Die Gartenlaube (1897)/Heft 38

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[629]

Nr. 38.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Einsam.
Roman von O. Verbeck.

(7. Fortsetzung)

16.

Früh am Nachmittag kam Günther, neugierig gespannt wie ein Kind auf „Hannichens Märchenschloß“. Es machte ihr Vergnügen, ihn in den prächtigen Räumen des Erdgeschosses herumzuführen. Zwar ging sie selber immer noch beinahe wie ein Gast zwischen all den Herrlichkeiten einher. Aber während sie hier einen Vorhang lüftete, um die Sonne hereinzulassen, dort eine Falte der türkischen Diwandecke zurechtzog oder einem „dumm dastehenden“ Stuhl einen Ruck gab, überkam sie doch wieder mehr und mehr das fröhliche Gefühl der Besitzesfreude.

Den obern Stock mit den Wohnräumen, den Günther auch gern gleich gesehen hätte, zeigte sie ihm aber jetzt nicht. Sie wünschte Ludwig nicht aufzustören. Er würde sich schon von selbst einfinden, dachte sie, wenn er seine Mittagsruhe beendet hatte.

Auf der Terrasse am runden Tisch bei Frau Wasenius saßen die Drei, alsdann gemütlich wie in alter Zeit beisammen. Günther war entzückt von allem, was er sah, am meisten aber von der Mutter, über deren Besserung er sich gar nicht genug freuen konnte. Daß sie erst von heute so eigentlich datieren sollte, ging ihm nicht in den Kopf.

„Sie haben ein ganz anderes Gesicht als früher, Mamachen, wahrhaftig. So habe ich Sie noch nie gesehen. Es ist so was Geheimnisvolles drin. Gerade, als hätten Sie von irgendwo da oben her eine Botschaft bekommen. Wenn Sie doch der Rettenbacher so sehen könnte.“

„Sie hätten ihn mitbringen sollen,“ sagte Frau Wasenius. Es war ihr aber nicht ganz ernst damit. Im stillen wünschte sie einstweilen keine Begegnung zwischen ihm und Hanna. Doch davon durfte sie sich nichts merken lassen. Und sie glaubte auch keinen Besuch des jungen Mannes befürchten zu müssen und wunderte sich nicht, als Günther antwortete: „Wollt’ ich auch. Ich war bei ihm, ehe ich hierher ging, um ihn mitzunehmen, aber er hatte keine Zeit. Ließ mich überhaupt ziemlich abfallen, säße bis über die Ohren in Arbeit, könnte sich nicht aufs Besuche machen einlassen, wüßte kaum, wie er durch den Tag kommen sollte“ – und so weiter und so weiter.

Schwarzwälderinnen aus Schönwald.
Nach einer Originalzeichnung von H. Issel.

[630] Ich sollte schönstens grüßen und ihm erzählen, wie ich Sie gefunden hätte. Um Sie, Mamachen, hatte er große Sorge. Wie wird er sich nun freuen, wenn ich ihm berichte, daß es Ihnen so famos geht.“

Hanna saß still daneben, wieder eifrig mit ihrer Stickerei beschäftigt. Das Herz schlug ihr schwer, es hätte ihr wohl die Worte erdrückt, wenn sie selbst weiter nach dem Freunde gefragt hätte. So schwieg sie. Seit jener kurzen stummen Zwiesprache in der Kirche, seit sie sich mit jenem einzigen Blick – zu spät – alles gesagt hatten, was voreinander zu verbergen ihnen monatelang vorher so gut gelungen war, lag der tapfere Mut ihrer Selbstbeherrschung in Scherben. Im Alleinbesitz ihres wehmütigen Geheimnisses war sie stolz und sicher gewesen. Die Entdeckung hatte sie furchtsam und scheu gemacht. So lange die heißen Tropfen Herzblut im tiefen Dunkel aus dem Altar der Kindesliebe niederfielen, war ihr, so dünkte ihn jetzt, das Lächeln leicht geworden. Von jener Stunde an aber bangte ihr auch vor der Mutter, der ein unbedachter Atemzug alles verraten konnte. Und dann war Weh und Pein, Opfermut und Entsagung vergeblich gewesen. – Wußte er das? Blieb er fern, um ihr zu helfen? Fürchtete auch er sich vor dem Wiedersehen? War er nicht stärker als sie? – Und weiter: Sagte auch er, gleich ihr, die in der einsamen Not ihrer armen Seele mit dieser Liebe rang wie mit einer Krankheit, getrennt dürfen wir schweigend Leid umeinander tragen? Vereint läßt uns jeder Blick zu Schuldigen werden? – Jawohl, schuldig! Von dem Augenblick jenes stummen Geständnisses an fühlte sie sich Sünderin. Denn mit der Sehnsucht nach dem Verlornen brach sie ja dem Ehemann die Treue. Dem Mann, der sie aus Liebe geheiratet hatte. Dem Mann, dem sie die Rettung der Mutter verdankte. Dem Mann, der bereit war, ihr die Hände unter die Füße zu legen! Wie eine schwüle, erstickende Welle lief ihr ein Angstgefühl über das Herz. Brav bleiben! Ehrlich weiter Posten stehen! Nicht müde werden! Und nicht feige!

„Schrieben Sie nicht, Güntherchen, Sie hätten auf Ihrer Heimreise die alten Rettenbachers besucht?“ fragte sie schnell mitten in seinen Bericht von der thüringer Ferienfahrt hinein.

„Habe ich. Gerade wollt’ ich davon reden. Ein gelungener, alter Knopf, der Vater. Würdevoller Herr, thut sich ein bißchen. Kantor, Schullehrer, Honoratiore. Und kaum hat er ein Gläschen von seinem selbstgebrannten blassen Johannisbeerwein hinter der Binde, so kommt der urfidelste, gemütlichste Kumpan heraus. Hat keine Ader von seinem Jungen. Oder vielmehr umgekehrt, nicht zu denken, daß sie Vater und Sohn sind. Dagegen die Mutter! Sie sollten der ihr Gesicht sehen, wenn sie von ihrem Arnold spricht. Die weiß, was er für’n Kerl ist, wenn sie auch nicht immer ganz richtiges Deutsch redet. Die schönen, melancholischen Augen, die hat er von ihr. Und auch die weiche Stimme. Es hat mich ganz eigentümlich berührt, wenn ich sie sprechen hörte, obwohl ich nicht zu sagen wüßte, weshalb. Ich glaube, das Heimweh nach ihrem großen Jungen steht ihr bis an den Hals.

„Was machen denn die übrigen Kinder?“

„Alle fidel. Alle gesund. Jemine, ist das noch ein Haus voll! Die Aelteste ist ja zwar verheiratet, an so einen Kleinbauern, hat einen dicken Jungen von ein paar Wochen. Aber dann sind da noch zwei erwachsene, unversorgte Mädel, abgerechnet die beiden noch kleinern. Dann noch drei Jungen, alle drei noch nicht zu rechnen, außer als hungrige Mäuler. Gott, was geht in so einen Kindermagen hinein, ehe er satt ist! Drei oder vier, wenn mir recht ist, sind zwischendurch weggestorben, sonst wär’ der Tisch noch länger. Arbeiten thun sie ja alle, jeder nach seinen Kräften, die arme Mutter, glaub’ ich, über ihre Kräfte, aber schaffen thun doch bloß die Großen etwas. Wissen Sie, nach dem, was ich so sah und hörte und wie die Mutter andeutete, geht alles, was unser armer Arnold nicht blutnotwendig zum Leben braucht, in diesen Schlund. Ohne die Notgroschen von dem sähe die Sache manchmal klaterig aus. Und wie lange wird das noch so weiter gehen! Zu was Eignem kommt der nie auf diese Weise. Trostlose Geschichte. Ich sagte ja was zu ihm, aber, wie Sie ihn so kennen, er nahm es krumm und schnauzte mich regelrecht an. Das gehörte sich nun einmal nicht anders. Wie man denn seine Liebe beweisen sollte als durch die That und wer denn das erste Anrecht auf seinen Erwerb hätte wenn nicht die Eltern, die ihn großgezogen hätten – und so weiter. Recht hat er ja, aber gemütlich ist die Sache nicht.“

„Gewiß hat er recht,“ sagte Hanna mit leicht zitternder Stimme. Sie schämte sich dieser Rührung nicht. Sie sah, daß ihrer Mutter ebenso zu Mute war. „Lassen Sie ihn nur bei seiner Art. Wenn man ihm helfen will, muß man es heimlich thun, um ihn nicht zu verwunden. Vielleicht gelingt es mir, durch meinen Mann, für die heranwachsenden Jungen einmal etwas zu thun. Wie sieht denn der Hans aus? Das ist sein Liebling.“

„Famoser Kerl. Enakssohn. Sieben Jahre alt, aber groß für zehn. Ganzer Kopf voll blonder Locken, Augen unwahrscheinlich himmelblau, strahlend, Stimme wie ’ne Kirchenglocke – à propos Kirchenglocke! Hannichen, gnädige Frau! Wie ist das mit unserer Singerei? Mitte August fangen wir bekanntlich wieder an. Sie kommen doch natürlich?“

„Das weiß ich noch nicht, liebes Güntherchen,“ antwortete Hanna verlegen. „Bis dahin sind ja noch reichlich zwei Wochen. Lassen Sie uns darüber ein anders Mal reden!“

„Zu Befehl. Aber – – Sie werden uns doch nicht etwa untreu werden?“

„Das ist schon möglich,“ sagte Ludwig Thomas, der unbemerkt über den dicken Teppich des Wohnzimmers herangekommen war und seit einer Minute hinter ihnen an der Thür lehnte.

Hanna zuckte unwillkürlich zusammen und wandte sich, rot übergossen, zu ihrem Mann herum. „Da stehst du und hörst zu in aller Stille?“

„Scheint dir keine sehr angenehme Ueberraschung zu sein,“ anwortete er mit einem eigenen, unherzlichen Lächeln. Er trat jetzt an den Tisch heran, Günther, der verwirrt aufgesprungen war, mit frostiger Höflichkeit begrüßend. „Die Herrschaften waren eben so vertieft – ich hätte mich wohl mit einem kleinen Böllerschuß anmelden sollen, um zu warnen.“

Hanna sah ihn mit stummem Kopfschütteln an. Er machte eine Bewegung, als wollte er etwas darauf erwidern, drückte aber die Lippen zusammen.

„Wir wollten dich nur nicht stören,“ sagte nun Frau Wasenius schnell, freundlich begütigend. „Sonst hätten wir dich gleich benachrichtigt, als Günther kam.“

„Bitte, bitte, zu liebenswürdig,“ erwiderte er kalt. „Der Besuch des Herrn galt ja gar nicht mir.“

„Im Gegenteil, Herr Thomas,“ verteidigte sich Günther, so ungeschickt wie gewöhnlich. Mit seinem verlegenen Gesicht nahm er sich aus wie ein auf Gott weiß was für einer That ertappter Sünder.

„Gegenteil ist gut,“ sagte Ludwig, den einen Mundwinkel verziehend. „Sehen Sie ’mal an. Sie hatten also das dringende Bedürfnis nach einem ganz besonderen Kosestündchen mit mir? Das find’ ich aber rührend. Warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt?“

„Genug, genug,“ bat Hanna, die mit wachsendem Unbehagen der Art zusah, mit der ihr Mann einen Gast bewillkommnete, der ihr alter Freund war. „Sehen Sie nicht so begossen aus, Güntherchen, mein Mann neckt gern, das müssen Sie erst noch gewohnt werden. Behalten Sie Ihren Platz. Und du, Ludwig, komm hierher zu mir. Soll ich den Kaffee bestellen?“

„Keine Spur. Wenigstens für mich nicht. Und für dich auch nicht. Hast du vergessen, daß wir in die Ausstellung wollten? Es ist Zeit, mein Kind, ich gestatte mir, dich dazu abzuholen. Also geschwind, zieh’ dich um!“

„Aufschieben könnten wir’s wohl nicht?“ fragte sie zaghaft bittend. „Wir sitzen hier gerade so gemütlich. Wenn wir morgen gingen?“

„Morgen kann ich nicht. Und was ich gesagt habe, habe ich gesagt, mein Engel. Das weißt du doch nun eigentlich schon, was? Also hoppla, wenn ich bitten darf! In einer Viertelstunde – nein, jetzt in zehn Minuten ist fertig angespannt. Sehr schön kannst du dich also schon nicht mehr machen. Sie entschuldigen, Herr – Musikdirektor. Wir hoffen, ein anderes Mal das Vergnügen zu haben. Ja, was ich noch sagen wollte, um auf Ihre Frage von vorhin zurückzukommen auf das Wiedererscheinen [631] meiner Frau in Ihrem Kirchenchor; spitzen Sie sich nicht allzufest. Vor allen Dingen ist sie voraussichtlich zunächst nicht in Berlin, wenn Sie anfangen. Denn da es meiner Schwiegermama so gut geht, werden wir unsere Reise nach dem Süden, die erst für September geplant war, schon viel eher antreten. Sorgen Sie also beizeiten für Ersatz. Man kann nie wissen, wie alles kommt. „Aber – von dieser schnellen Abreise wissen wir ja noch kein Wort,“ sagte Hanna, aufs äußerste erstaunt.

„Ich habe sie auch vor einer Viertelstunde erst beschlossen, mein süßes Kind. Langatmige Pläne sind nicht meine Sache. Du würdest mich aber riesig verbinden, wenn du jetzt schleunigst vorwärtsmachen wolltest. Ich habe die Ehre, Herr Günther.“

„Er bleibt noch ein bißchen bei mir,“ sagte Frau Wasenius. „Wenn er Zeit hat?“

„Hab’ ich, Mamachen, gerne, wenn Sie erlauben.“

Thomas, schon zum Gehen gewendet, machte eine höflich zustimmende Bewegung über die Achsel zurück.

„Das ist recht,“ sagte Hanna rasch. „Bleiben Sie noch lange bei ihr, so lange Sie können. Und kommen Sie bald wieder, ja?“ Sie umschlang die Mutter und küßte sie zärtlich. „Auf Wiedersehen, mein Engel,“ murmelte sie nahe an ihrem Ohr. „Bis nachher. Ich werde alles schön finden, was ihm gefällt, dann geht’s schneller.“ – Und zu Günther mit einem gezwungnen Lächeln, das unbekümmert aussehen sollte: „Ueber das mit dem Singen reden wir noch. Adieu, adieu!“

17.

„Mutterchen?“

Alles still.

„Zweiäuglein, schläfst du? Zweiäuglein, wachst du?“

Hanna blieb auf der Schwelle zwischen Wohn- und Schlafzimmer stehen und lauschte noch ein paar Augenblicke in das dämmrige Gemach hinein, in dem die Vorhänge noch geschlossen waren.

Nichts rührte sich.

Von hier aus konnte sie das Bett nicht ganz übersehen. Die Thür stand nur halb offen, sie knarrte, wenn man sie bewegte. Also lieber nicht! Lieber noch ein bißchen schlafen lassen. Es war ja noch Zeit. Sie konnte auch erst ihre Vögel besorgen. Mittlerweile wachte die Mutter dann wohl von selber auf. Das Gezwitscher und Geschmetter mußte sie ja wecken. – –

Doch noch nicht?

Immer noch still da drinnen? Hanna beugte sich vorsichtig etwas um die Thür herum. sie konnte aber nichts erspähen als eine still auf der Decke ruhende Hand.

Also erst noch die Blumen.

Dann aber mußte Ernst gemacht werden. Sonst kam Ludwig, ehe sie fertig waren, und das war der Mutter unangenehm. Sie ließ ihn nicht gerne warten. Er vertrug das Warten auch nicht.

Was lagen denn da für Rosen auf dem Frühstückstisch, an ihrem, der Mutter, Platz? Drei blasse, zarte Rosen, zusammengebunden. Ein Kärtchen daneben.

„Arnold Rettenbacher sendet erfreut Gruß und Glückwunsch zum Beginn der Genesung.“

„O,“ sagte Hanna, mit weichem Lächeln, leise. Dann ist also dieser gute, kleine Günther noch gestern nachmittag zu ihm gelaufen, um es ihm zu erzählen. Und er hat dieses heute früh auf dem Wege zur Schule hier abgegeben. Das bring’ ich ihr ans Bett. Damit wecke ich sie.

„Mein Mutterliebchen, jetzt kann ich dir nicht mehr helfen. Wie schläfst du aber heute auch fest!“ Hanna stand an dem Bett. In diesem Dämmerlicht nach der Sonnenhelligkeit da draußen unterschied sie nicht deutlich das liebe Gesicht. Sie beugte sich nieder.

Wie lautlos, wie unmerklich ging dieser Atem. Wie still lag sie da, tief in den Kissen, bleich, der schmale Kopf müde zur Seite gesunken, regungslos.

Hanna beugte sich tiefer hinab.

„Mutter“ – sagte sie entsetzt, heiser, von einem jähen, fürchterlichen Zittern überfallen; sie griff nach der still ruhenden Hand – der schweren, todeskalten – –

„Mutter“ –

Und noch einmal, laut, verzweifelnd aufschreiend „Mutter“

Dann nichts mehr.

Ja, sie schlief heute fest.

Gar, gar zu fest. Kein Rosenduft weckte sie mehr, kein Vogelzwitschern, kein Rufen. Eingeschlafen, heimlich, mitten in tiefster, dunkler Nacht, unbewacht, stumm, ohne Abschied. –

Hannas Aufschrei war draußen gehört worden. Bertha kam eiligst ins Zimmer und sah ihre junge Herrin zusammengeknickt, regungslos, tief über die schlafende Frau gebeugt.

Die schlafende – –?

„Allmächtiger Gott!“ kreischte das Mädchen und prallte zurück, rannte zur Thür hinaus auf die Treppe und erfüllte das Haus mit Hilferufen. Die Dienerschaft lief erschrocken zusammen. Fragen, Durcheinander, Thürenschlagen, August allein blieb besonnen. Er lief ans Telephon und benachrichtigte den Sanitätsrat, der sofort zu kommen verhieß. Dann eilte er die Treppe hinauf zum Schlafzimmer seines Herrn, der durch die Unruhe im Hause schon gestört worden war und das schnelle, kräftige Klopfen des Dieners ärgerlich beantwortete.

Auf den Bericht, es scheine mit der Frau Doktor zu Ende zu sein, war er dann freilich mit einem Satz aus dem Bett und, ohne ein Wort zu verlieren, im Umsehen in den Kleidern.

Drunten hatte sich mittlerweile Bertha wieder in das stille, dämmrige Zimmer hineingewagt, während die andern Dienstboten ängstlich zusammengedrängt in einer flüsternden Gruppe im Wohnzimmer stehen blieben. In Thränen aufgelöst sah sie scheu von der Thür aus nach ihrer armen jungen Frau, die immer noch tief über die Mutter hingebeugt kauerte, die vorgestreckten Hände in die Kissen vergraben, als sei sie so zu Stein erstarrt.

Thomas trat jetzt hastig ein. Nach einem Schnellen Rundblick befahl er mit gedämpfter Stimme dem weinenden Mädchen:

„Machen Sie hell! Gardinen zurück! Fenster auf!“

Goldig strahlend flutete das Morgensonnenlicht zum Zimmer herein. Sommerherrlichkeit jubilierte draußen mit Vogelstimmen, atmete Blütenduft und webte in Glück und Daseinsfreude.

„Komm, mein armes Herz,“ sagte Ludwig so sanft er konnte. Er schlang den Arm um den hingesunknen Leib seiner Frau und hob sie in die Höhe. Mit scheuer Ehrfurcht streifte dabei sein Blick das Gesicht der Toten, das in seiner starren, wächsernen Ruhe so unbarmherzig weiter schlief.

Hanna zuckte zusammen und sah sich um. Sie griff nach der Hand, die sie emporzog, und wand sich los. Thomas erschrak vor dem gottverlassen öden Blick der ihn aus ihren Augen traf. „Ich bitte dich,“ sagte er halblaut, erschüttert. „Hanna!“ Er versuchte aufs neue, sie zu umschlingen.

Aber sie stemmte die flachen Hände gegen seine Brust und schob ihn weg. Ihre Lippen zuckten, doch blieben sie geschlossen. In ihren Augen lag eine solche Gewalt todwunden Jammers, daß er mutlos davor zurückwich und sie freigab.

Sie brach dann mit einem dumpfen Stöhnen an dem Bett in die Kniee, den Kopf neben die tote Mutter aufs Kissen gebettet. Schauer liefen über sie hin. Sie weinte nicht, es war nur ein tiefes, anhaltendes Röcheln, das dem Mann wie mit Zangen ans Herz griff. Er zog einen Sessel heran und ließ sich dicht am Bett darin nieder. Zu berühren wagte er das arme zitternde Geschöpf nicht mehr.

So gingen die Minuten hin, die ihm die längsten seines Lebens dünkten, und wie eine Erlösung begrüßte er das Erscheinen des Sanitätsrats, der auf die Schreckensnachricht hin wie er ging und stand, aufgebrochen war. Mit einer fast zornigen Bewegung seiner ratlosen Bekümmernis bat Thomas, aufspringend und ihm entgegeneilend, den alten Herrn um Hilfe in dieser ersten schweren Not.

Auf sein halblautes: „Was machen wir nur mit ihr?“ antwortete der Doktor, nach einem kurzen Blick auf Hanna, noch gedämpfter: „Am besten wäre ich zunächst mit ihr ganz allein.“

Und die immer noch vor sich hinweinende Bertha zur Thür hinausschiebend wandte er sich mit einer verabschiedenden Handbewegung zu Thomas. „Sorgen Sie, bitte, für unbedingte Ruhe in der Umgebung dieses Zimmers.“

Leise setzte er sich dann am Bette nieder.

Mit dem gelassenen Blick des erfahrenen Arztes, dem kein Totengesicht mehr neue Geheimnisse erzählt, betrachtete er eine

[632]
Datei:Die Gartenlaube (1897) b 632.jpg

Die Heimkehr des Geliebten.
Nach einem Gemälde von W. Volkhart.

[633] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [634] Weile die stillen Züge der schlafenden Frau, in denen jener tiefe, seltsame Frieden aufzudämmern begann, der früher oder später die Starrheit der unbarmherzigen Majestät des Allbezwingers ablöste. Mit den warmen, herzlichen Augen des Menschenfreundes sah er dann auf die niedergeworfene, friedlos zitternde arme Gestalt der jungen Frau. Das dumpfe Stöhnen war verstummt, aber es rüttelte sie Schauer um Schauer. Ein Weilchen blieb es noch still im Zimmer. Durch die offenen Fenster zog in breiten glänzenden Streifen das Sonnengold herein; die Spatzen lärmten im Gebüsch, leise und melodisch klang dazwischen das plätschernde Rieseln des hohen Wasserstrahles im Springbrunnen. Dann sagte der alte Herr, sacht und gedämpft, als spräche er zu sich selber: „Wie sanft sie ruht, wie friedlich!“

Hanna zuckte zusammen und richtete sich langsam auf.

Er hätte gern das arme, elend entfärbte, verzerrte Gesicht in beide Hände genommen und gestreichelt. Aber er hütete sich wohl, er rührte sie nicht an. Er nickte ihr nur freundlich zu.

„Nicht wahr?“ sagte er noch. Und als sie nun, wie unter einer jähen, peinvollen Erinnerung, die Arme an den Leib ziehend, sich furchtsam umsah, winkte er beruhigend: „Es ist niemand sonst da. Die Thür ist zu. – Nicht wahr?“ wiederholte er dann, „wie friedlich sie ruht!“

Hanna kehrte das starre Gesicht der Mutter zu. „Sie ist tot,“ brachte sie dann heiser, fast tonlos heraus, mühsam die blutleeren Lippen regend. „Von Frieden weiß sie nichts.“

„Nicht?“ fragte er sanft. „Sehen Sie sie doch an!“

„Von Frieden weiß sie nichts,“ wiederholte Hanna, unter einem neuen Schauer erbebend. „Wie könnte sie Frieden haben, wenn sie wüßte, daß ich – hier allein –“

„Wohl, wohl,“ sagte der Arzt mit ernstem Lächeln. „Aber – sie leidet nicht mehr. Wollen wir ihr das nicht gönnen?“

Hierauf blieb es eine gute Weile still.

Hannas thränenlose, starre Augen hingen unverwandt an dem Gesicht der Mutter, auf das der unermeßliche, verheißungsvolle Traum der Ewigkeit den Abglanz eines sanften Lächelns hauchte.

„Hat sie es gewußt?“ kam es dann wieder in demselben, schwerverständlichen, zerbrochenen Ton von Hannas Lippen.

„Ganz gewiß nicht. Es war ein schmerzloser Tod, ohne Kampf, ohne Wissen, wahrscheinlich im Schlaf.“

„Ohne Abschied –“ sagte Hanna. Sie hob einen Augenblick, wie in schweren Schmerzen, die Hände an die Schläfen, ließ sie aber nun wieder sinken. „Ohne Abschied –“

„Also friedlich,“ setzte der alte Herr hinzu. „Wie hätte sie wohl beim Abschied gelitten! Möchten Sie sie zurückrufen, damit sie das auch noch erführe?“

„Zurückrufen!“ schrie Hanna auf „Ja, ja, zurückrufen! Sie wollte ja noch gar nicht sterben! Sie wollte ja noch mit mir glücklich sein!“

„Wir wollen fast nie sterben, meine liebe, gnädige Frau. Der heißeste Lebenswille wächst oft im Todesschatten.“

„Darum gestern so viel Freude, den ganzen Tag, so viel Hoffnung –“

„Ein verlöschendes Licht brennt flackernd hell. Haben Sie das noch nie gesehen? Die Flamme steigt höher als vorher, sie reckt sich und leuchtet im Vergehen. – Mir scheint, das Schicksal hat es noch gnädig mit ihr gemeint, daß es ihr den Abschied ersparte. Es stirbt sich leicht im Schlaf und ohne Seelenpein. Nur wenigen wird es so gut. – Wie nun, wenn Sie einem stundenlangen, qualvollen Todeskampf hätten zusehen müssen? wenn Sie sie in den Armen gehalten hätten, während sie verzweifelnd nach Atem rang? wenn die Sterbende Ihren Jammer gesehen hätte? wenn sie gewußt hätte: ich muß fort von dem Kind? – – Nein, nein, es ist gut so, meine liebe, gnädige Frau. Da es kommen mußte, wie es kam, ist es gut auf diese Weise.“

Mit einer jähen Bewegung wandte sich Hanna zu ihm. In ihren glanzlosen Augen zuckte ein düstres Funkeln auf.

„Warum haben Sie mir’s nicht gesagt – damals, daß keine Hoffnung war? Warum haben Sie mich belogen?“

„Das Lügen ist zuweilen unsere heilige Verpflichtung. Es ist Arzenei, uns anvertraut wie andere Gifte.

„Arzenei, heilige Arzenei –“ wiederholte die Unglückliche, in öder Verwirrung vor sich niederstarrend. Sie schüttelte dann den Kopf. „Sie hätten mir sagen müssen – – sagen müssen –“

„Und wie würden Sie dann wohl das Leben dieser letzten Wochen ertragen haben?“

„Ich würde – –“ sie verstummte wieder, heftig zitternd, und schloß die Lippen. Mit einem jammervollen Blick sah sie sich rings im Zimmer um.

An der Thür wurde jetzt geklopft.

„Wer ist es?“ fragte der Doktor, nur spaltbreit öffnend.

„Ein Freund,“ antwortete Pastor Erdmann.

Bertha hatte ihn geholt. Er trat ein, Hanna wandte sich um und schrie laut auf. Sie streckte ihm die Arme entgegen.

„Sie ist tot, sie ist tot! Alles war umsonst!“

18.

„Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben, denn ob der Leib gleich stirbt, doch wird die Seele leben! – –“

Stand sie wirklich da an dem offenen Grab? – Und breitete der Pastor seine Hände über den Sarg, den festgeschlossnen?

– Und sie sah ihn hinabsinken, verschwinden – und blieb am Leben da oben, starb nicht vor Jammer?

‚Wir wollen fast nie sterben', hatte der da neben ihr gesagt, der alte Doktor. O Gott im Himmel, sie wollte so gern! All ihr Lebenswille lag da bei der stummen Mutter im Grab. Ihre arme Seele schrie nach dem Tod, nach dem unbarmherzigen Tod, der vorbeigegangen war, ohne sie mitzunehmen, der sie übrig gelassen hatte, ganz allein.

Da zogen sie schon die langen, weißen Tücher heraus.

Warum faßte sie der Doktor am Arm? Warum legte ihr Ludwig so fest die Hand auf die Schulter? Sie war ja ganz still, sie rührte sich ja nicht, sie gab ja keinen Laut von sich. Nur noch einmal sehen! Nur noch einmal – –

Blumen – Blumen in runden Körben – lose Blumen.

– Ja, hinunterwerfen, Blumen hinunterwerfen, keine Erde. Das war gut. Keine Erde. Sie fielen lautlos hinab, duftend. Viele Blumen. Keine Erde.

„Wenn ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir,
Wenn ich den Tod soll leiden,
So tritt du dann herfür –“

„Ich hab’s ja gewußt,“ sagte Thomas mit finsterm Gesicht, indem er den Arm um seine Frau schlang, die, als der leise Gesang angehoben hatte, plötzlich in fassungslosem Weinen zusammengebrochen war. „Ich hab’s ja vorher gewußt, daß ihr die Musik auf die Nerven fallen würde. Nun sind wir soweit. „Gottlob, daß wir soweit sind,“ sagte ganz leise der alte Doktor neben ihm. „Nicht auf die Nerven fällt ihr die Musik. Im Gegenteil, sie löst die Spannung. War Ihnen vielleicht wohler bei der Starrheit vorher? Mir nicht, kann ich Ihnen sagen“

„Wenn mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
Reißt’ du mich aus den Aengsten
Kraft deiner Angst und Pein!

„Lassen Sie sie weinen, viel weinen! Der alte Sebastian Bach thut ihr keinen Schaden. Und führen Sie sie sachte langsam weg. So. – Weiter, nur weiter! – Meine liebe, gnädige Frau, hier kommt jemand, der Ihnen gern die Hand drücken möchte.

Hanna richtete sich mühsam auf und nahm das Tuch von den Augen.

Günther stand vor ihr. Er weinte wie ein Kind, die Thränen liefen ihm in den großen schwarzen Bart.

„Hannichen,“ schluchzte er, „ich sollte bald wiederkommen, hatten Sie gesagt. Nun bin ich da und sie weiß nichts mehr davon. Hannichen, mein armes, armes Hannichen!“

Sie wollte sagen ‚ich danke Ihnen', sie brachte aber nichts heraus. Sie machte sich nur von ihrem Mann los und schlang einen zitternden, matten Arm um Günthers Nacken. Er streichelte sie ein paarmal, löste aber dann sacht ihre Hand von seiner Schulter. Der finstere Blick Ludwigs beklemmte ihn, ließ auch seine Thränen gerinnen.

„Da ist auch der Rettenbacher,“ murmelte er.

Hanna zuckte leicht zusammen, als sie ihre Hand ergriffen fühlte. Sie kannte diese schlanke, warme Hand, die sich da so fest um die ihre schloß. Zum letztenmal hatte sie sie gehalten in [635] der Kirche, als sie Abschied voneinander nahmen. Wie lange war das her? War es nicht viele Jahre? Eine Last von Weh hatte sich in den Abgrund dieser Trennung gesenkt, ein Meer von Kummer und Leid. Mit dem Blick, den die beiden da tauschten, über dieses Meer hinweg, geschah dem in glühender Eifersucht wachestehenden Mann kein Unrecht. Hannas arme Seele hatte in diesem Augenblick keinen Raum für andere Schmerzen. In Arnolds tiefernstem, blassem Gesicht, das wortlos vor Mitleid und Erschütterung auf sie niedersah, grüßte sie nur das des Freundes, der die verlorene Mutter auch geliebt und auch verloren hatte.

Ludwig wußte das nicht. Und hätte man es ihm erklären wollen, er hätte es nicht geglaubt. Er fühlte nur in brennender Qual den Raub, der an ihm geschah. Er fühlte sich ausgeschlossen, beiseite geschoben. Das Schmerzensgesicht dieser blassen Frau aber gehörte ihm, mit all seinem Jammer. Heiße Röte schoß ihm flammend bis zur Stirn.

„Bitte,“ sagte er rauh, mit einem raschen Griff nach Hannas Arm, die verschlungenen Hände lösend. „Diesen Weg entlang, dort ist die Pforte. Und unser Wagen. Ich bitte dich inständigst, Hanna, komm, mach’ ein Ende!“

Sie fuhr zusammen und sah sich hilflos um.

„Mutter –“, sagte sie heiser, gequält. „Wo ist – –“

„Es ist vorbei, komm, komm, mach’ ein Ende!“

„Vorbei“, wiederholte sie tonlos und ließ sich wegführen.

Es schien ihr auch kaum zum Bewußtsein zu kommen, daß er sie, als der Wagen sich kaum in Bewegung gesetzt hatte, mit Heftigkeit an sich zog. Still und regungslos saß sie da, mit großoffenen, wieder trocknen, starren Augen. Am Hause angekommen, mußte er sie beinahe aus dem Wagen herausheben, sie hätte ohne seine Hilfe den Tritt verfehlt.

Erst im Treppenhaus, als er sie die Stufen zum oberen Stock hinaufführen wollte, schien sie zu erwachen, schien sich zu besinnen. Sie machte sich von ihm los und ging einige Schritte nach rechts, nach der Gartenseite zu.

„Wohin?“ fragte er, sofort wieder neben ihr.

„Zu – –“ sie verstummte, wies nur auf die Thür zum Wohnzimmer der Mutter.

Er legte ihr die Hand auf die Schulter.

„Nicht doch, mein Kind, laß das, komm’ mit mir hinauf!“

Sie schüttelte nur den Kopf und schob an seiner Hand, um ihre Schulter zu befreien, ging auch vorwärts und griff nach der Klinke.

Die Thür war verschlossen.

Mit einem dumpfen, drohend fragenden Laut wandte sie sich zu ihm herum, die Finger um die niedergebogne Klinke geschlungen.

„Du siehst“ – sagte er mit etwas gemachter Gelassenheit – ihrem bleichen, scharfgespannten Gesicht gegenüber war er sich bewußt, einer entscheidenden „Scene“ entgegenzugehen – „du siehst, mein liebes Kind, es ist zu. Abgeschlossen. Ich habe den Schlüssel. Einmal mußte es ja sein. Ein Abschnitt mußte gemacht werden. Also lieber gleich. Du sollst dich nicht nutzlos in schmerzaufwühlende Erinnerungen vergraben. Wenn ich dich gehen ließe, dann würdest du tagaus tagein in den verlassenen Räumen sitzen, würdest dir jeden Zollbreit Boden mit Jammer pflastern. Das will ich nicht. Das ertrage ich nicht. Ich habe in diesen Tagen gerade genug davon zu kosten bekommen. Du sollst dich nicht mehr da drinnen einspinnen und dich vor mir verkriechen. An meinem Herzen ist dein Platz. Zu mir sprich dich aus, dann wird dir leichter werden. Gott im Himmel, ich habe ja riesiges Mitleid mit dir. Ich verlange ja nicht, daß du mir zuliebe schon heiter sein sollst. Aber du sollst bei mir sein! Ich will dich um mich haben! Ich habe dich nicht geheiratet, um dich an einen Schatten zu verlieren. Ich liebe dich und ich lasse dich keinem. – Sieh mich nicht so entsetzt an! Ich bin kein wildes Tier, ich fresse dich nicht. Ich bin auch kein Kerkermeister, wenn du das vielleicht glaubst. Jeden Gefallen will ich dir thun, den ich dir an den Augen absehen kann, was du dir wünschest, will ich dir kaufen, nichts wird mir für dich zu teuer sein. – Du denkst in deinem Sinn, ich wäre ein roher Patron, nicht wahr? Du denkst, ich hätte dir Zeit lassen sollen, dich zurechtzufinden, sozusagen. Aber darauf geduldig zu warten, geht über meine Kräfte. Unterdessen fahre ich aus der Haut. Du hättest dich auch nicht zurechtgefunden. Du hättest dir aus den kraftlosen Resten da drinnen ein Sanktuarium gebaut und hättest dich hineingesetzt. Und ich hätte an der Thüre stehen dürfen und dich um einen Gnadenknochen anbetteln. Zu dieser Rolle bin ich nicht geschaffen. Darum habe ich nach diesen entsetzlichen letzten Tagen bei mir beschlossen, lieber kurzerhand sofort ein Ende zu machen und dich als mein unbestreitbares Eigentum zu reklamieren. Gott bewahre, dies Gesicht! Wie ein Lamm auf der Schlachtbank! Was will ich denn so Schlimmes von dir? Ich liebe dich und will dich glücklich machen. Also sei jetzt ein braves Kind und laß die Klinke da los! Gieb mir die Hand und komm mit! Willst du? So – das ist recht.“

Langsam gaben die klammernden Finger den Griff der Thüre frei, er schnellte klirrend in die Höhe.

Ludwig schlang fest den Arm um die zusammenzuckende Gestalt seiner Frau und führte sie weg, die Treppe hinauf.

Sie sträubte sich nicht mehr.

'Mein erster Sieg', dachte er mit einem verstohl’nen, tiefen Aufatmen. Der schwerste. Es ging besser, als ich fürchtete. Alles andere findet sich nun von selbst.

(Fortsetzung folgt.)

Deutsche Nationalfeste.

Die aus der Bewegung zu gunsten der Pflege körperlicher Spiele in unserem Vaterlande hervorgegangen Idee, nach dem Muster der olympische Spiele von Alt-Hellas ein deutsches Nationalfest ins Leben zu rufen nähert sich immer mehr der Verwirklichung. Der aus Mitgliedern bestehende Ausschuß für deutsche Nationalfeste, an dessen Spitze der Landtagsabgeordnete von Schenckendorff in Görlitz steht, hat soeben einen Aufruf erlassen, der mit warmen Worten für die Veranstaltung des ersten dieser Feste im Jahre 1900 eintritt. Ein Beweis für die tiefgehende Teilnahme, welche der Plan immer mehr findet, ist die Thatsache, daß Vertreter der verschiedensten Lebens- und Bildungskreise diesem Ausschusse angehören. Ist doch auch freilich das Vorhaben durchaus auf dem patriotischen Gedanken gegründet, daß den traurigen Anzeichen einer Verkümmerung des Nationalgefühls, einer Erschlaffung der Volkskraft, einer Verflachung des idealen Lebens in unserem Volkstum mit Energie entgegenzuarbeiten ist! Macht sich das Unternehmen doch zum Träger der dreifachen Forderung: „Es gilt die nachhaltige Stärkung unseres Nationalgefühls; es gilt die Kräftigung unserer Volksgesundheit, es gilt die Hebung des bürgerlichen Gemeinsinns!

Indem die geplanten Nationalfeste dem Gedanken von der hohen Wichtigkeit einer sorgfältigen körperlichen Erziehung für die großen gemeinsamen Aufgaben eines wehrhaften Volkes Ausdruck geben, möchten sie Vorbild und Antrieb werden für alle jene Bestrebungen, die sich im kleineren heimatlichen Kreise dieselbe große Aufgabe gestellt haben. Im Rahmen einer von fröhlicher deutscher Kunst getragenen Festlust sollen die alle fünf Jahre sich wiederholenden Veranstaltungen vor allem den Charakter „einer Darlegung der körperlichen Tüchtigkeit unserer deutschen erwachsenen Jugend“ vor versammeltem Volkes erhalten.

So soll die Pflege der Leibesübungen zu einer „lebendigen Volkssitte“ werden, welche auf die Heranbildung neuer Geschlechter von patriotischen Sinnes und mannhaften Geistes machtvoll einwirkt. Und dieser so herbeigeführte Aufschwung soll auch der Kräftigung unseres bürgerlichen Gemeinsinns zu gute kommen. Wir fühlen uns alle als Söhne einer mächtigen Mutter, und unser Streben gilt einem Ziel. Wir sind nicht nur Arbeiter und Arbeitgeber, nicht nur Soldaten und Offiziere, Handwerker und Fabrikherren, Beamte und Kaufleute, Städter und Landleute, nicht hoch und niedrig, nicht arm und reich, wir sind vor allen Dingen Deutsche, die, ein jeder in seiner Weise, dem Vaterland dienen. Dies Gemeinsame wird lebendig werden auf unserem Feste, indem alle, welchen Standes sie auch seien, nach der gleichen Ehre streben, um den gleichen Kranz ringen, werden sie sich bewußt, daß auch des Vaterlandes Wohl und Größe nicht anders aufgebaut werden kann, als wenn ein jeder sich als Glied und Arbeiter einer einzigen großen Gemeinschaft fühlt, die mit allen für alle arbeitet und wirkt! Und weiter heißt es von dem geplanten Nationalfest: „Kein Fest soll es sein, das als Selbstzweck sich schon den bestehenden hinzufügt. Kein Fest soll es sein, das, der Schwäche unserer heute herrschenden Volkssitte nachgebend, in geräuschvoller Veranstaltung der schalen Freude eines schnell vorübergehenden Taumels huldigt, sondern ein Fest, das eng verbunden mit dem edelsten Triebe unserer Volksseele, mit deutscher Eigenart und guter Sitte, durch den Glanz seine machtvolle Wirkung auch unsere anderen Feste hebt und veredelt, unsern Volksstolz weckt, unsere Volksgesundheit stärkt und unsern [636] Bürgersinn zu neuer Blüte entfaltet! Ein Dankfest soll es sein für die um die Einigkeit, Größe und Ehre des Vaterlandes Gefallenen, für alle treuen Mitarbeiter an seiner Größe, für die großen Männer, die den Ruhm des deutschen Namens in die fernste Zukunft tragen werden. Ein Friedensfest soll es sein für die Lebenden, daß sie ihre Kraft und ihre Tüchtigkeit in opferbereiter Liebe zum Vaterlande, zu Kaiser und Reich, zu Fürst und Heimat, zu deutschem Sinn und deutscher Treue sammeln und im Rahmen deutscher Kunst in kraftvollem Wettstreit zur Geltung bringen. Ein Mahnfest soll es sein für die heranwachsenden Geschlechter, an der Kraft und Größe unseres Volkes mitzuarbeiten in Treue und Hingebung, durch Selbstzucht und nie rastende Pflichterfüllung.

Ueber die Frage, wo das erste deutsche Nationalfest stattfinden soll, ist noch keine Einigung erfolgt. Erst wenn die Entscheidung hierin getroffen sein wird, was noch im Herbste dieses Jahres geschehen soll, kann in eine allgemeine Bewegung zu Gunsten des Festes mit klarem Zielbewußtsein eingetreten werden. Aber schon jetzt darf man die Erwartung aussprechen, daß der Plan unter der Teilnahme und dem Beifall der Nation bis zum Jahr 1900 der hießigen Ausführung entgegenreifen werde! Den „Mitteilungen und Schriften des Ausschusses“, deren 3. Heft den „Aufruf“ sowie die „Satzungen“ enthält, ist mit Genugthuung zu entnehmen, daß bereits in weiten Kreisen, auch unter den Deutschen des Auslandes, eine rege und stetig wachsende Teilnahme sich geltend macht.


Der gute Regen.
Humoreske von Eva Treu.

Ja, natürlich, nun regnete es wieder!

Seit acht Tagen war es so gewesen: frühmorgens die klarste, blaueste Luft, dann, gegen neun Uhr, drei oder vier Wolken „wie eines Mannes Hand“, die langsam und unfreundlich heraufzogen und sich, man wußte nicht wie, plötzlich über den ganzen Himmel ausgebreitet hatten, dann zuerst ein paar versprengte, gleichsam widerwillige Tropfen, und endlich, etwa von zehn Uhr an, ein ganz gelassener, besonnener Regen, der völlig den Eindruck machte, als wenn er sich gründlich und gewissenhaft auf seine Aufgabe vorbereitet hätte und nicht die Absicht hege, aufzuhören, ehe er nicht alles, Berge, Bäume, Menschen, Häuser bis herab zum kleinsten Gräschen, einer sorgfältigen Abwaschung unterzogen hätte.

Dann, gegen Abend, wenn man bereits einen verzweiflungsvollen Spaziergang unter Schirm und Regenmantel gemacht und sich grollend seines durchnäßten Schuhwerks entledigt hatte, pflegte ein plötzlicher Sonnenblick die Wolken zu zerteilen, es wurde trocken und klar, jetzt, da sich niemand mehr recht daran erfreute, man hoffte – optimistisch wie Sommerfrischler nun einmal zu sein pflegen – auf einen schönen nächsten Tag, und der kommende Morgen brachte genau dieselben freudigen Ereignisse.

Wie gesagt, so war es nun seit einer Woche, und im allgemeinen herrschte die Anschauung vor, daß man besser gethan hätte, zu Hause in seiner bequemen Wohnung zu bleiben, wo man sich wenigstens nicht moralisch verpflichtet fühlte, täglich trotz aller Nässe seinen Weg zu machen, um die teuer bezahlte Bergluft auszunutzen. Heute jedoch hatte die Sache in der Frühe hoffnungsvoller ausgesehen als gewöhnlich, und die gut gehaltenen Spazierwege, auf welchen sich die Regenspuren immer schnell wieder verwischten, waren deshalb ungewöhnlich belebt gewesen. Ja, ein paar Wanderer hatten sich sogar unternehmungsfroh bis in eine ziemliche Entfernung von der kleinen Sommerfrische über die nächsten Berge gewagt. Und als nur eine halbe Stunde später wie zur gewohnten Zeit der Himmel sich doch mit plötzlicher Geschwindigkeit, als entsänne er sich erschrocken einer versäumten Pflicht, dunkel bezog und gleich darauf die ersten Tropfen fielen, da konnten nur die Vorsichtigen noch ihre nahen Wohnungen erreichen, die Wagemutigen mochten sehen, ob sie in irgend einem der an den Wegen stehenden Schutzpavillons wenigstens ein Unterkommen bis zur nächsten Regenpause fänden.

Zwei dieser Versprengten eilten auf verschiedenen Wegen dem gleichen Pavillon zu, ohne jedoch voneinander zu wissen.

„So, da hätten wir die Bescherung ja wieder einmal,“ sagte ein großer, blonder, junger Mann mit einer Brille, indem er eintrat und den Regenschirm, auf dem übrigens erst wenige Tropfen glänzten, schloß und in einen Winkel steckte. „Es wird ja wohl gleich in vollem Gange sein, da ist es doch wohl besser, vorläufig unter Dach und Fach zu treten.“ Er trat noch einmal in den Eingang, sah in den Regen hinaus, der schnell an Heftigkeit zunahm, und wischte sich die Brille ab.

Durch hervorragende Schönheit zeichnete er sich nicht aus, doch hatte er das intelligente Gesicht eines wissenschaftlich gebildeten Mannes, hübsche, ehrliche Augen und eine elegante, durch einen gut sitzenden Anzug vorteilhaft gehobene Figur.

Vielleicht zählte er achtundzwanzig Jahre, schwerlich mehr, denn auf seinem Gesichte lag bei aller Klugheit ein gewisser träumerischer Ausdruck, der einem späteren Alter abhanden zu kommen und schon bei Herren, welche die ersten Zwanziger überschritten haben zu den Seltenheiten zu zählen pflegt.

Und diesem träumerischen, für seine Jahre so ungewöhnlichen Ausdruck ganz entsprechend, hatte er auch in diesen Tagen etwas verübt, was sonst eigentlich ebenfalls nur von ganz jungem Menschenvolk begangen wird und gewöhnlich den gelinden Spott verständiger Menschen herausfordert; er hatte sich Hals über Kopf in ein Mädchen verliebt, mit dem er bis jetzt kein einziges Wort gewechselt, und das er nur vier- oder fünfmal aus einiger Entfernung gesehen hatte.

Aber kaum der vier- oder fünfmal hätte es von Rechts wegen bedurft. Sein Herz, mit dem er bis dahin eigentlich immer recht vorsichtig umgegangen war, weil er zu den Leuten gehörte, die sehr ideale Ansprüche an die Frauen stellen, welche ihnen gefallen sollen, hatte schon nach der ersten, flüchtigen Begegnung rettungslos lichterloh gebrannt. Nicht einmal wie „sie“ hieß, wußte er, nicht, woher sie kam, gar nichts, nur die eine überwältigende Thatsache, daß sie entzückend war, hatte sich ihm vollständig ins Bewußtsein eingeprägt. Natürlich dachte er auch jetzt an sie, und ein wahres Glück war es eigentlich, daß er in diesem trostlosen Regen wenigstens an etwas so Reizendes denken konnte; es wird nicht jedem so gut in solchen trüben Tagen.

Er hatte sich jetzt auf die Bank gesetzt, die im Innern des Pavillons rings an den Wänden herum angebracht war, und einen Band Shakespeare – es war eine sehr gute englische Originalausgabe – hervorgezogen, hielt auch das Buch aufgeschlagen vor sich hin, aber die Lektüre schien nicht recht vorwärts zu schreiten, über die Blätter hinweg schauten seine Augen sinnend in den Regen hinein, und nun legte er gar das Buch beiseite und lehnte den Kopf an die Wand zurück.

Vor einigen Tagen war „sie“ plötzlich an der Seite einer älteren Dame an der Wirtstafel aufgetaucht, sie, die lieblichste Mädchenerscheinung. Ob die ältere Dame die Mutter oder eine Tante sei, hatte er bis jetzt nicht herausbekommen. Nie hätte er mit seinem scheuen Zartgefühl es über sich gewonnen, etwa den Kellner auszufragen und diesem dadurch sozusagen einen Einblick in sein Interesse zu gewähren. Eine Aehnlichkeit bestand keinenfalls zwischen der alten, etwas gewöhnlich aussehenden und der jungen Dame, also mochten die beiden wohl Tante und Nichte sein. Die Tante hatte er indessen kaum angesehen, so sehr hatte die Nichte seine Aufmerksamkeit gefesselt: eine schlanke, fein aufgebaute Figur, der das lose, bauschige, die zarten Formen nur leicht andeutende Sommerkleid vortrefflich stand, ein ovales, mattrosiges Gesicht mit langbewimperten, seelenvollen Kornblumenaugen und fein gezeichneten dunklen Brauen, die sich ganz eigenartig ausnahmen zu dem hellblonden, lockigen Haar, das in flockigen, weichen Wellen das schöne Köpfchen umgab, und über dem allen ein Hauch von Poesie, von Mädchenhaftigkeit, von zwanzigjähriger Jugend – nein, wirklich, er hatte den Blick nicht wieder abwenden können! Leider saß er so, daß nur dann und wann ihr Kopf, gewöhnlich im Profil, für ihn sichtbar wurde, und nur ein paarmal hatte sie ihm das Gesicht voll zugewendet, so zum Beispiel einmal, als der Kellner ihm eine Bestellung überbracht hatte, von der er trotz des etwas ungebührlich lauten Tones, in dem sie gemacht wurde, keine Silbe verstand, so daß Jean sie wiederholen mußte.

Seitdem hatte er „sie“ ein paarmal gesehen, nicht nur täglich

[637]

Urahne, Großmutter, Mutter und Kind.
Nach einem Gemälde von J. Verdier.


an der Mittagstafel, sondern er war ihr auch mehrmals auf Spaziergängen begegnet. Beinahe mußte er über sich selbst lachen, nun er daran zurückdachte. Wirklich, nein, er war doch immer noch derselbe Tölpel, der er von Knabenzeiten her Mädchen gegenüber stets gewesen war! Hätte nicht jeder andere junge Mann von nur einigermaßen schneidigen Umgangsformen es fertig gebracht, irgend eine Gelegenheit vom Zaun zu brechen, um sich den Damen vorzustellen? Nur er natürlich, der schüchterne, schwerfällige Mensch, der er nun einmal war, er hatte nichts dergleichen gethan. Nicht einmal sie anzusehen hatte er gewagt, wenn ihn ihr Kleid fast gestreift hatte, während er ihr dann nachher wieder nachsah, so lange noch ein Zipfel von dem hellen Gewand zu erblicken war. Er fühlte sich sogar überzeugt, rot geworden zu sein. Lächerlich – einfach lä–cher–lich!

Und doch, dieses befangene Wesen war stärker als er, und wie er es schließlich anstellen wollte, sich ihr zu nähern, ihr von seiner Liebe zu sprechen und um ihre Hand anzuhalten – lauter Dinge, die jedenfalls und notwendig geschehen mußten – darüber war er noch vollständig im unklaren.

Geschehen aber mußte und sollte es, denn wenn es je auf der Welt ein Mädchen gab, welches ausdrücklich für ihn geschaffen war, so konnte es nur dieses sein; gleich von Anfang an war er darüber nicht in Zweifel gewesen. Es war wirklich einmal jene Liebe auf den ersten Blick, von der so viel gefabelt wurde.

Nicht im entferntesten war es ihm bis jetzt in den Sinn gekommen, sich zu fragen, ob das schöne Mädchen reich oder arm sei. Er selbst befand sich in so günstigen Vermögensverhältnissen, daß diejenigen seiner künftigen Frau ihn gleichgültig lassen dursten.

Nach Kleidung und Auftreten konnten die Damen allerdings nur einem recht wohlhabenden Hause angehören, doch hatte er sich mit solchen Erwägungen bis jetzt nicht abgegeben.

Nein, er saß nur und träumte von zwei blauen Augen voll Seele, ganz wie ein unpraktischer Mensch, der er auch war, während er den Shakespeare verkehrt in der Hand hielt.

Wie würde es ihn beglückt haben, wenn er gewußt hätte, daß unterdessen die Besitzerin der blauen Augen – sie waren wirklich sehr blau – auf einem anderen Wege, als auf dem er gekommen war, ebenfalls dem Schutzpavillon mit eiligen Schritten zustrebte, ja, wie groß würde seine Freude erst gewesen sein, hätte er geahnt, daß sie nur deshalb sich so weit hinausgewagt hatte, weil sie auf dem ganzen Spaziergange, ehe es zu regnen begann, an ihn, gerade an ihn gedacht und darüber versäumt hatte, nach Himmel und Wolken zu sehen.

Jetzt freilich waren ihre Gedanken nur bei ihrem hübschen Sommerkleide, welches ihr zierlicher Schirm nur sehr mangelhaft vor den fallenden Tropfen schützte, und bei ihren neuen, braunen Lederschuhen, welche die Nässe vollständig verdarb. Man kann nicht gleichzeitig an alles denken, und Kleider und Schuhe, besonders wenn sie noch nicht einmal bezahlt sind, bleiben immer Dinge von Wichtigkeit, selbst wenn man verliebt ist. Denn [638] natürlich war sie verliebt, und selbstverständlich wollte sie sich verloben. War sie denn nicht mit Mama auch diesen Sommer ausdrücklich zu diesem Zwecke in die Sommerfrische gereist?

Wenn ein junger, reicher, eleganter, unverheirateter Graf ein so augenfälliges, ihn selbst offenbar ganz überwältigendes Interesse für einen faßt und dasselbe so offenkundig zeigt, wie dieser junge, elegante Graf es that, so verliebt man sich selbstverständlich in ihn, darüber brauchte sie ja selbst in Gedanken gar kein weiteres Wort zu verlieren.

Im vorigen Jahre hatte ein Herr sie ausgezeichnet, den sie fälschlich für einen Lieutenant in Civil gehalten hatte. Sie hatte nachher sehr viel Verdruß mit Mama darüber gehabt. Vor zwei Jahren hätte sie sich um ein Haar mit einem reichen Kaufmann verlobt, aber er war dann schließlich doch abgereist, ohne sich erklärt zu haben. Vor drei Jahren war die Geschichte mit dem jungen Gutsbesitzer, von dem sich dann herausstellte, daß er schon anderweitig verlobt war. Es giebt ja so schlechte Menschen!

Jedesmal hatte sie die Reise mit der festen Absicht angetreten, sich zu verloben, und infolgedessen war sie natürlich auch jedesmal verliebt gewesen, aber etwas so Reiches, Vornehmes und Sicheres wie dieses Mal hatte sich eigentlich noch nie geboten. Selbst die etwas argwöhnische Mama hatte es noch heute früh beim Ankleiden gesagt und deshalb auch nichts dagegen eingewendet, daß sie das hübsche, neue Sommerkleid anzog.

Eigentlich hübsch war er ja nicht gerade, und wenn sie nicht gleich am ersten Mittag gehört hätte, wie der Kellner ihn „Herr Graf“ anredete, so würde sie vielleicht gar nicht besonders auf ihn geachtet haben. Aber nach Tische hatten Mama und sie gleich in der Fremdenliste nachgesehen und nach einem Grafen gesucht, und da hatten sie auch richtig an einem der letzten Tage verzeichnet gefunden. „Graf Breitenburg“.

Nun kannte Mama zufällig die gräflich Breitenburgische Familie dem Namen nach und wußte, daß sie enorm reich sei. Darüber also konnte man sich beruhigen und als Mama dann im Laufe des Nachmittages bei dem Kellner einige beiläufige Erkundigungen über den Grafen Breitenburg. eingezogen hatte – ja, so etwas verstand Mama! – da stand auch das fest, daß er bis jetzt keine Frau habe. Denn der Graf, sagte der Kellner, pflegte schon seit mehreren Jahren hierher zu kommen, und er galt im allgemeinen für einen Weiberfeind. Damit wußte man vorläufig alles Wissenswerte. Der „Weiberfeind“ schien allerdings zuerst ein Hindernis zu sein, doch hatte Mama schon am zweiten Mittag herausgebracht, daß der Graf – wie entzückend es klang – „Der Graf!“ – beinahe Essen und Trinken vergaß, um nach den beiden Damen verstohlen hinüber zu sehen.

Gräfin werden – so hoch hinauf hatte sie nie geträumt. Zwar, Mama hatte oft gesagt. „Wenn man so aussieht wie du, Adelgunde, mein Kind, so kann man hohe Ansprüche machen, aber ihr hätte ja ein ganz gewöhnlicher Millionär ohne den Grafentitel auch genügt, ja, er brauchte nicht einmal gerade Millionär zu sein, sie wußte ja, daß es deren nicht übermäßig viele giebt. Aber wenn man den Grafentitel und die Million, oder doch so ungefähr eine Million, sagte Mama, miteinander bekommen könnte, und wenn der Mann noch dazu gut aussah und offenbar nett war, so besann man sich natürlich nicht lange!

Bis dahin war sie vorhin gekommen in ihren Gedanken, die eigentlich nur eine Wiederholung dessen waren, was sie gestern abend vor dem Einschlafen mit Mama durchsprochen hatte. Man kann nicht immer mit seiner Mama derselben Meinung sein, aber in diesen Dingen stimmten beide vollständig überein. Mama hatte bereits zwei ältere Töchter mit großem Geschick verheiratet, und zwei jüngere waren zu Hause geblieben in der kleinen, heißen, auf den Hof hinausgehenden Hinterwohnung. Macht es doch keinen guten Eindruck, wenn man so viele Töchter auf einmal mit in die Sommerfrische bringt. Außerdem würden auch die Ausrüstung und der Aufenthalt für alle zugleich gar zu teuer geworden sein. Die Handwerker und Kaufleute waren ohnehin so eigen mit dem Borgen.

Als sie aber in ihrer Wiederholung so weit gekommen war, begann eben der Regen zu fallen, und da sie nicht mit einem ausreichenden Schirm versehen war, richteten sich von da an ihre Gedanken natürlich nur noch auf ihr Kleid, ihren Hut und ihre Schuhe. Alles zu seiner Zeit. Platzregen und Zukunftsträume!

Hoch aufgeschürzt, ängstlich von Stein zu Stein hüpfend, so eilte sie durch den strömenden Regen dahin. Dabei hatte sie, indem ihr die Tropfen in das Haar und das Gesicht sprühten, ein sehr unbehagliches Gefühl, als wenn dieselben dort irgend ein Unheil anrichteten, welches es ratsam erscheinen lassen mochte, später, wenn der Regen nachließ, möglichst unbemerkt nach Hause zu gelangen. Die Frisur war sicher verdorben, vielleicht mehr.

Nun, zum Glück kam da ja ein Schutzpavillon in Sicht. Sobald sie den nur erreicht hatte, war sie ja vorläufig geborgen.

Nun trat sie in das fensterlose, kleine Gebäude, das sein einziges Licht durch die Thür erhielt. Der kleine Raum war ganz dämmerig, teils des bedeckten Himmels wegen, teils, weil sie selbst die Lichtöffnung versperrte, indem sie eintrat. So entging es ihr, daß sich bereits jemand im Pavillon befand, der junge Mann nämlich, welcher im Hintergrunde mit seinem Shakespeare auf der Bank saß. Er freilich hatte sie natürlich sofort sehen müssen, und eine heiße Blutwelle strömte ihm zum Herzen. „Sie!“ – in der ersten Ueberraschung und Befangenheit regte er sich gar nicht, nur das Buch legte er sachte aus der Hand. Da war sie ja nun, die heiß ersehnte Gelegenheit, sich ihr zu nähern! Vortrefflicher Regen! Wenn er doch nur noch recht lange dauern wollte!

Die junge Dame legte inzwischen ihr Buch – denn auch sie hatte ein solches bei sich – auf die Bankecke neben der Thür und begann ihre Toilette zu mustern, und unwillkürlich folgten die Augen des Mannes den ihrigen. Zuerst nahm sie den Hut ab und betrachtete ihn von allen Seiten, besonders vorteilhaft schien die Nässe ihm nicht gewesen zu sein. Die Schuhe hatten weniger Schaden genommen, als sie gefürchtet hatte, aber das Kleid hatte einen breiten feuchten Saum.

Nun zog sie einen kleinen Handspiegel aus der Tasche und musterte ihre Frisur, so gut es gehen wollte. Sie brauchte sehr lange Zeit dazu.

„Schade“, dachte der junge Herr mit einem kleinen unwillkürlichen Seufzer des Bedauerns, „ein kleines bißchen eitel scheint sie zu sein. Aber,“ fügte er gleich hinzu, „das ist wohl erklärlich, wenn man so jung ist und so aussieht. Dann aber räusperte er sich, um sich bemerkbar zu machen, denn es widerstand seiner ehrlichen Natur, den Lauscher zu spielen.

Beinahe ließ sie den Spiegel fallen vor Schreck, dann wurde sie dunkelrot bis an die blonden Haare. Der Graf! fast hätte sie es laut gesagt in ihrer Ueberraschung. Welches Zusammentreffen, wie günstig und förderlich! Ja, so ein Regen konnte wirklich auch zu etwas gut sein, und der beschädigte Hut sollte sie nicht weiter reuen.

Wenn nur der Spiegel nicht so klein gewesen wäre. Sie hatte durchaus kein sicheres Urteil über den Zustand ihrer Frisur, und dann – der Regen war ihr doch auch ins Gesicht gesprüht. Jedoch da half nun nichts, und es war ja auch zum Glück dämmerig in dem kleinen Pavillon.

„O, wie Sie mich erschreckt haben,“ sagte sie, die Hand auf das Herz legend, das wirklich lebhaft klopfte.

„Das bedaure ich sehr, mein Fräulein. Es war natürlich durchaus nicht meine Absicht. Er fand es passend, aufzustehen und zu ihr hinzutreten.

Noch nie war er ihr so nahe gewesen, sie stand an den einen Pfosten der Thüröffnung gelehnt, und was an Licht überhaupt vorhanden war, das fiel auf sie.

„Nein, zwanzig – da habe ich sie doch wohl aus der Entfernung ein bißchen zu jung taxiert,“ dachte er, indem er seine kurzsichtigen Augen beinahe schüchtern über sie hingleiten ließ, „vierundzwanzig, fünfundzwanzig, so viel mag sie doch wohl zählen. Ja, wenn man kurzsichtig ist!“

„Auch Sie sind vor dem Regen hierher geflüchtet?“ fragte sie, ihm das Gesicht zuwendend. Das Haar, das sonst in lockigen Wellen das Köpfchen umgab, war vom Regen glatt und schlicht geworden und hing ihr in unordentlichen, dünnen Strähnen um die Stirn. Sein Auge haftete ganz betrübt darauf, während er zerstreut antwortete: „Ja, ich war glücklicher als Sie, mein Fräulein, ich bin gar nicht naß geworden. Ihr hübsches Kleid hat, wie ich sehe, Schaden genommen.“ Bei sich dachte er indessen: „Also das Haar war bloß so kunstvoll gebrannt! Das ist nun wirklich schade, es sah so allerliebst aus.“

„Na, als Millionär brauchte er sich um ein paar Flecken im [639] Kleide auch nicht gerade zu sorgen,“ dachte das Mädchen, unangenehm berührt, „das müßte man ihm abgewöhnen.“

„Wenn es doch nur nicht so viel regnen wollte,“ sagte sie laut, „sonst ist es hier ja süß.“

Süß! Er zuckte zusammen, als hätte man ihn geschlagen.

Sie bemerkte es nicht. „Meine Mama sagte noch gestern, Adelgunde, sagte sie, in einer netteren Gegend sind wir noch auf all unseren Reisen nicht gewesen. Besonders die Berge und die Tannen die sind doch gar zu niedlich, nicht wahr?“

„Ja, sehr niedlich.“ Gütiger Himmel, schroffes Felsgestein und hundertjährige, himmelaufragende Tannen, deren majestätische Wipfel die Wolken berührten, das nannte dieses Mädchen niedlich! Er sah sie durch seine Brille ganz erschrocken an. Er war feinfühlig in dergleichen. Und Adelgunde hieß sie auch noch!

„Wie er mich ansieht,“ dachte Adelgunde, „es muß nicht so schlimm sein mit meiner Frisur, sonst würde er nicht so entzückte Augen machen. Ein bißchen langweilig scheint er zu sein, aber wenn man Graf ist und Millionär –“

„Aber das Meer ist doch noch niedlicher,“ sagte er.

„O, süß! Ja, das Meer ist reizend, und dann ist es auch so modern!“ Sie schlug die sanften Augen schüchtern zu ihm auf. „Sie sind gewiß auch sehr für Natur – ach, ich schwärme so riesig dafür! Meine Mama sagt immer: Wenn unsere Adelgunde nur schöne Natur hat und ein gutes Buch, da braucht sie weiter nichts.“

‚Aber sie hat ja Puder auf ihrem Gesicht!‘ dachte der junge Mann so entsetzt, wie nur ein ganz ehrlicher Mensch es bei solcher Entdeckung sein kann. Als sie ihm das Köpfchen so schwärmerisch zugewendet hatte, war eben ein heller Lichtstreif darauf gefallen, und so, ganz in unmittelbarer Nähe sah er, was seinem kurzsichtigen Blick aus der Entfernung bockig verborgen geblieben war: ein wenig Puder auf den Wangen, ein wenig Karmin auf den Lippen, ein wenig Tusche in den feingeschweiften Augenbrauen. Es war keine dick aufgetragene Schminke, nur ein Hauch von allem sozusagen, aber doch genug, um seine Begeisterung für ihren frischen Jugendreiz kläglich zu ernüchtern. Die Regentropfen hatten den Puder an einigen Stellen fortgeschwemmt, es machte den Eindruck, als lägen mattgelbliche Flecken auf milchweißem Grunde.

‚Was für Augen er macht,‘ dachte das Mädchen wieder, den überraschten Blick gänzlich mißverstehend, ‚wenn er bloß ein kleines bißchen mehr sprechen wollte!‘ – „Sie haben dort wohl ein sehr schönes Buch?“ fragte sie laut mit lieblichem Lächeln.

„Gewiß, mein Fräulein, ein herrliches Buch, es ist Ihnen aber sicherlich bekannt.“ Damit reichte er ihr seinen Shakespeare.

Sie warf einen flüchtigen Blick auf Inhalt und Titelblatt. „Diese französischen Sachen lese ich nicht,“ sagte sie reserviert, „meine Mama findet sie nicht passend für junge Mädchen. Sie sagt, ein gediegenes deutsches oder englisches Buch sei immer das beste.“

Er stöhnte innerlich. War es denn möglich, war dies das Mädchen, welches er aus der Ferne angebetet hatte wie ein dummer Junge? „Und dürfte man fragen, welche deutschen Schriftsteller Sie bevorzugen, mein Fräulein?“

„Ach, ich habe hier ein reizendes Buch – süß! Man muß dabei so weinen.“ Dabei griff sie nach dem Buche, das sie vorhin auf die Bank gelegt hatte, es war ein sehr wenig sauber aussehender Leihbibliothekband. Einen Augenblick zögerte er, ihn anzufassen, dann nahm er ihn doch, schlug ihn auf und – ja wirklich, er konnte beinahe belustigt, lächeln trotz der schmerzlichen Enttäuschung, die er eben durchmachte – er erblickte die schlechte deutsche Uebersetzung eines seichten französischen Romanes.

Guter Gott – guter Gott – und dieses Mädchen hatte er – wo hatte er doch seine Augen gehabt? Wie war es möglich gewesen, nicht zu sehen, daß hinter diesem hübschen Lärvchen kein Gehirn steckte? Und dieses Mädchen hatte er – o, gesegneter Regen, der den blendenden Schimmer von diesem „Ideal“ abgewaschen hatte!

„Freilich, reisen ist noch reizender wie schöne Bücher,“ sagte sie, das Köpfchen auf die Seite legend, um zu ihm emporzusehen. „Sie, Herr Graf, sind gewiß sehr viel gereist?“

Herr Graf? Wer ihr nur das verraten hatte? Uebrigens, von Rechts wegen hätte er sich ja längst vorstellen sollen. Er gestand sich selbst, daß es eigentlich flegelhaft sei, es bisher unterlassen zu haben. Allerdings schien sie ja auch ohne das ganz gut unterrichtet zu sein. „Gewiß, mein Fräulein, ich mache jährlich meine kleine Reise,“ antwortete er.

„Klein? O, Sie sollen doch die halbe Welt und mehr gesehen haben, Herr Graf.“

„O behüte – hier und da ein wenig! Wer kann Ihnen doch das erzählt haben? Ueberhaupt, wer weiß denn hier eigentlich von mir? Jedoch gestatten Sie zunächst, daß ich mich Ihnen vorstelle, es hätte längst geschehen sollen. Sozusagen sind wir ja Tischnachbarn. Graf –“

„Ach, ich weiß schon.“ Sie sah lächelnd zu Boden und spielte mit dem Griff ihres Schirmes. „Wir hörten den Namen zufällig, er ist ja sehr bekannt – so kam es denn von selbst –“

„Mein Name bekannt? Ich wüßte wirklich nicht!“

„Aber gewiß – doch, Herr Graf. Und es wurde dann auch so viel von Ihren großen Reisen –“

„Groß – groß! Nun, so weit ein armer Schulmeister denn eben kommt in den Ferien, mein Fräulein. Da sind die Grenzen ja sehr eng gezogen.“

Der Schirm fiel aus der kleinen Hand polternd zu Boden.

„Ferien – Schulmei –“ stotterte Adelgunde.

„Aber freilich, mein Fräulein. Es scheint doch fast, als ob Sie sich in meiner Person irrten. Graf, Lehrer am –“

„Am Gymnasium zu Wesenheim,“ wollte er vollenden, aber er hielt inne, so verstört sah ihn das hübsche Mädchen an.

„Graf – Lehrer – so sind Sie nicht Graf Breitenburg?“

„Nicht die Spur, mein Fräulein. Graf Breitenburg ist der ältere Herr mit der hohen Stirn, der Ihnen bei Tische gegenüber sitzt. Ja, der hat allerdings Reisen um die halbe Welt gemacht. Dem erlaubt es aber auch sein Geldbeutel und seine Zeit.“

„Er ist nicht Graf, er ist nicht Millionär,“ dachte das Mädchen mit unsagbarer Enttäuschung. O, wie dumm, wie dumm, wie dumm war sie gewesen! An diesen ganz simplen Herrn Graf, der nichts war als ein bloßer Lehrer, hatte sie so viele Gedanken, so viel Herzklopfen, so viel liebliche Blicke verschwendet! Gedankt sei dem Regen, der ihr noch zur rechten Zeit die Augen geöffnet hatte! Wo hatte sie nur vorher ihren Verstand gehabt? Daß dieser gewöhnlich aussehende, schüchterne Mensch kein Graf sein könnte, hätte sie wohl auch wissen können, und Mama ebenfalls. Da war doch der Herr ihr gegenüber, der wirkliche Graf Breitenburg, eine ganz anders aristokratische Erscheinung, ein Herr in seinen besten Jahren mit einem sehr anziehenden Gesicht.

Sie trat von dem jungen Manne weg und sah in den Regen hinaus. Wenn er doch nur weggehen wollte, dieser langweilige Mensch, den sie eigentlich von Anfang an nicht hatte ausstehen können! „Ob es denn noch nicht bald besser wird?“ sagte sie wie zu sich selbst.

Ob er ihre Gedanken las? Ein sehr großes Kunststück wäre es nicht gewesen. „Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, mein Fräulein,“ sagte er mit einer kühlen Artigkeit, zu der er sich noch vor einer halben Stunde völlig unfähig gefühlt haben würde, „es scheint sich ein wenig aufzuhellen, aber es kann doch noch lange fortregnen. Für mich mit meinem Schirm ist der Weg immerhin passierbar, für Sie ist er unmöglich. Ich werde nach Hause gehen und Ihnen aus dem Hotel einen Mann mit einem Schirm schicken, der meinige reicht für uns zwei nicht.

Sie neigte kühl den Kopf. „Wenn Sie so gut sein wollen, es wäre wohl wirklich das beste.“

„Also empfehle ich mich, mein Fräulein.“ Er spannte seinen Schirm auf und ging.

„Gott sei Dank!“ sagte er aufatmend, als er draußen war, „lieber im ärgsten Klatschregen waten, als mich mit dem Gänschen noch weiter unterhalten. Na – und in die war ich verliebt!

„Gott sei Dank!“ flüsterte das Mädchen, ihm nachsehend, „daß der langweilige Mensch fort ist und daß ich noch rechtzeitig merkte, was für ein ,Graf’ er ist!

Und dann setzte sie sich hin und weinte über den verstoßenen Traum von der Gräfin und der Million, so daß auch der letzte Rest Puder noch fortgeschwemmt wurde und ihr Taschentuch kleine rote Karminflecke bekam.

[640]
Die deutsche Sprache in Böhmen.
Von Dr. Adolf Hauffen.

Das deutsche Volk Böhmens befindet sich in allen seinen Schichten seit einigen Monaten in einer Erregung, wie sie Oesterreich seit dem Beginne des Parlamentarismus und der nationalen Kämpfe wohl noch nicht gesehen hat. Die Veranlassung gaben die zunächst nur für Böhmen bestimmten, doch alsbald auch auf Mähren ausgedehnten „Sprachenverordnungen“ vom 5. April dieses Jahres.

Diese Verordnungen haben das im Jahre 1890 begonnene (dazumal als Staatsnotwendigkeit bezeichnete) Ausgleichswerk zwischen Deutschen und Tschechen vollends in Trümmer geschlagen. Jener geplante Ausgleich hätte den Deutschen unter Abgrenzung ihres geschlossenen Sprachgebietes und unter Anerkennung ihrer nationalen Rechte dauernden Frieden und Schutz gegen die Slavisierung gewähren sollen. Doch nur kleine Zugeständnisse wurden ihnen zuteil, der Landeskultur- und der Landesschulrat wurden in eine deutsche und eine tschechische Sektion geteilt, dann kam das Werk ins Stocken trotz der dringendsten Forderungen und berechtigten Wünsche der Deutschen, bis diese plötzlich und unversehens mit den neuen Sprachenverordnungen überrascht wurden.

Diese Verordnungen bestimmen im wesentlichen, daß alle nach sechs Jahren in Böhmen und Mähren zu ernennenden Beamten (mit Ausnahme der Lehrpersonen) der tschechischen Sprache völlig mächtig sein und daß schon vom Tage der Veröffentlichung ab tschechische Eingaben auch von den Behörden deutscher Bezirke in tschechischer Sprache nicht nur erledigt, sondern auch verhandelt werden müssen. Daraus ergiebt sich, daß von nun an alle deutsch-böhmischen Jünglinge, die in ihrer engeren Heimat nie ein tschechisches Wort gehört, in ihren Schule keine Gelegenheit gehabt haben die andere Landessprache zu lernen, eine Staatsanstellung als Juristen, Mediziner, Techniker, Postmeister, Hilfsbeamte in Deutsch-Böhmen nur dann erlangen können, wenn sie die schwierige tschechische Sprache so sehr beherrschen, daß sie in ihr fachmännische Berichte abstatten oder mündliche und schriftliche Prozesse führen können. Dazu kommt, daß man an deutsche Beamte gewöhnlich sehr wenige Anforderungen stellt, was die Reinheit ihrer tschechischen Rede betrifft, während man tschechische Beamte in deutschen Gegenden ohne weiteres in Amt und Würden behält, selbst wenn ihr Deutsch nur vom Standpunkt des Humors aus berechtigt erscheint und selbst wenn sie, was tatsächlich täglich vorkommt, die Landleute des Bezirks, die auch vor der Behörde ein mundartlich gefärbtes Deutsch reden, einfach nicht verstehen. Die Folge dieser Verhältnisse muß natürlich eine Ueberflutung Deutsch-Böhmens durch tschechische Beamte und eine bedrohliche Slavisierung seiner bürgerlichen Kreise sein.

Begreiflich, daß die Deutschen des Landes, durch diese Aussichten im höchsten Grade beunruhigt, ja, in ihren Existenzbedingungen bedroht, sich entschlossen haben, den mannhaftesten Widerstand zu leisten, die Verordnungen mit allen gesetzlichen Mitteln zu bekämpfen und auf deren Aufhebung mit allem Nachdruck hinzuwirken. Begreiflich ist es auch, daß die Volksgenossen im Deutschen Reiche nicht gleichgültig bleiben, sondern dem nationalen Ringen ihrer Brüder in Oesterreich eine warmherzige Teilnahme entgegenbringen.

Da aber im Deutschen Reiche die von den Zeitungen sorgfältig geschilderte politische Vorgänge des Tages im allgemeinen viel besser bekannt sind als die geschichtlichen und ethnographischen Verhältnisse des Deutschtums in Oesterreich, so ist der Verfasser dieser Zeilen sehr gern der freundlichen Aufforderung der „Gartenlaube-Redaktion“ nachgekommen, knapp und in einfachen Linien die vielhundertjährige Geschichte der deutschen Sprache in Böhmen, der weit zurückreichende Teil der Deutschen an der glanzvollen Entwicklung des Landes und das Geschick ihres gesonderten Sprachgebietes zu zeichnen.

Dies ist um so notwendiger, als in den vielen tendenziösen Darstellungen tschechischer (neuester Zeit auch französischer) Zeitungen und Bücher die Sachlage so aufgefaßt wird, als wären die Tschechen als ursprüngliche Bewohner auch die „historisch“ allein berechtigten Herren und Vollbürger des Landes und als käme den Deutschen als „spätere Eindringlinge“ und „Fremden“ nur das Recht geduldeter Gäste und Bürger zweiter Ordnung zu. Nun, ganz abgesehen davon, daß gewiß kein Volk der Erde, das heute ein Gebiet thatsächlich besitzt und die Kraft hat, es zu verteidigen, freiwillig aus „historischen Gründen“ darauf verzichten wird, ist die Unrichtigkeit der besagten Auffassung schon dadurch erwiesen, daß jahrhundertelang, ehe Slaven nach Böhmen kamen, das Land von Germanen besetzt war.

Vom Jahre 8 vor Christus ab bis in das 6. Jahrhundert beherrschte Böhmen der germanische Stamm der Markomannen, der dann, dem Ansturm der Avaren weichend, in das westliche Nachbarland zog, wo er, mit anderen versprengten Germanenscharen vereinigt, unter dem Namen Bajuvaren erscheint. Erst im letzten Drittel des 6. Jahrhunderts wurde das entvölkerte Böhmen allmählich und wahrscheinlich kampflos von schwachen Stämmen bezogen, die sich vorerst unter avarischer Botmäßigkeit befanden. Nach dem Tode ihres Befreiers von den Avaren, des Franken Samo, 658, zerfiel Böhmen in mehrere einander befehdende Stammesgebiete, bis es den Herzöge des in der Mitte des Landes (um Prag) hausenden Tschechenstammes bis zum Ende des 10. Jahrhunderts gelang, ihre Herrschaft über das ganze Land auszudehnen, das auch nach diesem Stamme die slavische Bezeichnung „Cechy“ erhielt. Böhmen hatte nun jahrhundertelang eine rein slavische Bevölkerung. Nur im Südwesten des Landes, wo noch heute Bayern wohnen, sind möglicherweise germanische Reste dauernd sitzen geblieben. Trotzdem konnte es sich der politischen und Kultureinflüsse des mächtigen deutschen Nachbarreiches, mit dem es auch geographisch verbunden ist, nicht erwehren. Schon unter Karl dem Großen wurde Böhmen dem Frankenreiche tributpflichtig. Die böhmischen Herzöge, später (seit 1198) die böhmischen Könige, mußten die Oberhoheit des deutschen Kaisers anerkennen. Durch deutsche Priester wurde von 895 ab das Christentum in Böhmen eingeführt. Rasch nahm die Zahl der Deutschen zu, denn sie wurden von den Fürsten des Landes unter günstigen Bedingungen berufen. Der von Sobieslaw II. (1778) den Deutschen ausgestellte, von Wenzel I. um 1231 erweiterte Freiheitsbrief hebt diese Berufung ausdrücklich hervor.

Im 12. und 13. Jahrhundert erfolgte die große Kolonisierung der Grenzgebiete Böhmens durch Deutsche. Die Tschechen hatten nämlich nicht das ganze Land besiedelt. Sie verstanden es nur, den lockern Boden der fruchtbaren Niederung mit der leichte Hacke zu behandeln, sie waren darum bloß an den Flußthälern (der Eger, Elbe usw.) bis nahe an die Grenze, stellenweise sogar darüber hinaus gegangen, aber die von dichtem Wald bedeckten Grenzgebirge ließen sie unberührt. Auch war die Bevölkerung nicht dicht genug, um von innen heraus zu kolonisieren. Als nun nach Eintritt friedlicherer Zeiten die Landesfürsten, einzelne Adlige und Kloster ihren Waldbesitz urbar zu machen wünschten, so mußten sie das mit dem schweren Pflug vertraute, anerkannt beste Kolonistenvolk des Mittelalters, die Deutschen, herbeirufen. Die Grenzgebiete Böhmens also, das Braunauer Ländchen, das Adler-, Riesen-, Iser- und Erzgebirge, der Böhmerwald, große Strecken um Neubistritz, Stecken und Landskron waren niemals von Tschechen besetzt; sie wurden von den Deutschen erst urbar gemacht und auf grüner Wurzel besiedelt. Das beweisen neben zahlreichen urkundlichen Nachrichten das von den tschechischen Runddörfern sich deutlich abhebende fränkische Anlagesystem der alten deutschen Dörfer, sowie die fast ausschließlich deutschen Ortsnamen dieser Gebiete, die durch ihre Verbindungen mit –reuten und –roden, mit –grün und mit –wald ihre Entstehungsweise klar bezeugen. Hier kann also von einem „allmählich germanisierten“ Gebiete nicht die Rede sein.

Während diese Besetzung des Markwaldes durch deutsche Bauern stattfand, umgaben sich die Fürsten des Landes, von denen mehrere deutsche Frauen gefreit hatten, mit deutschen Adligen, Beamten und Künstlern. Am Hofe und auf den Burgen des heimischen Adels fanden die ritterlichen Sitten des Westens Eingang, am wichtigsten aber wurde die Gründung deutscher Städte. In Prag, wo die uralte Stadtgemeinde der deutschen

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Torpedo-Angriff.
Nach einer Originalzeichnung von C. Schön.

[642] Kaufleute am Poritsch der rasch wachsenden Bevölkerung nicht mehr genügte, mußte unter Wenzel I. die Neustadt bei St. Gallus, unter Ottokar II. die Kleinseite für deutsche Bürger errichtet werden. Ueber das ganze Land verstreut wurden namentlich auf Veranlassung Ottokars II. (1253 bis 1278) käufliche Städte von Deutschen errichtet. Wie die deutschen Bauern des Markwaldes, so waren auch die deutschen Bürger freie Männer, die unabhängig von der tschechischen Gauverfassung unter eigenen Vögten und Richtern und unter königlichem Schutze nach deutschem Rechte lebten. Am Ausgang des 13. Jahrhunderts erlebte die mittelhochdeutsche Litteratur in Böhmen eine beachtenswerte Nachblüte, die auch auf die tschechische Dichtung der Zeit bestimmend einwirkte, es seien in dieser Hinsicht nur die im Lande geborenen Epiker Ulrich von Eschenbach und Heinrich von Freiberg genannt. Im 14. Jahrhundert entstanden deutsche Bibelübersetzungen und hervorragende Prosawerke, mehrten sich deutsche Urkunden und Rechtsdenkmäler, die zuerst jene eigenartige Mischung mittel- und oberdeutscher Lautscheidungen aufweisen, die zu einer Grundlage unserer neuhochdeutschen Schriftsprache geworden ist. Denn auch Karl IV. (1346 bis 1378), zugleich deutscher Kaiser, bot an seinem Hofe neben dem Humanismus der deutschen Litteratur eine Heimstatte dar. In seinem Auftrage schufen deutsche Baumeister, besonders Peter Parler aus Schwäbisch-Gmünd und dessen Schüler, Kirchen, Burgen, Klöster und Brücken, die noch heute unsere Bewunderung erregen. Im Jahr 1348 gründete er die Prager Universität, die als die älteste deutsche Hochschule bezeichnet werden muß, da sie für das ganze deutsche Reich bestimmt war und da von Anfang an die weit überwiegende Mehrzahl ihrer Lehrer und Schüler der deutschen Nationalität angehörte.

Die gezeichneten Verhältnisse wurden völlig geändert durch die Stürme des Hussitismus, einer Bewegung, die aus religiösen Gründen erwachsen war, allmählich eine soziale Bedeutung gewann und in die Spitze des Deutschenhasses auslief. Nach dem Feuertode des Hus im Jahre 1415 ergossen sich die Scharen seiner fanatisierten Anhänger unter Zizkas Führerschaft über das ganze Land, um mit unmenschlicher Grausamkeit die katholisch gebliebenen deutschen Landesteile zu verheeren, Kirchen und Klöster zu plündern, vor allem aber, nachdem die ansehnliche deutsche Bürgerschaft aus Prag vertrieben worden war, im Jahre 1420 die deutschen Städte des Landes mit wenigen Ausnahmen zu erobern und deren Bewohner niederzumetzeln. So gelang es den Hussiten in kürzester Zeit, das Deutschtum im Innern des Landes zu vernichten und größere von Deutschen besiedelte Gebiete namentlich in der östlichen Hälfte des Landes, für immer zu slavisieren.

Die politische Bedeutung der Deutschen in Böhmen lag nun auf Jahrhunderte danieder. Unter schwachen Königen aus verschiedenen, rasch wechselnden Dynastien, unter blutigen Bürgerkriegen wuchs die Macht des Adels, der Stände, die den Bauern allmählich zum Leibeigenen hinabdrückten, den Bürger in seinen Freiheiten verkürzte und dem Deutschtum auch jeden Schein von Recht zu nehmen trachtete. Die alten Freiheitsbriefe wurden gefälscht. In mehreren Erlassen wurden die Deutschen Böhmens als Ausländer bezeichnet, es wurde ihnen verwehrt, ein öffentliches Amt zu bekleiden, im Lande Grundbesitz zu erwerben, vor Gericht in ihrer Sprache zu klagen. Auch die seit dem Jahre 1526 regierenden Könige aus dem Hause der Habsburger konnten der leidenschaftlichen nationalen Partei nicht wehren. Noch im Jahre 1615 erließ Mathias das vielberufene Sprachengesetz des Prager Landtags, das alle früheren Bestimmungen in ihrer auf die Ausrottung des Deutschtums hinzielenden Strenge übertraf. Doch trotz aller Bedrückungen begann das Deutschtum Böhmens im 16. Jahrhundert wieder zu erstarken. Der neu erschlossene Bergwerksbetrieb im Erzgebirge, die immer bedeutender werdende Leinen- und Tucherzeugung im östlichen Nordböhmen mehrte die Dichtigkeit und den Reichtum der deutschen Bevölkerung. Nachhaltig förderte das Deutschtum die in Böhmen sich rasch verbreitende neue Lehre Luthers. Auch die alten tschechischen Utraquisten wurden nun Lutheraner, bezogen ihre Bücher, Priester und Lehrer aus Deutschland und sandten ihre Söhne an die protestantischen Universitäten des Reiches. Unter dem Schutze der Reformation hob sich das Schulwesen und die Litteratur der Deutschen. Michael Weiße und Nikolaus Hermann dichteten volkstümliche geistliche Lieder, Johann Mathesius verfaßte zahlreiche, auch kulturgeschichtlich bemerkenswerte Predigten, der Egerläuder Clemens Stephani schuf wirkungsvolle Dramen.

Auch die deutsche Sprachgrenze rückte im 16. und namentlich im 17. Jahrhundert wieder vor. Man kann diese Bewegung an der Hand der Stadtbücher verfolgen, die allmählich wieder die deutsche Sprache annehmen. Nach den ungeheuren Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges, nach den erbarmungslosen Landesverweisungen von vielen Tausenden protestantischen Familien waren weite Strecken Böhmens geradezu entvölkert, und es mußten nun wieder deutsche Kolonisten (zumeist aus Bayern) herbeigerufen werden. So wurden große ehemals tschechische Gebiete, namentlich im westlichen Böhmen bis zum Jahr 1700 allmählich wieder dem Deutschtum gewonnen. Noch stärker war in jener Zeit die Wendung zu gunsten des Deutschtums in dem ganzen öffentlichen und kulturellen Leben Böhmens. Nach der Schlacht am Weißen Berge 1620, war die Macht der Stände gebrochen. Böhmen wurde nun eine Provinz Oesterreichs; von einem rein tschechischen Staate konnte nicht mehr die Rede sein. Die „verneuerte“ Landesordnung Ferdinands II. vom Jahre 1627 erkannte nun auch die Gleichberechtigung der deutschen Sprache an, die schon wegen des Verkehrs mit den kaiserlichen Beamten zu Wien unentbehrlich wurde. Mit der zunehmenden Centralisierung im 18. Jahrhundert wuchs auch die Bedeutung des Deutschtums. Während Kaiser Josef II. die deutsche Sprache in allen Schulen Böhmens einführte, vertauschte im Jahre 1784 auch die Prager Universität die lateinische mit der deutschen Vortragssprache.

Nach langem Schlafe begann in der josefinischen Periode die deutsche Litteratur in Böhmen zu erwachen, von Wien her und in höherem Grade vom neuen Aufschwung des geistigen Lebens in Deutschland befruchtet. Die litterarischen Bewegungen Deutschlands wurden vielfach durch reichsdeutsche Gelehrte an der Prager Universität vermittelt, die sich (wie z. B. A. G. Meißner) an der ästhetischen Kritik und am dichterischen Schaffen fruchtbar beteiligten. Aus diesen Bestrebungen erwuchsen mehrere Zeitschriften, die auch außerhalb Böhmens Mitarbeiter und Leser gewannen, und einzelne bedeutendere Talente, wie der Epiker Egon Eberl und die Erzähler Alfred Meißner und Adalbert Stifter. Weit hervorragender freilich als auf dem Boden der Dichtkunst wurden die Leistungen der ernster gestimmten, arbeitstüchtigen Deutsch-Böhmen auf dem Gebiete der Wissenschaft und der Industrie, sowie in dem wiederholt maßgebenden Anteil an der politischen Führung des österreichischen Kaiserstaates.

Indessen hatte am Ausgang des 18. Jahrhunderts die tschechische Sprache den tiefsten Grad ihrer politischen und gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit, ihres grammatischen und stilistischen Verfalls erreicht. Fast nur vom Bauernstande gesprochen – denn der Adel und die Bürgerschaft bedienten sich nahezu ausschließlich der deutschen Sprache – konnte sie den Anforderungen der zeitgenössischen Kultur und Bildung nicht mehr entsprechen. Selbst begeisterte böhmische Patrioten verzweifelten an ihrem Wiedererstehen und der böhmische Geschichtschreiber Pelzel sprach 1789 die Ansicht aus, daß Böhmen vollständig deutsch werden dürfte, wie es damals bereits mit Obersachsen, Schlesien und anderen ehemals überwiegend slavischen Ländern der Fall war.

Ueberraschend schnell trat ein Umschwung der Verhältnisse ein. Josefs II. Wirken, so centralisierend es angelegt sein mochte, gab den ersten Anstoß hierzu. Die Verbreitung der Schulbildung, die Befreiung des Bauernstandes brachte neues Leben in jene Schichten des Volkes, aus der die tschechische Sprache wiedergeboren werden sollte, in die bis dahin von der modernen Kultur abgeschnittene Landbevölkerung. Die demokratischen Ideen der französischen Revolution wirkte mittelbar bis nach Böhmen; die Befreiungskriege gegen Napoleon weckten auch bei den österreichischen Slaven das Nationalbewußtsein. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts fällt das neue Aufkommen der tschechisch-nationalen Bewegung. Sprachforscher wie Dobrowsky und Jungmann begannen die tschechische Sprache wissenschaftlich zu ergründen, in Formenbau, Wortschatz und Stil durch Verwendung älterer Formen und durch Anleihe bei verwandten Sprachen auszubilden. Gelehrte und Aristokraten vereinigten sich zur Gründung von Gesellschaften und Unternehmungen, die der Heimatkunde dienen sollten, so entstand die böhmische Museumsgesellschaft 1818. Die Deutschen des Landes förderten [643] anfänglich neidlos all diese Bestrebungen, oder besser gesagt, sie waren sich eines Gegensatzes den Tschechen gegenüber kaum bewußt. Aus der gemeinsam genossenen deutschen Bildung schöpften beide Teile die Kraft, für die geliebte Heimat zu wirken, ohne Deutsches und Slavisches strenge auseinanderhalten.

Zwei Männer vor allem hatten sich unmittelbar aus Deutschland jene Begeisterung und jenes Wissen geholt, das sie befähigte, auf ihr Volk und die gesamte Slavenwelt einen unvergleichlichen Einfluß auszuüben, P. Safarik (1795 bis 1861) und J. Kollar (1793 bis 1852). Aus Jena, wo die beiden in der Zeit der hochgehenden burschenschaftlichen Bewegung studiert haben, stammt die großartige, wissenschaftliche Umfassung des Slaventums durch den Philologen und Litteraturhistoriker Safarik, sowie der poetische und litterarische Panslavismus des Dichters Kollar. In den stürmischen Jahren 1848 und 1849 traten die österreichischen Slaven unter der Führung Palackys mit den in den Schriften Safariks und Kollars niedergelegten nationalen Bestrebungen hervor, die politische Freiheit und sozialen Fortschritt in sich schlossen. Mit der aufbauenden Thätigkeit ihrer kulturellen Entwicklung verbanden die Tschechen jetzt auch die Zurückdrängung und Bekämpfung des deutschen Volkstums. Seit der Gründung der Konstitution 1861 wurden die nationalen Forderungen der Tschechen immer ungestümer und bis zur Gegenwart von immer wachsenden Erfolgen begleitet. Dieser abermalige Wechsel der politischen Machtstellung mußte natürlich auch die ethnographische Sachlage in Böhmen beeinflussen. Das Deutschtum, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts (ähnlich wie im 13. und 14. Jahrhundert) förmlich netzartig über das ganze Land ausgebreitet war, schwand seit 1848 im Inneren des Landes, wo es in arger Minderheit war, rasch dahin. Am raschesten in den Städten, wo sich sehr viel unechtes Deutschtum befunden hatte. In Prag z. B., wo sich 1856 noch 73000 Einwohner zur deutschen, 50000 zur tschechischen Nationalität bekannten, errangen die Tschechen bereits im Jahre 1861 die Mehrheit in der Gemeindevertretung, während heute Prag samt den Vororten bei einer Gesamtbevölkerung von 305909 Seelen nur mehr 40819 Deutsche bewohnen. Auf dem Lande hingegen, in dem geschlossenen Gebiet, wo gutes deutsches Volkstum seit Jahrhunderten auf heimischer Scholle sitzt, dort erhält es sich auch zähe und unvermischt. Darum haben sich die Linien der deutsch-tschechischen Sprachgrenze seit dem Beginn dieses Jahrhunderts trotz aller Bedrängnisse des Deutschtums nur ganz unerheblich zu dessen Ungunsten geändert.

Auf dem deutschen Sprachgebiete, das heute ungefähr 354 Quadratmeilen, also nahezu 38 % der Gesamtfläche Böhmens umfaßt, wohnen vier der Mundart und Herkunft nach verschiedene Stämme. Zunächst findet man die Bayern in der Sprachinsel Budweis, in dem von Niederösterreich hereinreichenden deutschen Gebiet von Neubistritz und im südlichen Böhmerwalde bis hinauf nach Eisenstein. Die Nordgauer oder Oberpfälzer in dem breiten deutschen Gebiet Westböhmens von Eisenstein angefangen bis an das Erzgebirge. Den alten Kern dieses Landesteils bildet das seit dem Anfang des 11. Jahrhunderts rein deutsche Egerland, das erst im Jahre 1322 unter Wahrung seiner alten Vorrechte dauernd an Böhmen fiel, die Reste seiner ursprünglichen Sonderstellung aber bis zum Jahre 1817 sich bewahrte. Das Erzgebirge und das mittlere Nordböhmen bewohnen Obersachsen, während Schlesier das östliche Böhmen vom Jeschken angefangen, ferner die auch nach Mähren sich erstreckenden Sprachinseln des Schönhengstler Gaues und der Umgebung von Iglau besiedeln.

Dieses Sprachgebiet muß als ein völlig geschlossenes bezeichnet werden. Von den 7063 Ortsgemeinden Böhmens sind nur 88 gemischtsprachig, nur 44 davon liegen an der Sprachgrenze. Es ist also zwischen den beiden Sprachgebieten (von einzelnen Ausnahmen abgesehen) nicht einmal ein sprachlich gemischter Gürtel vorhanden, so daß die Sprachgrenze in einer scharfen Linie gezogen werden kann. Die tschechischen Minoritäten sind in den meisten deutschen Bezirken nur geringfügig und sie sind im letzten Jahrzehnt im allgemeinen gesunken. In wesentlicher Zunahme begriffen sind sie nur in jenen deutschen Gegenden, wo ein rücksichtslos betriebener Kohlenbergbau oder eine rasch (mitunter ungesund rasch) wachsende Industrie den deutschen Bauer verdrängt und slavische Arbeiterscharen heranzieht. Die Zahl der Deutschen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung Böhmens ist trotz der Ungunst der politischen Verhältnisse in den letzten fünf Jahrzehnten nur ganz unerheblich gesunken. Nach einer Berechnung des Jahres 1846 bildeten die Deutschen in Böhmen 39 % der Gesamtbevölkerung; nach dem verläßlichen amtlichen Material aus dem Anfang der sechziger Jahre nahezu 38 %, nach der amtlichen Zählung von 1880 genau 37,11 %. Nach der letzten Zählung von 1890 stehen in Böhmen 2159011 Deutsche 3644188 Tschechen und 866 Einwohnern anderer Nationalitäten gegenüber, ihre Verhältniszahl gegenüber der Gesamtbevölkerung beträgt 37,199 %, sie ist also im letzten Jahrzehnt sogar gestiegen. Darauf kann nicht oft genug hingewiesen werden, weil gerade in deutschen Kreisen pessimistische Anschauungen über den Rückgang des deutschen Volkstums in Böhmen verbreitet sind, die durch die untrüglichen statistischen Ergebnisse ihre Berechtigung verlieren.

Eines aber darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Deutsch-Böhmen einem durchaus nicht unebenbürtigen oder gar verächtlichen Gegner gegenüberstehen. Die Tschechen sind ein begabter und tüchtiger Volksstamm. Die nationale Kultur, die sie sich in kaum einem Jahrhundert geschaffen haben, ist in der That staunenerregend. Und mögen sie auch die Elemente deutscher Geistesbildung übernommen haben, sie haben es verstanden, sie mit nationalem Geiste zu erfüllen. Mit Recht sind die Tschechen auch stolz auf den gesunden Kern ihrer Landbevölkerung. Es gehört mit zu den nationalen Pflichten, die Tüchtigkeit des Gegners anzuerkennen. Kein Zweifel, einer der schwersten politischen Kämpfe, die je ausgetragen wurden, wird der nationale Verteidigungskampf sein, der den Deutschen Böhmens in den nächsten Jahrzehnten bevorsteht. Aber wie groß auch die Gefahr sein mag, sie dürfen doch mutig in die Zukunft schauen. Das deutsche Volkstum ist von urwüchsiger Kraft, es hat schon die härtesten Kämpfe siegreich bestanden; sicher wird es auch diese Zeiten der Prüfung überdauern und aus den politischen Stürmen, die gegenwärtig das Böhmerland beunruhigen, gestärkt hervorgehen.


Blätter und Blüten.

Torpedoboot gegen Panzerschiff. (Zu dem Bilde S. 641). Es sind unheimliche Gesellen, diese Torpedoboote, und mit leicht erklärlichem Mißbehagen ruht auf ihnen das Auge so manches Seemannes an Bord des Panzerschlachtschiffes, selbst bei hellichtem Tage in Friedenszeiten. Birgt doch der kleine Dämon, der sich so unscheinbar und harmlos ausnimmt, in seinem Innern eine ganz gefährliche Masse, deren sich zu erwehren der schwergeharnischte Koloß oft kaum imstande ist.

Unser Bild veranschaulicht eine Torpedobootsdivision in Thätigkeit auf ihrem Hauptwirkungsfelde, dem nächtlichen Angriff. S. M. S. „Wörth“, Panzer I. Klasse mit 556 Mann Besatzung, hat alle Vorsichtsmaßregeln getroffen: ringsum sind 6 bis 8 m lange „Spieren-Stangen“ ausgelegt, an denen starke Drahtnetze hängen, die 5 bis 6 m tief in das Wasser hineinreichen. Nach allen Seiten hin entsenden die „Scheinwerfer“, die ja auch auf dem Festlande vielfach unter dem Namen Torpedosucher bekannt sind, ihre Garben elektrischen Lichtes. Aber schwarz angestrichen mit stumpfer Farbe (also nicht firnisglänzend) sind die Torpedoboote, alles ist düster an Bord, dunkle Kleidung trägt die Mannschaft, selbst Gesicht und Hände sind geschwärzt. Völlig lautlos schwärmen die Angreifer heran, und wie groß ist ihre Geschwindigkeit! Sie beträgt durchschnittlich 27 Knoten oder Seemeilen in der Stunde, und es sind bereits Torpedojäger von 33 Knoten Geschwindigkeit gebaut worden.

Jedoch die bewaffneten Augen der Offiziere auf dem „Wörth“ halten scharf Ausguck; der nahende Feind wird entdeckt, und die bereitstehende „Torpedowache“ eröffnet ein Höllenfeuer gegen ihn. Aus den gepanzerten Marsen (Mastkörben) krachen die Schnellfeuerkanonen, deren Granaten die Maschine des Torpedobootes trotz des geringen Schutzes durch die „Bunker“ (Kohlenlager) zerstören sollen; auf Deck bedient die Mannschaft die Marinegeschütze, einen Hagel von Kugeln entsendend. Wenn’s Ernst wäre! An den Masten steigen die Signallaternen empor: „Torpedoangriff abgeschlagen!“ Schon hat sich das Divisionsboot (in der Mitte unseres Bildes, mit D 4 bezeichnet) zu schleuniger Flucht gewendet, und seine nächsten Genossen thun ein Gleiches.

Doch sieh’ da, an einem der in Kiellinie folgenden Panzer ist der Drahtnetzschutz durch starken Wellenschlag „unklar geworden“, hat sich vielleicht gar in die Schraube verwickelt. Sofort erspäht ein Torpeder [644] die Lücke, die schon auf 200 m Entfernung die Möglichkeit des erfolgreichen Torpedolancierens gewährt … blitzschnell schießt er heran, und triumphierend verkündet eine aufsteigende farbige Rakete dem Divisionskommandant „Angriff gelungen“. Der Befehlshaber dieses Panzers aber gedenkt mit beträchtlich verlängertem Gesicht dessen, was ihm bevorsteht bei der dem Manöver folgenden „Kritik“.

Schwarzwälderinnen aus Schönwald. (Zu dem Bilde S. 629) Ueber Triberg auf einem Hochplateau liegt 993 m über dem Meeresspiegel Schönwald, das den Besuchern des Schwarzwalds als Luftkurort und Sommerfrische bekannt ist. In diesem Orte wird noch zuweilen die malerische Tracht getragen, die unser Bild darstellt. Die schwarzseidene Haube hinten mit roten und grünen in Seide gestickten Blumen sowie mit Goldstickerei verziert, steht den frischen Gesichtern vortrefflich. An dem Mieder fällt die reiche Verwendung von Blumenverzierung auf. Dasselbe besteht zumeist aus schwarzem Sammet mit gepreßten Blumen in gleicher Farbe, während der Brustlatz aus violetter Seide mit schwarzen gepreßten Sammetblumen oder auch aus schwarzem Sammet mit Blumen in Silberstickerei verfertigt ist. Ein reich verzierter Halskragen, ein stark gefältelter Rock aus grünem oder schwarzem Tuch, eine Lüfterschürze, weiße Strümpfe und niedere Schuhe vervollständigen die schmucke Landestracht.

Das erste deutsche Lehrerheim. (Mit Abbildung.) In Schreiberhau, dem bekannten schlesischen Luftkurorte im Kreise Hirschberg, ist im Laufe dieses Sommers das erste deutsche Lehrerheim eröffnet worden. Die Schöpfung verfolgt den Zweck, minder bemittelten deutschen Lehrern eine Stätte der Erholung zu bieten. Das vom Baumeister Reich im Villenstil errichtete Haus liegt in dem schönsten Teile von Schreiberhau, im Marienthal. In dem Erdgeschoß befinden sich Küchen- und Restaurationsräume, im ersten und zweiten Stock liegen die Fremdenzimmer und im Dachgeschoß ist neben den Wohnungen für das Dienstpersonal ein Massenquartier für reisende Seminaristen eingerichtet. Die Ausstattung des Hauses ist einfach, aber geschmackvoll. Die Schöpfung wird sicher ihren Zweck erfüllen und eine Stätte der Erholung und Erquickung für die Lehrer und ihre Angehörigen werden. Hoffen wir, daß diesem ersten deutschen Lehrerheim bald andere in anderen deutschen Gauen folgen werden.

Das deutsche Lehrerheim in Schreiberhau.
Nach einer Aufnahme von A. Kohlstock in Schreiberhau.

Die Heimkehr des Geliebten. (Zu dem Bilde S. 632 und 633). In die sturmbewegte Zeit, um die Wende des vorigen Jahrhunderts, versetzt uns das stimmungsvolle Bild. Die Kriegsfurie tobte damals in Europa und zerriß rücksichtslos die innigsten Bande. Dem Trommelklang folgte der junge Mann und die Braut sah ihm mit wundem Herzen nach. Eine schmerzvolle Trennung war es, denn während man auf Wiedersehen hoffte, nahm man Abschied fürs Leben. Jahr und Tag vergingen in steter Sorge und Erwartung; der Friede wurde geschlossen, aber von ihm kam keine Nachricht … er kehrte nicht wieder … Kriegersbraut! Mit wie viel Schmerz und Leiden, mit welchem Bangen und Hoffen ist dieses Glück verbunden. Doch siehe, das Leben bringt auch glückselige Ueberraschungen! Unverhofft öffnet sich die Thür zu dem trauten Wohngemach und der Verschollene aber nimmer Vergessene tritt ein. Nur die selbst das Weh der Trennung gekostet haben, wissen, wie glückbringend der Augenblick erscheint, in dem man den Geliebten wiedersieht! *      

Die Undinen. (Zu unserer Kunstbeilage.) Scharen von Geistern belebten nach dem Glauben der heidnischen Völker die Natur. Unsere Vorfahren nannten sie Elfen oder Elben und suchten sich im allgemeinen durch das Wirken dieser Wesen die Naturgewalten zu erklären. Auch das Wasser war von derartigen Wesen in der Phantasie des Volkes bevölkert. In Seen und Flüssen hausten Wassermänner und Wasserjungfrauen, die oft in die Geschicke der Menschen eingriffen. Der männliche Nix entführte menschliche Jungfrauen und hielt sie in seinem Kristallpalast in Wassertiefen geborgen; die weiblichen Nixen lockten Jünglinge und Männer in ihre Netze. In der Regel hatte die untere Hälfte ihres Körpers die Gestalt eines Fischschwanzes oder einer Schlange, aber wenn sie wollten, konnten sie in ganz menschlicher Gestalt von berückender Schönheit erscheinen, nur, daß alsdann ein Zipfel ihres Kleides immer naß blieb. Die Nixen lebten auch eine Zeit lang als Frauen ihrer Geliebten unter den Menschen, oft aber brachten sie ihnen Verderben, indem sie dieselben zuletzt doch ins Wasser zogen. Zahlreiche Sagen beschreiben das geheimnisvolle Wirken der Nixen und die Dichtkunst hat gleichfalls seit alter Zeit diese Wesen besungen. Im Mittelalter hat man diese Naturgeister des alten Volksglaubens zu ordnen versucht, und Gelehrte jener Zeit, wie z. B. Paracelsus, teilten sie nach den vier damals bekannten Elementen in vier Abteilungen. Geister, die das Element des Feuers belebten, hießen Salamander, die der Luft Sylphen, Geister, die in der Erde wirkten, nannte man Gnomen, und die Wassergeister erhielten den Namen Undinen, von dem lateinischen Worte unda, Welle. An die Undinen knüpfen sich ähnliche Sagen wie die über das Wirken der Nixen. Nach der Ueberlieferung von Paracelsus sind sie seelenlose Wesen, die erst durch ihre Vermählung mit einem Erdgeborenen eine Seele erhalten. In der Poesie haben die Undinen erst im Laufe dieses Jahrhunderts Heimatsrecht erworben, und zwar seit der Dichter der romantischen Schule Fouqué sein Märchen „Undine“ gedichtet hat und seitdem zahlreiche Komponisten, am glücklichsten und erfolgreichsten Lortzing, dies Märchen auf die Bühne gebracht haben, ja, bis in die neueste Zeil spuken die „Undinen“ in verschiedener Gestalt auf den weltbedeutenden Brettern und auch Rauhtändelein, die Elfe in dem Drama Gerhardt Hauptmanns „Die versunkene Glocke“ gehört dieser Sippschaft der Wasserjungfern an, wenngleich sie etwas anders geartet ist als die liebliche Undine Fouqués. Daß auch die Malerei sich diesen Sagenstoff nicht entgehen ließ, beweist unser Bild, welches mit seinen anmutigen Undinen, die sich dem schlummernden Ritter nähern, an die Verse in Heinrich Heines bekannter Romanze „Die Nixen“ erinnert:

„Am einsamen Strande plätschert die Flut,
Der Mond ist aufgegangen,
Auf weißer Düne der Ritter ruht,
Von bunten Träumen befangen.

Die schönen Nixen im Schleiergewand
Entsteigen der Meerestiefe,
Sie nahen sich dem jungen Fant,
Sie glauben wahrhaftig, er schliefe.

Der Maler hat es verstanden, die Poesie der Situation in äußerst anmutiger Weise darzustellen. Das Bild atmet den ewigen Zauber der stillen Wasserlandschaft, aus deren verborgenen Tiefen wie wallende Nebel die Märchengestalten emporsteigen. †      


manicula      Hierzu Kunstbeilage XX: „Die Undinen.“ Von M. Rieder.

Inhalt: [ Inhalt der Wochen-Nr. 38/1897 ]



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