihr dann auch die Auszeichnung, daß die Excellenz bei der ersten Ausfahrt bei Brückners vorfuhr und sich für die vielfachen Beweise alter Anhänglichkeit mit einem Kuß bedankte. Aber dieser Erfolg genügte noch nicht, so sehr er schon den Neid ähnlichdenkender Rivalen hervorrief, – persona grata wollte sie bei Excellenz selbst werden, unentbehrlich seiner Gattin und ihrem ganzen Hause, und um dieses Ziel zu erreichen, mußte sogleich die nächste Zeit benutzt werden. Freilich kostete es viele Anstrengung. Die eigenen Interessen und Wünsche mußten ganz zurücktreten, immer mußte sie zur Stelle sein, wenn die Excellenz eine Auskunft oder einen Rat, eine Begleitung oder eine Mithilfe brauchte. Ihr vorzügliches Personengedächtnis kam ihr zur Hilfe, ebenso die umfassenden Kenntnisse aller städtischen und provinziellen Verhältnisse, die sie durch langjährige Anwesenheit im Ort erlangt hatte. So nützte sie denn in der That Excellenz sehr. Mit allen Wohlthätigkeitsvereinigungen hatte sie schon in Verbindung gestanden, stand sie zum Teil noch, weil dieses zu eben solchen Zwecken wie der, den sie jetzt verfolgte, sehr vorteilhaft, oft sogar notwendig war, und Excellenz übernahm jetzt natürlich das Präsidium bei allen diesen Instituten. Die Majestäten wurden zum Herbste hier erwartet – es war selbstverständlich, daß Excellenz dann schon wohl informiert die Führung der höchsten Herrschaften übernehmen würde!

So blieb Frau Geheimrat Brückner dadurch vorerst ihrer eigenen Familie und deren Leiden und Freuden sehr entrückt, aber die Eheleute waren viel zu sehr eines Sinnes, als daß der Gatte es anders gewünscht hätte. Ihn selbst beschäftigte sein Amt hinreichend, und Lisbeth sorgte treulich, daß er bei diesen vielen neuen Verpflichtungen der Mutter in seinem häuslichen Behagen nicht zu kurz kam.

Noch immer, obwohl der Hochsommer vorüber, war sie das einzige Kind des Hauses, das in der Vaterstadt anwesend war. Leo hatte sich dem Beschluß der Eltern fügen müssen, daß er die ganze Zeit bis zum erneuten Examen in Berlin bleiben sollte, und Elfe war, nachdem die Hochzeitsreise durch Italien ihr Ende erreicht hatte, mit einer Walden verwandten Familie nach einem Nordseebade gegangen. Ihr Gatte hatte inzwischen vorübergehend eine erledigte Ratsstelle im Finanzministerium angetreten und dann, da er Frau Elfes Bitten nicht widerstehen konnte, sich um definitive Übertragung dieses Amts beworben, welche schließlich auch genehmigt wurde.

Elfes durchaus nicht regelmäßige oder häufige Briefe von der Reise hatten meistens nur Schilderungen der Feste, die sie mitmachte, enthalten, und diese flüchtigen Zeilen waren von ihrem Mann anfänglich dadurch ergänzt worden, daß er mit Befriedigung von dem Aufsehen schrieb, welches seine schöne junge Frau bei solchen Gelegenheiten machte.

Der jubelnde Ausbruch dann, mit dem Elfe noch von Ostende aus den Eltern die Mitteilung von Waldens endgültiger Versetzung nach Berlin machte, hätte diese tief verletzt, wenn jene nicht gleichzeitig Papa und Mama in herzlichster Weise dringend um einen Besuch in Berlin, sobald nur erst ihre Wohnung eingerichtet sein würde, gebeten hätte.

Vorläufig hatte man über die Frage dieses Besuchs noch keinen Entschluß gefaßt. Die immer lebhafter werdenden Beziehungen zu Oberpräsidents hielten die Frau Geheimrätin vorerst hier fest, und dann stand ja nun wieder Leos Examen bevor – ehe dieses nicht bestanden war, ehe man nicht wußte, wo er dann Anstellung finden würde, konnte von neuen Plänen nicht die Rede sein.

Lisbeth gewann aber jetzt durch die Vereinfachung des häuslichen Lebens daheim viele freie Stunden für ihre Freunde, die ihres Zuspruchs gerade in dieser Zeit auch sehr benötigt waren. Gertrud in erster Reihe deshalb, weil es ihr um jede Minute leid that, die ihre Freundin anders als mit der Bewunderung ihres Patchens ausfüllte, das sich allerdings ganz außergewöhnlich schnell und glücklich entwickelte; Frau Römer aber aus dem Grunde, weil sie niemand sonst hatte, dem sie ihre grenzenlosen Sorgen um Gertruds Zustand anvertrauen konnte, denn Mann und Sohn, die so völlig durch ihre Berufsarbeit in Anspruch genommen waren, wollte sie mit ihrer Herzensangst nicht beunruhigen. Täglich, so klagte sie, werde Gertrud hagerer und matter, sie hüstele unausgesetzt, wenn sie sich unbeachtet glaube, und ihre Hände seien abends so heiß und feucht, als hätte sie Fieber. Zu allen diesen bösen Anzeichen kam noch der Umstand, daß Gertrud, die stets so sanft und nachgiebig gewesen, nun in die größte Aufregung geriet, wenn man davon sprach, einen Arzt zuzuziehen. Sie sei völlig gesund, sagte sie hartnäckig, und sie würde sofort abreisen, wenn man gegen ihren Willen ärztlichen Rat einhole. Das einzige, wozu sie sich verstand, war das Versprechen, daß sie selbst den alten Hausarzt der Familie, der sie von Kindheit an kannte, konsultieren wollte, sobald er aus seinem Sommeraufenthalt zurückgekehrt wäre. Aber bis dahin vergingen immer noch einige Wochen, denn der alte Herr war selbst der Ruhe schon sehr bedürftig und entschloß sich, wenn er im Frühling seine Villa am Strande bezogen hatte, nur schwer zur Uebersiedelung in die Stadt.

[775] So war der September herangekommen. Mit einer häuslichen Arbeit beschäftigt, saß Lisbeth an einem Spätnachmittage im Wohnzimmer, als die Glocke der Hausthür anschlug. In der Annahme, daß ihre Mutter von dem Gange nach der neueinzurichtenden Suppenanstalt, auf welchem sie Excellenz begleitet hatte, zurückkehre, eilte sie hastig hinaus, um derselben die Thür zu öffnen. Aber wie erschrak sie, als statt dieser Frau Rektor Römer vor ihr stand, die noch niemals Lisbeth in ihrem Elternhause aufgesucht hatte.

„Lieschen, Kind – ich mußte Dich sprechen,“ sagte sie, und an dem zitternden Ton ihrer Stimme erkannte diese die große Erregung, in der die alte Dame sich befand. „Nimm Dir einen Mantel um und komm’ hinunter, wir gehen ein Stückchen zusammen! Deine Frau Mutter wird mir die Eigenmächtigkeit verzeihen – es sind außergewöhnliche Umstände, die mich dazu zwingen.“

Und ohne sich weiter zu erklären, drehte sie sich um und stieg langsam die Treppe hinab, während Lisbeth mit zitternder Hast ihre häuslichen Bestimmungen traf, sich mit Hut und Mantel versah und Frau Römer nacheilte.

„Ich wußte mir keinen anderen Rat und keinen anderen Trost, Lieschen, als Dich,“ sagte die alte Frau und legte ihren Arm auf Lisbeth, sich so kräftig auf diesen stützend, als ob sie allein nicht weiter könnte.

„Wenn ich nach Hause ginge, sähe mein guter Mann es mir ja gleich an, wie es mir zu Mute ist.“

„Tante Römer,“ sagte Lisbeth, die völlig erblaßt war, „sprich schnell, halte nichts zurück, ich vergehe vor Angst – was ist’s mit Arnold?“

„Mit Arnold – nein, Gott sei gedankt, er ist nicht der, um den ich zittere. Aber Gertrud – Lieschen!“

„Gertrud?“

Frau Römer nickte.

„Heute vormittag,“ berichtete sie, „war unser lieber Sanitätsrat bei uns, nachdem er gestern abend heimgekehrt war. Er ließ sich von Gertrud, während er immer mit dem Kinde spielte, von den einzelnen Erscheinungen ihres gegenwärtigen Zustandes erzählen, und da er so sehr unbesorgt that, ließ sie sich täuschen und erwähnte manchen Uebels, von dem ich noch nicht einmal wußte. Schließlich untersuchte und beklopfte er Brust und Rücken, und weil er wieder nichts sagte und nichts verordnete, fühlte sie dieses als die Bestätigung ihrer Annahme, daß sie ganz gesund und der Husten nur nervöser Natur sei, und war heiterer und zuversichtlicher als je. Aber mich quälte die Sorge, und eben komme ich von ihm und er hat mir schlankweg gesagt, daß sie – schwindsüchtig sei und wir unser Kind, wenn nicht ein Wunder geschieht, bald verlieren würden!“

„So wollen wir auf dieses Wunder hoffen!“ sagte Lisbeth und unterdrückte kraftvoll das Zittern, das durch ihren Körper lief.

„Ja, Lieschen, das liegt in der Menschennatur, die sich im Unglück an jeden Strohhalm klammert, aber trotzdem müssen wir unsere Seelen stark machen, um zu tragen, was Gott uns schicken mag! Der Sanitätsrat hat mir jede Hoffnung genommen, jede – letztes Stadium, sagte er und riet durchaus von dem Versuch ab, sie noch in ein Bad oder eine Kuranstalt zu schicken. ,Es nützt nichts,’ sagte er, ,es verzögert nicht einmal die Katastrophe – lassen Sie sie doch ahnungslos, lassen Sie sie doch diese Zeit, die ihr noch zu leben gegönnt ist, glücklich sein?“

„Tantchen, es ist nicht möglich, es kann nicht sein! Sieh doch ihre Heiterkeit und ihre Geistesfrische! Auch bewährte Aerzte können irren, es sind doch auch Menschen – und hier irrt der Sanitätsrat gewiß!“

Frau Römer schüttelte den Kopf.

„Er hat mir ausgesprochen, was ich längst fürchtete,“ sagte sie, „ich beobachte sie doch unausgesetzt und sehe sie immer schwächer und matter werden. Wenn Du hinüber kommst oder wenn gar Arnold da ist, so ist es Erregung, die sie beherrscht, und welche sie anders und gesünder erscheinen läßt und euch täuscht. – Ach, Kind, was steht uns bevor! Ich kann es nicht ausdenken, wie ich meinen Mann darauf vorbereiten soll. Er liebt sein Trudchen doch so sehr, als wäre sie sein eigenes Kind, und keine Tochter kann ja auch liebevoller zu ihrem Vater sein, als sie es immer war. Ach, Lieschen, daß wir alten Leute dies erleben, daß wir dieses junge Leben vor uns hinwelken und vergehen sehen müssen! Und Arnold – welche Fülle von Liebe für ihn geht mit ihr zu Grabe! Welche Qual, ihr mit dieser Gewißheit noch ein heiteres Gesicht zeigen zu sollen! O, es ist furchtbar!“

Die alte Frau schluchzte laut auf und Lisbeth, in deren Augen ebenfalls Thränen standen, drückte ihr voll inniger Teilnahme die Hand. Endlich flüsterte sie: „Ach, Tante, liebe Tante, sei stark und sage vorerst Arnold und dem Onkel nichts! Gönne es ihnen, noch eine Weile sorgenlos zu sein – die Vorbereitung für das Kommende übernimmt das Schicksal selbst!“

„Ich weiß nicht, ob das anginge, Lieschen. Sieh’, dann müßte ich sie doch auch heimziehen lassen; sie möchte jetzt wieder nach Hause zurückkehren, und davon kann doch gar nicht die Rede sein. Begleiten kann ich sie nicht: mein Mann braucht mich ebenfalls notwendig. So schwer es mir wird, Arnold zu beunruhigen, etwas muß ich ihm sagen, damit er ihr zum Hierbleiben zuredet. Von ihm nimmt sie ja alles an! Meinem Manne gegenüber möchte ich freilich noch schweigen. Ihn wird das Unglück nicht unvorbereitet treffen, denn er war stets um sie nach dieser Richtung besorgt, und daß ihr Vater so jung an einer Lungenkrankheit starb, war doch der Grund, den er immer und immer wieder gegen ihre Verheiratung mit Arnold geltend machte. Nun hat er doch recht behalten, mein Alter – hätten wir doch seine Warnungen befolgt!“

„Ach, sage das nicht, Tante Römer! Sie hätte sich in Sehnsucht nach ihm verzehrt, und was ist ein Dasein denn Wert, das uns zur Entsagung verurteilt? Nun ist sie doch glücklich gewesen, nun hat sie das größte Glück, das ein Weib auf Erden erringen kann: dem zu eigen zu sein, den ihr Herz liebt, erreicht; das Höchste, was das Leben uns zu geben hat, ist ihr geworden, sie hat Liebes- und Mutterglück genossen – und ob es nun auch früher zu Ende geht, dieses kurze Menschenleben, was thut’s – es war ihr doch köstlich! Sie gehört immer noch zu den Auserwählten, denn wie vielen wird das nicht zu teil!“

Die alte Dame trocknete ihre Augen. „Siehst Du, Lieschen. Du weißt schon Trostesworte für mich, an ihnen will ich mich aufrichten.“

„Ich habe sie von Dir gelernt, Tantchen, und gebe sie Dir zurück. Unter Deiner Zusprache ist meine Seele oft genug still geworden. Aber nun laß uns umkehren; wir sind zu weit gegangen! Die Deinen sind nicht gewohnt, Dich um diese Zeit so lange zu entbehren, und Du müßtest dafür nach Erklärungen suchen.“

Frau Geheimrat war schon vor Lisbeth heimgekehrt und empfing diese mit einem ganzen Sack voll ihr selbst höchst interessanter Mitteilungen. Was Excellenz gesagt – was Excellenz gemeint – was Excellenz projektiere; und wenn Lisbeth anfangs die Absicht gehabt hatte, ihr schweres Herz gegen die Mutter zu entlasten, in diese nichtigen Erwägungen hinein die Nachricht von dem Schmerz, der ihr durch ihrer Freundin hoffnungslose Erkrankung geworden, zu mischen, das erschien ihr unmöglich!

„Wenn Leo doch nur endlich zurückkehrte,“ schloß die Mutter ihren Bericht. „Oberpräsidents wollen Ende dieses Monats mit ihren wöchentlichen Soireen beginnen, und die Excellenz meinte heute schon sehr freundlich, sie rechne darauf, daß er ihr die Arrangements abnehmen werde, sie hätte soviel von seinen geselligen Talenten gehört. Denke doch, wie liebenswürdig! Er kann wirklich froh sein, daß er den Boden für sich so wohl bereitet findet, anderen wird solche Blamage länger nachgetragen! Wann erwartet Papa doch den Examenstermin?“

„Bestimmt weiß er ihn auch noch nicht, aber er meinte neulich, in zwei bis drei Wochen würde er sicher sein.“

„Na, gottlob, dann wäre diese Zeit auch vorüber!“

„Und das Schicksal mag uns günstig sein, damit sie gut endet, Mama.“

„Was soll das heißen?“ Die Frau Geheimrätin geriet in Erregung. „Denkst Du etwa an die Möglichkeit, er könnte abermals – so etwas ist noch nicht dagewesen, das ist ein ganz unmöglicher Fall! Er würde sein ganzes Leben zerstören – alle Aussichten – alle – alle!! – Bedenke das einmal! Ich begreife nicht, wie Du Dich darin gefallen kannst, den Unglücksraben zu spielen! Du solltest etwas Rücksicht auf meine Nerven nehmen – ich bin völlig außer mir!“ – Und sie fuhr sich mit dem Batisttüchelchen über die Stirn, auf der die Aufregung helle Schweißtropfen hervortreten ließ.

„Verzeihe mir die unvorsichtige Bemerkung, Mama, Du weißt doch, sie kommt aus einem sorgenden Herzen, und an manchen Tagen ist man geneigter, schwarz zu sehen. – Darf ich

[776]

Aus der Franzosenzeit.
Nach dem Gemälde von E. Henseler.

[777] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [778] Dir nicht etwas zur Erfrischung reichen? Du siehst so sehr ermattet aus.“

„Ja,“ meinte diese, die sich gern von dem unwillkommenen Thema ablenken ließ, „das ist kein Wunder! Die Frau Oberpräsidentin ist wie von Stahl; das ist eine Arbeit, da mitzuhalten. Erst haben wir die ganze Suppenküchenangelegenheit verhandelt – und wie verhandelt! Wirklich so, als ob Majestät schon vor der Thür stände; und dann haben wir zu Hause bei ihr die Akten aller hiesigen Wohlthätigkeitsanstalten durchgesehen, um diejenigen Personen festzustellen, welche sich in den letzten zehn Jahren hier besonders lebhaft um solche Angelegenheiten bemüht haben. – Es ist nämlich eine große Sache im Werk! Excellenz vertraute sie mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit an: es sind in neuester Zeit zwei Vakanzen beim Louisenorden eingetreten, und es scheint so, nach den Erkundigungen von oben her, als sollte bei Gelegenheit des kaiserlichen Besuches die Würdigste für eine derselben hier ausgesucht werden. Ja – wer das immer so vorher wüßte! – Aber an solche eingreifende Folgen denkt man doch nicht gleich, und früher war das auch gar nicht so Mode wie jetzt!“

„Was war früher nicht Mode?“ fragte der Geheimrat, der eben ins Zimmer trat, seine Frau.

„Nun, dieses Getratsch von der Wohlthätigkeit,“ antwortete sie, und jetzt erzählte sie auch ihm ausführlich von dem in Aussicht stehenden großen Ereignisse und fand einen interessierteren Zuhörer an ihm als an Lisbeth.

„Es ist recht schade,“ schloß sie ihre Mitteilungen, „daß ich mich früher zu wenig um diese Vereinsbestrebungen gekümmert habe. Wenn es nur einigermaßen zu machen wäre, schlüge mich Excellenz sicher vor, aber es geht doch wohl nicht, das gäbe zuviel böses Blut!“

„Na, Käthchen,“ tröstete ihr Mann, „wenn nicht jetzt, so vielleicht das nächste Mal. Die Versäumnis läßt sich nachholen und das wird jetzt leichter sein als früher, wo Dein Haus Dir so viel zu thun gab.“

„Du hättest Dich der Auszeichnung doch auch gefreut?“

„Gewiß, gewiß,“ bejahte er, „namentlich, da hier in der Stadt der Orden nur viermal vertreten ist.“

„Nur drei Mal, Erich!“

„Nun: die Generalin, die Kommerzienrätin Börner, dann Fräulein v. Heldberg und die Gräfin Stralheim.“

„Ja, freilich – an letztere dachte ich nicht. Die hat ihn aber auch gewissermaßen ererbt. Man zog nach dem Tode der Gräfin Mutter ihn nicht zurück, sondern ließ ihn ihr. Das hätte doch ein ganz anderes Aufsehen gemacht, wenn ich –“

„Ist denn gar keine Aussicht?“

„Nein, gar keine. Excellenz meinte schließlich das selbst. Wir sprachen ganz offen darüber.“

„Schade – schade!“


11.

An der Thür zu Lisbeths Schlafzimmer wurde heftig geklopft. Sie fuhr in die Höhe, warf einen Blick dorthin, einen zweiten auf die Uhr und wollte sich, schlaftrunken wie sie war, noch einmal in die Kissen legen, als dasselbe Klopfen, das sie eben für eine Traumestäuschung gehalten, sich wiederholte.

„Oeffne, Lisbeth, ich bin’s, der Vater!“

Sie sprang mit beiden Füßen aus dem Bette, warf ein Morgenkleid über, drehte den Schlüssel im Schlosse und der Geheimrat trat ein. Bei seinem Anblicke fühlte Lisbeth, daß er ein Unheil zu verkünden kam, so verändert erschien ihr sein Antlitz. Es lag eine Starrheit darauf, die nichts mit der äußeren Ruhe, deren er sich sonst befliß, zu thun hatte, und in seinen Augen brannte ein Glanz wie von unterdrückten Thränen.

„Schließe die Thür,“ sagte er kurz, „damit uns niemand stört! Es ist ein großes Unglück über uns gekommen: Leo ist abermals durchs Examen gefallen! Eben erhielt ich von Walden diesen Brief.“

Er warf zornig ein zerknittertes und zerdrücktes Papier auf den Tisch. „Nun ist alles aus – für ihn – und auch für uns! Ich weiß nicht, was nun werden soll! – Mama wird das nicht überleben,“ und er schlug mit den Gebärden völliger Verzweiflung die Hände vors Gesicht.

„Aber, Papa,“ rief Lisbeth, „fasse Dich, denke an uns und gieb Dich dem Schmerz nicht so hin!“

Der Geheimrat war hastig in dem kleinen Raume hin und wieder gegangen, die bleiche Gesichtsfarbe war einer jähen Röte gewichen, die Adern lagen jetzt wie Stränge auf der Stirn und die Augen erschienen blutunterlaufen. Plötzlich schwankte er, stöhnte tief auf und warf sich, einen Schrei ausstoßend, auf das kleine Sofa, so daß dasselbe in allen Fugen krachte.

Lisbeth sprang zu ihm hin, unterfaßte sanft seinen Kopf und richtete ihn empor. „Komm’ zu Dir, Papa, komme zu Dir! Trinke etwas Wasser, dann wird Dir besser! Die große Erschütterung hat Dich benommen. Denke doch an Mama – denke doch, das Du ihr beistehen mußt!“ Sie hielt das Glas an seine Lippen und goß ihm etwas davon in den Mund, das er, wie sie mit Erleichterung bemerkte, hinunter schluckte. Nun ergriff sie ein Kissen, bettete seinen Kopf hinein, und da seine Augen sich fest geschlossen hatten und der Atem so leise ging, daß sie ihn kaum noch vernahm, eilte sie hinaus, über den Vorsaal nach ihrer Mutter Zimmer, und beugte sich über das Bett der noch Schlafenden.

„Liebste Mama,“ rief sie mit gedämpfter Stimme, „wach auf! Es ist Schweres über uns gekommen, aber Schwereres droht, wenn Dein starker Geist nicht Hilfe schafft! Komm’ in meine Schlafstube – Papa ist dort, er ist krank! Die Nachricht von Leos abermals verunglücktem Examen hat ihn niedergeworfen –“

Die Frau Geheimrätin hatte, so rauh aus dem Schlafe aufgescheucht, verständnislos Lisbeth angesehen, nun, bei dieser Erwähnung des Examens, schrie sie laut auf und barg ihr Antlitz in den Decken.

„Mama – ich bitte Dich, komm schnell! – Von Deiner Fassung hängt alles ab. – Es ist ein großes Unglück, aber es kann ein noch größeres daraus werden. Papa ist – ich muß zu ihm – es sieht wie eine Ohnmacht aus! Nimm Dich zusammen, Mama, Du weißt, was Du über ihn vermagst, Deine Kraft erhält ihn uns vielleicht!“

Sie wollte fort, aber die Hände der Mutter hielten sie nun fest und deren Augen schienen sie durchbohren zu wollen, mit so verzweiflungsvoller Angst waren sie auf ihre Tochter gerichtet.

„Lisbeth,“ keuchte sie, „Lisbeth – sage mir die Wahrheit! Ist er tot?“

„Nein, nein, Mama – Gott sei gedankt – es war hoffentlich nur ein Schwindelanfall nach dem großen Schrecken, aber komme, komm’ schnell, Mama!“

Diese war aus dem Bette gesprungen, hatte ein Hauskleid übergeworfen und lief mit nackten Füßen durch die Zimmer und den Korridor nach Lisbeths Stube. Totenbleich hob sich jetzt ihres Gatten Antlitz von dem dunklen Plüsch des Sofas ab, die Augen waren fest geschlossen und die Arme hingen schlaff herab wie bei einem Sterbenden. Kein Laut kam über die Lippen seiner Frau, mit ein paar Schritten war sie bei ihm, nahm ihn in ihre Arme und drückte seinen Kopf an ihre Brust.

„Erich – Erich – komm’ zu Dir, öffne die Augen, sieh mich an! Kannst Du mich in solcher Angst lassen? Mein Mann, mein geliebter Mann!“

Er rührte sich schwach, hob ein wenig die Lider und stieß einen Seufzer aus. Sie griff nach dem Wasserglase und füllte es von neuem. „Trinke – ich bitte Dich – trinke, Erich! es ist Dir gesund! Mache ein Brausepulver zurecht, Lisbeth! – So – laß mich Dich aufrichten, trinke nur, ich halte das Glas, trinke es nur ganz aus! Nun lehne Dich zurück, ruhe aus – ich will Deinen Kopf kühlen! Du hast eine Ohnmacht gehabt, Erich. Ich bleibe bei Dir – gewiß, ich halte Dich in meinen Armen! Böser Mann, wie kannst Du Dich so erschrecken? Ist das wohl recht? Weißt Du nicht, daß Dein Leben mir gehört, wie kannst Du mit meinem Eigentum so verfahren? Gewiß, es hat uns ein furchtbares Unglück getroffen, aber, Erich, es giebt noch ein größeres als dieses! Denke, wenn ich Dich verlieren müßte – was ist alles andere dagegen!? Wenn wir beide uns nur haben, nicht wahr, dann sind wir immer noch reich! Und dann, Männchen, denke einmal – es ist uns immer gut gegangen, wir werden doch auch in schlimmer Zeit einander nicht verlassen, und wenn Du Dir nicht Mühe giebst, Dich zu fassen, dann – Erich, ich ertrüge es nicht, ohne Dich zu sein!“

Ueber ihr blasses Antlitz flossen jetzt stromweise die Thränen und befeuchteten auch sein Gesicht; er hob mit Anstrengung die Augenlider und sah sie an.

„Käthchen,“ sagte er leise, „ängstige Dich nicht – es war eine Ohnmacht! Sieh,“ – er hob einen Arm, dann den zweiten – „siehst Du, Du meintest gewiß, es sei ein Schlaganfall! Laß mich nur – es hat mich so überwältigt!“ Er schloß wieder die Augen.

„Lisbeth, schnell – ein Glas Wein!“ flüsterte die Frau.

[779] Er stöhnte laut auf. „Nun ist jede Hoffnung für ihn ausgeschlossen und, Käthchen, er ist unser einziger Sohn!“

„Ja,“ sagte sie und drückte die Lippen zusammen, damit der Seufzer nicht hörbar würde, der sich aus dem tiefsten Herzen hervorrang, „es ist hart; aber, Erich, für mich giebt’s viel Härteres. Der Himmel hat es mir eben gezeigt – ich will nicht murren, wenn ich nur Dich behalte! Sieh, da ist der Wein – Du mußt das Glas austrinken, so – auf einen Zug! Nun stütze ich Dich, Lisbeth nimmt Dich auf der andern Seite, versuch’s nur, wir gehen ins Schlafzimmer und Du schläfst noch ein Stündchen – ja, ich bleibe bei Dir – bleibe an Deinem Bette sitzen, damit ich zur Hand bin, wenn Du etwas brauchst!“ (Fortsetzung folgt.)


Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Schutz den kindlichen Arbeitern!

Von C. Falkenhorst.

Von dem Erkerfenster meines Wohnzimmers in der Großstadt überblicke ich zwei sich kreuzende Straßen. Wie buntbewegt, kaleidoskopisch abwechselnd das Treiben der Menschen dort unten auch erscheinen mag, so kehrt doch eine Anzahl von Bildern in ihm mit pünktlicher Regelmäßigkeit zu gewissen Tagesstunden wieder. In dem Leben der Großstadt gleicht ja so vieles dem Gang des Räderwerkes einer Uhr, der sich täglich in gleicher Weise wiederholt. Leider sind die Bilder, die ich tagtäglich schaue, nicht immer erfreulich, nur zu oft sehe ich da Menschen, die zu schwer im Kampfe ums Dasein ringen müssen: Greise, denen ein hartes Geschick keinen ruhigen Lebensabend beschied, und Kinder, die keine goldene Kindheit kennen und im zartesten Alter ihr tägliches Brot verdienen müssen. Tagaus tagein huschen sie dahin – die winzigen emsigen Arbeiter, kaum den Kinderschuhen entwachsen, Knaben und Mädchen noch im schulpflichtigen Alter. Im Dunkel des winterlichen Morgens, da ihre Schulgenossen zumeist noch in tiefem Schlummer ruhen, beleben sie schon die Straße, gleichviel ob das Wetter still ist oder ein eisiger Wind mit Schneegestöber dahinbraust; sie verschwinden in den Hausthüren und eilen treppauf und treppab, um allerlei Dienste zu besorgen, Zeitungen auszutragen, Frühstücksbrot den Kunden zu bringen oder Milch abzuliefern. Sie eilen und jagen; die Zeit drängt ja; denn nachdem sie ihre Arbeitsgänge besorgt, müssen sie mit ihren Büchern und Heften pünktlich in der Schule erscheinen. Wie sollen da die Köpfchen arbeiten und dem Vortrag des Lehrers folgen, wo die kleinen Körper ermattet sind und die müden Augen sich unwillkürlich schließen, den versäumten Schlaf nachzuholen! Fürwahr, diese Schulkinder leiden nur zu oft unter einer Ueberbürdung, die so schwer ist, daß sie selbst das härteste Herz rühren sollte! Staat und Gesellschaft haben die Pflicht, sich dieser kindlichen Arbeiter schützend anzunehmen; und mit der Erfüllung dieser Pflicht sollte man nicht säumen, denn die Zahl jener bemitleidenswerten Kinder ist keineswegs gering.

Unseren Volksschullehrern gebührt das Verdienst, diesen sozialen Schaden aufgedeckt zu haben. In ihrer ernsten und schwierigen Berufsthätigkeit haben sie gefunden, wie das Heranziehen der Kinder zur frühzeitigen Erwerbsthätigkeit störend auf deren geistige und körperliche Entwicklung einwirkt, und beseelt von dem Wunsche, die ihnen anvertrauten Kinder gegen derartige übermäßige Belastung zu schützen, haben sie an verschiedenen Orten sehr wichtige und lehrreiche Erhebungen über den Umfang der Erwerbsthätigkeit schulpflichtiger Kinder veranstaltet. Unter diesen für das Volkswohl so bedeutungsvollen Arbeiten ist wohl am ausführlichsten die Statistik, die der Kreisschulinspektor Dr. Wehrhahn in Hannover in den ihm unterstellten Schulen hat aufnehmen lassen. Aehnlich wie in Hannover wird es um diese Sache auch in anderen deutschen Großstädten bestellt sein, und darum geben wir im nachstehenden einige Auszüge aus jener Statistik, die in einer Flugschrift von dem Lehrer Fr. Garbe in Hannover bearbeitet wurde.

Werfen wir zuerst einen Blick auf die Zustände unter den Knaben Die Statistik erstreckt sich über 158 Knabenklassen mit 9235 Schülern, und darunter waren nicht weniger als 1094 oder 12 Prozent der Gesamtheit Erwerbsschüler. Die Art und Weise, in welcher man diese Knaben zum Geldverdienen heranzog, war verschieden; manche von ihnen hatten nur leichte Aushilfe zu leisten; immerhin wurden 304 Knaben in der Woche an 7 Tagen und 366 Knaben an 6 Tagen beschäftigt. Am frühen Morgen vor dem Schulbesuch wurden 122 Schüler zur Arbeit herangezogen, bis abends 10 Uhr mußten 53 und bis abends 11 Uhr 123 Schüler arbeiten.

Die mehr als tausendköpfige Schar dieser kindlichen Arbeiter verdiente in einem Jahr zusammen 67 620 Mark; ein Schulknabe durchschnittlich 62 Mark.

Die 122 Schüler, welche morgens vor der Schule dem Gelderwerbe nachgingen, wurden mit Brotaustragen, Zeitungaustragen und Trottoirreinigung beschäftigt; sie mußten im Winter spätestens um 6 Uhr, im Sommer spätestens um 5 Uhr aufstehen und durften kein Wetter scheuen! Und viele von ihnen waren erst sechs- bis neunjährige Knaben! „Die 53 und 123 Schüler, deren Arbeit bis 10 und 11 Uhr abends dauert,“ schreibt unser Gewährsmann, „werden fast ausnahmslos als Kegeljungen beschäftigt. Sie sind ganz beklagenswerte Kinder. Nachdem sie drei, vier, auch fünf Stunden hintereinander Kegel aufgestellt in staubiger Luft, einiges Bier dazu getrunken, die Kegelbahn nach Beendigung des Kegelns gesäubert haben, kommen sie erst um 12 Uhr oder später zur Nachtruhe und sollen am andern Morgen um 7 Uhr frisch in der Schule erscheinen. Wie die Unglücklichen sich abmühen, sich während des Unterrichts wach zu halten, weiß nur der Lehrer, welcher sie in der Klasse hat.“ Freilich zählt diese Beschäftigung zu den einträglichsten; hat doch einer dieser Kegeljungen monatlich 30 Mark verdient; aber der sittliche Schaden ist bei ihr auch der größte. Diese Kinder erhalten von den Eltern einen Teil des Erwerbes zur freien Verfügung und geraten damit nur zu häufig auf Abwege. Es hat sich auch gezeigt, daß Schüler, die einige Jahre hindurch 200 Mark mit Kegelaufsetzen verdient hatten, keine Lust verspürten, nach der Konfirmation eine geordnete Lehrzeit von 3 Jahren durchzumachen, während welcher sie nichts verdienten. Daß die übermäßige Belastung der Schüler mit Erwerbsthätigkeit sowohl ihre Gesundheit wie ihre Fortschritte in der Schule beeinträchtigte, wurde durch die Statistik gleichfalls festgestellt.

Die Schulmädchen befinden sich nach den Erhebungen unseres Gewährsmannes in günstigerer Lage. Von 8566 Schülerinnen waren nur 526 oder 6 Prozent der Gesamtheit Erwerbsschülerinnen. Morgens vor der Schule wurden 60 beschäftigt, abends bis 10 Uhr nur 9 und bis abends 11 Uhr nur 1 Schülerin. Das Kinderwarten bildete dabei den Erwerb von 186 Mädchen, während 105 Zeitungen austrugen und 34 Hausarbeit besorgten. Im Durchschnitt verdiente ein Schulmädchen jährlich 36 Mark; bei vielen aber konnte nicht nachgewiesen werden, wie viel sie verdienten, weil sie für Kost, Kleidung und Geschenke arbeiteten. Aber auch bei den Mädchen zeigten sich wie bei den Knaben die verderblichen Folgen der Erwerbsthätigkeit. In der Schule waren nahezu 40 Prozent der Erwerbsschülerinnen nicht befriedigend, während es unter normalen Verhältnissen kaum 10 Prozent sein würden.

Wie offenkundig auch die Schäden dieses frühzeitigen Gelderwerbes sind, so ist es doch nicht gut möglich, ihn den Schulkindern ganz und gar zu verbieten, da viele kleine Haushaltungen gezwungen sind, selbst ihre Kinder zur Erwerbsthätigkeit heranzuziehen. Die letztere sollte jedoch nicht ausarten und der Staat hat wohl das Recht und die Pflicht, diese kleinsten der Arbeiter vor übermäßiger Belastung und Ausbeutung zu schützen. Vor allem sollte es nicht gestattet sein, Schulkinder früh morgens vor dem Schulbesuch und spät abends bis in die Nacht hinein zu beschäftigen, und namentlich sollte das für die sechs- bis zehnjährigen Schüler gelten.

Hier und dort sind schon solche Verbote erlassen worden. Neben dem Staat kann aber auch die Gesellschaft gegen verschiedene Ausschreitungen auf diesem Gebiete eintreten. Die zahlreichen Kegelgesellschaften sollten z. B. nicht dulden, daß Schulknaben in späten Abend- oder gar Nachtstunden als Kegeljungen beschäftigt werden. Wir möchten ihnen dringend empfehlen, diese Kegeljungenfrage vom pädagogischen und menschlichen Standpunkte einer gründlichen Prüfung unterziehen zu wollen. Schon durch ein solches Vorgehen könnte viel Unheil verhütet werden!


[780]

Ein Künstlerschicksal und seine Sühne.

Aus den Papieren eines alten Weimaraners.[1]

Im Juni 1805 kam von Berlin her ein junges Paar von auffallender Schönheit in Weimar an, welches Goethes gewandter und kluger Regisseur Genast (der Vater des 1887 verstorbenen Hofschauspielers) aus dem Chorpersonal der dortigen Bühne ausgehoben und für Weimar engagiert hatte. Die reizende junge Frau entsprach freilich in der Folge künstlerisch nicht den in sie gesetzten Erwartungen, aber in ihrem kaum 21jährigen Gatten hatte das Weimarische Theater einen Schatz gewonnen, wie er keinem der späteren Intendanten mehr beschieden sein sollte.

Wilhelm Deny, so hieß das neue Mitglied, war ein Mensch von ganz hervorragend schauspielerischer Begabung. Vermutlich der französischen Kolonie in Berlin entstammend, hatte er doch so wenig Jugendbildung erhalten, daß es ihm in seiner ersten Weimarer Zeit Schwierigkeiten machte, Geschriebenes fließend zu lesen, und er deshalb gern seine Frau zur Leseprobe schickte, statt selbst zu kommen. Um so merkwürdiger war das schöpferische Talent, mit welchem er sofort jede Rolle ergriff und sie mit solcher inneren Wahrheit darstellte, daß das Publikum stets hingerissen ward und bald auch die Kollegen mit Anerkennung von der großartigen Begabung des jungen Mannes sprachen. Einer der hervorragendsten, der seiner Zeit in weiten Kreisen bekannte und beliebte „alte Oels“, nannte ihn später, geradezu den talentvollsten Schauspieler, den Weimar je besessen habe.

Unterstützt aber wurden Denys innere Gaben durch äußere Mittel, wie sie in solcher Schönheitsfülle auch nur selten einem Schauspieler zu Gebote stehen. Auf einer prachtvollen in allen Teilen harmonischen Gestalt saß ein Kopf von antiker Reinheit der Züge. Und unter der schmalen, von dichtem schwarzen Gelock bedeckten Stirn funkelte ein Paar mächtiger dunkler Augen fast dämonisch heraus und steigerte durch seine leidenschaftliche Ausdruckskraft Denys Mienenspiel zu einer Macht, der sich niemand entziehen konnte. Selbst die Schauspielerinnen, welche sonst ihre Liebesscenen innerlich unbewegt genug abzuspielen pflegten, fühlten sich in seinen Armen von der Leidenschaft ergriffen, die er so unwiderstehlich darstellte, und glaubten, einen persönlichen Ursprung derselben zu spüren. Aber sie sahen nach beendigter Vorstellung enttäuscht wieder die kühle Gleichgültigkeit, welche der schöne Schauspieler im allgemeinen gegen Frauen hervorkehrte – und welche ihn selbstverständlich nur um so begehrenswerter erscheinen ließ. Die einzige Leidenschaft seines Innern war ein hochgespannter Ehrgeiz, der sich, trotz aller Erfolge, stets zurückgesetzt fühlte und unter den Kollegen, von welchen Deny sich mißtrauisch fern hielt, nur Feinde und Neider sah. Hierin bestärkte ihn noch seine Frau, welche es nicht verschmerzen konnte, daß sie keine bedeutenden Rollen zu spielen bekam, obgleich sie nicht einmal den unbedeutenden zu genügen wußte.

Vermutlich hatte Goethe mit seinem sicheren Blick Denys hervorragendes Talent sofort erkannt und ihn an seiner Hand zu der Stufe schauspielerischer Vollendung hinauf geführt, auf welcher ich ihn später in den Jahren 1819 bis 1822 gesehen habe. Bekanntlich war es nicht Goethes Art, seine Schauspieler gleich von vornherein für ein bestimmtes Rollenfach zu engagieren. Da er meist junge Leute anwarb, so probierte er vielmehr mit ihnen alle Arten von Rollen durch und fand meist bald heraus, wofür sie taugten, zum Nutzen seines Theaters und der Schauspieler selbst. Wer sich überhaupt als talentlos erwies, wurde alsbald wieder abgestoßen.

Fritz Lortzing, der als junger Mann nach Weimar kam und, da er früher bei anderen Theatern in den Rollen von Liebhabern, Bonvivants und im Vaudeville thätig gewesen war, auch in Weimar diese Rollen weiter spielen wollte – erzählte mir, daß er nicht wenig überrascht gewesen sei, als ihm kurz nach seinem Engagement eines schönen Tages von Goethe die Rolle des „Polonius“ zugesendet worden sei. Er habe an ein Versehen des Theaterdieners geglaubt und sei deshalb zu Goethe gegangen, um sein Bedenken auszudrücken. Doch dieser habe gesagt: „Kein Versehen! Bedenken Sie sich die Rolle! Sie werden mir in einigen Tagen dieselbe vorlesen!“ – Mutlos und voll Herzensangst sei er davongeschlichen. Aber Einwendungen habe es zu jener Zeit nicht gegeben. Was war der Erfolg? – Lortzing spielte jene Rolle Goethe und dem Publikum zu Danke und wurde alsbald unter Goethes Führung, der bedeutendste Charakterkomiker, den, nächst Becker, das Weimarische Theater besessen hat. Der berühmte La Roche kam in den gleichen Fall, als ihm Goethe bei der ersten Aufführung seines „Faust“ die Rolle des – Mephisto zuerteilte, die seinem bisherigen Rollenfache durchaus nicht entsprach und in der er doch dann später lange Jahre hindurch am Wiener Hofburgtheater sich besonders auszeichnen sollte.

Einen weniger scharfsichtigen Theaterleiter als Goethe hätte Denys außerordentlich vielseitige Begabung geradezu in Verlegenheit um das geeignete Rollenfach bringen können. Er aber teilte ihm mit weiser Absicht alles zu, was seinen Fähigkeiten überhaupt entsprach, und ließ ihn (nicht aus Schauspielermangel, denn er verfügte stets noch über eine zweite Kraft) so verschiedenartige Rollen spielen, wie sie sich heute niemals mehr in der Hand eines Darstellers befinden. So erschien Deny bis zu seinem früh erfolgten Tode im Jahre 1822 als erster Liebhaber, als jugendlicher Held, als Intrigant, als zärtlicher gesetzter Vater, als Buffo und in ernsten Partien der Oper: eine Vielseitigkeit, die annähernd nur noch ein später (1823) an der Weimarischen Bühne eintretendes Mitglied, der obengenannte La Roche, besaß, welcher derselben bis 1833, bis zu seinem Eintritt in den Verband des Wiener Hofburgtheaters, angehörte.

Ob Deny nun Don Manuel, Roller, Macduff, Dunois, Geßler spielte, oder Wurm, Marinelli und Just, ob er in der komischen Oper als Leporello und Bartolo in Mozarts und Rossinis unsterblichen Werken oder als Purgantius im „Rochus Pumpernickel“ das Publikum zu Lachstürmen hinriß, oder als Thoas in Glucks „Iphigenie“ und als Oberpriester in der „Vestalin“ voll hoher Würde in getragenen Tönen sang – bei jeder Rolle begleitete ihn rauschender Applaus und die Weimaraner konnten nicht mit sich einig werden, in welcher er am vorzüglichsten spiele und am besten aussehe. Immer schien es diejenige zu sein, welche er zuletzt gespielt hatte! Sein schönes klangvolles Organ war unermüdlich und in der Recitation, besonders Schillerscher Verse, von bezauberndem Wohllaut, dagegen stand die gesangliche Ausbildung der Stimme durchaus nicht auf gleicher Höhe der Vollendung. Aber sein großes Talent wußte den Mangel zu verdecken und auch in den Gesangspartien, an welche man damals freilich bescheidenere technische Ansprüche stellte als heutzutage, stürmischen Applaus zu ernten.

Im Jahre 1833 machte ich in München die Bekanntschaft des einst berühmten, steinalt verstorbenen italienischen Sängers Brizzi, der von Karl August im Jahre 1810 und 1811 nach Weimar berufen worden war, um eine italienische Oper einzurichten. Nachdem ich mich ihm als Weimaraner zu erkennen gegeben hatte, war seine erste Frage: Wie geht es Deny? – In wenig Worten erzählte ich ihm, verwundert, daß er davon keine Kenntnis hatte, Denys schon lange erfolgtes tragisches Ende. Dem alten Manne bebten vor Schmerz die Lippen, die Augen wurden feucht, er faltete die Hände und sagte halblaut: „Requiescat in pace! Ich habe einst auf fast allen Theatern Italiens gesungen und doch nirgends einen Buffo gefunden, wie Weimar an Deny besaß. Die Recitative hat keiner gesungen wie er.“

Und diesen Schatz von Begabung und nie versagender Leistungsfähigkeit besaß die Weimarer Bühne um 550 Thaler jährlich, aber nur in seinen letzten Zeiten. Früher mußte sich Deny mit einer weit geringeren Summe begnügen!

Mehr als ein Jahrzehnt war verstrichen, seit er sich vom namenlosen Anfänger zum Liebling des Publikums emporgeschwungen hatte, da sollte der April des Jahres 1817 den traurigen Konflikt bringen, welcher Goethe vom Weimarer Theater schied. Jedermann kennt seinen Widerspruch gegen die berüchtigte „Hundekomödie“ sowie die Thatsache, daß die Freundin des

[781]

Diana.
Nach dem Gemälde von E. Kanoldt.

[782] Herzogs Karl August, die Schauspielerin Jagemann, die Aufführung trotzdem durchzusetzen wußte. Ihr konnte es ja nur willkommen sein, wenn Goethe die Direktion niederlegte und somit sie selbst einen Einfluß gewann, der undenkbar war, so lange sein machtvoller Geist das Ganze beherrschte.

Auch Deny war in jener „Hundekomödie“ mit einer Rolle bedacht, aber er hatte sie sich durchaus nicht selbst erbeten, wie Gotthardi in seinen „Weimarischen Theaterbildern“ irrtümlich angiebt, sondern er empörte sich mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seines Wesens gegen die Zumutung, gemeinschaftlich mit einem dressierten Hunde zu agieren. Er verweigerte unter den heftigsten Ausbrüchen künstlerischen Zornes und unter schonungslosen Schmähungen gegen die Urheberin jenes Skandals die Annahme der Rolle, in der Ueberzeugung, daß ihm Goethe den Rücken decken würde.

Hiervon konnte nun freilich nicht mehr die Rede sein. Eine so offene Auflehnung und Weigerung war aber damals etwas ganz Unerhörtes und Karl August, der, was den Gehorsam seiner Diener betraf, keinen Spaß verstand, ließ Deny nur die Wahl zwischen Annahme der Rolle oder 14 Tagen Arrest auf der Hauptwache. Solchen Arrest hatte früher einmal Unzelmann zu kosten bekommen, der gegen das Verbot des „Extemporierens“ gesündigt hatte. Deny spielte nun; aber selbst noch während der Vorstellung stieß er laute und maßlose Verwünschungen gegen die Urheberin des Skandals und deren Genossen aus.

Von der Zeit an warf jene Frau, die nach Goethes Abgang von der Direktion unbeschränkte Beherrscherin des Theaters wurde, einen tödlichen Haß auf Deny. Sie drangsalierte und quälte ihn, wie und wo sie immer konnte, und führte sein trauriges Ende unter Beihilfe ihrer Kreatur, des Schauspielers Hunnius, herbei, welchen sie zum Regisseur machte, als Oels nach Goethes Abgange die Regie freiwillig niederlegte und Graf Edling als Intendant an Goethes Stelle trat. Oels konnte mir die Qualen nicht lebhaft genug schildern, die ihm jene „Hundekomödie“ durch die Verhandlungen mit Karl August, Goethe, der Jagemann und dem Grafen Edling verursacht hatte.

Im Jahre 1820 fiel Deny infolge eines heftigen Aergers in eine lebensgefährliche Krankheit, welche zur traurigen Folge hatte, daß ihm von da an sein Gesangsorgan nicht mehr unbedingt gehorchte. Gewisse Töne schlugen ihm bisweilen und unvermutet in der Fistel um. In der komischen Oper hatte das weniger zu bedeuten, störend war es dagegen in der opera seria.

„Das Publikum sind alle Leut’,
Drum ist es dumm und auch gescheut“ –

und so kam es denn, daß einige von den „Dummen“ lachten, wenn Deny jenes Malheur passierte, uneingedenk der bekannten, höchst reizbaren Empfindlichkeit des Künstlers, welchem man so viele große und unvergeßliche Genüsse verdankte. Denys Stolz wurde dadurch aufs schärfste gekränkt, zumal er sich einredete, jene Lacher seien von seiner Feindin, der Jagemann, gedungen. Aber in richtiger Erkenntnis seiner Lage bat er wiederholt und dringend, ihn fortan von den Partien in der ernsten Oper zu entbinden. Umsonst! – man ließ ihn abschlägig bescheiden. Ja, es schien in der Folge, als werde er jetzt erst recht mit derartigen Partien bedacht. Seine gewiß wohlbegründete Entrüstung steigerte sich allmählich bis zur Wut gegen Hunnius und dessen Gebieterin.

Da – am 12. Januar 1822 – wurde die Oper „Wittekind“ gegeben, eine Komposition von dem damaligen zweiten Flötenbläser Lobe, welcher später, als Kapellist pensioniert, zum Professor des Leipziger Konservatoriums aufrückte und mancherlei Mitteilungen aus der Kunstwelt veröffentlichte. Deny sang den Clodion, obersten Heerführer der Sachsen. Gleich in seiner ersten Scene schlug ihm ein Ton um, und wiederum ließ sich jenes halblaute Gelächter vernehmen, das für Denys empfindliches Ohr so entsetzlich war. Er brach, nachdem er von der Scene abgegangen, in Wutflüche gegen Hunnius aus, der es für gut befunden hatte, ihm aus dem Wege zu gehen, und war nur mit Mühe zum Wiederauftreten zu bereden. – Unglücklicherweise geschah es an diesem Abende ein zweites Mal, daß ihm die Stimme umschlug. Das verhängnisvolle Gelächter ward diesmal noch hörbarer und da mit einem Male – es war ein fürchterlicher Augenblick, den ich selbst mit durchlebt habe – ging blitzschnell eine Veränderung mit ihm vor, welcher die Zuschauer vor Entsetzen erstarren ließ. Seine Gesichtsmuskeln begannen auf eine schreckliche Weise zu zucken, der Ausdruck veränderte sich ins Grauenhafte, die Augen stierten wild um sich her – der Unglückselige war plötzlich wahnsinnig geworden!

Noch in halbem Bewußtsein stürzte er sich auf einen Statisten, riß diesem eine Pike aus den Händen und raste von der Scene fort, um – Hunnius zu durchbohren.

Der Vorhang fiel. Eine lautlose Stille herrschte im Zuschauerraume. Keiner wagte auch nur zur Seite zu blicken, keine Verkündigung erfolgte von der Bühne herab, daß die Oper nicht zu Ende geführt werden könne. Schweigend und tief erschüttert erhob sich einer nach dem andern und verließ das Haus, das nach zehn Minuten vollständig geleert war. Draußen hörte man dann die Kunde von dem grauenvollen Auftritt hinter den Coulissen, der die Bestätigung der schlimmsten Befürchtungen gab.

Hunnius hatte sich schleunigst in Sicherheit gebracht; gleichzeitig stürzte man sich von allen Seiten auf Deny, um ihm die Waffe zu entwinden. Der Angriff brachte bei ihm die Tobsucht vollständig zum Ausbruch, er setzte sich wütend zur Wehr, bis es endlich gelang, ihn zu überwältigen.

Geknebelt an Händen und Füßen, wurde der beklagenswerte Mann aus dem Theater und tags darauf in die Irrenheilanstalt nach Jena gebracht. Dort raste er sich in kurzer Zeit zu Tode.

Der Schmerz um den Verlust des als Schauspieler allgemein beliebten Deny und die Teilnahme für seine Familie war in allen Kreisen eine große. Noch hoffte man auf Rettung. Aber schon damals wendete sich die Entrüstung der empörten Gemüter gegen die bekannten Urheber des traurigen Ereignisses.

Im Zuschauerraume des damaligen Weimarischen Theaters sah es anders aus als in dem heutigen. Während jetzt die Männer von höherer Bildung und Stellung sich vielfach vom Besuche des Theaters abgewandt haben, waren damals die derselben Gesellschaftsklasse angehörenden Männer fast sämtlich regelmäßige Besucher des Theaters. Das Parterre namentlich war es, welches in jener Zeit ein ganz anderes Gesicht zur Schau trug als jetzt. Dort saßen regelmäßig die Räte, Assessoren und Sekretäre der „Regierung“, wie vordem das Landesjustizkollegium hieß, der Landesdirektion, des Landschaftskollegiums und andere desselben Ranges und derselben Bildung. Der Abonnementspreis war so niedrig – ungefähr 5 Mark jetzigen Geldes im Parterre für 12 Vorstellungen –, daß selbst ich als Gymnasiast von meinem Taschengelde denselben erschwingen und meine grenzenlose Theaterlust befriedigen konnte. Jenes Parterre nun bildete das Tribunal, von welchem Stücke und Schauspieler abgeurteilt wurden, und das übrige Publikum erkannte es willig und unbedingt als obersten Gerichtshof an. – Man applaudierte den Schauspielern, sofern sie gefallen hatten, jedesmal bei ihrem Abgange, aber nur mäßig mit 4 bis 6 Schlägen, nach dem Beispiele Goethes, der dieses Maß nie überschritt. Das genügte dem Schauspieler jener Zeit. Mußte er aber ohne dieses Beifallszeichen von dannen gehen, so war das für ihn eine schwere Demütigung. Sogenannter „rasender und nicht enden wollender Applaus“ kam nie vor. Nie störte man den Gang und Zusammenhang einer Scene durch einfallendes Klatschen. Der Hervorruf, mit dem jetzt sogar bei offener Scene von dem Theaterpublikum ein solcher Unfug getrieben wird, daß dadurch jede Illusion zerstört wird und daß er längst für den vernünftigen Schauspieler jeglichen Wert verloren haben sollte, war nur für außerordentliche Gäste und nur am Ende des Stücks erlaubt, kam aber auch da selten vor. Ich erinnere mich, ihn damals nur bei Iffland, der 1813 das letzte Mal in Weimar gastierte, bei Eßlair und Ludwig Devrient erlebt zu haben. Des überdies streng verbotenen Pfeifens und Pochens als Ausdrucks der Mißbilligung bedurfte es folglich auch nicht. Ein Schauspieler, der in einer bedeutenden Rolle ohne jenes Zeichen des Beifalls abgehen mußte, fühlte sich tiefer gedemütigt als heute ein zehnmal ausgepfiffener. Es kam dies auch äußerst selten vor, Deny zum Beispiel hatte es nie erlebt.

Mit ängstlicher Spannung und tiefer Teilnahme vernahm jetzt ganz Weimar die von Jena herkommenden Nachrichten von seinem Zustande. Leider lauteten sie sehr betrübend, und als am 9. März die Meldung kam: Deny ist in Raserei gestorben, ging durch die Stadt ein Schrei der Entrüstung gegen die, welche man offen seine Mörder nannte, und ein tiefes Bedauern um seinen Verlust. Dieses allgemeine Gefühl vereinigte das Publikum zu einem Racheplan, der jedoch in aller Stille vorbereitet wurde. Als der Vorstellungsabend kam – es wurde die „Reise zur Hochzeit“ [783] gegeben – stieg Herr Friedrich von Germar vom Balkon, dem vorzugsweise von Adeligen besetzten ersten Rang, herunter in das Parterre und verkündete dort laut: „Es bleibe bei der Verabredung für heute abend!“ Hunnius spielte den Gastwirt Schnipfer. Sowie er auf der Bühne erschien, geschah, was im Weimarischen Theater bis dahin nie erlebt worden: das gesamte männliche Publikum, vom Parterre bis zur Galerie, begann ein so fürchterliches Pochen und Pfeifen, daß es mich eiskalt überlief und man nicht anders glaubte, als das alte wackelige Haus werde zusammenbrechen. Viele junge Mädchen, Frauen und Kinder ergriffen, schreiend vor Schrecken, die Flucht aus dem Hause. Dabei waren aller Blicke wie aus einem einzigen Auge auf die Jagemann gerichtet, Hunnius’ intime Freundin und Beschützerin, welche ihren Platz auf dem linken Balkon hatte. Zitternd, totenbleich, beinahe bewußtlos saß sie da, als das furchtbare Gericht über sie erging.

Noch sehe ich den „alten Herrn“, den Herzog! Er saß an jenem Abend, wie er oft pflegte, nicht in der sogenannten Herrschaftsloge, sondern ziemlich in der Mitte des linken Balkons. Als das Gericht begann, erhob er sich, und beide Hände auf die Brüstung stemmend, sah und hörte er, dem furchtbaren Lärm gelassen zu, bei welchem seine Minister, Räte und Hofherren kräftig mitwirkten.

Der unverschämte Mensch, welchem diese allgemeine Kundgebung hauptsächlich galt, war frech genug, sich vorn an die Rampe zu stellen und – beide Hände in die Rocktasche steckend – mit lächelnder Miene die Achseln zu zucken, als wollte er sagen: „Macht’s mit ihr aus, meiner Gebieterin! Mir könnt Ihr nichts anhaben.“ Als jene Dame sich einigermaßen erholt hatte, stand sie auf und verließ schwankenden Schrittes das Haus, welches sich unter lautem Getöse bis auf einige wenige entleerte, vor denen das Stück weiter gespielt wurde. So geschah es im Hoftheater zu Weimar am Montag den 11. März 1822, zwei Tage nachdem die Nachricht von Denys Tode eingetroffen war.

Sonnabend darauf, am 16. März, war das damals sehr beliebte Singspiel „Fanchon, das Leyermädchen“ von Kotzebue und Himmel zur Aufführung bestimmt, in welchem Deny durch seine graziöse Erscheinung als Husarenlieutenant St. Val das Publikum immer entzückt hatte. Hunnius spielte den Tapezier Martin. Sobald das Publikum ihn erblickte, erneuerte sich der grauenhafte Lärm in womöglich noch heftigerer Weise als am elften, denn das Haus war heute gedrängt voll. Dann verließen wieder drei Vierteile des Publikums das Theater. – Der „alte Herr“ schaute wieder ruhig zu. Die Dame war, nichts Gutes ahnend, gar nicht erschienen. Ein junger talentvoller und hübscher Schauspieler – Thieme – spielte Denys Rolle, den St. Val, recht gut, konnte sich aber nicht des mindesten Beifallszeichens erfreuen.

Hunnius, ein gar nicht übler Schauspieler, wurde von da an nie wieder applaudiert und kam einige Jahre danach um seine Pension ein, die ihm gewährt wurde. Am Tage der dritten Aufführung nach Denys Tode verkündeten Plakate an sämtlichen Eingangsthüren zum Theater mit Riesenlettern, „daß zu sofortiger Arrestation geschritten werden würde, wenn sich Scenen ähnlicher Art wie neulich im Publikum wiederholen sollten“. Im offiziellen Weimarischen Wochenblatt erschien an der Stelle der Ministerial-Bekanntmachungen die folgende:

„Die Voraussetzungen, unter welchen bisher alle ausdrücklichen Verbote eines unanständigen Betragens in dem Großh. Hoftheater allhier überflüssig waren, scheinen leider wegfallen zu wollen. Zum Schutze des Publikums vor Störungen und zur Sicherung des Anstandes und der Sitte, durch welche die fortdauernde Oeffnung des Großh. Hoftheaters für dasselbe bedingt ist, wird andurch alles Pfeifen, Pochen und Lärmen im Schauspielhause bei ernster Ahndung untersagt. Der Zuwiderhandelnde hat, ohne Ansehen der Person, zu erwarten, daß er aus dem Schauspielhause und zu polizeylicher Haft werde gebracht werden.

Weimar am 19. März 1822.
Großherzogl. Hof-Theater-Intendanz.“ 

Die Wachen, die bekannten Leibhusaren, denen die Exekutive der Theaterpolizei oblag, waren verdoppelt. Es war dies unnötig. Das Publikum hatte sein Urteil gesprochen und die Strafe an Hunnius öffentlich mit bisher unerhörter Strenge vollzogen. Damit war seinem Rechtsgefühl vorläufig Genüge geschehen.

Am 23. März erschien Madame Jagemann zuerst wieder auf den Brettern in der Oper „Mahomet“ von Winter als Seïde.

An die allgewaltige Freundin des gnädigsten Herrn, wagte man sich denn doch nicht in gleicher Weise wie an einen gewöhnlichen Schauspieler, zumal man überzeugt sein konnte, daß Karl August mit der angedrohten Arrestation sofort Ernst machen würde. Aber es gab ein anderes Mittel zu einer nicht weniger empfindlichen Strafe!

Madame Jagemann war als ausgezeichnete Sängerin und Schauspielerin ebenso wie die anderen ersten Mitglieder an regelmäßigen Applaus gewöhnt, ein Ausbleiben desselben hatte sie noch nie erlebt.

Darauf nun war der Schlag berechnet. Das Publikum hatte einmütig beschlossen, ihr bei ihrem nächsten Auftreten gar nicht, den Mitspielenden desto lebhafter zu applaudieren. Und so geschah ihr am 23. März 1822. Nur die Hände von zwei oder drei käuflichen Wichten, deren es damals ebensogut wie zu allen Zeiten gab, wollten sich rühren, wurden aber durch ein allgemeines und entschiedenes Zischen sofort und für den ganzen Abend zur Ruhe gebracht. Die „Husaren“ unterließen es jedoch, gegen die Protestler einzuschreiten.

Dieser Schlag traf die Dame hart. Am andern Tage erzählte der Kammermusikus Eberwein uns an der Mittagstafel im „Schwan“, gestern abend habe die Darstellerin des Sklaven Seïde nach dem ersten Akte sich heulend vor Wut auf die Ottomane ihres Ankleidezimmers geworfen und durchaus nicht weiter singen wollen. Da habe Stromeyer, ihr Günstling, ihr vorgestellt, sie dürfe dem Publikum den Triumph nicht bereiten, sie von der Scene vertrieben zu haben. Das habe gewirkt.

Das Publikum aber, welches sein Verhalten gegen die Dame bis zum Schluß der Oper konsequent durchsetzte, schwelgte im Genuß seiner Rache, als es in den folgenden Akten die verweinten Augen und das Zittern des schwer getroffenen Sklaven Seïde bemerkte …

Umsonst! Umsonst! Alles umsonst! Deny war durch das seinen Manen dargebrachte Sühnopfer nicht wieder zu erwecken. Das Weimarische Publikum hatte seinen Liebling, das deutsche Theater einen seiner begabtesten Künstler unwiederbringlich verloren. Und wie jung war er dem grausigen Tod zum Opfer gefallen! Wilhelm Deny stand, als er starb, im siebenunddreißigsten Jahre.


Kinderfüßchen.

Novelle von Victor Blüthgen.

Berlin hat sicherlich nicht viel Sackgassen mehr; aber in der Nähe der Gneisenaustraße giebt es eine solche, und in ihr wohnte der Doktor Hartmann.

Er ist jahrelang Schiffsarzt gewesen, hat dann quittiert und, unabhängig, wie er durch eigenes Vermögen ist, sich hier und da in den großen ostasiatischen Verkehrscentren aufgehalten, Land und Leute studiert, dagegen nur gelegentlich nach Laune praktiziert. Die bunte Fremde mit ihren freieren Lebensverhältnissen hatte es ihm angethan. Er war zwischendurch in Familienangelegenheiten einmal nach Deutschland gereist, aber da hatte er alles entsetzlich eng und kleinlich gefunden, hatte sich aufgeregt über die tausend Rücksichten, die man rechts und links, hinten und vorn zu beobachten habe, und war froh gewesen, als er wieder abdampfen durfte.

Mit der Zeit war er ein starker Vierziger geworden, bequemer und toleranter, und er hatte es an der Zeit gefunden, die Fülle von Eindrücken und Beobachtungsergebnissen, die er gesammelt, zu verwerten. Zunächst litterarisch. Die Genußfreude hatte sich abgeschwächt und etwas wie Ehrgeiz überkam ihn.

Er nahm also Abschied von Tokio, wo er zuletzt gewohnt, um sich in dem unruhigen Berlin ein möglichst ruhiges Wohn- und Arbeitsplätzchen zu suchen. Hier wußte er ein paar Freunde, die es gern übernahmen, ihn wieder mit der Gesellschaft in der alten Heimat zu verknüpfen, so weit er dies wünschen würde.

Die Wohnung wählte er sich selber; den Ausschlag dabei gab, daß der ihm angenehmste Freund, ein verheirateter Ingenieur, den er in Shanghai kennengelernt, in der Nähe wohnte. Er selbst war [784] Junggeselle. Im Auslande hatte ihn nichts gebunden – der Fremde entbehrt dort die Hausfrau wenig. Nun war er Junggesell aus Prinzip! Er fand es für sich sehr unnötig, noch zu heiraten, „sich mit einer Frau zu behängen“, wie er das ausdrückte, um gleich anzudeuten, daß er überzeugt war, den Besitz einer solchen würde er überwiegend als Belästigung empfinden.

Auch weitere Gründe gab es, weshalb er gerade diese Wohnung für passend erachtet: über ihm wohnte ein sehr ruhiges altes Ehepaar. Kaum daß er einmal einen Schritt droben vernahm. Und im ganzen Hause spielte niemand Klavier. Er arbeitete fleißig und fand soviel Geschmack an der litterarischen Thätigkeit, wie er gar nicht gedacht hätte. Nötig hatte er dies angestrengte Schreiben wahrhaftig nicht! Mit einer seltsamen Abneigung stand er dagegen seinem ehemaligen ärztlichen Berufe gegenüber. „Ich habe die Unzulänglichkeit unsres Wissens erkannt,“ sagte er, „und es widersteht mir, eine Miene aufzusetzen, als könnte ich Wunder thun. Aber das will das Publikum haben.“

Seine Wohnung war nicht groß, das Haus in halbe Etagen geteilt, von denen jede nicht mehr als drei Vorderzimmer bot. Ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer nach der Straße zu, ein sogenanntes „Berliner Zimmer“, von ihm als Eß- und Arbeitszimmer benutzt – das war sein Reich. An das letztere Zimmer schlossen sich Wirtschaftsräume – dort hauste die Mutter Fricke, eine schon alte, schrecklich magere Frau, die er halb aus Mitleid, halb wegen ihres rührend leisen, liebenswürdigen Wesens aus einer nicht geringen Zahl von Bewerberinnen ausgesucht. Er war nicht schlecht dabei gefahren: sie kochte vorzüglich, war tadellos sauber und beinahe wie ein Geist unsichtbar und unhörbar, aber immer zur Stelle, wann und wo er ihrer bedurfte.

Die Einrichtung hatte er in der Hauptstadt gekauft; vom Auslande hatte er nichts mitgebracht als ein paar Kisten „Kurios“, wie man die hunderterlei Kunstsachen und Merkwürdigkeiten nennt, die man auf Ueberseereisen allmählich einheimst.

Er stand nicht sehr früh auf, aß spät zu Mittag – zwischendurch traf man ihn immer zu Hause, am Schreibtisch, auf den das Fenster in der Ecke sein breites kaltes Licht warf. Ein gesunder, stattlicher Mann mit dichtem dunklen Haupthaar und Vollbart, die eben zu ergrauen begannen, einen Zug trotziger Energie im leicht gebräunten Antlitz, und in den dunklen beherrschenden Augen ein ungeduldiges Feuer, das genugsam bezeugte, wie wenig das ungebundene Leben in der Fremde von seinem Kraftvorrat aufgebraucht hatte.

Die Abendstunden brachte er gewöhnlich außerhalb zu, kostete nach Laune die Genüsse, welche die Hauptstadt bot, und behielt sich auch den paar Freunden gegenüber, die durchweg verheiratet waren, völlige Freiheit der Bewegung vor. Die Frauen schwärmten heimlich für ihn, fanden ihn sehr interessant, nur etwas rücksichtslos und wenig galant; „ein schöner Mann,“ meinten sie, „aber er ist im Ausland verdorben.“

Das war Doktor Hartmann.

*               *
*

An einem Septembertage saß er am Frühstückstisch. Die Gasflamme brannte drüber, trotz der vorgerückten Stunde – eine Notwendigkeit für die dunkle Hälfte des „Berliner Zimmers“ auch bei Tage, wenn anders der Raum wohnlich anmuten sollte. Doktor Hartmann hatte sogar eine Vorliebe für das Speisen bei künstlicher Beleuchtung gewonnen.

Frau Fricke huschte herein, klinkte die Thür möglichst lautlos hinter sich zu und blieb im Vorbeigehen einen Augenblick stehen. „Wissen Sie schon, Herr Doktor, daß Rechnungsrats oben am Ersten ausziehen?“ fragte sie mit ihrer Aeolsharfenstimme.

„Was?“

„Ja; er hat sich pensionieren lassen und sie ziehen zu ihrer Tochter nach Brandenburg.“

„Das erfahren Sie jetzt erst?“

„Ja, und nur zufällig; der Packer hatte sich in der Etage versehen und klingelte gestern bei uns.“

„Ist denn schon wieder vermietet? Wahrscheinlich doch. Wissen Sie, wer einzieht?“

„Ja, ich habe das Mädchen unten gefragt: eine Frau Hauptmann von Einsiedel, eine Witwe.“

„Hat sie Kinder? Spielt sie Klavier?“ Er sprang auf. „Das kann eine schöne Geschichte werden! Das giebt womöglich eine Turnhalle und ein Konservatorium über meinem Kopfe!“ Er war ganz aufgeregt, ging ans Fenster vor, drehte sich plötzlich um und sagte: „Räumen Sie ab. Ich werde sehen, ob sich das nicht ändern läßt.“

Er warf einen Blick auf die Uhr, begab sich dann in den kleinen winkligen Vorraum beim Eingang zur Wohnung und zog sich einen andern Rock an. Gleich darauf klingelte er beim Wirt unten.

Der Wirt war ausgegangen, aber die Wirtin führte ihn in die „gute Stube“.

„Ich höre da etwas, was mir sehr fatal ist, Frau Homeyer: die Mieter über mir ziehen aus. Wenn ich das früher gewußt hätte, so hätte ich mir das Vorrecht auf die Wohnung vorbehalten.“

„Ja, wenn wir das nur hätten ahnen können, Herr Doktor!“

„Ich will keinen Lärm über mir haben. Ich höre, eine Witwe zieht ein, die einen Haufen Kinder hat und Klavier spielt – womöglich …“

„Drei Kinder nur, Herr Doktor …“

„Also richtig …“

„Aber noch klein, das kleinste ist erst ein Jahr alt, glaube ich, so lange ist ihr Mann tot. Er war Hauptmann – eine nette Frau, wirklich eine feine Frau, geht noch immer in ganzer Trauer …“

„Natürlich, eine feine Frau: die klimpern ja hier alle; und kleine Kinder: je kleiner, je mehr schreien sie! Ich will Ihnen etwas sagen, Frau Homeyer: ich werde versuchen, der Frau die Wohnung auszureden, und zahle die Miete so lange, bis sich wieder so ruhige Mieter finden wie die jetzigen.“

Die Wirtin wand sich ein bißchen geziert, dann sagte sie: „Uns kann’s ja recht sein, wenn der Herr Doktor das fertig bringen.“

„So? Dann halten Sie den Daumen dazu, denn wenn ich’s nicht fertig bringe, so kündige ich.“

„Ach Gott – Sie werden doch nicht?“ rief die Frau erschrocken. „So ein guter Mieter wie Sie sind!“

„Das werde ich doch – verlassen Sie sich drauf!“

„Die Frau Hauptmann wird ja wohl mit sich reden lassen, daß die Kinderchen nicht gerade über der Stube sind, wo der Herr Doktor arbeiten, und daß sie nur Klavier spielt, wenn der Herr Doktor gerade nicht zu Hause sind – aber ich weiß gar nicht, ob sie ein Klavier hat …“

„Das können Sie der Frau gar nicht zumuten. Und wenn sie’s auch verspricht, gehalten wird’s doch nicht auf die Dauer, das giebt nur Scherereien! Also bereiten Sie gefälligst Ihren Mann darauf vor…“

Er verabschiedete sich kurz, doch nicht unfreundlich; er hatte nur eine so knappe, bestimmte Art im Auftreten wie er rasch in Entschlüssen war.

Und er war fest entschlossen, sich, wenn möglich, diese „Dame in Trauer“ mit ihren drei lärmenden Schreihälsen vom Leibe zu halten. Er setzte sich oben an seinen Schreibtisch und verfaßte folgendes Billet:

  „Sehr geehrte Dame!
In letzter Stunde erfahre ich, daß die Wohnnng über der meinigen demnächst den Inhaber wechseln wird, indem Sie an Stelle der bisherigen Mieter einziehen werden. Ich habe nicht den Vorzug, Sie zu kennen; es hat also nicht den mindesten persönlichen Beigeschmack, wenn ich sage, daß mir dieser Wechsel sehr unangenehm ist. Ich bin lediglich so sehr ruhebedürftig und an Geräuschlosigkeit über mir gewöhnt, daß ich zu jedem Opfer entschlossen bin, um nur die letztere zu erhalten. Das Treiben dreier noch so reizender Kinder über meinem Kopfe würde mir unerträglich sein.

Ich mache Ihnen, sehr geehrte Frau, einen Vorschlag. Ich übernehme es, Ihnen bis zum Ziehtermine eine andere Ihnen konvenierende Wohnung zu beschaffen und Ihre Verpflichtung gegenüber meinem Hauswirt zu lösen. Ich mute Ihnen kein Opfer zu: die Tauschwohnung muß genau so Ihren Beifall haben wie die, welche Sie aufgeben. Ich erbitte nur Ihren guten Willen, ein Arrangement zu ermöglichen, welches, ohne Ihnen Nachteile zu bringen, mir gestattet, meine bisherige Wohnung beizubehalten. Sie würden dadurch außerordentlich zu Dank verpflichten
Ihren achtungsvoll ergebenen  
Doktor Hartmann.“ 
[785]

Ein lustiger Geselle.
Nach dem Gemälde von K. Weigand.

[786] Er schloß den Brief, ohne ihn zu überlesen, in ein Couvert, versah ihn mit einer Marke, kleidete sich zum Ausgehen an – unten klingelte er noch einmal der Wirtin, um die Adresse vervollständigen zu können.

Eine Minute später warf er den Brief in einen Briefkasten.

Er lief eine Stunde ziellos spazieren, am Kanalufer, in der Sonne. Die Sache ging ihm im Kopfe herum; er mußte erst mit ihr fertig werden, diese Verstimmung ein wenig auskochen lassen. Hoffentlich nimmt die Dame Vernunft an! Denn wenn sie erst über ihm wohnt, regieren die Kinder oben – als Witwe hat sie natürlich eine Affenliebe für diesen Nachlaß des teuren Entschlafenen! In seiner Praxis hat er wenig mit solchen Knospen der Menschheit zu thun gehabt, höchstens früher in der Studienzeit in den Kliniken; er hat auch als Mensch nie viel für sie übrig gehabt. Sie sind ihm immer nur als die lebendigen Puppen der Weiber vorgekommen, welche sie putzen und herumschleppen und mit denen sie sich die Langeweile vertreiben – die Männer, die sich mit ihnen beschäftigen, waren ihm immer halbe Weiber gewesen.

Diese anspruchsvollen, weichlichen, launenhaften Nichtse, vordringlich und lärmend und unappetitlich! Mit einem festen Griff drückt man sie nieder, und dabei kommandieren sie große verständige Leute wie kleine Sklavenhalter. Solche unglückliche Eltern haben nur ein Auge, einen Arm, nur den halben Verstand für sich übrig …

Kurz, er dachte wie ein richtiger Junggesell.

Möglich, daß das Treiben über ihm nicht gar so lebhaft, so störend für ihn wurde, wie er das im Vorgefühl hatte. Aber es war ihm so eingefallen – es mußte so sein, und er war immer eigensinnig gewesen, wenn er einmal etwas gewollt hatte. Er wollte diese Witwe mit den drei Kindern nicht über sich haben!

*               *
*

Er wartete ein – zwei – drei Tage auf Antwort und er bekam keine. Jetzt ärgerte er sich, daß er nicht lieber gleich persönlich die Dame aufgesucht hatte; noch mehr über die Rücksichtslosigkeit, die einen seiner Meinung nach ganz anständigen Brief einfach ignorierte.

Am vierten Tag lag auf seinem Frühstückstisch ein lichtgrünes Briefchen, lang und schmal und mit gepreßtem Silbermonogramm im Rücken.

  „Geehrter Herr!

Ich möchte nicht noch einmal treppauf, treppab steigen, nur um mir den innern Vorwurf zu ersparen, daß ich das Behagen eines Herrn störe. Ich glaube versichern zu können, daß wir nicht mehr Lärm verursachen werden, als jemand, der nicht eben krank ist – und das sind Sie nicht, wie man mir sagt – in Berlin ertragen können muß.
Ergebenst  
Helene von Einsiedel  
geb. von Kunetzky.“ 

Doktor Hartmann bekam einen roten Kopf über dem Lesen und riß den Brief durch. „Was heißt das?“ sagte er für sich – „treppauf, treppab steigen …“ Aber er war ehrlich genug, sich einzugestehen, daß er da einen recht feinen Nasenstüber bekommen. Sie hatte sich nach ihm erkundigt – bei wem? Vermutlich bei Homeyers. Die konnten natürlich nicht mit gutem Gewissen behaupten, daß er Nervenpatient oder in der Auflösung begriffen sei … wahrhaftig, seine Gesundheit war die beste von der Welt! Sie hatte damit alle Rücksicht geübt, die er billigerweise verlangen konnte.

„Nun dann nicht,“ sagte er laut. Und in Gedanken fuhr er fort, indem er sich Thee eingoß: „Sie mag auf ihre Art recht haben. Also werde ich für mich selber auf Wohnungssuche gehen.“

Das Verdrießlichste war ihm, daß ihm dieser ganze dumme Zwischenfall die Arbeitslust nahm. Seine Gedanken liefen ihm davon, als er sich nachher an den Schreibtisch setzte. Er sah immer wieder eine schwarze Dame mit feinspöttischem Lächeln, die ihm Sottisen sagte, und um sie krabbelten drei ungezogene schreiende Kinder; und dazwischen sah er bei sich die Wände ab-, die Stube ausräumen: er zog! Wohin? Dieser Winkel in Berlin war ihm so angenehm geworden.

Gleichviel, er zieht! Er geht zu Homeyers hinunter, erfährt, daß die „gnädige Frau“ durch das Mädchen hat fragen lassen, ob der Doktor Hartmann, der im Hause wohnt, etwa krank wäre … „Hätten Sie doch gesagt, ich wäre im letzten Stadium schwindsüchtig!“ … Kurzum: wenn sie wollen, daß er wohnen bleiben soll, so mögen jetzt sie es durchsetzen, den Kontrakt mit ihr rückgängig zu machen; andernfalls zieht er aus!

Er hat halbjährige Kündigung, aber es kommt ihm gar nicht darauf an, früher zu ziehen, sobald er eine passende Wohnung gefunden hat.

Damit nimmt er die Thürklinke und geht.

Und der Wirt, der ein kleiner Rentier ist, macht seufzend den Versuch, die Gnädige umzustimmen, aber er kehrt sehr rasch zurück und hat gar nichts ausgerichtet.

„Weun bloß der unglückliche Umzugstermin erst vorbei wäre,“ sagt Doktor Hartmann zu seinen Freunden, die heimlich über ihn den Kopf schütteln (denn zureden kann man ihm nicht); „dann habe ich wenigstens alle Tage meinen Normalärger, habe Thatsachen vor mir und meine Phantasie hat Ruhe. Jetzt macht mir die eine Menge Spuk zurecht, in angenehmer Abwechslung, zum Aussuchen – und ich kann nichts arbeiten …“

Am vorletzten Septembertage, als die Packer bei Rechnungsrats zu rumoren anfangen, muß ihm Frau Fricke das Notwendigste für einen Ausflug zusammenlegen – er fährt für einige Tage nach Potsdam.

*               *
*

So, nun ist geschehen, was er nicht hat abwenden können.

An dem Abend, da er zurückkehrt, hat er ein Gefühl, als müßte man dem Hause ansehen, daß darin eine große Veränderung vor sich gegangen. Aber das Haus macht sein altes Gesicht – nicht einmal den Gardinen da oben kann er abmerken, daß sie nicht die alten sind, denn die Wahrheit zu sagen: er weiß gar nicht, wie die früheren ausgesehen haben. Er läßt sich von Frau Fricke noch Thee und etwas zu essen geben.

„Das wahr wohl eine schöne Wirtschaft oben die Tage?“

„Ach ja, gepoltert hat’s genug,“ haucht Frau Fricke, „es war ganz recht, daß der Herr Doktor verreisten. Gestern haben sie noch den ganzen Tag Nägel eingeschlagen.“

„Haben Sie denn die Leute gesehen, die eingezogen sind?“

„Ja – eine schöne Frau, Herr Doktor,“ sagt sie wie in einer milden Verzückung; „und so niedliche Kinderchen!“ dabei legte sie den Kopf auf die Seite. „Und gute Sachen! Alles so vornehm. Das Mädchen sagte auch: die gnädige Frau wäre sehr vornehm, aber sie hätte es dabei sehr gut bei ihr. Sie hätte viel durchgemacht, die arme, der Herr wäre beinahe anderthalb Jahr krank gewesen, sehr jähzornig und zuletzt ganz gestört im Kopfe! Einmal wäre er ein paar Wochen in einer Anstalt gewesen, aber er hätte es nicht ausgehalten.“

„Wahrscheinlich Morphinismus, Gehirnerweichung oder so etwas ähnliches“, brummte Doktor Hartmann für sich. „Das ist freilich kein besonderer Genuß für eine Frau.“

„Ja – und in ihren Verhältnissen sind sie wohl auch dadurch ein bißchen zurückgegangen …“

„Das ist ihre Sache!“ Damit drehte er sich um, das bekannte Zeichen für Frau Fricke, zu verschwinden.

Doktor Hartmann lag nach dem Essen auf dem Paneelsofa und las Zeitungen. Nur die große Glockenlampe über dem Eßtisch mit dem Bronzenetz über der Glocke leuchtete in der Wohnung – das Nebenzimmer jenseit der aufgeschlagenen Portiere lag dämmerdunkel bis auf einen schrägen Streifen mattbeleuchteten Teppichs vorn. Es war alles so still, nur das Gas in der Flamme zischelte, und zuweilen knisterte die Zeitung in der Hand des Lesenden.

Der las zerstreut, horchte – auf was? Auf den ersten Ton über sich. Nur den ersten Ton wollte er hören. Merkwürdig, welche Wichtigkeit diese künftigen Geräusche da oben für ihn gewonnen hatten, daß er beständig an sie denken mußte! Wenn das so blieb, so wurde er nervös, wurde er verrückt! … Er sprang ärgerlich auf, ging, sich eine Cigarre anzuzünden, und legte sich dann wieder hin. Da – da rückte ein Stuhl und ein dumpfer Tritt bewegte sich weiter, in das Nebenzimmer, kehrte zurück, leicht, elastisch, doch klirrte die Glocke auf Doktor Hartmanns Lampe ein klein wenig; dann war wieder Ruhe, nur das Schälchen, welches den Ruß fängt, schwankte eine Weile nach.

Dies war also wohl die Frau von Einsiedel, die über ihm saß, die schöne Witwe mit der kühlen ironischen Miene, wie er [787] sich’s vorstellte. Wo mochten die Kinder schlafen’? Hoffentlich nicht vorn über seinem Schlafzimmer – nein, Gott sei Dank, dort war der Raum zu klein; er würde wenigstens ruhig ausschlasen können …

Wenn er nur wüßte, ob diese Dame Klavier spielt! Das würde er auf keinen Fall aushalten können; nicht weil er unmusikalisch war – gerade im Gegenteil, weil er ein für Musik so sehr empfindliches Ohr besaß. Er würde hilflos, gedankenlos zuhören müssen oder flüchten. Vielleicht ging sie doch wenigstens darauf ein, nur in den Nachmittagsstunden zu spielen, wo er ohnedies ausging!

Er rauchte, las – horchte ... uoch ein paarmal das Aufstehen, Gehen, er verfolgte ganz genau Richtung und Endziel – das leise Glockenklirren ... wie das Gas da zischte, mit wilder drängender Kraft! Sogar das war ihm heute lästig. Er sah ein paarmal nach der Uhr; endlich überwältigte ihn die Ungeduld und er ging schlafen.

Was wird der nächste Tag bringen? Er wird ja versuchen, wieder zu arbeiten!

Seinen Morgenschlaf stört nichts, er erwacht zur gewöhnlichen Zeit.

Da – da haben wir’s! Ueber dem Salon nebenan trappelt es schon hin und her. Da wird, wie es scheint, bereits Haschen gespielt, während er sich ankleidet! Gerade als er in den Salon tritt, kommt es vom Eßzimmer oben hergerannt, die ganze lange Flucht bis zur Fensterwand des Salons. Die Galle rührt’s ihm auf und er zieht grimmig die Brauen zusammen, indem er unter diesem dumpfen Gewitter hin zum Frühstückstisch geht.

Diese unerhörte Rücksichtslosigkeit! Das Weib weiß, daß dieses Getrappel einen Menschen quält, der es hilflos mit anhören muß, aber sie denkt nicht daran, es zu beschränken! Mit dem Arbeiten wird es demnach nichts werden!

Er setzt sich und frühstückt.

Er wird also bewußt und absichtlich genötigt, auszuziehen! Diese Kinder haben da offenbar den Weg durch die ganze Wohnung frei – es würde nicht einmal etwas nutzen, den Schreibtisch zu versetzen. Er könnte sich ja auswärts eine ruhige Arbeitsstube zu mieten versuchen; aber das wird er nicht thun. Er wird umziehen!

Das trappelt – da fällt eins: es giebt einen dumpfen Schlag und dann ein Geschrei …

Nun wahrhaftig! Er hat den brennenden Wunsch, dieser Dame gründlich die Wahrheit zu sagen. Das wird er auch noch thun! Mag sie es unbillig finden, daß sie einem fremden Manne zu Gefallen eine gemietete Wohnung wieder aufgeben sollte: nur Hochmut und Gemütlosigkeit kann auf der Bedrängnis eines Mitmenschen so vollkommen gleichmütig herumtrampeln lassen. Mündlich wird er das besorgen, nicht wieder schriftlich.

„Hören Sie bloß den Radau da oben,“ sagt er zu Frau Fricke, die abräumen kommt. „Hat denn das Weib wenigstens ein Kindermädchen? Die Kinder müßten doch ab und zu ins Freie kommen!“

„Ja – sie werden wohl gerade mit dem Kleinsten beschäftigt sein, Herr Doktor. Ich habe dem Mädchen gesagt: sie kann ja, wenn schönes Wetter ist, mit den Kindern auf den Belle-Allianceplatz gehen. Nun kommt freilich der Winter heran …“

„Natürlich; daran habe ich noch nicht einmal gedacht! Ich werde nachher ausgehen, eine andere Wohnung zu besorgen; machen Sie sich auf den Umzug gefaßt, Frau Fricke.“

„Wie Sie denken, Herr Doktor. Es thut mir so leid … es sind wirklich so niedliche Kinderchen!“

„Sehr niedliche Kinderchen, ausgezeichnet: niedliche Kinderchen!“

Frau Fricke schwieg still, ganz verschüchtert.

„Aha, da kommt ja schon die Equipage!“

Man hörte ein Rollen über die Dielen her, von der Thür ausgehend, die zu den Wirtschaftsräumen führte. Umgehend setzten sich von da und von dort her zwei Paar Kinderfüße in Bewegung, in der Richtung auf das Rollen zu.

Der Doktor Hartmann riß nach raschem Prüfen ein Stück „Lokalanzeiger“ ab, steckte es zu sich und ging Wohnungen besichtigen.

Als er zurückkehrte, war er ermüdet und verdrießlich. Er hatte nichts Passendes gefunden. Er warf Hut und Ueberrock an die Haken, als wären sie schuld daran.

In der Wohnung war es lauschig still, die Oktobersonne warf ein paar glührote Streifen auf den Teppich … er horchte, oben regte sich nichts. Als er ins Eßzimmer trat, öffnete Frau Fricke möglichst geräuschlos die Thür. „Die Kinder sind auf dem Belle-Allianceplatze, Herr Doktor.“

„Schön,“ sagte er, worauf sie verschwand. Jetzt könnte er also arbeiten! Wenn er nur nicht von dem Herumfahren und Treppenablaufen so erschöpft und zerstreut gewesen wäre!

Er warf sich in den niederen, ledergepolsterten Kameltaschensessel und streckte die Beine von sich, durch die Mitteilung der Wirtschafterin etwas milder gestimmt.

Hätte er nur glauben dürfen, daß man die Kinder fortgeschickt, um ihm Ruhe zu schaffen, er hätte es der Dame gern gut geschrieben. Wie dumm – läuft er, fährt er in der Stadt herum, und hier ist Friede zum Arbeiten gewesen. Er wird sich also das Wohnungsuchen ersparen, bis schlechtes Wetter ist …

Wie diese Dame wohl aussehen mag? Vor seiner Phantasie schwebt immer so ein schattenhaftes Wesen herum, schlank, vornehm, in Schwarz, aber mit unfaßbaren Zügen. Er sieht einen Gesichtsausdruck, aber das Gesicht selber zerrinnt ihm, sobald er darauf achten will. Sie macht sicherlich einen guten Eindruck, das ergiebt sich aus den Aeußerungen der Homeyers, der Frau Fricke und des Mädchens der Dame. Nun – er will ihr ja eine Visite abstatten, sich mit ihr anssprechen: im Augenblick wäre er freilich nicht in der Stimmung dazu!

Merkwürdig: jetzt ist ihm die Stille oben ordentlich befremdend. Immer wieder ertappt er sich, daß er nach oben horcht … trapp, trapp, trapp, so etwas Beflügeltes hat das an sich; es erinnert irgendwie an kleine Vögel. Es weht dahinter von kurzen Röckchen, die sich schwenken. Ah – er weiß gar nicht einmal: sind’s Jungen oder Mädchen, diese beiden? Trapp, trapp, trapp – so klein klingt das, so drollig klein, man kann beinahe abmessen, wie groß der Umriß des Füßchens ist, vom bloßen Klange!

Wenn man davon absieht, daß es höchst störend sein kann, dies trapp, trapp, trapp, so muß man es possierlich finden. Vielleicht ließe sich wirklich der Beschäftigung mit diesen Miniaturmenschen eine Art Reiz abgewinnen, hinlänglich lohnend, um müßige Minuten auf sie zu verwenden. Etwa wie man sich mit kleinen Katzen amüsiert! Man studiert und genießt das Niedliche, und das ist am Ende doch auch ein Teil des Schönen und ein Kapitel der Aesthetik…

Ach was – er wird noch ein wenig schreiben; er ist genug erholt jetzt. Er geht an den Schreibtisch, sammelt sich – wohl eine Stunde sitzt er ganz vergraben.

Da – da fährt wieder die Equipage oben; er hört ein feines dünnes Stimmchen schreien; richtig wie ein Kätzchen – der Wagen rollt hin und her. Und jetzt wieder die Trappelfüßchen, nicht so wild wie am Morgen – gerade über ihm läuft’s zum Fenster, das eine Paar, das andere Paar … Schritte Erwachsener …

Er macht eine ungeduldige Bewegung, legt die Feder hin. Aber er wartet mit einer gewissen Neugier auf die Füßchen. Jetzt – das ist das Kleinere; das muß ein Junge sein! Es stapft so gerade auf, so derb: eine gewisse sachliche Knappheit spricht aus den kurzen, festen Tritten, eine Sicherheit des Ausschreitens, die nicht durch den Weiberrock gehemmt ist. Das andere ist sicher ein Mädchen – die paar Schritte, wie federn sie! Die Kniee schieben den Rock vor, so tritt der Fuß wie von selbst auf die Zehen ... drollig ist das. Man sieht ordentlich die kleinen Beinchen vor sich, wie sie zappeln …

Aha, der kleine Mann stampft, es paßt ihm wahrscheinlich etwas nicht ... jetzt sind sie beisammen … jetzt fliegt das Fräulein davon, ins Nebenzimmer, der kleine Bursch hinterher … das wird etwas geben dort, das wird etwas geben! …

Der Doktor Hartmann verliert auf ein Paar Augenblicke den ganzen trotzigen, abwehrenden Ernst, er kraut den krausen Vollbart und lächelt für sich und wartet ordentlich gespannt … Dann springt er auf und ruft durch die Thür: „Frau Fricke!“

„Ja, Herr Doktor?“ Sie kommt vom Kochen, die alten spinnenhaften Hände an der Schürze abwischend.

„Ist nicht das kleinere, das da oben herumläuft, ein Junge, das größere ein Mädchen?“

„Jawohl, Herr Doktor; das allerkleinste ist auch ein Junge.“

Er war sehr befriedigt und sie sichtlich verblüfft über den Ton, in dem er sprach.

„Es hört sich so an,“ sagte er und wandte sich ab.

(Fortsetzung folgt.)
[788] 0


Blätter und Blüten.


Das Kaiser Wilhelm-Denkmal an der Porta Westphalica. (Zu dem Bilde S. 773.) Bereits im Jahre 1889 bewilligte der westfälische Provinziallandtag eine halbe Million Mark, um auf der Roten Erde das Andenken Kaiser Wilhelms I. durch ein Denkmal zu verherrlichen. Die berühmten Künstler Architekt Bruno Schmitz in Berlin und Bildhauer Kaspar von Zumbusch in Wien gingen aus dem Wettbewerb um den Denkmalsentwurf als Sieger hervor und im Jahre 1892 begann man an der Porta Westphalica mit den Vorarbeiten zu dem Kunstbau, der nun am 18. Oktober in Gegenwart des Deutschen Kaisers und der Kaiserin enthüllt worden ist.

Porta Westphalica, die westfälische Pforte, heißt das Thal, in welchem der Weserstrom die Kette des nach ihm benannten Gebirgs durchbricht, um sich in das norddeutsche Flachland zu ergießen. Gleich Riesenpfeilern erheben sich an diesem Thor zwei Berge. Auf dem rechten Ufer steigt der Jakobsberg 140 m über den Stromspiegel der Weser empor, ihm gegenüber erhebt sich der um 100 m höhere Wittekindsberg, dessen Haupt Buchenwälder krönen. Von den Zinnen dieser Berge bieten sich dem Auge prachtvolle Fernsichten, bald auf die zurückliegenden Gebirgsketten, bald auf das weite in nebliger Ferne verschwimmende Tiefland. Die Gegend der Porta Westphalica ist auch reich an geschichtlichen Erinnerungen, die auf die Kämpfe der Sachsen gegen die Römer und die Franken zurückweisen.

Auf der Flanke des Wittekindsberges wurde nun von den Söhnen der Roten Erde das große Denkmal für Kaiser Wilhelm I. errichtet. Seinen Grund bildet die untere Ringterrasse mit dem Treppenaufbau; an ihrer Vorderseite ist die Tafel mit Inschriften angebracht. Darüber wölbt sich ein baldachinartiger Aufbau, dessen Spitze von der Kaiserkrone gekrönt wird. Inmitten des von Säulen getragenen Baues steht das 7 m hohe, von Professor von Zumbusch modellierte und aus Erz gegossene Standbild des Kaisers; in der Uniform des Gardeducorps-Regiments, die Linke auf den Pallasch gestützt, erhebt der greise Held die Rechte, um das weite Land zu seinen Füßen zu segnen.

Vom Fuße der Treppe bis zum Kreuz der Kaiserkrone beträgt die Höhe des Denkmals 88 m; das ist der dritte Teil der Gesamthöhe des Wittekindsberges. Dank diesen Größenverhältnissen kommt der Monumentalbau in dem Bilde der Landschaft zur kräftigsten Geltung und übt schon aus der Ferne einen überwältigenden Eindruck aus. *      

Aus der Franzosenzeit. (Zu dem Bilde S. 776 und 777.) Es ist ein trübes Bild aus der Zeit der schwersten Not und der tiefsten Erniedrigung Deutschlands im Anfange dieses Jahrhunderts, das uns E. Henseler auf seinem Gemälde mit packender Anschaulichkeit vorführt. Der Künstler versetzt uns in ein Bauernhaus der Neumark, wie früher der im Norden an Pommern grenzende und gegen Westen durch die Oder von der Mittel- und Ukermark geschiedene Teil der Mark Brandenburg hieß. Ganz Deutschland war bereits von Napoleon I. unterjocht, als der Weltbezwinger im Frühjahr 1812 eine halbe Million Krieger der russischen Grenze zu in Bewegung setzte. In jener Zeit der immerwährenden Truppendurchzüge hatten sich in einem neumärkischen Bauernhofe Krieger der französischen alten Garde, denen auch ein Kürassier zugesellt war, einquartiert. Sie hausten dort, wie die Franzosen in Deutschland es überall thaten, gleichviel ob sie als Feinde oder als Freunde kamen. Das von den biederen Neumärkern bereitete Essen behagte dem Gaumen der Fremden nicht; was man ihnen vorsetzte, warfen sie voll Hohn samt dem Geschirr auf den Boden und gaben es den Hunden preis. Dann revidierten sie selbst die Geflügelhöfe und Ställe und kochten und brieten, was die Franzosen überhaupt meist vortrefflich verstanden; oft genug sah man Truppen, die Hühner, Enten und Gänse auf ihre Bajonette gespießt trugen. Wie die Krieger der „großen Armee“ auf dem Hof in der Neumark ihr Wesen getrieben, veranschaulicht der Zustand der sonst so ordentlich und reinlich gehaltenen Bauernstube auf unserem Bilde gar lebensvoll. Zum Teil haben sie sich’s jetzt nach Lust und Laune bequem gemacht und rauchen und plaudern. Einer steht links am Herdfeuer, mit der Zubereitung des Mahles beschäftigt, und an dem Tische rechts putzt ein Gardist mit der mächtigen Bärenmütze auf dem Kopfe sein Gewehr. Mit schwerem Herzen sehen die Bewohner, wie die Fremdlinge in ihrem Heim schalten und walten, aber sie dürfen nicht einmal eine unzufriedene Miene machen, wenn sie sich nicht den brutalsten Mißhandlungen aussetzen wollen. In dem alten Manne im Hintergrunde des Gemaches erblicken wir noch einen Zeitgenossen des „Alten Fritz“, dessen Bild dort an der Wand hängt. Wie tief gesunken war der Staat des großen Königs, dessen Nachfolger auf seinen Lorbeeren ruhen zu dürfen geglaubt hatten, ohne den Bedürfnissen einer neuen Zeit Rechnung zu tragen! Schon aber hatte sich im stillen jener Umschwung zum Besseren vorbereitet, der bald so glänzend zu Tage treten sollte. Doppelt mögen wir uns beim Rückblick auf diese „Franzosenzeit“ der vor fünfundzwanzig Jahren erfolgten Einigung Deutschlands erfreuen, die eine Wiederkehr solch trauriger Zustände so Gott will für immer unmöglich gemacht hat! F. R.     

Diana. (Zu dem Bilde S. 781.) Ein einsamer Felsenstrand der jonischen Inseln, von Pinien und Steineichen überschattet, in dessen ausgehöhlten Grotten die Brandung schäumt, während fernhin sich Küste und Meeresspiegel in lichter Bläue dehnen: so zeigt uns Meister Kanoldt das Jagdgebiet der Diana. Die Göttin steigt einsam, nur von dem treuen Hunde geleitet, aus dem Bergwald herab; ihre lichte Figur hebt sich scharf von der tiefen Schattenmasse der Bäume ab. – Das Bild wird eine Freude sein für alle jene, die auch heute noch sehnsuchtsvoll die Gedanken nach der südlichen Ferne richten und sich gern durch die Kunst aus dem nordischen Winter hinwegtäuschen lassen nach den sonnigen Gestaden des Mittelmeeres, wo Kraft und Schönheit der Natur sich zur unvergänglichen Herrlichkeit der „homerischen Landschaft“ vereinigen! Bn.     

Der Kea-Nestor.
Nach dem Leben gezeichnet von W. Kuhnert.

Ein räuberischer Papagei. (Zu dem nebenstehenden Bilde.) Unter den Vögeln Neuseelands zählen zu den bemerkenswertesten die Nestorkakadus, von denen ein Exemplar, ein Kea-Nestor, neuerdings vom Zoologischen Garten in Berlin erworben wurde. Diese Vögel, welche in den Gebirgswäldern Neuseelands leben, haben etwa die Größe unserer Dohlen oder Raben; in der Färbung ihres Gefieders wiegt das Olivengrün vor, jede Feder ist dabei mit einem halbmondförmigen braunen Flecken gezeichnet; scharlachrote und mattgrüne Farben in den Schwanz- und Flügelfedern vervollständigen die bunte Tracht.

Die Eingeborenen nennen den Vogel Kea und halten ihn gern in Gefangenschaft in ihren Dörfern. Die Europäer sind ihm weniger gewogen. Die Ansiedler hatten nämlich unter anderen Haustieren auch Schafe nach Neuseeland gebracht. Eines Tages bemerkten sie, daß die Schafe, die im Gebirge weideten, sehr übel zugerichtet wurden; auf verschiedenen Stellen ihres Felles zeigten sich handgroße Wunden, die tief in das Fleisch hineinreichten und oft den Tod des Tieres zur Folge hatten. Als der Uebelthäter wurde bald der Kea-Nestor ermittelt. Die Kea-Papageien erschienen in Scharen bei den Schafherden und fielen über die Tiere her, die, geängstigt, sich nicht zu wehren wußten und den Angriffen ihrer Feinde erlagen.

Eine solche Raubnatur ist bei einem Vogel von der Familie der Papageien etwas Unerhörtes und um so merkwürdiger, als Neuseeland vor der Besiedeluug durch Weiße keine Schafe, ja nicht einmal größere Säugetiere beherbergte. Die Kea haben somit das Morden erst in jüngster Zeit gelernt! Die Naturforscher erklären sich diesen Wandel in den Lebensgewohnheiten des Vogels in folgender Weise. Die Kea haben seit jeher neben ihrer pflanzlichen Nahrung Insekten als Leckerbissen bevorzugt. In den Bergen Neuseelands wächst nun eine Immortellenpflanze, die, von weitem gesehen, täuschend einem runden Schafe gleicht. In dem Blätterwerk derselben verbergen sich viele Insekten und die Kea pflegen darin mit Vorliebe nach Kerbtieren zu suchen. Als nun die Schafe nach Neuseeland eingeführt wurden, begannen die Kea auch das Vließ der Schafe mit ihrem harten Schnabel zu untersuchen und entdeckten unter demselben das Fleisch, an dem sie Wohlgefallen fanden. So wurde der Kea-Nestor zu einem Mordgesellen und als solcher hat er sich, da er auch als Dieb in die Fleischkammern eindringt, eine unerbittliche Feindschaft der Ansiedler zugezogen. Er wird verfolgt, und bald wird auch er ausgerottet werden, mit so vielen anderen seltenen und eigenartigen Vogelarten Neuseelands das gleiche Schicksal teilend. *      


Inhalt: Das Kaiser Wilhelm-Denkmal an der Porta Westphalica. Bild. S. 773. – Die Geschwister. Roman von Pilipp Wengerhoff (8. Fortsetzung). S. 774. – Aus der Franzosenzeit. Bild. S. 776 und 777. – Schutz den kindlichen Arbeitern! Von C. Falkenhorst. S. 779. – Ein Künstlerschicksal und seine Sühne. Aus den Papieren eines alten Weimaraners. S. 780. – Diana. Bild. S. 781. – Kinderfüßchen. Novelle von Victor Blüthgen. S. 783. – Ein lustiger Geselle. Bild. S. 785. – Blätter und Blüten: Das Kaiser Wilhelm-Denkmal an der Porta Westphalica. S. 788. (Zu dem Bilde S. 773.) – Aus der Franzosenzeit. S. 788. (Zu dem Bilde S. 776 und 777.) – Diana. S. 788. (Zu dem Bilde S. 781.) – Ein räuberischer Papagei. Mit Abbildung. S. 788.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

[788 a] 0


Die Gartenlaube.

Beilage zu No 46. 1896.

Das Riesenfernrohr der Berliner Ausstellung. In der Geschichte der Wissenschaften wird das Jahr 1609 unvergeßlich bleiben, in dem Galilei zum erstenmal ein schwaches Fernrohr gegen den gestirnten Himmel richtete und das menschliche Wissen durch ungeahnte Thatsachen bereicherte. Durch die Entdeckung neuer Sterne, der Gebirge auf dem Monde und vor allem der Jupitermonde lieferte er den sichtbaren, augenfälligen Beweis für die Richtigkeit der neuen Weltanschauung, zu der schon Kopernikus den Grund gelegt hatte. Seit jener Zeit sind die Forscher unermüdlich thätig gewesen, die Geheimnisse der Sternenwelt zu enträtseln, die Himmelskörper unserem Auge näherzurücken, und mit unerschöpflicher Neugierde lauschte auch die große Masse der Laien den neuen Nachrichten aus der Sternenwelt. Die Technik unterstützte die Astronomen, indem sie die Fernrohre verbesserte. Die Fortschritte waren zwar langsam, aber stetig; von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wurden die Instrumente vollkommener und lieferten immer bessere und schärfere Bilder von den fernen Körpern im Weltenraume. Nach zwei Richtungen hin wurde das Fernrohr verbessert. Galilei beobachtete mit einem Refraktor, das heißt mit einem Fernrohr, das aus vergrößernden Glaslinsen besteht. Da bei dem früheren Stand der Technik die Gläser keine scharfen und farbenfreien Bilder zu liefern vermochten, fertigte man Fernrohre, in welchen neben Linsen Hohlspiegel zur Anwendung kamen. Reflektoren wurden diese Instrumente genannt, und mit einem solchen Reflektor hat der berühmte Herschel seine großen Entdeckungen in den Himmelsräumen gemacht. Infolge der Fortschritte der Technik wurde es aber bald möglich, bessere Glaslinsen herzustellen, und die alten Refraktoren zeigten sich den Spiegelfernrohren überlegen. Dieser Art sind heutzutage die größten und besten Fernrohre der Sternwarten. Deutschland, das zur Vervollkommnung dieser Instrumente durch Herschels und Fraunhofers Arbeiten soviel beigetragen hat, blieb auf diesem Gebiete eine Zeitlang hinter den anderen Kulturvölkern zurück. Das größte Fernrohr, das bis vor kurzem in Deutschland sich befand, war das der Sternwarte in Straßburg. Der Durchmesser seines Objektivs, das heißt der dem Himmel zugewendeten Glaslinse, beträgt 48,5 cm. Dem gegenüber verfügt z. B. Wien über ein Fernrohr mit 68,5 cm Oeffnungsweite, Pulkowa und Nizza über Instrumente mit Linsen von 76 cm Durchmesser, und obenan stand Amerika, wo z. B. das Lick-Observatorium ein Fernrohr mit 91,5 cm Oeffnung besitzt.

Das Riesenfernrohr im Treptower Park.

Der von deutschen Astronomen gehegte Wunsch, den anderen Kulturvölkern gleichzukommen oder sie auf diesem Gebiete womöglich zu übertreffen, ist endlich gelegentlich der letzten Berliner Gewerbeausstellung nach vielen Mühen und Kämpfen in Erfüllung gegangen. Nach den Angaben und Berechnungen des Astronomen F. S. Archenhold wurde ein Riesenfernrohr erbaut, für das ein Objektiv von 110 cm Durchmesser in Aussicht genommen worden ist. Vorläufig wurde es mit einem Objektiv von 70 cm Durchmesser ausgerüstet. Das Rohr selbst ist 21 m lang und wiegt gegen 80 Zentner. Zur Aufstellung und Bewegung dieses Riesenfernrohrs ist ein sinnreicher Maschinenapparat nötig, den unsere Abbildung wiedergiebt. Derselbe ist insofern eigenartig, als Archenhold dabei auf den bei astronomischen Fernrohren üblichen drehbaren Kuppelbau verzichtete und dadurch die Herstellungskosten des Observatoriums wesentlich billiger gestaltete. Das Riesenfernrohr ist in dem Archenholdschen Observatorium mit einem Cylindermantel versehen, und bei diesem System stellen sich die Gesamtkosten auf etwa ¼ Million Mark, während sonst ein großes, mit drehbarem Kuppelbau versehenes Fernrohr einen Aufwand von 1¼ bis 1½ Millionen Mark erforderte. Erst vor kurzem konnte die Sternwarte im Treptower Park in Thätigkeit treten. Die ersten Beobachtungen, die man probeweise mit dem Fernrohr angestellt hatte, fielen durchaus befriedigend aus. Die Bilder der Mondlandschaft zeichneten sich durch eine wunderbare Deutlichkeit und Klarheit aus, und auch das Uhrwerk, das den Riesenapparat dem Gang der Himmelskörper anpaßt, funktionierte tadellos. Mit Spannung können wir somit den weiteren Beobachtungen entgegensehen. Sicher wird dieses Riesenfernrohr die erhofften Dienste leisten und viel zur weiteren Entschleierung der Geheimnisse der Sternenwelt beitragen.

Christbaumschmuck. Bei der nahenden Weihnachtszeit ist es gewiß vielen willkommen, darüber belehrt zu werden, wie man mit eigner Hand die schönsten Christbaumverzierungen anfertigen kann. Die wirksamste von allen, die vergoldeten Tannenzapfen an den Astenden des Christbaums, stellt man, besser als mit Schaumgold und Gummilösung, mit Gerstendörffers Goldtinktur her. Das Fläschchen für 50 Pfennig reicht weit und liefert einen gleichmäßigen, rasch trocknenden Goldüberzug. In allen größeren Geschäften ist dies sowohl als das Patent-Bronzepulver vorrätig, das, mit etwas Lack vermischt, einen farbigen Metallton giebt. Man kann mit demselben ausgeblasene Eier zu rot und grüngoldenen Kugeln machen, auch kleine Körbchen zur Aufnahme von Konfekt wirksam anstreichen. Unübertroffen in der Wirkung sind die allbekannten goldenen Ketten um den Baum. Um sie sehr schön herzustellen, klebt man einen Tag vor der Anfertigung immer 2 Bogen Goldpapier mit den weißen Seiten zusammen und beschwert sie zum Trocknen. Nun hat man feine, auf beiden Seiten gleiche Goldstreifen, schneidet sie schmal, daß die Ketten fein werden, und klebt Ring um Ring mit gutem, flüssigem Leim ineinander. Die Christbaumsterne mit den lang niederhängenden Gold- und Stanniolfäden, welche, in großer Anzahl am Baum angebracht, ihm ein wunderschönes Ansehen geben, stellt man folgendermaßen her: Aus Karton wird ein Rund von 9 cm Durchmesser geschnitten. Zum Stern wählt man Seidenpapier, z. B. eine Schattierung von 5 Bogen, vom allerzartesten Rosa bis zum ziemlich tiefen, und schneidet, mit diesem beginnend, ein Rund von 3 cm Durchmesser. Das nächstfolgende von 5 cm, das dritte von 7, bis man endlich mit dem äußersten 11 cm erreicht hat. (Selbstverständlich faltet man das Papier zusammen, so daß immer 8 Scheiben zugleich geschnitten werden.) Nun heißt es, den Rand einer jeden (auch vierfach gefaltet) mit einer feinen Schere einzähnen, und nachdem dies geschehen, heftet man alle Scheiben aufeinander und schließlich mit Draht auf den Karton. Aus Rauschsilber oder Rauschgold schneidet man dann möglichst lange (40 bis 70 cm) Streifen von 4 cm Breite und spaltet diese in 4 bis 5 feine Fäden. Mit dem festen oberen Ende, das man rechts und links etwas nach innen umbiegt, heftet man dann diese Staubfäden in die Sternenblumen ein und bringt rückwärts am Karton zwei Drahtenden zur Befestigung am Baume an. Man kann auch farbigen Stanniol zu den Fäden verwenden: Grün zu rosa Sternen, Blau zu gelben, Rot zu weißen, die abwechselnd aus Weiß und goldenen oder silbernen Scheiben hergestellt werden, weil Weiß allein zu matt wirkt. – Lichterhalter sind praktisch, aber nicht billig. Wo sie fehlen, befestigt man die Wachslichtchen ganz solid durch starke Stecknadeln, welchen man mit der Drahtzange die Köpfe abknipst. Das stumpfe Ende wird mit der Zange ein paar Augenblicke in ein brennendes Licht gehalten und, sobald es glüht, fest in das untere Ende des Wachslichtchens bis über die Hälfte eingebohrt. Den heraussehenden Stachel von 1½ cm Länge stößt man dann mitten in den Tannenzweig, und das Licht sitzt gut und fest auf diesem auf. Die größte Mannigfaltigkeit von Anregungen verwandter Art findet sich in dem Büchlein, das H. Steinach unter dem Titel „Christbaumschmuck“ (München, Kellerer) diesem Thema gewidmet hat. Nicht nur für die Herstellung der verschiedensten Arten von Sternen, Papiernetzen, Glaskugeln, Ketten u. s. w. sind darin die nötigen Erklärungen gegeben, auch Rezepte für Christgebäck und gute Ratschläge zur Ausschmückung des Baumes im ganzen machen die Schrift empfehlenswert.

Hauswirtschaftliches.

Dem Backen im Hause scheinen viele Hausfrauen immer weniger Geschmack abzugewinnen, trotzdem kein Konditorgebäck so mundet wie das Hausbackwerk. Die Ursache liegt nicht in der Bequemlichkeit, sondern in der Sorge vor dem Mißraten. Wenn es nun auch gegen das letztere Uebel kein nie versagendes HIlfsmittel gibt, denn Backen bleibt immer eine Kunst, so haben wir doch durch die Erfindungen der Neuzeit manche Gewähr, das Mißraten wenigstens beschränken zu können. Vorste haben wie nicht nötig, uns vor „unaufgegangenem“ Backwerk zu fürchten, wenn wir statt des treibenden umständlichen Geistes der Hefe jetzt das Backpulver nehmen, gegen das allerdings vielfach noch das Vorurteil besteht, es gebe einen Beigeschmack, obgleich dies völlig grundlos ist, denn gutes Backpulver, z. B. das „Viktoria-Backpulver“, ist ganz geschmackfrei. Zudem erspart das Backpulver uns viel Zeit, wir brauchen nicht auf ein „Aufgehen“ zu warten, sondern können sofort das Gebäck in den Ofen schieben. Ferner geht bei Anwendung von Backpulver nichts von der Masse verloren, was beim Gebrauch der Hefe der Fall ist, die durch das Gären einen Teil des Teiges zersetzt. Ebenso gefürchtet wie „unaufgegangenes“ Gebäck ist solches, das nicht gar oder das verbrannt ist. Auch hierfür gibt es Rat, wenn man vor der Backofenthür ein praktisches „Bratthermometer“ befestigt, das uns die Temperatur des Ofens genau anzeigt. Wissen wir nun, daß für Hefebackwerk 110° R., für Brot 120 ° R., für Sand- und Biskuitbackwerk 100° R. und für Backwerk, das nur austrocknen soll, 90° R. die richtige Temperatur sind, so wird uns ein gleichmäßig geratenes Backwerk erfreuen, und das Backen wird für jede Hausfrau winw Lust, nicht eine Last sein. L. H.     
[788 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]


  1. Die hier der Oeffentlichkeit übergebenen Erinnerungen an die klassische Zeit der Weimarer Bühne rühren von einem jetzt verstorbenen zuverlässigen Kenner der dortigen Theaterverhältnisse her und sind durchaus authentisch. Die Redaktion.