Die Gartenlaube (1898)/Heft 15
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Schloß Josephsthal. Roman von Marie Bernhard (Anfang) | 453 | |
Die Puppen- und Trachtenausstellung in Neuwied. Von Moritz Schäfer. Mit Illustrationen nach Originalaufnahmen des Hofphotographen Karl Schipper-Wiesbaden |
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Der Kampf gegen den „Schwammspinner“ in Massachusetts. Von Professor Dr. Pabst. Mit Abbildungen | 462 | |
Marine-Erinnerungen. Von Wilhelm Jordan | 464 | |
Sommer im Korn. Gedicht von F. Vochazer. Mit Abbildung | 468 | |
Verhütung der Nervosität. Von Nervenarzt Dr. Otto Dornblüth | 468 | |
Eine neue Erklärung der Marskanäle | 471 | |
Die arme Kleine. Eine Familiengeschichte von Marie von Ebner-Eschenbach (8. Fortsetzung) | 472 | |
Das Schweizerische Landesmuseum in Zürich. Mit Abbildungen | 481 | |
Blätter und Blüten: Indischer Gaukler. Von Dr. K. Boeck (Mit Abbildung.) S. 483. – Gerettet. (Zu dem Bilde S. 456 und 457.) S. 483. – Ueberrascht. (Zu dem Bilde S. 465.) S. 484. – Die Heimkehr des Vaters. (Zu dem Bilde S. 469.) S. 484. – Im Märchenbanne. (Zu dem Bilde S. 473.) S. 484. – Urson, von Wölfen angegriffen. (Zu dem Bilde S. 477.) S. 484. | ||
Illustrationen: Carmen Sylva. S. 453. – Gerettet. Von R. F. Curry. S. 456 und 457. – Abbildungen zu dem Artikel „Die Puppen- und Trachtenausstelluug zu Neuwied“. Von Karl Schipper-Wiesbaden. Initiale. S. 460. Bojarenpaar, dahinter Sekretär mit Frau. Altrumänische Musiker. Französische Hochzeit unter dem „Direktorium“. S. 461. Deutsche Trachten: Mann mit Gugel und Schecke. Schellentracht. Zaddeltracht. S. 462. – Abbildungen zu dem Artikel „Der Kampf gegen den ‚Schwammspinner‘ in Massachusetts“. Schwammspinner. (Männchen.) Schwammspinner. (Weibchen.) Puppe und Raupe des Schwammspinners. S. 463. – Ueberrascht. Von H. Vogler. S. 465. – Sommer im Korn. S. 468. – Die Heimkehr des Vaters. Von A. Guillou. S. 469. – Im Märchenbanne. Von E. Adan. S. 473. – Urson, von Wölfen angegriffen. Von F. Specht. S. 477. – Das Schweizerische Landesmuseum in Zürich. S. 481. Gruppe aus dem Festzug in Zürich: Leute aus Evolena in Wallis auf der Alpfahrt. S. 482. – Ein indischer Gaukler. Von Dr. K. Boeck. S. 483. – Regenwetter. Von E. Unger. S. 484. |
Die deutsche Turnwelt konnte am 10. Juni den siebzigsten Geburtstag eines Mannes begehen, der sich um die Förderung und Hebung des Turnens namentlich im deutschen Süden ganz wesentliche Verdienste erworben hat. Im Jahre 1828 wurde an diesem Tage zu Bürg a. K.
in Württemberg Otto Heinrich Jäger geboren, als Sohn eines um die schwäbische Geschichtsforschung verdienten Pfarrers. Schon als Tübinger Student war Jäger ein Führer der schwäbischen Turnerschaft, und mit einer Preisarbeit über die Gymnastik der Hellenen errang er den Doktorgrad. Diese Untersuchungen über die hervorragende Bedeutung des Turnens für die leibliche und geistige Bildung des ersten Kulturvolks der Alten Welt wurden zur Grundlage für eine reformatorische Thätigkeit, in welcher Jäger fortan die Hauptaufgabe seines Lebens erblickte. Nach dem Vorbild der „hellenischen Turnerei“ suchte er das deutsche Turnen zu läutern, zu vereinfachen und zu entwickeln. Mit Erfolg befürwortete er die Uebungen mit dem Eisenstab, die Fußgymnastik in Marsch, Lauf und Sprung im Gegensatz zu einer einseitigen Pflege des Turnens an den Geräten. Konnte es ihm bei dem Eifer, mit welchem er seine Ideen in Wort und Schrift, in der „Neuen Turnschule“, den „Bergpredigten“, verfocht, an Widerspruch auch in Turnerkreisen nicht fehlen, so fanden seine Bestrebungen, dem Turnen im Schuluntericht eine seiner Bedeutung entsprechende Berücksichtigung zu erkämpfen, allgemeine Anerkennung.
Sein Heimatland bot ihm Gelegenheit, im Geiste seiner Ideen auf breiter Basis auch praktisch zu wirken. Nachdem er sich 1852 in Tübingen als Privatdocent für Pädagogik, Philosophie und Philologie habilitiert hatte, war er schon 1854 einem Rufe als Turnlehrer an die Kantonalschule in Zürich gefolgt, wo er von 1857 an wieder als Professor der Pädagogik und praktischen Philosophie wirkte. Da wurde er Anfang 1862 als erster Hauptlehrer an die neugegründete Turnlehrerbildungsanstalt nach Stuttgart berufen, zu deren Vorstand er später ernannt ward. Bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1890 blieb er in dieser Stellung. Gegenwärtig lebt er in Nymphenburg bei München, noch immer die Feder führend mit ungebrochener Begeisterung für das Ideal einer Neuschöpfung des gesamten Jugenderziehungswesens im Geiste der Harmonie zwischen den leiblichen und geistigen Lebenselementen, wie sie bei den Griechen bestand.
Die Lotosblume. In der Benennnng der Pflanzen herrschte von je her eine große Verwirrung: das zeigt uns auch der Name Lotos, an den sich so viele Sagen und Mythen knüpfen. Zu verschiedenen Zeiten wurden mit ihm verschiedene Pflanzen bezeichnet. Die Griechen benannten mit ihm einige Gewächse, deren süße Früchte als Nahrung dienten. In Aegypten und Indien bezeichnet dagegen der Name einige prächtige Wasserrosen. Die berühmteste unter ihnen ist die indische Lotosblume (Nelumbium speciosum), die von den Hindus verehrt und förmlich angebetet wird. Auf einem Lotos soll ja der Weltenschöpfer ruhen, und die Blume selbst gilt den Indiern als ein Sinnbild der Erde. Bei uns trifft man die heilige Lotosblume nur in größeren Herrschaftshäusern und botanischen Gärten an, denn sie ist neben der Victoria regia die königlichste unter den Wasserrosen und verlangt viel Raum und große Wärme zum Gedeihen. Während bei Victoria regia Blätter und Blumen auf dem Wasser schwimmen, treibt der Lotos aus einem kriechenden Stamme lange, rohrartige, bis 2 m hohe Blattstiele, auf denen die kreisrunden, in der Mitte vertieften, mit einem wachsartigen blauen Hauch überzogenen Blätter sich befinden. Die Blüten stehen ebenfalls auf mächtigen Stielen, überragen ein wenig die Blätter, sind von wunderbarer Form und Farbenpracht und strömen einen köstlichen Wohlgeruch aus.
Die Früchte des Nelumbium speciosum bilden Samenkörner von der Größe einer Eichel; sie werden von den Eingeborenen als Nahrungsmittel verwendet. Man hat gegenwärtig eine ganze Anzahl herrlicher Varietäten dieser Pflanze gezüchtet, unter welchen namentlich eine Abart, Nelumbium roseum plenum, die in den Gewächshäusern des Neuen Palais in Darmstadt letzten Sommer gezogen wurde, hervorzuheben ist. L. Dittmann.
Weiße und elfenbeinfarbige Sommerkleider zu reinigen. Die leichten weißen Sommerkleider aus Wollstoff lassen sich auf trockenem Wege ganz vortrefflich reinigen. Anfänglich, wenn sie nur ganz leicht angeschmutzt sind, ist Kartoffelmehl das beste Säuberungsmittel. Man erhitzt das Kartoffelmehl und wäscht förmlich das Kleid darin durch, hängt es dann ins Freie und klopft und bürstet es so lange, bis alles Mehl entfernt ist. Sind aber die Kleider schon mehreremal auf diese Weise gereinigt, so genügt allmählich das Kartoffelmehl nicht mehr, um eine vollständige Auffrischung zu erreichen; dann sind Abfälle weißen Glacéleders, die man billig in jeder Handschuhfabrik erstehen kann, ein vorzügliches Mittel zum Säubern. Man zieht dazu das Kleid über ein sauberes Bügelbrett oder über einen passenden, mit reinem Tuch bedeckten Tisch und reibt mit dem zusammengeballten Lederstückchen das Kleid gleichmäßig ab, die schmutzigen Stücke durch reine stets ersetzend. Dann taucht man eine tadellos saubere Bürste in heißes Kartoffelmehl und bürstet das Kleid damit nach.
Man kann, wenn man die Reinigung der hellen Kleider rechtzeitig vornimmt, diese den ganzen Sommer tragen, ohne sie in die chemische Waschanstalt schicken zu müssen.L. H.
Praktische Winke für den Geflügeleinkauf. Jungen Hausmüttern pflegt der Einkauf des verschiedenen Geflügels manche Verlegenheit und oftmaligen „Reinfall“ auf alte Tiere an Stelle junger Exemplare zu bereiten, so daß einige kurze Winke für den Geflügeleinkauf wohl angebracht erscheinen. Wo es irgend angeht, sollte die Hausfrau lebendes Geflügel kaufen, sie kann dann sicher sein, gesunde Tiere zu erhalten, während es bei geschlachtetem Geflügel gar nicht zu den ausgeschlossenen Dingen gehört, daß auch an Krankheit eingegangene Tiere in den Handel gebracht werden, denen die Schlachtwunde nach dem Tode beigebracht wurde. Beim Einkauf lebenden Geflügels achte die Hausfrau darauf, daß gesunde Tiere helle, glänzende Augen ohne kahle Ringe haben, daß ihr Gefieder glatt anliegt und kein zerzaustes Aussehen zeigt, daß die Bewegungen lebhaft sind und der Kamm lebhaft rot aussieht. – Kauft man dagegen geschlachtetes Gefieder, so muß die Tötungswunde vor allem aufmerksam untersucht werden, klafft sie nicht mit ihren Rändern nach außen, so sehe man vom Einkauf ab. Der Schnabel der Tiere darf nicht verfärbt, die Haut muß weiß und das Fleisch muß kernig sein: zeigt der Schnabel eine grauweiße, die Haut dagegen ein bläuliches Aussehen und eine schleimige Beschaffenheit, so sollte selbst bei billigstem Preise, der bei solchen Tieren meist als Köder gebraucht wird, keine Hausfrau solch Geflügel kaufen. – Außer auf die Kennzeichen der Gesundheit muß die Hausmutter auch Rücksicht auf das Alter der Tiere nehmen; junges Geflügel ist gebraten, mittelaltes gedünstet, altes aber gekocht zuzubereiten. – Sichere Kennzeichen der Jugend der Tiere sind leicht einzubiegende Brustknochen, Zartheit und Weiße der Haut, Schlankheit des Körperbaus und heller Schnabel, sowie helle Beinhaut. Alte Tiere – nur der Puter macht eine Ausnahme – haben immer eine dunkle und sehr harte Hornhaut an den Beinen. Bei dem fetten Geflügel, wie Ente und Gans, ist vor allem die Zartheit der Brusthaut ein sicheres Kennzeichen; gelingt es ohne Schwierigkeit, einen Stecknadelknopf durch die Brusthaut zu drücken, so kann man ihrer Jugend sicher sein. Bei Kenntnis dieser einfachen Kennzeichen dürfte es gewissenlosen Händlern schwer werden, schlechte Ware an die Käuferin zu bringen.
Obstkuchen, der sich tagelang frisch erhält. 3 große Eier, 3 Eier schwer feingesiebter Zucker, 2 Eier schwer Mehl, 1 Ei schwer frische Butter. Eigelb und Zucker werden 1/4 Stunde lang tüchtig gerührt, darauf der Schnee der Eier dazu gegeben, stark weiter gerührt, bis der Teig wieder dick ist. Dann wird langsam das Mehl darunter gesiebt, und zuletzt die zerschmolzene Butter hineingerührt. Die Butter darf nicht mehr heiß sein. Nun füllt man die Masse in eine mit Butter gestrichene und gut ausgestreute Springform, belegt den Teig rasch, je nach der Jahreszeit, mit Kirschen, Zwetschen oder saftigen Apfelschnitzen und backt die Torte bei mäßiger Hitze schön goldbraun. Der Teig ist so leicht, daß das Obst während des Backens darin versinkt und infolgedessen sehr schmackhaft bleibt. Die Torte sollte erst am folgenden Tag gegessen werden, da sich dann der Saft der Früchte dem ganzen Teig mitgeteilt haben wird. B.
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Halbheft 15. | 1898. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Das Hausmädchen des Professor Laurentius kam ins Wohnzimmer und brachte ihrem Herrn die Abendzeitung. Sie kam und ging auf leisen Sohlen, hütete sich sorgsam, irgendwo anzustoßen; an der Thür blickte sie noch einmal zurück in das behagliche Zimmer, in dem die große Hängelampe so hellen Schein verbreitete. Sonst war der Professor dem Mädchen stets entgegengeeilt, hatte das von Druckerschwärze noch feuchte Blatt aus ihrer Hand genommen und häufig genug schon im Stehen begonnen zu lesen. Heute ließ er Bertha bis zum Tisch kommen, hatte keine Antwort auf ihre geflüsterte Frage wegen der Stunde des Abendessens und winkte nur mechanisch – – – ja, ja, es sei gut – schon gut – und sie könne gehen!
Leise legte sich die Thür ins Schloß. Der Professor saß, den Kopf in die Hand gestützt, und starrte mit zusammengezogenen Brauen ins Lampenlicht. Es war, als horchte er.
Hinter seinem Rücken teilten sich die dicken, dunklen Thürvorhänge – eine blonde Frau trat näher. Ein ungewöhnlich sympathisches Gesicht hatte sie, gute und kluge blaue Augen, die viel verstehen gelernt haben mußten. Nicht mehr sehr jung und durchaus nicht schön – aber wenn die Leute, die sie kannten, so häufig von ihr sagten „die reizende Frau“, so waren sie in ihrem Recht.
Ihre blauen Augen hatten eben geweint, man sah es deutlich, aber um die Lippen legte sich ein weiches Lächeln. Die Frau trat von rückwärts her lautlos an ihren Mann heran und schlang ihm beide Arme um den Hals.
Er fuhr herum, seine Augen trafen in die ihrigen.
„Maria –“ begann er atemlos.
Sie neigte sich ganz zu ihm hernieder.
„Außer jeder Gefahr!“ flüsterte sie dicht an seinem Ohr. „Die Operation ist nicht nötig!“
Wieder quollen ihr die Augen über, die Thränen fielen rasch und dicht in ihres Mannes Haar. Der Professor sagte kein einziges Wort, er atmete nur ganz tief auf, wie ein Mensch, der den Druck einer namenlosen Angst sich von der Seele wälzen will, und lehnte sein Haupt gegen den Arm seiner Frau. Die Lippen zitterten ihm, er konnte nicht reden. Wozu denn auch? Maria wußte ja, wie ihm zu Mute war.
„Komm!“ Sie zog ihn empor und mit sich ins andere Zimmer; sie mußte ihm doch ausführlicher erzählen.
Auch hier, in diesem Raum, brannte eine Hängelampe. Ihr Licht fiel auf Bücher, Bücher ohne Zahl und Ende, in jeder Größe, in jedem Einband. Eine Gelehrtenwerkstatt, wie man sie sich besser kaum denken kann!
Hand in Hand saßen die zwei auf dem weichen, braunen Ledersofa.
„Also,“ begann die Frau mit leiser Stimme, in der die Erregung noch nachzitterte, „unser Doktor kam und brachte den andern mit, den berühmten Chirurgen. Sie hoben Werner aus dem Bett, wickelten ihn in Decken und legten ihn auf den großen Tisch – dort konnten sie besser sehen. Ich leuchtete ihnen mit der Lampe!“
Der Professor faßte die Hand seiner Frau fester und küßte sie drei-, viermal hintereinander.
„Du hast viel, viel mehr Mut und Kraft als ich! Ich hätte das nicht gekonnt!“
„Nein,“ sagte sie weich, „du nicht, mein armer, lieber Mann. Das ist Sache einer Mutter.“
„Nun – und – –“
[454] „Sie haben gründlich untersucht, der eine, wie der andere. Dann hat der große Mann ein paar lateinische Worte zu unserm Doktor gesagt – ach, Ernst, daß ich die paar lateinischen Worte nicht verstand! An denen hing für mich nun die Entscheidung, und ich mußte warten – eine – zwei Minuten warten, bis sie mir’s übersetzten. Gott, wie unwissend ist solch’ eine Frau!“
„Du, Maria – und unwissend!“
„Doch, doch! Sie haben es mir dann endlich auf gut Deutsch gesagt: operieren wäre ganz unnütz, es sei viel, viel besser, keine Gefahr mehr – das bißchen Belag in der Rachenhöhle nicht mehr der Rede wert – das Fieber bedeutend zurückgegangen. Nur noch fleißig gurgeln und spülen mit einer neuen Lösung, die der Professor aufschrieb – und wie der zu Kindern reden kann, Ernst! Er hat Werner gesagt, er hätt’ auch einen Jungen von zehn Jahren, aber nicht so groß und stark wie unserer, und unserer hat gesagt, der sollte ihn nur besuchen, und hat dann erzählt, daß er in Quinta Fünfter wäre und im nächsten Semester versetzt würde – wie zwei alte Freunde waren sie, und unser Doktor stand dabei und lachte über sein ganzes gutes Gesicht!“
„Und jetzt? Wie steht es jetzt?“
„Werner war ein bißchen müde nach der Untersuchung; der Professor meinte, er würde bald schlafen. Denk dir, er nahm den schweren Jungen auf den Arm und schleppte ihn selbst ins Bett zurück. So ein berühmter Mann!“
„Berühmte Männer sind auch Väter und Menschen!“
„Ja, gottlob, dies war ein solcher. Er hat noch dies und das zu mir gesagt, aber es betraf nicht den Jungen, und so weiß ich nicht mehr, was es gewesen ist. Mit meinen Gedanken war ich schon immer bei dir und deiner Angst. Wie sie dann fort waren, hab’ ich mich neben Werners Bett gesetzt, und er hat gleich gebeten: ‚Geh’ doch zu Papa und sag’ ihm, daß es mir gut geht und daß sie mich nicht schneiden werden!‘“
„Mein guter, guter Junge! Das hat er gesagt?“
„Ja, aber ihm fielen beinahe schon die Augen zu vor Mattigkeit. Da blieb ich doch noch, bis er einschlief, und jetzt ist Betty bei ihm. So, jetzt weißt du alles! Ach, ich bin Gott so dankbar!“
Sie faltete ihre Hände über denen ihres Mannes zusammen und neigte das Haupt. Er küßte ihr blondes Haar, und nun war es eine kleine Weile still im Zimmer. Draußen ging in leisem Klagen der Tauwind. Der Februar hatte scharfe Kälte gebracht, die war jetzt umgeschlagen, aber der Winter hielt darum doch sein weißes Scepter in Händen. Es schneite in großen Flocken, und zuweilen klang Schellenläuten in das stille Studierzimmer hinein.
Frau Maria richtete sich auf. „Daß ich’s ja nicht vergesse! Ich hab’ es Alix in die Hand gelobt, ihr heute abend noch Botschaft zu schicken. Bertha muß hinüberlaufen. Unser Elschen, so klein es noch ist mit seinen sechs Jahren, hat auch geweint und gesagt, es will immer wissen, wie es Werner geht – ich glaube, das arme kleine Ding wird sich sehr bangen, trotzdem Alix bei ihm ist!“
„Und Alix selbst ist ungern fortgegangen!“
„Ich hab’ sogar meine ganze Autorität aufbieten müssen, damit sie überhaupt ging. Aber ich bitte dich, die Verantwortung kann ich doch nicht auf mich nehmen, sie hier zu behalten und der Ansteckungsgefahr auszusetzen! Die Menschen sehen ja zumeist nur die Pensionärin in ihr, die ein so glänzendes Jahrgeld zahlt, um die mich alle Kollegenfrauen beneiden …. wie fest sie mir aber als mein Pflegekind ans Herz gewachsen ist, das weiß keiner!“
„Außer mir, Maria!“
„Außer dir, versteht sich! Ich kann mir meinen Hausstand ohne Alix gar nicht mehr denken!“
„Versuch’ es lieber, es dennoch zu thun! Ein junges, schönes und schwer reiches Mädchen wie Alix wird doch immer über kurz oder lang heiraten – oder es erscheint eines schönen Tages ihr Vater und fordert sie zurück.“
„Ach, der wird sich wohl hüten, zu erscheinen! Was soll er denn mit ihr? Der seinen Kopf so voll von Projekten hat! Der kaum weiß, daß er eine einzige Tochter hat, und dem diese Thatsache, wenn er sich auf sie besinnt, höchstens unbequem ist! Und heiraten! Hat sie’s bis jetzt nicht gethan, ist auch weiter die Gefahr nicht so groß – – Herrgott, wie kann man so ungestüm klingeln!“
Beide Gatten lauschten stumm hinaus. Das heftige Läuten wiederholte sich nicht, wohl aber pochte es diskret an die Thür.
„Das ist Berthas Klopfen. Nun, Bertha?“
Das Mädchen schlich, wie zuvor, auf den Fußspitzen herein und reichte ihrer Herrschaft ein Telegramm.
„Der Depeschenbote war’s. Für unser gnädiges Fräulein. Soll ich es ihr hintragen?“
„Aus Josephsthal.“ Der Professor drehte das zusammengelegte Blättchen unschlüssig hin und her.
„Am Ende meldet ihr Vater seine Ankunft!“
„Jetzt?“
„Allerdings ist er um diese Zeit noch nie gekommen. Vielleicht …. gehen Sie einstweilen, Bertha – – was möchten Sie noch?“
„Bloß – bloß möcht’ ich wissen“ – die frische, hübsche Frankfurterin zerdrückte vor Verlegenheit erbarmungslos die steifgebügelte schneeweiße Schürze – „bloß, wie’s unserm Wernerchen geht!“
„Besser, viel besser, gottlob, Bertha!“
„Und sie werden ihm nicht innen im Hals schneiden?“
„Nein, das ist nicht mehr nötig!“
„Ach, ich dank denn auch viele Male!“ Bertha sagte dies so strahlenden Angesichts, als hätte sie das schönste Geschenk erhalten. „Und wenn ich zum gnädigen Fräulein gehen soll …. ich kann gleich laufen!“
„Ist nicht nötig!“ sagte eine Stimme hinter ihr. „Das gnädige Fräulein ist selbst zur Stelle!“
„Alix, Alix!“ rief Frau Laurentius erschrocken und streckte die Hand vor, als wollte sie die Eintretende von sich abwehren.
„Nun, was denn, mein Gott? Mir hat’s keine Ruhe gelassen, und Bertha blieb mir zu lange aus – ich mußte selbst kommen, nach dem Jungen fragen. Wegen Else braucht ihr nicht bange zu sein – ich bin zu Fuß gekommen, direkt durchs ganze Schneegestöber gelaufen und ebenso geh’ ich zurück. Kann mich auch noch mit irgend ’nem Zeug desinfizieren, wenn euch das beruhigt!“
„Nicht Elschens wegen allein! Du selbst, Kind –“
„Ich?“ Das Mädchen lachte trotzig auf. „Als ob ich’s nicht bewiesen hätte, daß ich gefeit bin gegen jede Ansteckung. Denk doch daran, wie Else Scharlach hatte …. Sag’ mir aber endlich Bescheid, Maria – daß es viel besser geht, seh’ ich euch beiden sofort an den Gesichtern an, also – was hat der große Mann der Wissenschaft gesagt?“
„Geduld, Geduld, Kind!“ sagte der Professor. „Hier ist eine Depesche für Sie – wollen Sie nicht zuerst –“
„Ach, bewahre!“ machte sie gleichgültig. „Das wissen Sie doch, wie oft Papa mir depeschiert, es spart ihm die Zeit fürs Briefeschreiben. Also, nun sag’ mir alles, Maria, ja?“
Das that die Professorin. Und während sie sprach und in ihrer anschaulichen Manier lebhaft schilderte, kam ein warmes Licht in die dunkelblauen Augen ihrer Zuhörerin, wunderschöne, länglich geschnittene Augen, die unter dunklen Brauen lagen.
„Nun, gottlob! Ich war immer mit meinen Gedanken hier! Weißt du, mit dem Ausquartieren ist das eine schauerliche Sache – man steht noch zehnmal mehr Angst aus, wenn man fern sein muß, als wenn man dabei sein kann!“
„Du läßt dich ja gar nicht fernhalten!“
„Nein! Thu’ ich auch nicht! Ich bin überhaupt bloß Elses wegen fortgegangen. Bekomm’ ich keinen Kuß, Maria?“
„Alix, wirklich, du mußt verständig sein! Ich war doch eben erst bei Werner, habe mich freilich vorgesehen, aber es könnte –“
„Schön, schön! ‚Zur Liebe kann ich dich nicht zwingen!‘ Denken wir an Else! Sie ist übrigens munter, die kleine Maus; ich hab’ ihr’s natürlich nicht gesagt, daß ich herging, sonst hätte sie geweint und mitgewollt. Sie redet immerzu von euch und von Werner und will für ihn sehr viel Chokolade und bunte Bildchen aufheben – wenn sie es durchsetzt nota bene! Die Leute sind alle sehr gut zu ihr; denen ist solch’ kleines Mädchen wie ein neues Spielzeug!“
„Verwöhnt mir nur meine Tochter nicht!“ mahnte der Professor. „Aber nun – Ihr Telegramm – wollen Sie es jetzt nicht öffnen, Alix?“
Er reichte es ihr hin, sie riß die Marke los, schlug das Blatt auseinander und sah lächelnd hinein. Das Lächeln wich alsbald von ihrem Gesicht, wie sie las – es war ein längeres Telegramm.
Der Professor sah das und wollte fragen; seine Frau machte ihm ein Zeichen, still zu bleiben. Mit Sorge beobachtete sie, wie sich des Mädchens Brauen während des Lesens aneinanderrückten, [455] wie die vollen Lippen sich zusammenpreßten. Unwillkürlich griff Maria nach ihres Mannes Hand und hielt sich daran fest.
Alix mußte die Depesche nochmals überlesen; es dauerte lange, ehe sie das Blatt ihrer älteren Freundin hinreichte. Sie sagte kein Wort dazu.
Das Ehepaar blickte gleichzeitig in das offene Blatt.
„Fräulein Alexandra von Hofmann. Frankfurt am Main.
Ihr Herr Vater leider verunglückt. Schwere Kopfwunde. Zustand bedenklich. Beste Aerzte sofort aufgeboten. Alles Erforderliche veranlaßt. Pflege und Wartung vortrefflich. Patient ohne Besinnung. Aerzte vorläufig außerstande, endgültige Diagnose zu stellen. Jedenfalls bitte nicht eher abzureisen, als bis Brief eintrifft. Ueberweg.“
Keines von den dreien sprach zunächst. In der tiefen Stille, die im Zimmer herrschte, hörte man deutlich, wie draußen ein Windstoß eine ganze Ladung von Schneeflocken gegen die Fensterscheiben warf.
Der Professor brach endlich das Schweigen.
„Fassen Sie Mut, Alix!“ sagte er mit gedämpfter Stimme. „Es ist vielleicht nicht so schlimm. Nähere Angaben fehlen – die wird der Brief enthalten. Auf jeden Fall müssen Sie bleiben, bis der Brief eingetroffen ist – er muß alles entscheiden!“
Halb mechanisch nickte das junge Mädchen. „Ja – – den werd’ ich abwarten müssen.“ Nach einer Pause fügte sie mit etwas belebterer Stimme hinzu: „Wann kann er hier sein?“
„Lassen Sie mich sehen, wann die Depesche aufgegeben ist. Halb sechs Uhr nachmittags; jetzt haben wir gleich Sieben. Das – das – Unglück kann vielleicht um zwei Uhr geschehen sein. Wie gut, daß der alte Rechtsbeistand Ihres Vaters aus Greifswald zufällig gerade in Josephsthal war! Der Justizrat hat erst depeschiert, als alle Maßregeln getroffen, Aerzte zur Stelle waren, das nimmt schon Zeit in Anspruch. Jedenfalls hat er seinen Brief inzwischen geschrieben und schickt ihn mit dem Nachtschnellzug fort. Morgen früh um Acht können wir ihn hier haben.“
„Und du würdest dann mit dem Neunuhrzug fahren und wärest abends sieben Uhr an Ort und Stelle.“
„Ja – morgen um diese Zeit!“ sagte Alix tonlos.
Der Professor stand auf. „Ich lasse Sie jetzt bei meiner Frau, liebe Alix; muß doch endlich nach meinem Jungen sehen. Keine Angst, Maria, ich weck’ ihn dir nicht auf!“
Er drückte dem jungen Mädchen fest und bedeutsam die Hand und ging aus dem Zimmer. Es war nur ein Vorwand gewesen; er ließ seinen Knaben ruhig schlafen und ging in das kleine Boudoir seiner Frau hinüber, in dem eine rosa verschleierte Lampe brannte. Vom Bücherbrett nahm er auf gut Glück ein Buch herunter und setzte sich damit in einen der tiefen niedrigen Sessel, die umherstanden. Seine Frau und Alix sollten jetzt allein miteinander sein. – – Die Professorin hielt die feine Hand ihrer jungen Gefährtin, die vor Schreck kalt geworden war. Sie hatte eigentümlich beseelte Hände; fest und zuverlässig im Druck, lind und sanft, wenn es Leidende anzufassen galt, geschickt und tüchtig zu jeder Hantierung – „Segenshände“ hatte der Gatte sie getauft.
Unbewußt empfand das verstörte junge Geschöpf den Einfluß dieser Berührung. Alix hob den Kopf und sah empor.
„Ach, Maria, die Ungewißheit – die Ungewißheit! Das ist das schlimmste! Wenn ich heute noch reiste – was meinst du?“
„Nein, Kind! Kannst du wissen, was im Brief steht? Ob nicht irgend welche Bestimmung –“
„Ach, reisen würd’ ich ja auf jeden Fall, selbst wenn es im Brief heißen würde, es ginge besser – nur nicht warten!“
„Ueberweg ist eine vorsichtige Natur. Er wird gewußt haben, was er that, als er dir so bestimmt zu warten anriet.“
„Warten! Ein entsetzliches Wort! Vielleicht, Maria – vielleicht ist Papa schon tot!“
„Gott woll’ es verhüten! In dem Fall bekämst du sicher ein zweites Telegramm. Mein geliebtes Herzenskind!“
Sie faßte das Mädchengesicht in ihre beiden Hände und drückte einen innigen Kuß auf die leise zuckenden Lippen. Jetzt dachte sie nicht mehr an eine mögliche Ansteckung.
„Du bleibst selbstverständlich diese Nacht hier. Ich schicke Bertha hinüber und lasse Françoise Bescheid sagen.“
„Das wolltest du? Und Else –“
„Else geht um sieben Uhr zu Bett, du weißt ja – und ist im übrigen gut dort aufgehoben, das hast du mir selbst gesagt. Ich bleibe bei dir, bis du eingeschlafen bist, dann setz’ ich mich an Werners Bett, und von Zeit zu Zeit komm’ ich, nach dir sehen.“
„Du willst aufbleiben? Aber die Aerzte haben dir gesagt –“
„Daß es besser geht – ja, Gott sei Dank! Aber große Vorsicht und strenge Ueberwachung ist doch nötig … und bei einem so lebhaften Kind wie Werner doppelt. Ach, Liebste, daß sich dies so treffen muß – daß ich nicht mit dir reisen kann! Wirst du mir auch stark und tapfer sein bei allem Schweren, das dich voraussichtlich erwartet?“
Mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, den wohl niemand, außer Frau Maria, richtig zu deuten gewußt hätte, nickte Alix vor sich hin. „Es muß ja sein! Du wirst doch nicht all diese Jahre umsonst versucht haben, etwas – etwas wenigstens von deinem Charakter auf mich zu übertragen!“
„Als du deinen Vater das letzte Mal sahst,“ begann die Professorin nach einer kurzen Stille, „wie war er da? Fandest du ihn unverändert? Rüstig, wie sonst?“
Alix drehte mechanisch die Depesche hin und her. „Das letzte Mal als ich ihn sah? Das war in London, bei unsern englischen Verwandten – im September vergangenen Jahres. Ich hatte gedacht, er wär’ um meinetwillen herübergekommen, um mich endlich, nach beinahe zwei Jahren, wiederzusehen; aber – du weißt es ja, ich schrieb es dir! – die Geschäfte waren wieder einmal die Hauptsache. Er wollte mit Onkel John, vor allem mit Vetter Cecil Verbindungen anknüpfen, und daß ich gerade dort zum Besuch war, gab ihm den willkommensten Vorwand –“
„Alix!“
„Wem zuliebe soll ich die Wahrheit fälschen – mir zuliebe – dir oder ihm, der jetzt vielleicht auf seinem Totenbett – –“
Sie war aufgesprungen, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte nun endlich die leidenschaftlichen Thränen, die dies eigenartige Wesen so schwer fand.
Maria ließ sie weinen. Sie hob die zu Boden gefallene Depesche auf, und ihr Blick blieb an den Worten haften: „Zustand bedenklich!“
„Was habe ich von meinem Vater gehabt, solange ich lebe?“ kam es stoßweise und gepreßt über des Mädchens Lippen. „Was hat er von mir gehabt – haben wollen? Ob ich ihn unverändert fand damals vor einem halben Jahr, hast du gefragt. Aeußerlich sah er aus wie immer – – – aber innerlich? Was weiß ich davon? Und wenn er in dieser Stunde hinübergeht – mir ist sein Geist und seine Seele fremd geblieben, und ich muß sagen: ich habe meinen Vater nicht gekannt! Du weißt, ich kann nicht lügen, und meine Art und Weise mag wohl nicht die rechte gewesen sein – versucht hab’ ich es redlich, ihm näher zu kommen, aber ich konnte und konnte nicht den Weg zu ihm finden!“
Ach, was hätte die gute und kluge Frau darum gegeben, dem Mädchen widersprechen zu können, das selbst ihr so selten die Tiefen dieser Herzensbitterkeit erschloß, von welcher der herbe Zug in seinem sonst so jugendfrischen Wesen stammte! Dem jungen Geschöpf in dem Bilde, das es mit wenigen Strichen so düster malte, einen Lichtblick weisen zu können, der verklärte, versöhnte! Sie suchte umsonst in ihrer Erinnerung. Niemals hatte der Mann, in dessen Haus sie jahrelang gelebt, dessen Kind sie erzogen, eine Empfindung geäußert, die einem liebevollen Herzen entsprang. Später hatte er sie dann und wann pflichtschuldigst aufgesucht und mit einem beinahe fürstlichen Geschenk bedacht, abgesehen von dem reichen Jahrgeld, das er für seine Tochter zahlte …. immer aber war er der wortkarge, zugeknöpfte Geldmensch geblieben.
Er hatte als Geschäftsmann Ungeheures geleistet – hatte sich vom einfachen Mühlenbesitzer in verhältnismäßig kurzer Zeit hinaufgeschwungen zu einem der ersten Großindustriellen seines Landes, er war in den Landtag gewählt worden und in den Reichstag, hatte den Adel und zahlreiche Orden bekommen, war von hohen und höchsten Personen ausgezeichnet worden in jeder Weise – – – seinem einzigen Kind und dessen bester Freundin war er ein fremder Mann geblieben, und alle Annäherungsversuche, offene und versteckte, ungestüme und zarte, sie prallten ab an der unnahbaren Glätte und Kälte dieses Mannes, dem die Ziffer alles war, dem Empfindungen nichts weiter bedeuteten als einen überflüssigen Ballast, der am rüstigen Weiterschwimmen
[456][457] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [458] hindert. Seine Gattin, Tochter eines verarmten Grafengeschlechtes, war ihm nur Mittel zu dem Zweck gewesen, sich eine Stellung in der Welt zu machen. Die ungeheure Enttäuschung, die sie dem Gatten bereitete, als sie ihm statt des erhofften Sohnes und Erben eine Tochter schenkte, verzieh er ihr nie, verzieh er auch dem Kinde nicht, das ihm zeitlebens als eine Art Eindringling erschien. Nachdem die Frau gestorben war im zehnten Jahre ihrer glücklosen Ehe, fand der Witwer keine Muße mehr, sich nochmals zu verheiraten. Er brachte Alexandra zu ihrer einstigen Erzieherin, die inzwischen Frau Professor Laurentius geworden war, und nun konnte er seine volle Kraft dem Unternehmen widmen, das den Angelpunkt seines Lebens bildete. Für das Kind blieb nichts – nichts als eine stets offene Hand, die schenkte und immer nur schenkte, als könne sie damit die Armut zudecken, die im Herzen wohnte. Spät erst, sehr spät hatte Alix es aufgegeben, an dies Herz zu appellieren – stolz und verbittert zog sie sich dann in sich selbst zurück, und wer sie wenig kannte, mußte sie oft launenhaft und unliebenswürdig finden. Frau Maria aber, die den Wuchs dieser dornigen Rose bis zur Wurzel verfolgte, wußte es freilich besser.
Sie schliefen diese Nacht alle nicht viel im Hause des Professors Laurentius. Nur der Knabe hatte ein paar Stunden tiefen, ungestörten Schlummers und ahnte es nicht, daß seine Eltern abwechselnd neben seinem Bett saßen und mit stiller Rührung sein etwas schmal und blaß gewordenes Gesicht betrachteten. Ein gutes, offenes Kindergesicht war es, mit den einnehmenden Zügen der Mutter.
Bald nach ein Uhr wurde der kleine Patient unruhiger, er warf sich im Schlaf von einer Seite zur andern und murmelte unverständliche Worte. Immer aber, wenn er die traumumflorten Augen für ein paar Sekunden öffnete, sah er seine Mutter oder seinen Vater neben sich, und dann spielte ein schwaches, beruhigtes Lächeln um seinen Mund: er wußte sich geborgen in der Obhut seiner Eltern!
Wenn Frau Maria ihrem Gatten den Platz am Bett des Knaben einräumte, so geschah das, weil sie nach ihrer Pflegetochter sehen mußte, die ihr kaum weniger ans Herz gewachsen war als der eigene Sohn. Sie hatte energisch auf Alix einreden müssen, ehe diese sich entschloß, überhaupt zu Bett zu gehen; sie meinte, sie würde doch nicht schlafen können. Aber Maria wies sie immer von neuem auf die anstrengende Reise und die unausbleiblichen Aufregungen des folgenden Tages hin – sie mischte ihr ein beruhigendes Pulver in ein Glas Limonade, half ihr, Stück für Stück, die Kleider ablegen und hielt die Rechte des Mädchens fest in der ihrigen. Es war, wie wenn sich ihre sorgende Zärtlichkeit für Alix heute verdoppelte – armes Kind, das die Mutter so früh verloren hatte und jetzt den Vater hergeben sollte, den es nie recht eigentlich besessen hatte! Nach dem leidenschaftlichen Ausbruch von zuvor sprach das Mädchen jetzt kaum ein Wort, und die Professorin ließ sie gewähren, sie kannte das schon an ihr. Es dauerte wohl eine Stunde, bis die fieberhaft leuchtenden Augen sich leise verschleierten und die Hand aufhörte zu zucken. Ein paar Minuten danach schlief Alix; aber zwischen ihren Brauen stand ein Schmerzenszug, und dann und wann hob ein Seufzer die Brust.
Mit dem Morgengrauen stellte sich bereits Françoise ein, die alles für die Reise ihrer jungen Herrin in Bereitschaft gesetzt hatte und nun kam, um sich Instruktionen zu holen. Françoise Dupont war in früherer Zeit bei der kleinen Alexandra von Hofmann Bonne gewesen, sie war eine „echte Pariserin“, wie sie jederzeit mit großem Stolz betonte. Das Kind sollte ein gutes Französisch lernen, und Françoise verfügte in der That über eine vortreffliche Aussprache und verstand es außerdem, sich bald mit ihrem kleinen Zögling auf vertrauten Fuß zu setzen. Als später die deutsche Erzieherin hinzukam und sich mit einem Schlage die Gunst der Mutter und die leidenschaftliche Liebe des Kindes erwarb, erwachte im Herzen der exaltierten Französin die Eifersucht, und es fehlte wenig, daß sie ihren Posten verlassen und sich nach Paris zurückbegeben hätte. Nur dem ausgleichenden Takt Marias hatte man es zu danken, daß Françoise blieb und sich allgemach in eine Situation fand, die immer noch so viel des Angenehmen und Vorteilhaften bot, daß sie weit hätte suchen können, um eine gleiche zu finden. Als Alix’ Mutter starb, war ihr Erbarmen mit der verwaisten Kleinen so groß, daß sie schwur, sie nie zu verlassen, es komme, wie es wolle. Ueberaus gewandt und geschickt in allen Handfertigkeiten, war Françoise vom Posten einer Bonne zu dem einer Kammerfrau aufgerückt, hatte ihre junge Herrin auf allen ihren Reisen begleitet, war auf diese Weise dreimal in der glücklichen Lage gewesen, „ihr unvergleichliches“ Paris wiederzusehen, und fühlte ihr Geschick mit dem ihrer jungen Gebieterin auf unlösbare Weise verknüpft.
– – Ueberwacht und blaß begab sich die Professorin gerade daran, ihr Hauswesen in gewohnter Weise zu regeln, als Françoise, eine grauhaarige, gutgewachsene Fünfzigerin mit lebhaften schwarzen Augen und scharfen Zügen, im Vorzimmer ihrer habhaft wurde und nach der von ihr beliebten Manier alles auf einmal zu wissen begehrte.
„O, Frau Professorin, bon jour! Wenn man darf sagen bon jour an solchem kalten Nebeltage, wo die Sonne gewiß gar nicht wird zum Vorschein kommen und wo so viel malheur ist in unserem Haus! Was macht sie, ma mignnonne? Hat sie geschlafen diese lange böse Nacht? Ist sie schon wach? Darf ich zu ihr? Hat sie geweint, als sie das große Unglück erfuhr? – Seigneur, wie schnell ist es gekommen, dies Ganze! Und mon petit Werné, der liebe Junge, comment va-t-il? Ich habe gepackt bis gegen zwölf Uhr – die zwei großen Koffer für mademoiselle, und endlich den meinigen auch. Ist der Brief schon da? Darf ich ihn lesen – und werden wir reisen?“
Begütigend streichelte die Professorin das erregte Gesicht. „Vor allem kommen Sie erst einmal ins Speisezimmer und nehmen eine Tasse starken Kaffee mit uns zusammen – das soll uns wohlthun! Alix schläft noch, ich war eben nach ihr sehen – sie hat keine ganz schlechte Nacht gehabt, und mit Werner kann man auch zufrieden sein, er hat sogar schon Appetit! Ein zweites Telegramm ist nicht gekommen; den Brief dürfen wir erst in einer Stunde erwarten. Ich nehme es aber als ganz bestimmt an, daß ihr beide reisen werdet!“ –
Sie saßen dann zu dreien bei der brennenden Lampe – es wollte durchaus an diesem trüben Februarmorgen nicht hell werden – vor dem dampfenden Kaffee; das Ehepaar sehr schweigsam, nur Françoise war es, die sprach. Sie mußte sprechen … in Glück wie in Leid – schweigen konnte sie nicht, es sei denn, daß Alix es ihr geradezu gebot. Und dann empfand sie es als eine große Qual. So ging denn ihre Rede auch jetzt geläufig und rasch, sie erschöpfte sich in Mutmaßungen, welcher Unglücksfall wohl „monsieur“ begegnet sein könne, ob es möglich sei, ihn noch lebend anzutreffen, ob er viel Schmerzen leiden müsse, wie ihre „mignonne“ das ganze Ereignis auffasse – dazwischen horchte sie immer auf den Ton der elektrischen Glocke aus Alix’ Zimmer, wunderte sich, wie man bei solchem Ereignis überhaupt schlafen könne, und pries in demselben Atem den Himmel, daß es dem „pauvre ange“ vergönnt sei, Schlummer zu finden.
In Wirklichkeit war Alix längst erwacht und hatte beschlossen, sich allein zu frisieren und anzukleiden. Sie kannte ihre Françoise und deren Art, über alles, was irgendwie ihr Inneres bewegte, eine wahre Redeflut auszugießen, und sie, Alix, liebte gerade das Gegenteil davon: je mehr sie seelisch ergriffen war, um so schweigsamer wurde sie. Die Professorin hatte darauf bestanden, ihren Zögling ganz unabhängig von der Hilfe anderer zu machen. Alix wußte und verstand sehr vieles, was niemand bei einem so reichen Mädchen vorausgesetzt hätte. Die praktischen Dinge des Lebens lagen ihr keineswegs fern, dank Frau Marias Grundsätzen, die dieser geboten hatten, die junge Erbin zu einem vernünftigen Menschenkind zu machen, das mit wachen Augen um sich schaut und den verschiedensten Lebensbedingungen gerecht zu werden versteht. Jetzt trat sie fix und fertig in einem dunklen Reisekleid ins Zimmer.
Sie beantwortete Frau Marias liebevolle Fragen mit einem Kuß und Händedruck, Françoises Redeschwall mit ein paar kurzen Worten und legte ihre kleine goldene Uhr neben ihre Kaffeetasse: „In zehn Minuten kann der Postbote da sein!“
„Nicht wahr, Sie sind verständig, Kind, und essen und trinken?“ bat der Professor. „Schon meiner Frau zuliebe, die sich um Sie sorgt?“
[459] Alix führte gehorsam die Tasse zum Mund. „Wie geht es Werner?“
„Er hat in der Nacht wieder etwas mehr gefiebert; jetzt hat es nachgelassen, und er schläft ganz fest.“
In der nächsten Minute fuhren sie alle vier empor – draußen hatte es heftig geläutet.
Gleich darauf brachte Betty einen an Alix adressierten Brief ins Zimmer. Diese reichte ihn Frau Maria.
„Möchtest du ihn vorlesen?“ bat sie mit bedeckter Stimme. „Was in ihm enthalten ist, kann kein Geheimnis sein und bleiben.“ Und als die Professorin zögerte, fügte sie hinzu: „Es wäre mir lieber, von dir alles zu hören, als es selbst lesen zu müssen!“
Daraufhin erbrach Maria das Schreiben:
„Josephsthal, den 18. Februar 1893.
Sehr geehrtes gnädiges Fräulein!
Nach Absendung meines Telegramms an Sie und nach einer nochmaligen Rücksprache mit den drei Aerzten, in deren Behandlung sich Ihr Herr Vater befindet, schreibe ich Ihnen diese Zeilen.
Sie müssen Ihr Herz mit Mut und Ergebung wappnen, verehrtes Fräulein; nach dem, was mir die Aerzte in Uebereinstimmung sagen, ist der Zustand Ihres Vaters äußerst bedenklich. Hoffen wir, daß, wenn Sie morgen abend hier eintreffen, eine günstigere Auffassung möglich sein wird.
Wie erschüttert ich mich fühle, da ich gezwungen bin, Ihnen, dem einzigen Kinde des Schwerkranken, diese traurige Mitteilung zu machen, wie unfaßbar es mir scheint, diesen noch gestern, noch vor einigen Stunden so lebensvollen, kräftigen Mann in seinem jetzigen Zustand sehen zu müssen, vermag ich mit Worten nicht zu schildern. Ich habe den Vorzug genossen, Ihrem Herrn Vater nahe zu stehen, nicht nur, wie Sie wissen, als sein Rechtsbeistand, dem es vergönnt war, einen Einblick in das Gebiet seiner kolossalen Thätigkeit zu gewinnen, seine Vielseitigkeit anzustaunen, seinen weitreichenden Ueberblick zu schätzen, sondern auch als Freund. – – – So liegt mir denn die traurige Aufgabe ob, Ihnen, soweit dies möglich ist, von den das schmerzliche Ereignis begleitenden Umständen Mitteilung zu machen.
Ich sage mit Absicht: soweit dies möglich ist; denn fürs erste bleibt die ganze Begebenheit noch in Dunkel gehüllt. Hoffen wir, daß dasselbe sich im Lauf der Zeit lichten wird.
Daß Ihr Herr Vater bei dem ausgedehnten Betrieb seiner Werke, einem Betrieb, der ihn zum Gebieter von Hunderten machte, nicht ohne Feinde und Widersacher geblieben ist, das, mein verehrtes, gnädiges Fräulein, werden Sie sich ohne Zweifel denken können. Geradezu unmöglich ist es, in einer solchen Stellung es allen recht zu machen, und bei den heutigen unruhigen Zeiten, da der Geist des Aufruhrs allenthalben geflissentlich geschürt wird, ist an ein gütliches Auskommen und einträchtiges Zusammengehen vollends nicht zu denken. Einer der obersten Betriebsleiter Ihres Herrn Vaters, den er selbst des öfteren im Gespräch mit mir seine ‚rechte Hand‘ genannt hat, ein ungewöhnlich intelligenter und tüchtiger Mensch, will beobachtet haben, daß sein Prinzipal in letzter Zeit verschiedentlich Briefe mit derselben Handschrift erhalten hat, die wohl Anklagen oder Drohungen, jedenfalls Unangenehmes enthalten haben mögen. Ingenieur Harnack, dies ist der Name des Betriebsleiters, hat zwar keine Einsicht in die betreffenden Briefe gehabt, aber er hat wiederholt wahrgenommen, wie Baron von Hofmann, nach flüchtiger Durchsicht derselben, sie unter Stirnrunzeln mit rascher Hand in winzige Stückchen gerissen und ins Kaminfeuer geschleudert hat. Ingenieur Harnack meint, es können ungefähr fünf bis sechs solcher Briefe gekommen sein, und zwar im Zeitraum von etwa vierzehn Tagen … daher konnte ihm die Sache auffallen und im Gedächtnis bleiben; er würde auch die Handschrift wiedererkennen, nimmt aber wohl richtig an, daß dieselbe geschickt verstellt gewesen ist. Ihr Herr Vater pflegte sehr häufig, im Sommer wie im Winter, in einem leichten, kleinen Einspännerwagen, vor den ein vorzüglicher Schnelltraber gespannt war, über Land zu fahren. Er nahm bei solchen Fahrten weder Kutscher noch Diener mit, der Wagen war ein sogenannter Selbstkutschierer, und Baron von Hofmann verstand sich ausgezeichnet auf Pferde. Herr Harnack hatte sich zuweilen, so wenig sein Prinzipal Einmischungen liebte oder auch nur duldete, erlaubt, ihn vor diesen weiten, einsamen Streifzügen zu warnen; die Antwort hatte dahin gelautet, daß diese Fahrten seit langen Jahren stets stattgefunden hätten, auch weiterhin stattfinden würden und daß ein gezogener sechsläufiger Revolver der treueste und zuverlässigste Begleiter bei ihnen sei.
Auch am heutigen Tage hat morgens bald nach zehn Uhr der leichte Schlitten, der in dieser Jahreszeit den Wagen ersetzt, vor der Thür gestanden, und Herr von Hofmann, der bis zum letzten Augenblick noch mit seinen Oberbeamten geschäftliche Fragen durchzusprechen hatte, ist in bester Gesundheit und unveränderter geistiger Elastizität davongefahren. Ein Ziel seines Weges war die große, erst kürzlich neueingerichtete Schneidemühle, die, den Fluß entlang gerechnet, etwa eine Stunde weit vom Wohnhause gelegen ist. Ein weiteres Ziel der Fahrt ist dem Beamtenpersonal Ihres Vaters nicht bekannt gewesen; es hat sich indessen herausgestellt, daß er ein solches doch noch gehabt haben muß, denn in der Schneidemühle, wo man Nachfrage gehalten hat, ist ausgesagt worden, Herr von Hofmann sei um halb elf Uhr daselbst angekommen, habe vom Schlitten herunter eine kurze Besprechung mit dem obersten Betriebsleiter des Etablissements gehabt, einige Anordnungen getroffen und sei nach etwa zehn Minuten weitergefahren, aber nicht in der Richtung nach Hause, sondern der östlichen Krümmung des Stromes folgend.
Als Ihr Herr Vater um halb ein Uhr noch nicht zurückgekehrt war, hat man einigen Anlaß zur Besorgnis gefunden, da er zu mehreren Personen von etwa einer Stunde Fortbleibens gesprochen hatte und als die Pünktlichkeit selbst bekannt war. Man schickte zu mir, der ich gerade bei dem Pfarrer in Josephsthal anwesend war: ob ich zufällig Näheres über Herrn von Hofmanns Verbleib wüßte. Dies war nicht der Fall, ich schlug indessen vor, man solle zunächst Erkundigungen in der Schneidemühle einziehen. Das war bereits geschehen und hatte das soeben erwähnte Resultat gehabt. Ich beratschlagte mit den Herren vom Beamtenpersonal, was weiter zu thun sei, als – es mochte halb Zwei geworden sein – ein Bauernschlitten und dahinter zwei andere Gefährte langsam die Auffahrt heranfuhren. Zwei von den kleineren Besitzern der Umgegend, deren einer den Arzt aus der nächsten Stadt geholt hatte, waren am Waldesrand, etwa eine Viertelstunde von jener zuvor erwähnten Krümmung des Flußes, eines umgestürzten Schlittens gewahr geworden, aus welchem ein menschlicher Körper, vorn übergeneigt, den Kopf zu unterst, heraushing. Voll Entsetzen eilten die Leute zu Hilfe, der Arzt konstatierte noch Leben in dem Körper und entdecke alsbald zwei schwere Kopfwunden, die dem Bewußtlosen an der linken Schläfe und oberhalb derselben beigebracht waren. Der sechsläufige Revolver, den Herr von Hofmann auch diesmal mit sich führte, wurde unentladen in einer Seitentasche des Pelzes vorgefunden; offenbar war seinem Besitzer gar keine Zeit mehr zur Selbstverteidigung geblieben. Ein Raubmord scheint ausgeschlossen, da sowohl die überaus kostbare Uhr nebst Kette, sowie die wertvollen Ringe des Ueberfallenen sich vorfanden, ebenso eine kleine Geldtasche mit etwa vier bis fünf Goldstücken und etwas Silber. Ob Herr von Hofmann vielleicht doch eine größere Summe bei sich gehabt, ließ sich zur Zeit noch nicht feststellen. Der Arzt legte den Notverband an, so gut es eben gehen wollte, und leitete den Transport des Schwerverwundeten. Der Josephsthaler Arzt war in wenigen Minuten gleichfalls zur Stelle, auch telegraphierte ich sofort an Professor Lange in Greifswald und schicke den Wagen für ihn zur Station. Er war in guten drei Stunden bei uns. Alle drei Aerzte geben einstimmig ihr Urteil dahin ab: der Zustand ist im höchsten Grade bedenklich!
Während der Besprechung der Doktoren, die eine geraume Zeit erforderte, habe ich ein möglichst genaues Verhör mit den Beamten und der persönlichen dienenden Umgebung Herrn von Hofmanns angestellt und, in Gegenwart eines sofort telegraphisch herbeigerufenen Amtsrichters und Aktuars, zu Protokoll nehmen lassen. Die Aussagen stimmen sämtlich überein, ich habe bis jetzt noch keinen irgendwie wertvollen Fingerzeig, der mich auf eine Spur leiten könnte, gefunden, doch war freilich die Zeit hierfür außerordentlich kurz bemessen. Die Leute sind alle, ohne Ausnahme, aufs äußerste bestürzt und betroffen, niemand von ihnen scheint eine Ahnung von dem Thäter zu haben; es herrscht eine unglaubliche Aufregung und Verwirrung unter dem Personal, dem so plötzlich der Herr genommen worden ist!
[460] Ich selbst bin tief erschüttert, und ich beklage das herbe Los, das so jählings über Sie die schmerzlichsten Sorgen verhängt, von Grund meiner Seele. Nehmen Sie meine Versicherung entgegen, daß Ihr Herr Vater in den Händen der tüchtigsten Aerzte bei umsichtigster liebevollster Behandlung sich befindet, daß ferner alles, was Menschenwille und Menschenkraft vermag, geschehen soll, um das Dunkel, das jetzt noch über der unseligen That liegt, zu lichten. Ich rechne darauf, Sie morgen abend sieben Uhr in Josephsthal empfangen zu können, und bitte Sie, sich, soweit dies in Ihren Kräften steht, die Fassung und Ruhe zu bewahren, welche die schwere und traurige Situation, die Ihrer hier harrt, dringend wünschenswert erscheinen läßt.
Meine Empfehlung Herrn und Frau Professor Laurentius.
Hochachtungsvoll ergebenst
stets der Ihrige
Dr. jur. Ueberweg.“
Frau Maria hatte den Brief mit bedeckter Stimme zu Ende gelesen, sie ließ ihn jetzt sinken und trocknete sich die Augen. Der Gedanke, daß der Mann, den sie in der Vollkraft seines Lebens, mitten im rüstigsten Wirken und Schaffen, in der Erinnerung hatte, so plötzlich als Opfer eines hinterlistigen Meuchelmörders gefallen war, erschütterte sie tief, und dazu kam ihre Sorge um Alix. Was alles stand ihr bevor – welch’ aufregende Eindrücke würden auf sie einstürmen! … Und sie mußte sie allein ziehen lassen, konnte ihr nicht stützend und helfend zur Seite stehen!
„Sobald ich hier irgend, irgend entbehrt werden kann, mein Herz, bin ich bei dir!“ flüsterte sie und nahm die willenlos herabhängende, schlaffe Hand des Mädchens in die ihre.
Mit einem schweren, bangen Blick, der ihre Augen schwarzblau erscheinen ließ, sah Alix vor sich hin. Aeußerlich bewahrte sie sich die Fassung, um die Justizrat Ueberweg sie gebeten hatte.
Sie jammerte nicht und rang nicht die Hände, sie weinte nicht einmal. Françoise dagegen machte ihrem Entsetzen zunächst in zusammenhangslosen Ausrufen, sodann in lauten Klagen und Fragen Luft. Sie jammerte immer von neuem, wie es möglich sei, daß „le bon Dieu“ dies habe zulassen können – wer es je hätte denken sollen, daß „monsieur“ ein so schreckliches Ende nehmen würde – aber Gott würde den Mörder schon finden – und ihr armes, geliebtes Kind möge doch nicht so starr und stumm vor sich hinsehen – es solle doch weinen und seinen großen Kummer in die Herzen derer ausschütten, die es so innig liebten. Und Françoise ergriff die linke Hand ihrer jungen Herrin und drückte sie an ihre Lippen, an ihre weinenden Augen.
Mit einem Ruck machte sich Alix los und sprang auf. Ihr soeben noch ganz blasses Gesicht war mit einer fliegenden Röte überzogen. „Wir müssen zum Zug! Wir kommen zu spät! Wieviel Uhr ist es?“
Der Professor zog seinen Chronometer hervor. „Zwanzig Minuten nach Acht, Sie haben recht, liebe Alix, es ist höchste Zeit!“
Ein hastiger Aufbruch. Ein Durcheinanderfragen und -rufen, ein Nachzählen der Gepäckstücke, ein rasches Versorgen mit Reisegeld. Mitten unter den aufgeregten Menschen Alix, die sich mechanisch von Françoise zurechtmachen läßt und erst, als der Wagen schon gemeldet wird, aus ihrer Versunkenheit emporfährt: „Noch einmal auf eine Minute zu Werner!“
„Aber Kind, wollen Sie sich durchaus die Diphtheritis holen?“
Das junge Mädchen schiebt Françoise, die sich ihr mit ausgebreiteten Armen in den Weg gestellt hat, beiseite.
„Ich fürchte mich nicht, und mir schadet’s auch nicht! Bleib’ du zurück, wenn du dich ängstigst! Gleich bin ich wieder da!“
Sie ist zur Thür hinaus, im Flug durch die nächsten zwei Zimmer und neigt sich über das schlafende Kind. Der intelligente und liebenswürdige Junge ist von jeher ihr besonderer Liebling gewesen; sie hat sich immer viel mit ihm abgegeben, beim Lernen wie beim Spielen, und Werner hängt an ihr mit ganzer Seele.
„Mein Herzensjunge!“ Sie nimmt behutsam die schmale Kinderhand von der Decke und drückt ihre Lippen darauf.
„Alix, wo bist du?“
„Ich komme, Maria!“
Wie im Traum findet sie sich an Marias Seite im Wagen sitzen, wie im Traum hört sie all die guten und zärtlichen Worte, die jene ihr zuflüstert, die Ermahnungen, die Bitten, bald zu schreiben, die Versicherungen treuer Liebe und tiefsten Verständnisses. Aber sie erwacht jäh aus ihren Träumen, da das Scheiden nun wirklich kommt, sie klammert sich fest an Maria, sie will sie nicht lassen, die beste, treueste Seele, die sie bisher im Leben gefunden, sie, die alles mit ihr geteilt hat, die in ihr Dasein hineingehört wie die Luft, die sie atmet!
„Meine Damen, ich muß dringend bitten – –“
Diensteifrige Hände reißen die Coupéthür auf, helfen ihr die Stufen ersteigen – gellend tönt die Pfeife – langsam gleitet der Zug aus der Halle. – – –
Die Puppen- und Trachtenausstellung zu Neuwied.
Der Neubau des fürstlichen Schlosses zu Neuwied bot in den Junitagen dieses Jahres den Raum für eine große Puppen- und Trachtenausstellung, die das allgemeinste Interesse erregte. Der Gedanke zu dieser Veranstaltung ging von der kunstsinnigen Fürstin zu Wied aus und wurde von deren Tochter, der Königin Elisabeth von Rumänien, die sich als Dichterin Carmen Sylva nennt, mit Begeisterung aufgegriffen. Dank dem hingebenden Eifer Carmen Sylvas wuchs die wohlthätigen Zwecken dienende Ausstellung zu einem Unternehmen heran, das in künstlerischer, sowie wissenschaftlicher Hinsicht die ernsteste Beachtung verdiente. Denn die hier in lebensvollem Arrangement vereinten Hunderte von Puppen der verschiedensten Größe veranschaulichten in ihrer Bekleidung Moden, Kostüme und Trachten fast aller Völker und Zeiten. Der Zudrang der Besucher aus nah und fern war denn auch überaus stark und der Beifall so allgemein, daß man jetzt in Erwägung gezogen hat, die originelle Ausstellung eine Wanderung durch die großen Städte Deutschlands antreten zu lassen.
Dem Verfasser dieses Berichts wurde das Glück zu teil, daß ihm die Abteilung der Ausstellung, welche die rumänischen Trachten umfaßte und die von der Königin Elisabeth persönlich arrangiert war, von dieser selbst in liebenswürdigster Weise gezeigt wurde. Es lag ein eigenartiger Reiz in den Erklärungen, die Carmen Sylva bei einzelnen Gruppen und Figuren zu geben geneigt war.
„Sie haben hier“ – so etwa erzählte die Königin, indem sie auf eine der Puppen zeigte – „die Fürstin der Moldau, Doamna Chiajena, eine Zeitgenossin der Katharina von Medici. Sie war sehr grausam – nun Katharina war ja auch keine Taube! Die Doamna ist jedoch auch eine heldenmütige Frau gewesen, welche die Mutterliebe zu heroischen Thaten hinriß. So stieg sie kampfgerüstet zu Pferde und verteidigte mit der Streitaxt in der Hand ihren unmündigen Sohn gegen die aufrührerischen Bojaren. Chiajena hat im ganzen Orient eine überaus große Rolle gespielt; ihrem Einfluß konnte sich sogar der türkische Sultan nicht entziehen. Die Puppe zeigt sie in historischer Tracht.“
„Diese andere hier,“ fuhr die Königin fort, „stellt die Fürstin Despina Neagoe vor, die im Jahre 1512 ihren gesamten reichen Schmuck zum Opfer brachte, um die Mittel zum Bau der Kirche von Kurtea de Ardschisch aufzubringen. Diese edle Frau wollte dadurch das Volk von drückender Steuer befreien. Ich habe die Historie und eine sich daran knüpfende Sage in meinem Drama ‚Meister Manole‘ behandelt. König Karl hat den Bau der Kirche vollendet.“
„Hier ist die getreue Nachbildung meiner Baracke aus dem Krieg. Sie sehen darin meine barmherzigen Schwestern und rumänische Nonnen. Dort oben steht Herodes mit den heiligen drei Königen. Es ist bei uns in Rumänien landesüblich, daß diese [461] biblische Gruppe von fahrendem Volke dargestellt wird. Die Leute tragen dabei Dichtungen primitivster Art vor, und ich habe mich bemüht, zum erstenmal diese Volkspoesien in möglichst getreuer und der Urform nahe kommender Weise zu übertragen. Leider ist der Druck nicht rechtzeitig fertig geworden, sonst würde die Broschüre bei der Ausstellung aufgelegt worden sein. Dagegen finden Sie hier mein besonders zum heutigen Zweck herausgegebenes Puppenspiel: ‚Monsieur Hampelmann‘, illustriert von Lecomte de Nouy.“
Die Königin zeigt uns ferner das Modell ihres Krönungswagens. Ihre Augen leuchten, als sie uns erzählt: „Genau so ist es gewesen. Sie sehen in dem mit acht Rappen bespannten Wagen mich an der Seite der grande maîtresse de la cour; gegenüber sitzt eine Hofdame. Die Prachtgruppe verdanken wir der Generalin Poenaru, welche selbst meine Robe nach dem Original gestickt hat.“ Dieses Kleid ist ein kleines Wunderwerk aus weißer Seide und Spitzen mit breitem Pelzbesatz. Echte Perlen und echte Steine vervollständigen die königliche Toilette, während der Achterzug echte Silberbeschläge trägt.
Als Pendant – der Bedeutung nach – mag wohl die prächtige „Hohenzollernhochzeit“ mit ihren Hoftrachten gelten, auf welche uns jetzt die Königin aufmerksam macht. Diese Gruppe ist eine Schenkung der Generalin Falcoiano.
„Hier wird uns die Arbeit der Sträflinge in den Salinen veranschaulicht,“ erklärt die Königin. „Die schweren Verbrecher werden hierzu verurteilt. Die Todesstrafe besteht bei uns nicht.“
Im Vorübergehen weist unsere freundliche Geleiterin auf Knaben, welche mit dem „Stern von Bethlehem“ umherziehen, und dann führt sie uns zu dem Hauptstück der Ausstellung: zu dem großen Prospekte von Sinaia. Diese lebensvolle und in Komposition und harmonischem Farbenspiel ungemein wirkungsvolle Gruppe zeigt eine rumänische Bauernhochzeit. Links schließt die von Eugen Kampf gemalte Landschaft ein altrumänisches Herrenhaus ab, das bis in alle Einzelheiten im Aeußern und Innern prächtig modelliert ist. Rechts steht ein altrumänisches Bauernhaus, und zwischen beiden zieht sich der charakteristische Brautzug hin.
Jetzt sind wir bei zwei Figuren angelangt, deren eine Carmen Sylva in ihrem heutigen Alter darstellt, während die andere in der Tracht des Reifrocks und des Chignons eine Siebzehnjährige zeigt: die spätere Königin Elisabeth im Lenz ihres Lebens.
„Die Köpfe sind nicht Porträts,“ lautet die Erklärung; „aber die Kleidung ist durchaus der Wirklichkeit entsprechend. Genau so kleide ich mich. Dieses Taubengrau ist meine Lieblingsfarbe, und der Schleier, der den Kopf der Fünfzigjährigen umhüllt, wird von mir selbst getragen.“ Und ganz besonders lebhaft fährt die Königin fort: „Nun sehen Sie noch hier diese entzückende Gruppe: ein rumänisches Bojarenpaar, hinter ihnen der Sekretär und dessen Frau und davor rumänische Musikanten.“ (Vgl. die nebenstehende Abbildung.) „Diese vom Direktor des Konservatoriums in Bukarest geschenkten Musiker sind echt: sie haben echte Kleider und echte Instrumente, sie haben echte geschriebene Noten aus dem 18. Jahrhundert und tragen sogar – echtes Geld in der Tasche. Aber nun kommen Sie an die historischen Kostüme und Trachten, und da muß ich die Führung an unsere verdienstvolle Freiin von Cotzhausen abgeben. Sie wünschen Ihren Artikel durch ein Bild von mir vervollständigt? Ja, ich würde Ihnen gerne eine Aufnahme gewähren, aber ich habe kein festlich’ Gewand an. Das schadet nichts? Nun, wenn Sie durchaus wollen ….“ Und die Königin, die bereits Stunden der Ausstellung gewidmet hat, folgt uns in den Schloßgarten, wo mein Begleiter die neueste Aufnahme der gekrönten Dichterin machen darf. Das interessante Bild schmückt die erste Seite dieses Halbhefts.
Folgen wir nunmehr unserer neuen, nicht minder liebenswürdigen Führerin, der Freiin Natalie von Cotzhausen, welche mit Herrn und Frau Fabrikant Carl Reichard sich um das gelungene Arrangement der Gesamtausstelluug verdient gemacht hat, durch die historische Abteilung. Da waren zunächst die Trachten der vorchristlichen Zeit dargestellt: Figuren von Aegyptern, Persern; Germanen am Opfersteine; Terrakotten von Tanagra vertraten Griechenland; Rom mit Senatoren, Byzanz schlossen sich an. Es folgten burgunder Trachten des 12. Jahrhunderts, darunter als charakteristische Repräsentantin Jeanne de Bourgogne, ferner deutsche Edelleute [462] des 14. Jahrhunderts und als hochinteressante Figur ein Gigerl der damaligen Zeit mit Gugel und Schecke. Als ein weibliches Gigerl darf die Dame in Schellentracht gelten; auch das beliebte rote Zaddelkostüm war ein Auswuchs der Mode. Diese Trachten sind auf unsrer nebenstehenden Abbildung wiedergegeben. Alle Hof- und Bürgertrachten aus dem 15. Jahrhundert waren zu sehen; das 16. Jahrhundert war gekennzeichnet durch deutsche Patrizier und Landsknechte in Pluderhosen sowie durch französische Hoftrachten. Das 17. Jahrhundert vereinigte niederländische und spanische Hoftracht, Edelfrau und Magd zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges und die Hoftracht der Königin Elisabeth von England.
Ferner waren vorhanden Johann v. Werth, ungarische Magnaten aus der Mitte und Herrenkostüme vom Ende des Jahrhunderts, Herr und Dame aus den Zeiten Ludwigs XIV und Gustav Adolf von Schweden. Aus dem 18. Jahrhundert traten uns schwedische Offiziere König Karls XII in russischer Bojarentracht entgegen, französische Hofherren standen in steifer Grandezza neben Grenadieren Friedrichs des Großen; Seydlitz-Dragoner hielten Wache zur Seite Charlotte Cordays, und wir sahen die reizende Gruppe, welche eine französische Hochzeit unter dem „Direktorium“ darstellt und die wir gleichfalls im Bild (S. 461) wiedergeben. Ganz hervorragend sind die Figuren, welche die Auswüchse der Mode im Seinebabel vor hundert Jahren illustrieren. Die Kostüme Incroyable und Merveilleuse dürften an Extravaganz wohl unerreicht dastehen. Marie Antoinette und Ludwig XVI waren in Trianontracht dargestellt. Aus dem 19. Jahrhundert interessierten besonders die Trachten von 1830, darunter der „Mann aus dem Konsulat“ sowie die hervorragend schön zur Geltung gebrachte Dame von 1860. Eine Radfahrerin von 1898 beschloß die Abteilung der historischen Trachten. – Die Abteilung der Volkstrachten, deren rumänische Gruppen wir oben geschildert haben, war auch im übrigen äußerst anziehend und lehrreich. Aus nah und fern hatte man sie beschickt; ja es kamen aus Nicaragua und Surinam, aus Siam und Marokko, aus Japan und China Puppen, welche die dortigen Landestrachten treu veranschaulichten und von Eingebornen angefertigt waren.
Der Kampf gegen den „Schwammspinner“ in Massachusetts.
Der sogenannte Schwammspinner oder Großkopf, Ocneria dispar L., dessen Raupe, ähnlich der von Liparis monacha L. (Nonne), in fast allen Teilen Europas zuweilen als Waldverderber und Feind der Obstkulturen auftritt, war bis zum Jahre 1869 in der Fauna der Vereinigten Staaten Nordamerikas nicht vertreten. Im Jahre 1870 aber berichtete Professor Riley, damals Staats-Entomolog von Missouri, daß im Sommer 1869 die Raupen dieses Falters von einem Entomologen in Massachusetts aus europäischen Eiern gezogen worden seien, und daß dieser dadurch unabsichtlich die Verbreitung des schädlichen Tieres in der Umgebung seines ländlichen Wohnsitzes, bei Medford, in der Nähe von Boston, veranlaßt habe. Bei der Zucht dieser ausländischen Raupen waren nämlich mehrere derselben aus dem mangelhaft verschlossenen Kasten, der am offenen Fenster stand, entwichen und hatten im Freien, außerhalb des Hauses, sehr schnell ihnen zusagende Nahrung gefunden. Obschon Riley den Namen jenes Züchters damals noch nicht erwähnte, war er ihm doch sicher bekannt; erst 20 Jahre später bezeichnete er einen Herrn Trouvelot als den unglücklichen Urheber der großen Kalamität.
Im Laufe der ersten zehn Jahre nach dem Entweichen der Raupen Trouvelots war der Schwammspinner nur vereinzelt in der Umgebung von Medsord und Malden bemerkt worden, und niemand außer Trouvelot hatte darauf geachtet; erst im Jahre 1880 machten sich die Großkopsraupen unangenehm bemerkbar durch den Schaden, welchen sie in Gärten und Baumpflanzungen anrichteten.
Der amerikanische Volksmund bezeichnete den Fremdling mit dem Namen „gypsy moth“, d. h. Zigeunermotte. Bestimmend für diese Benennung mag wohl das unstete nächtliche Herumflattern des Männchens gewesen sein, das braun von Farbe und kleiner als das weißlich gefärbte Weibchen ist. Unsere Bezeichnung Schwammspinner ist dagegen auf die Eihaufen des Weibchens zurückzuführen; denn diese sind mit einem vom mütterlichen Körper herrührenden wolligen Ueberzuge versehen und auf den ersten Blick dem Feuerschwamm ähnlich. Man konnte sich in Medford das plötzlich so massenhafte Auftreten des vorher fast unbekannten Schädlings nicht erklären; doch wenn man die Verhältnisse näher ins Auge faßt, so begreift man leicht, weshalb erst eine Reihe von Jahren verstreichen mußte, bis der Eindringling in der neuen Heimat festen Fuß fassen und sein ihm angeborenes, überraschend starkes Vermehrungsvermögen zur Geltung bringen konnte. Die Eier, aus welchen Trouvelot die Raupen des Großkopfes gezogen hatte, stammten nämlich aus dem südlichen Frankreich, und deshalb mußten die aus vererbter Neigung sehr frühzeitig ausschlüpfenden Räupchen im Freien in der Mehrzahl zu Grunde gehen, da in Nordamerika, ähnlich wie in Norddeutschland, auf eine sehr warme Frühlingsperiode nicht selten kaltes, stürmisches Wetter folgt. Erst allmählich paßten sich die wenigen überlebenden, mehr und mehr abgehärteten Individuen dem rauheren Klima an, bis von den weiter folgenden Generationen eine vollständige Acclimatisation erreicht war.
Im Jahre 1880 traten die Raupen zum erstenmal massenhaft auf; sie entlaubten die Bäume der Myrtle Street in Medford sowie die südlich von Medford der Eisenbahn entlang sich hinziehende Waldung, und schon im nächsten Jahre hatte der Schädling auch die nördliche Seite vollkommen in Beschlag genommen. In Medford selbst suchte man zunächst durch einen erbitterten Vertilgungskampf den Feind auf kleine Gebiete zu beschränken, aber da in den benachbarten Wäldern hierfür nichts geschah, wuchs die Raupenplage in der ganzen Umgegend von Jahr zu Jahr. Im Sommer 1889 standen sämtliche Bäume in Medford kahl, und da es den Raupen schließlich an Futter gebrach, wanderten sie in langen, breiten Zügen durch die Straßen, fraßen jedes grüne Blatt auf ihrem Wege und drangen sogar massenhaft in die menschlichen Wohnungen, Stuben, Keller, Bodenräume ein, um Nahrung zu suchen. Man stand ihnen machtlos gegenüber. Je mehr man vertilgte, [463] um so größere Scharen strömten herbei. Die auf den Straßen und Fußsteigen myriadenweis zertretenen Raupen machten dieselben glatt, glänzend und schlüpfrig. Beständig fielen große, erwachsene Tiere von den Straßenbäumen auf die Passanten herab. Auf manchen Straßen mußten die Damen das Ungeziefer von sich abschütteln und vermochten nicht ihre Kleider vor Beschmutzung zu schützen.
Der Schaden, welchen die Raupen anrichteten, war sehr beträchtlich, denn wenn sie die Bäume sämtlicher Blätter beraubt hatten, überfielen sie die Blumen- und Gemüsebeete, weideten sie ab und verzehrten alle Arten von Früchten, Beeren in den Gärten und auf den benachbarten Feldern. Das einzige, was sie verschonten, war die Roßkastanie. Tausende von Obst- und anderen Laubbäumen starben nach zwei- bis dreijähriger Heimsuchung vollkommen ab oder mußten wegen ihres kläglichen Aussehens niedergeschlagen werden. Während die Haus- und Grundstücksbesitzer alle möglichen Anstrengungen machten, die lästige Brut auf jede nur denkbare Art zu beseitigen, blieben viele Bewohner des heimgesuchten Platzes gleichgültig und interesselos, da sie nur zur Miete wohnten und somit kein Eigentum zu schützen hatten. So wurden die Gärten und Straßen, wo die Raupen ungestört hausen konnten, zu Brutstätten von immer neuen Generationen des Schwammspinners, welche die Zahl der vernichteten Feinde tausendfach ersetzten und dem beschränkten Vertilgungskampf Hohn sprachen.
Im Jahre 1889 hatte die Raupenplage in ganz Medford und Umgegend so bedenkliche Ausdehnung angenommen, daß vom Gemeinderat große Summen bewilligt werden mußten für die offizielle Vernichtung des das allgemeine Wohl bedrohenden Feindes. Professor Fernald, der Staatsentomolog, wurde zu Rate gezogen, und auf dessen Betrieb erschien bereits am 4. März 1890 von seiten des Staates eine Verordnung, welche die strengsten Verhaltungsmaßregeln in Bezug auf die Bekämpfung des Schädlings vorschrieb, und eine besoldete Landeskommission wurde beauftragt, die Einhaltung dieser gesetzlichen Vorschriften rücksichtslos zu überwachen. Diese Kommission, welcher eine Summe von 25000 Dollars überwiesen wurde, begann ihre Arbeit mit einer genauen Besichtigung des gefährdeten Distrikts, wobei sich herausstellte, daß bereits ein Umkreis von 50 engl. Quadratmeilen Landes von dem Schwammspinner besetzt war. Die anfangs bewilligte Summe erschien viel zu gering, und die Kommission erhielt sofort noch weitere 25000 Dollars, um die Gefahr gründlich zu beseitigen. Gegen hundert Beamte waren von früh bis abends ausschließlich damit beschäftigt, durch bezahlte Arbeiter den Schädling in allen Stadien der Entwicklung töten zu lassen. Im Monat April wurden die überwinterten Eier in unglaublichen Massen zusammengetragen, aufgehäuft und verbrannt. Anfang Mai bis Mitte Juli bespritzte man das Laub und die Stämme der von den Raupen heimgesuchten Bäume mit Pariser Grün, und 15 Gespanne dienten zur Beförderung der hierzu nötigen Apparate. Polizisten beaufsichtigten während des ganzen Tages die Landstraße von Medford nach Malden und untersuchten jedes diese Straße passierende Fahrzeug, um die anhaftenden Raupen abzulesen und so die Verschleppung nach anderen Distrikten zu verhindern.
In der von den Raupen ganz besonders heimgesuchten, südlich und nördlich von der Eisenbahn bei Medford gelegenen Landschaft wurden gegen 20 Acker Hoch- und Buschwald rasiert und durch Feuer dem Boden gleichgemacht; auch an anderen Stellen fällte man Hunderte von Bäumen, die dem Absterben bereits nahe und dicht mit Eierklumpen des Schwammspinners überzogen waren.
Im Frühling 1891 wurde die Arbeit mit erneuter Kraft aufgenommen; neue Geldmittel wurden bewilligt, ein neues strengeres Staatsgesetz erlassen. Die bereits erwähnten Mittel wurden von neuem angewandt. Außerdem umband man zur Verpuppungszeit mehr als 68 000 Baumstämme mit locker anliegenden Leinwandlappen, unter welchen dann unzählige Puppen hafteten, die bequem abgenommen werden konnten. Professor Fernald hatte sein Augenmerk besonders auf die Parasiten gerichtet, welche die Raupen des Schwammspinners vernichten. Es sind dies Schlupfwespen und Raupenfliegen. Auf sein Anraten wurden von besonders dafür ausgebildeten Leuten die von Schmarotzern augenscheinlich bewohnten Puppen gesammelt und vor Vernichtung bewahrt. Die aus ihnen entschlüpften Parasiten unterstützten dann den Menschen wesentlich in seinem Vernichtungskampf. Es konnten jedoch nicht alle verseuchten Bezirke behandelt werden. Die Kommission verlangte demnach für das Jahr 1892 neue 75000 Dollars, welche auch am ersten März vom Staate bewilligt wurden. Doch während der ersten Monate des neuen Jahres war wegen erschöpfter Kasse und wegen der Ungewißheit, ob man auch wieder die entsprechenden Geldmittel gewähren würde, nicht viel geschehen in Bezug auf Vertilgung überwinterter Eier des Schwammspinners. So machte man leider die Entdeckung, daß sich die Grenzen des Verbreitungsgebietes an anderen, nicht ernstlich ins Auge gefaßten Stellen immer bedenklicher erweiterten.
Im Jahre 1893, für welches 100 000 Dollars bewilligt wurden, hatte sich der Schwammspinner bereits über mehr als 220 engl. Quadratmeilen Landes verbreitet. Man konnte bei den bis zum 1. Januar 1894 verbrauchten 245 255 Dollars nicht stehen bleiben und entschloß sich nochmals 150 000 Dollars der Kommission zu überweisen. Aber auch diesmal wurden die Gelder zu spät im Jahre bewilligt.
In einer geradezu unheimlichen Weise trat der Schädling bei Lexington, Woburn, Medford und andern Orten auf, wo ausgedehnte, ganz entlaubte Waldstrecken mitten im Sommer ein winterliches Aussehen hatten und von den sie umgebenden, im grünen Laubschmuck prangenden Waldungen trostlos abstachen. Im Jahre 1895 mußte man wieder 170 000 Dollars, im Jahre 1896 140 000 Dollars für den Feldzug gegen den Schwammspinner verwenden. Für das Jahr 1897 verlangte der Vernichtungsausschuß (Committee on the gypsy moth) weitere 200 000 Dollars, und wenn auch diese Summe nicht vollständig vom Staate bewilligt wurde, so reichten die Mittel doch aus, das Vernichtungswerk sehr energisch und mit Erfolg fortzusetzen. Ende vorigen Jahres teilte mir Herr Forbush, der Direktor dieses Ausschusses und Vorstand der Landwirtschaftlichen Ministerialabteilung von Massachusetts, brieflich mit, daß man sehr günstige Resultate erzielt habe, die zu den besten Aussichten berechtigten. – Hoffentlich erfahren wir demnächst, daß der Krieg gegen den Schwammspinner in Amerika durch die völlige Vernichtung des Feindes sein Ende erreicht hat.
Alle Rechte vorbehalten.
Marine-Erinnerungen.
Als mir ein Marineamt zugefallen war, stichelte Karl Vogt „als langen Hering habe man mich reichseinmariniert“ und Detmold, der kleine Satyr der Paulskirche, fand Beifall für seinen Witz: „ich hätte meinen Beruf zur Marine frühzeitig bewährt, indem ich einen Pudel meines Vaters gerettet, als er ins Wasser gefallen“.
Im Parlament bestand in der That bedauerlicher Mangel an besser Berufenen. Von den fünfzehn durch die Abteilungen in den Flottenausschuß Gewählten waren vier mit dem Seewesen vertraut: der sogleich einstimmig zum Vorsitzenden ernannte Direktor des österreichischen Lloyd, v. Bruck, der österreichische Marine-Ingenieur Möring, ein eifriger Befürworter der jetzt für Seedampfer allgemeinen, damals nur in der Adria mit noch zweifelhaftem Erfolg versuchten Schraube, dort Propeller genannt; dann zwei Reeder aus Bremen und Ems, Gevekoht und Brons. Gleichwohl versuchten auch die meisten andern, als eine erste Umfrage gehalten wurde, ob und inwieweit sich jeder schon früher mit einschlägigen Dingen befaßt habe, sich um das Eingeständnis ihres Laientums herumzureden. Nur der preußische Artilleriemajor Teichert und ich bekannten gänzliche Unwissenheit in nautischen Fragen, er mit dem Hinzufügen, daß man seine Erfahrung im Geschützwesen vielleicht brauchbar finden werde, ich ohne Anspruch auf mildernde Umstände. Dennoch ward ich, als jüngstes Mitglied, sogleich zum Schriftführer ernannt.
Mit wenigen Kriegsfahrzeugen dritten und vierten Ranges vermochte damals Dänemark unseren Seehandel empfindlich zu schädigen, Weser und Elbe völlig zu sperren. Das fühlte die erwachte Nation als unerträgliche Schmach. Man entsann sich der einst meergewaltigen Hansa. Die Unentbehrlichkeit einer Flotte ward jedem einleuchtend. Eine solche so rasch als möglich zu schaffen, regte sich allerorten opferwilliger Eifer. Dringliche Petitionen bestürmten das Parlament. Gesammelte Gelder, Anerbietungen im Bau begriffener Kanonenboote begannen einzulaufen. Schleswig-Holstein arbeitete nicht erfolglos an der Schaffung einer eigenen Marine. Der Hamburger Flottenverein baute Kanonenboote und versuchte, zwei alte Kauffahrteischiffe in Kriegsfahrzeuge umzuwandeln und zu bestücken. Behufs Angliederung an die von Frankfurt aus zu schaffende Flotte trat man in Verbindung mit unserem Ausschuß, der schon bei seiner Einsetzung auf den Antrag Heckschers ermächtigt worden war, mit den Marinekomitees der deutschen Seehäfen direkt zu verkehren und die Materialien zur Vorlage an die Nationalversammlung vom In- und Auslande einzuholen.
Mir lag es ob, über die Einläufe zu berichten, die Antworten zur Genehmigung vorzuschlagen und nach Unterzeichnung durch unseren Präsidenten abzuschicken. In den meisten Fällen kürzte sich dies Verfahren dahin ab, daß ich nicht erst auf eine Sitzung zu warten, sondern mich nur der Zustimmung des Herrn v. Bruck zu versichern hatte. Diesen überlastete schon die Korrespondenz seines Triester Amts. Nach kurzer Probezeit gab er mir Vollmacht, unseren sehr umfangreichen aber selten wichtigen Schriftwechsel allein zu besorgen und ohne seine Begutachtung als Sekretär des Ausschusses zu zeichnen. Sechs Wochen nach unserer Konstituierung galt ich im Parlament für den Geschäftsführer des Ausschusses, draußen sogar für den künftigen Chef des Marineamts.
Ein junger Schiffszimmermeister aus Stettin, Zweitinger, begrüßte mich sogar als voraussichtlichen Marineminister mit dem Ersuchen, ihm, wenn ich demnächst ernannt würde, eine Anstellung zu verschaffen. Ich mußte lachen, antwortete aber mit dem Gegenvorschlag, er möge mir theoretischen Unterricht geben im Schiffsbau. Dabei würde ich ein Urteil gewinnen über seine Befähigung. Sei das ein günstiges und erfülle sich seine Vermutung auch nur annähernd, so wolle ich ihm das gewünschte Amt verschaffen. Bereitwillig ging er darauf ein. Viele Wochen hindurch, jeden Morgen von 7 bis 9 Uhr bauten wir Schiffe auf dem Papier, von der kleinsten Jolle bis zum Dreimaster und Linienschiff. Ich besitze noch dicke Rollen von Zeichnungen, an denen er mir vom Kiel bis zur obersten Stenge jeden Bestandteil benannte und erklärte. Gleichzeitig studierte ich die Navy Estimates des englischen Parlaments und was ich mir von französischen und englischen technischen Werken über Dampfmaschinen, Schiffsartillerie und Organisation des Flottendienstes irgend verschaffen konnte.
Als im Ausschuß über die nächsterforderlichen Anschaffungen verhandelt, die Kosten geschätzt und daraufhin als erste Rate zur Flottengründung sieben Millionen Gulden im Plenum beantragt wurden, da konnte ich schon mit einiger Fachkenntnis, und nicht selten entscheidend, mitreden.
Die der Initiative des Parlaments zustehenden Vorbereitungen lagen überwiegend in meiner Hand, als nach Bewilligung jener Summe der Bremer Senator und Bürgermeister Duckwitz den Auftrag erhielt, ein Centralamt für die Marine als Abteilung des Reichshandelsministeriums einzurichten. So wurde ich als Rat in diese Abteilung berufen.
Zum Amtslokal angewiesen wurde mir der zweite Stock des Dietz’schen Hauses in der Eschenheimergasse, gegenüber dem Palais Mühlens, das heute dem Bürgerverein gehört, damals dem Reichsverweser Erzherzog Johann als Residenz diente; eine lange Flucht leerstehender Säle und Zimmer. In der Ecke des einen lag ein ellenhoher Stoß Akten des Bundestages in Marineangelegenheiten, obenauf die jüngsten noch unerledigten Zuschriften aus Schleswig-Holstein, Hamburg und von den zahlreichen Sammelvereinen.
„Raum haben Sie da wohl genug; nun legen Sie los mit der Flottengründung,“ sagte Duckwitz, als er mich am 15. November 1848 in diese wenig ermutigende Oede einführte.
Meine Thätigkeit begann damit, daß ich etliche Tische und Stühle vorläufig mieten, Aktenschränke, besser geeignete Schrei- bund Zeichentische bestellen, Papier, Tinte und Federn selbst einkaufen ging, einige Kopisten anwarb, den Schiffszimmermeister Zweitinger als Zeichner und als Sekretär Herrn Ebeling anstellte, der sich in diesem Amt vorzüglich bewähren sollte.
Mit dem Minister und meinem einige Tage später ernannten Kollegen, dem Abgeordneten Kerst, hatte ich zugleich den Sitzungen der technischen Kommission beizuwohnen, die unter Vorsitz des Prinzen Adalbert von Preußen den Flottenplan für eine Reihe von Jahren ausarbeitete. Uns unter Duckwitz aber verpflichtete der dringliche Auftrag des Parlaments, der Schande der Blockierung der Weser und Elbe baldmöglichst ein Ende zu machen. Was wir dazu an Dampfern teils ausrüstbar kauften, teils auf englischen Werften bauen ließen, stimmte wenig zu den von der Kommission geplanten, aber für unsere Ausgabe jedenfalls viel zu spät kommenden Fahrzeugen. So hatten wir denn unsere liebe Not, die resolut ohne Anfrage zur Begutachtung erworbenen oder bestellten Schiffe als den Forderungen der Techniker einigermaßen entsprechend zu verteidigen. Mir zumeist fiel diese heikle Pflicht zu, da ich zwei- bis dreimal wöchentlich zur Arbeit mit dem Prinzen im „Russischen Hof“ zu erscheinen hatte. Ich entsinne mich, daß ich im Gespräch mit ihm über eine Stunde im Zimmer auf und nieder laufen mußte, und immer desto schneller, je erregter sein Widerspruch wurde, bevor es gelang, Verzeihung unseres „kecken Vorgriffs“ und endliche Zustimmung auszuwirken zur Einstellung des in Amerika gekauften Dampfers „Hansa“.
Erfolglos dagegen blieben unsere Proteste gegen die Ruderkanonenboote.
[465][466] Diese, behaupteten wir, seien eine gleich antiquierte Vergeudung von Geld und Menschenkraft, wie Spinnrocken und Handwebestuhl, seit der hundertfach ergiebigere Dampf die Sträflingsarbeit in Galeeren abgelöst. Dawider berief man sich auf Dänemarks immer noch zahlreichen Besitz an Fahrzeugen dieser Gattung, nicht minder auf die Dienste, welche die skandinavische Schärenflottille in klippenreichem Strandgewässer zuweilen geleistet hatte – gegen Segelschiffe. Die verführerische Thatsache, daß eine Ruderjolle mit zwei Geschützen für etwa 6000 Thaler in kurzer Zeit fertig zu stellen war, machte den Improvisationseifer der Flottenvereine, ja, der Staatsbehörden und selbst unserer Techniker blind dafür, daß die Quälerei zur Leistung eines kläglichen Bruchteils der Maschinenkraft nur eins erzielen könne: unseren Matrosen den Flottendienst gründlich zu verleiden. So wurden denn auch uns von diesem verderblichen Spielzeug 27 Stück aufgehalst, um, wie vorausgesagt, nach wenigen Exerzierversuchen von trostlosem Ergebnis zu verrotten und schließlich zum Brennholzwert verkauft zu werden.
Abgesehen vom verdrießlichen Zwang zu diesem nach unserer Ueberzeugung verfehlten Unternehmen, fühlten wir uns hoch gestimmt und zu atemlosem Fleiß gespornt von dem Bewußtsein, Handgreifliches und Ersprießliches zu schaffen, während die Versammlung in der Paulskirche das glühende Eisen ungeschmiedet kalten ließ und Monate zur juristisch ausgespitzten Beratung der Grundrechte verbrauchte.
Im Frühjahr 1849 hatten wir auf der Weser bei Brake und Bremerhaven sechs wohlbewaffnete Dampfer liegen. Für das Oberkommando war der griechische Fregattenkapitän, jetzt Seezeugmeister, nachmals Admiral, Rudolf Brommy gewonnen, der sich als eifriger und umsichtiger Organisator ausgezeichnet bewährte. Auch das Offizierskorps vervollständigte sich allmählich, besonders durch Eintritt belgischer, wegen Verminderung ihrer Marine außer Dienst gestellter Offiziere, und die auf der „Deutschland“, einem anderweit nicht verwendbaren Slomannschen Kauffahrteischiff, eingerichtete Schule für die Kadetten, von uns Seejunker genannt, verhieß leistungsfähigen Nachwuchs.
Desto mehr gebrach es an Matrosen. Trotz der Unterbindung unseres Seehandels blieben die Werbeversuche fast erfolglos. Von einigen zwanzig aus Mecklenburg geholten Matrosen mußten die meisten als untauglich entlassen werden.
Ich hatte damals mit dem schon ernannten Marine-Stabsarzt Dr. Rudolf Heins dem Examen beizuwohnen, dem sich die zum Dienst in der Flotte angemeldeten Mediziner in dem dazu vom Senat bereitwillig zur Verfügung gestellten Hamburger Krankenhause unterziehen mußten. Dort erhielt ich von Duckwitz Auftrag, zu ermitteln, warum keine Matrosen zu erheuern seien, da deren doch eine Menge müßig sein müßte. So war es. Aber sie lebten auf Kredit bei den Schlafbaasen, und diese ließen ihre lebendigen Unterpfänder nur los gegen Zahlung ihrer Schulden.
Ich erklärte mich bereit, für jeden an Bord gelieferten Mann die quittierte Baasrechnung zu zahlen, bot in Plakaten angemessene Löhne und mietete zur Musterung einen Saal in St. Pauli. Da strömten denn Matrosen zu Hunderten zusammen, um sich messen und ausgekleidet von den eben ernannten und sogleich uniformierten Marineärzten auf ihre Gesundheit untersuchen zu lassen. In kurzer Frist waren gegen anderthalbhundert angeworben.
Nun aber fragte sich’s, wie dieser Trupp nach der Weser zu bringen sei. Sehr zu paß daher kamen mir zwei schon in Frankfurt als Offiziersaspiranten eingetragene junge Männer, die das Steuermannsexamen rühmlich bestanden hatten. Auf ihre Anfrage, warum sie noch keinen Bescheid auf ihre Meldung erhalten, versprach ich, ihnen definitive Patente auszuwirken, wenn sie, als provisorische Deckoffiziere uniformiert, die Matrosen auf gemietetem Dampfer nach Stade, von dort, da die Mündungen der Elbe und Weser von den Dänen blockiert waren, auf Leiterwagen nach Bremerhaven brächten. Das gelang ihnen bestens. Den richtigen Empfang der Mannschaften quittierend, begrüßte mich Freund Brommy als einen Hexenmeister. Die beiden jungen Steuermänner hatten mein auf den ersten Blick gefaßtes Vertrauen gerechtfertigt und rechtfertigten es in der Folge noch glänzender. Denn in ihnen hatte ich den nachmaligen Admiralen Kinderling und Werner auf die erste Stufe ihrer Laufbahn hinaufgeholfen.
Am 5. April 1849 hatten zwei schleswig-holsteinische Strandbatterien und eine von Herzog Ernst von Koburg-Gotha rechtzeitig herangezogene nassauische Feldbatterie das dänische Linienschiff „Christian VIII“ in die Luft gesprengt, die als Schnellsegler berühmte Fregatte „Gefion“ gezwungen, die Flagge zu streichen. Sofort nach Eingang der Siegesdepesche ward ich hingeschickt, diesen so unerwarteten als erwünschten Zuwachs unserer Flotte zu übernehmen.
Von einigen dreißig Vollkugeln war das Heck der „Gefion“ zum Siebe geschossen. Das Schiff der Länge nach durchschlagend, hatten sie bis zu elf Mann auf einen Schuß niedergestreckt, im Innern eine grausige Verwüstung angerichtet. Das Eichenholz der Deckbalken sah man zu Strohbüscheln zerfasert, dazwischen Skalpfetzen und den Brei zerschmetterter Gehirne. Das Gestade rings um die Bucht lag bedeckt von den Leichen der mit in die Luft geflogenen Dänen.
Gegen achtzehn Landgeschütze war eine fast zehnmal so zahlreiche Schiffsartillerie ohnmächtig unterlegen. So hat dies denkwürdige Treffen den Hauptanstoß gegeben, das dem präciseren Feuer der Küstenkanone gegenüber fast wehrlos gewordene Holzschiff abzuschaffen und durch die schwimmende Festung von Stahl zu ersetzen.
Einige Verse aus der Zueignung meines „Demiurgos“ veranschaulichen mit photographisch treuen Einzelzügen die Walstatt dieses Kampfes, wie sie 24 Stunden nach demselben aussah:
Ich sah das Ufer tief durchwühlt
Von Dänmarks Zweiunddreißigpfündern,
Besät mit Splittern, Bombenscherben,
Kartätschen und Granatenzündern,
Umsonst verschwendetem Verderben.
Ich trat auf einen Riesenspan
Vom Mittelmast des Christian.
Ein glühender Kanonenball
War mitten in das Holz geschlagen
Um ellentief in leisem Fall
Wie’n Feuerwurm sich fortzunagen.
Ich sah das Wrack mit schwarzgebrannten
Vom Pulver kraus verschrägten Spanten
Noch klafterhoch der Flut enttauchen
Und hier und da noch leise rauchen.
Es schien ein Vorweltungeheuer
Gestrandet an verborgner Klippe,
Ein Wal, dem hier ein mächtig Feuer
Das Fleisch gefressen vom Gerippe.
Dann war es mir ein Freudenschreck,
Der Gefion zerschoss’ne Bohlen
Nunmehr als deutsches Kriegsverdeck
Zu fühlen unter meinen Sohlen.“
Ich besitze noch zwei Andenken aus jenen Tagen: einen Eichenklotz vom Kiel der nun längst zerschlagenen „Gefion“ und ein halb verbranntes Signalbuch der dänischen Ruderflotte (Roflotillen). Dies war vom „Christian“ in die Luft geflogen und nahezu eine Viertelmeile landein niedergefallen auf einem Feldstück des Grafen Reventlow-Altenhof, bei dem ich im Hauptquartier des Herzogs von Koburg-Gotha einen Tag zubrachte.
Erwähnt sei noch, daß ich damals bei Eckernförde dem ersten Schießversuch mit birnförmigen, an der Spitze mit einem Zündhütchen versehenen Granaten beiwohnte. Leider platzten mehrere schon im Rohr. Von den übrigen fehlte keine das Ziel, so daß die Treffsicherheit durch die neue Geschoßform gesteigert schien. Die Sprengwirkung der im Augenblick des Einschlagens erfolgenden Explosion war eine so furchtbare, daß ein so in der Wasserlinie getroffenes Schiff unrettbar verloren sein mußte.
Panzerschiffe gab es noch keine, aber die Idee derselben war doch schon aufgetaucht und wir hätten die ersten sein können, sie zu verwirklichen. Schon im Ausschuß nämlich, und mehr noch in der Abteilung waren wir förmlich überschwemmt worden mit Erfindungen. Die meisten waren grotesk, ungeheuerlich, selbst blödsinnig; die tollste z. B. ein Prahm, bewaffnet mit einer dampfgetriebenen Zange, gigantisch und stark genug, um ein Linienschiff, das so gut sein wollte, sich einkneifen zu lassen, masthoch aufzuheben, umzudrehen, Geschütz und Bemannung [467] herauszuschütteln und es dann zerknackt wie eine Nuß ins Meer plumpsen zu lassen.
Aber auch verheißungsvolle Anerbietungen mußten wir, wegen Mangels an Zeit und Geld zu Experimenten, ablehnen. So den wohl motivierten, von sauberen Zeichnungen begleiteten Vorschlag gezogener Kanonen für konische Geschosse, der wenige Jahre später von Napoleon III ausgeführt wurde; so den eines gepanzerten Dampfkanonenbootes mit beigegebenen Tabellen über Schießversuche zur Erprobung der Widerstände verschieden dicker Eisenplatten. Bekanntlich fand auch diese Idee ihre erste Nutzanwendung in Frankreich beim Bau schwimmender Batterien für den Krimkrieg.
Sechs Monate nach Einsetzung der Marineabteilung konnte ein Geschwader kampfbereit von der Weser auslaufen. Am 4. Juni 1849 kam es zum Seegefecht bei Helgoland. Die Berichte über dasselbe lauten sehr widersprechend. Am vollständigsten zusammengefaßt hat sie Vizeadmiral Batsch in seiner Schrift „Deutsch Seegras“, Berlin, Gebr. Paetel 1892. Das scheint sicher, daß die schwer beschädigte Korvette „Valkyren“ der Enterung und Vernichtung durch unsern Dampfer „Hamburg“ unter Kapitän Reichert nur entgangen ist, weil auf die Warnschüsse der englischen Batterie auf Helgoland das Flaggschiff Brommys, „Barbarossa“, Befehl zur Umkehr signalisierte. Wie die Korvette mußte auch der Dampfer „Geyser“ zur Reparatur nach Kopenhagen zurück. Da die dänischen 18- und kurzen 32-Pfünder, von nur einem Treffer in unsere Takelage abgesehen, durchweg zu kurz geschossen, scheuten die Blockadeschiffe wohl einen zweiten Angriff aus unsern achtzölligen Bombenkanonen und englischen 56-Pfündern. Sie verschwanden; die Blockade war aufgehoben und mit dieser Lösung unserer Hauptaufgabe ein zweifelloser Erfolg erreicht.
Dies Gefecht blieb die einzige Aktion unserer in Hast improvisierten, aber trotz vieler Mängel immerhin schon ansehnlichen Flotte. Alsbald begann aber ihr Martyrium mit der empörend unverschämten Note Palmerstons. Armierte Fahrzeuge unter schwarzrotgoldener Flagge – so ungefähr lautete dieselbe – hätten im britischen Gewässer um Helgoland eine Kanonade gegen dänische Kriegsschiffe eröffnet. Im Wiederholungsfall würden dieselben als Piraten behandelt werden. Meinen Entwurf zur Antwort wagte der Minister nicht einmal seinen Kollegen mitzuteilen. Zähneknirschend mußten wir den Schimpf unterschlucken.
Schon aber stand uns Schlimmeres bevor seitens deutscher Bundesgenossen.
Ein ungemein anerkennender Bericht über die junge Schöpfung, den der österreichische Fregattenkapitän v. Bourguignon erstattete nach achttägiger gründlicher Musterung und Probefahrten in der Nordsee, auf denen ich ihn begleitete, hatte nicht vermocht, das entschiedene Uebelwollen Oesterreichs zu besiegen. Von Wien aus gepflegt, überwog und lähmte die Kostenscheu der meisten Mittel- und Kleinstaaten das nur von Oldenburg, Hannover und den Hansastädten unterstützte opferbereite Wohlwollen Preußens. Als eben noch drei neue Dampfer auf der Weser eingetroffen und ich von der Abnahme derselben aus England zurückgekehrt, fand ich unser Werk schon so gut wie verurteilt.
Wie über die Gründung, giebt auch über die Auflösung und unsere mit aufreibender Anstrengung fortgesetzten, doch erfolglosen Rettungsversuche die ausführlichste und verläßlichste Auskunft die aus den Staatsarchiven in Berlin und Hannover geschöpfte Schrift „Die deutsche Flotte von 1848 bis 1852“ von Dr. M. Bär, Leipzig, S. Hirzel, 1898.
Ich schweige von dieser trostlosen Siechtumsgeschichte und ihrer letzten Schmach, der Verauktionierung durch Hannibal Fischer. Von diesem „Totengräber der deutschen Flotte“ entwirft ein Brief des bremischen Bürgermeisters Smidt, abgedruckt im eben genannten Werke Bärs, ein so zutreffendes als erschöpfendes Charakterbild. Danach hat sich der ins Leben zurückgalvanisierte Bundestag unsterblichen Mißruhm eingelegt, indem er für die leider unvermeidlich gewordene Auflösung einer von der Nation ersehnten Schöpfung diese tragikomische Figur zu seinem Bevollmächtigten erkor.
Nur noch eine Erinnerung von unvergänglichem Geschichtswert sei hier aufgezeichnet.
Während die politische Konstellation den Fortbestand der Marine bereits fraglich machte, hatte ich die Ehre, mit dem Preußischen Marinebevollmächtigten Obrist von Wangenheim und dem hannoverischen Hauptmann Marcard zur Mittagstafel beim Prinzen von Preußen eingeladen zu werden.
Der nachmalige deutsche Kaiser veranlaßte mich, von meinen Erlebnissen in der Paulskirche und namentlich davon zu erzählen, wie die Partei der Erbkaiserlichen durch weitgehende Nachgiebigkeit in Betreff ihr bedenklicher Paragraphen der Reichsverfassung die genügende Mehrheit zur Wahl des Königs von Preußen zusammengebracht. Dann gab er dem Gespräch eine Wendung zu Marinefragen. Er wolle nicht verhehlen, daß ihm unser Unternehmen von vornherein den Eindruck eines verfrühten, bei seiner Kostspieligkeit auch etwas leichtsinnigen Versuches gemacht habe.
Ich bekannte, daß ein nicht ganz unerheblicher Teil der Schuld an dieser kecken Vorwegnahme mir zur Last falle, und fügte hinzu, daß jetzt auch mein Glaube an die Zukunft unserer Schöpfung sehr ins Wanken komme.
Da fiel plötzlich, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, eine Frage von seinen Lippen, die mich erschreckte, als brenne mein Stuhl.
„Sagen Sie, versteht denn mein Vetter Adalbert etwas von der Marine?“
Dabei hielten seine Augen die meinigen fest mit jenem fridericianischen Blick, der bis tief ins Gewissen eindringt.
Kein Zweifel, nur auf entscheidende Probe stellen sollte den jungen Marinerat die befremdliche Zumutung eines Urteils über den prinzlichen Chef der Königlich preußischen Marine. Wenn auch nur ein Tröpfchen Vorwitz meine Antwort färbte, dann hatte ich vom Hohenzollern eine eisige Abfertigung zu erwarten und war für ihn endgültig durchgefallen.
„Wir alle,“ versetzt’ ich rasch gefaßt, „und vor allen ich, haben erst in der Arbeit das A B C des neuen Fachs lernen müssen. Darin wenigstens glaub’ ich weit genug gekommen zu sein, um behaupten zu dürfen, daß Se. Königl. Hoheit Prinz Adalbert aus umfassender Kunde des englischen Seewesens in die technische Kommission mehr Vorkenntnisse mitgebracht hat als irgend ein anderes Mitglied.“
Ich hatte bestanden. Er lächelte freundlich, aber dem Ausdruck der Güte war ein schalkischer Zug beigemischt, als ob er dächte: nicht unbehend aus der Schlinge geschlüpft.
Nach Aufhebung der Tafel winkte er mich in eine Fensternische, während Graf Pückler, sein Hofmarschall, die anderen Gäste zum Flüstergespräch um sich gruppierte.
„Sie haben recht,“ schloß er die Unterredung, „an der Zukunft Ihrer Marine zu verzweifeln. Auch Preußens guter Wille vermag sie nicht mehr zu retten. Es war verkehrte, jugendliche Uebereilung, erst eine Flotte schaffen zu wollen und nachträglich dazu das Reich. Ueberhaupt habt ihr in der Paulskirche so manchen überkühnen Griff gethan. Aber darunter auch einen, der sich, mein Wort darauf, nicht als Mißgriff erweisen soll. Das Reich kommt, mit ihm dann auch die Flotte. Die Gründung freilich geschieht nimmer durch Parlamentsbeschlüsse.“
So war ich einer der wenigen, die es längst von ihm selbst wußten, zu welchen Erfüllungen er als König rüste, als er sich unbeirrt mit schwerer Unpopularität belastete und gegen die Majorität ausführte, was nur er allein mit seinen Paladinen als unerläßlich geboten erkannt hatte.
An großen Wenden flößt die Weltgeschichte ihren Willen gern der handelnden Hauptperson ein als leidenschaftliche Vorliebe für das erforderliche Thatenfach. So ist meinem Glauben Kaiser Wilhelms II Passion für das Seewesen die providentielle Fügung des Willens, der sich zu seiner Vollstreckung ein meergewaltiges Deutschland ausersehen hat.
Wohl uns, daß die zwingende Beredsamkeit der Weltlage ihn der dornenvollen Pflicht überhoben hat, wie einst sein Großvater die Kräftigung des Heeres, so den Ausbau der Flotte gegen eine Majorität durchsetzen zu müssen.
So ein wiegendes, wogendes Aehrenfeld
Ist doch das Holdeste in der Welt!
Wie sich die Halme schmiegen und neigen,
Wollen die stäubenden Blütlein zeigen;
Jungfer Cyane, die Schönste im Korn,
Tanzt mit dem Junker Rittersporn;
Sieht es der Mohn, der Schwerenöter,
Wird er vor Eifersucht rot und röter.
Grillen die surrende Fidel streichen,
Wollen vor Tau und Tag nicht weichen,
Lerche, das lustige Saatenkind,
Ihres Singens kein Ende find’t.
Alles flüstert und lacht und schwirrt,
Tief im Grunde die Wachtel girrt,
Falter, Libellen fliegen herbei,
Fragen, was für ein Fest denn sei. – –
O du rauschendes, fröhliches, sonniges Korn,
Sei uns gesegnet, du Segensborn!
F. Vochazer.
Es ist sehr unrecht, wenn man die Nervosität mit dem Schlagwort „Modekrankheit“ oder „Krankheit des Jahrhunderts“ abfertigen und den Nervösen den Rat geben will, sich zusammenzunehmen und ihre Krankheit mit dem Willen zu unterdrücken.
Gewiß giebt es leichte Fälle, wo der Kranke die Klagen über seine Krankheit unterlassen und trotz seiner Beschwerden seiner gewohnten Tagesleistung nachgehen kann, bis die Besserung eingetreten ist, aber man darf sich deshalb noch nicht denken, daß die Genesung die Folge dieser Willensanstrengung gewesen sei. Man sieht wenigstens als Arzt viel mehr Fälle, wo gerade durch die Willenskraft die Krankheit lange niedergehalten wurde, bis sie schließlich den Kranken überwältigte und nun es vielfacher Mühe bedurfte, um wieder beseitigt zu werden. Die Nervosität besteht in einer krankhaften Unfähigkeit des Nervensystems, die bei geistiger und körperlicher Arbeit verbrauchten Teile in der beim Gesunden ausreichenden Zeit, also unvermerkt, wieder zu ersetzen. Es ist selbstverständlich, daß diese Fähigkeit nicht durch Willenskraft, sondern nur durch Verminderung der Ansprüche und Steigerung der Kraftvorräte des Nervensystems wiedergewonnen werden kann. Die Umgebung des Nervösen ist aber gewöhnlich zufrieden, wenn er nur nicht mehr von seinen Beschwerden spricht; sie hält ihn für genesen, wenn sie nur selbst Ruhe vor ihm hat.
Man begründet den Ausdruck „Modekrankheit“ gewöhnlich damit, daß es früher nicht so viel Nervöse gegeben habe, und sucht die Ursachen in den eigentümlichen sozialen Verhältnissen der Gegenwart, in dem rastlosen Treiben und Drängen, der Jagd nach dem Erwerb, dem Strudel der Vergnügungen. Auffallend ist dabei nur, daß so viele, die am tiefsten in diesem Getriebe stecken, nicht nervös sind und daß man Nervöse auch im stillsten Dorfe findet, wohin kaum ein Hall von dem Geräusch des Lebens dringt. Das Entscheidende für die Entstehung der Nervenschwäche ist in Wirklichkeit eine angeborene oder in der Kindheit erworbene geringere Widerstandsfähigkeit des Nervensystems. Natürlich sind die damit Behafteten im späteren Leben um so mehr gefährdet, je mehr sie an Arbeit, Gemütsbewegungen u. dgl. zu tragen haben.
Zum Glück hat die größere Aufmerksamkeit, die wir seit einigen Jahrzehnten der Nervenschwäche schenken, uns auch gelehrt, daß selbst der angeborene Mangel an Widerstandsfähigkeit der Nerven eines bedeutenden Ausgleichs fähig ist, und zugleich haben wir gelernt, wie die Ursprünge der Nervosität in der Kindheit und Jugend bekämpft werden können. Leider schenken viele Eltern und Erzieher den Anzeichen nicht die erforderliche Beachtung; sie spotten über die Gefahr, so lange sie noch abwendbar ist. Wie oft hört man sagen: Kinder dürfen noch nicht nervös sein, und sieht um so strenger und gewaltsamer gegen die vermeintliche Unart der Kinder vorgehen, je nervöser und reizbarer die Eltern sind. Wer aufmerksam ist und zu beobachten versteht, findet die Spuren der krankhaften Anlage schon sehr früh und kann sich rechtzeitig nach Hilfe umsehen.
Nervöse Kinder im ersten Lebensjahre sind zart, sie schreien übermäßig viel ohne besonderen Anlaß, sie zittern bei jedem besonderen Eindruck und geraten leicht in Ohnmacht. Wenn sie durch alle Zeichen ihre Aufregung verraten, pflegt man sie auf den Armen zu schütteln oder im Wagen, der ja jetzt meist die Wiege ersetzt, hin und her zu rütteln. Wenn man sich vorstellt, wie einem erwachsenen Nervösen zu Mut sein würde, wenn man seine peinlichen Empfindungen in dieser Weise bekämpfte, kann man ungefähr ermessen, wie vorteilhaft solches Verfahren für ein Kind sein muß, wenn es auch schließlich dabei „in seiner Qual verstummt“. Andere Kinder verraten ihre Nervosität durch Aufschrecken aus dem Schlaf, unruhige Träume, wieder andere dadadurch, daß sie bei jedem ungewohnten Eindruck erröten oder erblassen. Auch eine übertriebene Furcht vor harmlosen Tieren, vor dem sich drehenden Kreisel oder anderen beweglichen Spielzeugen, vor dem Gewitter etc. gehört hierher. Andere Zeichen
[469][470] kommen im Schulalter der Kinder hinzu. Während viele Kinder, nachdem sie die Aufregung der ersten Wochen des Schulbesuchs hinter sich haben, munter und frisch wie vorher erscheinen, werden andere, ohne eigentlich krank zu sein, blaß und matt; sie klagen über Kopfweh, sind unlustig und verdrießlich, haben keinen rechten Appetit, wollen namentlich morgens vor der Schule nichts genießen und bekommen wohl gar Erbrechen, wenn man sie dazu zwingen will; abends wollen sie nicht ins Bett, weil sie sich vor dem Alleinsein im Schlafzimmer fürchten. Gewöhnlich hält man sie dann für blutarm; oft sind sie es auch, aber noch öfter sieht man, daß sie wenige Tage nach Beginn der Ferien wieder frisch und munter sind, während eine so kurze Zeit nicht zur Heilung einer wirklichen Blutarmut ausreichen würde. Andere nervöse Kinder sind mehr aufgeregt, sie beginnen zu nachtwandeln oder zeigen Andeutungen von Mondsucht, beides Zeichen unruhigen und zu leichten Schlafes. Wieder andere fallen durch ihre allzu rege Phantasie auf, durch die Leichtigkeit, mit der sie sich ganz in ihre Spielrollen hineinversetzen. Dieser gesteigerte Nachahmungstrieb nervös angelegter Kinder ist auch die Ursache der sogenannten nervösen Schulepidemien, die wohl alljährlich hier und da beobachtet, aber merkwürdigerweise immer noch nicht gleich richtig erkannt und behandelt werden. Wenn z. B. ein nervöses Kind an Veitstanz oder ähnlichen Zuständen erkrankt und davon unnötiges Aufsehen gemacht wird, wenn man einen großen Aufstand um das Kind macht, es im Wagen nach Hause bringt etc., so erregt das die Nerven der andern aufs höchste, und natürlich immer mehr, wenn erst mehrere erkrankt sind und nun zu Hause und in der Schule von nichts anderem gesprochen wird. Die Erfahrung lehrt, daß solche nervöse Epidemien schnell aufhören, wenn man jedes Kind bei der ersten Andeutung nach Hause schickt und ihm sagt: du darfst dich ein paar Tage ausruhen; wenn dir besser ist, kannst du wiederkommen!
Was soll man nun thun, um die Kinder nicht erst nervös werden zu lassen? Man kann doch gar nicht wissen, ob ein Kind dazu beanlagt ist! Das ist aber auch gar nicht nötig; man soll eben alle Kinder so behandeln, daß sie gesunde Nerven bekommen. Dazu gehört zunächst, daß man kleinen Kindern ihre Ruhe läßt. Man soll sie nicht rütteln und schütteln und sie nicht durch stürmische Freudenbezeigungen erschrecken. Ein recht deutlicher Hinweis liegt darin, daß kleine Kinder gewöhnlich Herren lieber mögen als Damen; das kommt daher, daß Herren gewöhnlich die Kinder in Ruhe lassen, während Damen nicht leicht von der Unsitte zärtlicher Küsse abgehen. Sehr wichtig ist, daß man die Kinder nicht übermäßig warm einhüllt, auch das Zimmer nicht etwa über 15 Grad R. erwärmt, daß man das Badewasser nicht wärmer als 26 Grad R. nimmt etc. Ebenso verkehrt wäre es, die Temperaturen zu niedrig zu nehmen, wie es im Anschluß an die Kneippschen Lehren neuerdings öfters geschieht, denn auch dadurch werden die Kinder nervös. Ferner soll man die Kinder vernünftig ernähren, so daß ihre Kräfte den Anforderungen ihres geistigen und körperlichen Wachstums entsprechen, und man soll ihnen genügend Schlaf in ruhigen, gut gelüfteten Zimmern gewähren, damit sie nach der Tagesarbeit reichliche Ruhe finden. Vor dem Schulalter, wo das Kind ja auch beständig geistig und körperlich lernt und arbeitet, ist eine Stunde Liegen in der Mitte des Tages überaus erwünscht, und ebenso sollte man auch in den Schuljahren daran festhalten, zumal wenn im Sommer der Unterricht früh morgens beginnt, der Schlaf aber wegen der schönen Abendstunden auch nicht allzu zeitig begonnen wird. Man muß überhaupt die Schulkinder mehr, als es bisher üblich ist, als wirklich durch die Arbeit angespannt betrachten und sie demgemäß behandeln. Man muß, wenn irgend möglich, dafür sorgen, daß sie ihre Arbeiten in Ruhe machen können, nicht etwa in einem Raume, wo gleichzeitig andere Kinder spielen oder eine Nähmaschine bearbeitet wird oder wo Personen ab- und zugehen.
Sehr wichtig ist es, daß die Erholungszeit weder durch zu anstrengende oder aufregende Spiele noch durch vorzeitige Musikstunden ausgefüllt wird, und daß man die Kinder nicht durch Handarbeiten ermüdet, die dann gewöhnlich zeitweise, z. B. gegen Weihnachten, bis zur Erschöpfung und Unlust gehäuft werden. Bei der Ernährung kommt es auch darauf an, daß die Mahlzeiten zu bestimmten Zeiten und in nicht zu langen Pausen eingenommen werden, mindestens fünfmal am Tage, und diese Gewohnheit soll auch durch die Schule keine Unterbrechung erleiden. Bei größeren Kindern macht das gewöhnlich keine Schwierigkeit, aber in den ersten Schuljahren haben die Kinder oft zu wenig Trieb, in der Zwischenstunde zu frühstücken; sie haben sich dann zu viel zu erzählen, oder sie haben noch schnell etwas für die nächste Stunde vorzubereiten. Es wäre deshalb sehr erwünscht, wenn die Lehrerinnen, denen ja meist der Unterricht der ersten Schuljahre obliegt, beim Beginn der Zwischenstunde aufforderten: „So, jetzt eßt euer Butterbrot“; dann würden die Kinder stets mit dem größten Vergnügen ihre Frühstücksmahlzeit halten. Sehr verwerflich ist es, wenn manche Lehrer die Stunden nicht pünktlich beendigen und dadurch die Pausen verkürzen, oder wenn den Kindern nicht nach der anstrengenden Unterrichtsstunde in der Pause freieste Bewegung und ungebundenes Entäußern gestattet wird. Wenn Erwachsene nach einer einstündigen Gedankenarbeit das gebieterische Verlangen empfinden, sich durch Auf- und Abgehen im Zimmer oder dergleichen eine Erleichterung zu verschaffen, so muß man das doch erst recht den viel leichter erschöpfbaren Kindern zubilligen. Selbstverständlich muß man auch sorgfältig darauf halten, daß die Luft im Schulzimmer zu Beginn jeder Stunde gut sei, und daß die Schulräume genügend erwärmt und auch wieder nicht zu warm seien, denn jede Abweichung in diesen Verhältnissen schädigt die Fähigkeiten und die Gesundheit der Kinder. Man hält oft genug thörichterweise den Vertretern der Gesundheitspflege entgegen, daß man doch früher ohne solche hygieinische Maßregeln ausgekommen sei, ohne daß die damaligen Schüler an ihrer Gesundheit Schaden gelitten hätten. Abgesehen davon, daß es unsinnig ist, eine zweckmäßige Neuerung deshalb abzulehnen, weil sie „früher nicht gewesen ist“, muß man derartigen Einwürfen doch entgegenhalten, daß sich ja alle Welt darüber beklagt, wie sehr die Nervosität, die Rastlosigkeit, die Sucht nach Betäubung der inneren Unruhe durch künstliche Reizmittel zunehmen; Grund genug, wenigstens der Jugend alles fernzuhalten, was dahin führen kann.
Bekanntlich hat seit etwa zwei Jahrzehnten die Frage der Ueberbürdung der Schulkinder viel Staub aufgewirbelt. Die Behauptung eines deutschen Irrenarztes, daß Ueberbürdung in der Schule wiederholt in späteren Schuljahren völligen geistigen Zusammenbruch und schwere geistige Krankheit hervorgerufen habe, ist längst als unhaltbar erkannt worden. Derartige schwere Erscheinungen treten nur ein, wenn eine sehr üble angeborene Geistesanlage vorhanden ist, die dann zur Zeit des eintretenden Jünglingsalters mehr aus inneren als aus äußeren Ursachen in die Brüche geht. Auch der leider auf so vielen Schulen herrschende Alkoholmißbrauch hat schon oft solche Zusammenbrüche verschuldet. Daß aber sehr viele Kinder im Laufe der Schulzeit Schaden an ihrer Nervengesundheit erleiden, daß sie nervös werden, auch ohne vorher übermäßig dazu veranlagt zu sein, das ist unbestreitbar und allgemein gültig. Von der Schule wird die Schuld gewöhnlich ohne weiteres auf die häuslichen Verhältnisse geschoben, und oft mit Recht. Aber wenn zu Hause Dummheiten gemacht werden, so verpflichtet das die Schule doch nur, vom Standpunkte ihrer überlegenen pädagogischen Einsicht aus ein besseres Beispiel zu geben, auch wo es sich um scheinbare Kleinigkeiten handelt. Ein sehr wunder Punkt ist vielfach noch die zu harte Behandlung der schwächer beanlagten Schulkinder. Die Kinder können doch jedenfalls nichts dafür, wenn sie von den Eltern in Schulen gebracht werden, deren Anforderungen sie nicht gewachsen sind, aber trotzdem werden sie oft für ihre unzureichenden Kräfte gestraft und dadurch in ihrem Gesamtnervensystem schwer geschädigt. Ich wünschte jedem Pädagogen einen Kursus an einer Unterrichtsanstalt für Schwachsinnige, um deutlich zu lernen, daß gerade bei Minderbegabten nur die vollendete Güte und Geduld Erfolge erzielen! Die Ueberfüllung der heutigen Klassen und die zweifellos bestehende Ueberbürdung der Lehrer macht ja vielfach ein genaueres Eingehen auf die Geistesart des einzelnen Schulkindes unmöglich, und in diesem Sinne würde eine gründliche Aufbesserung der Verhältnisse des Lehrstandes ebenfalls sehr dazu beitragen, die Ausbildung der Nervosität bei dem heranwachsenden Geschlecht zu vermindern.
Um nach glücklich überwundenen Schul- und Lernjahren vor [471] Nervosität bewahrt zu bleiben, gilt es vor allem, in möglichst ruhigem Gleichmaß zu leben. Regelmäßiger und rechtzeitiger Beginn des Tagewerkes ermöglicht in den meisten Fällen, die Arbeit ruhig und ohne angreifende Ueberhastung zu vollenden und auch die nötigen Erholungspausen einzuschalten. Auch in den Genüssen und Erholungen soll man alles Gewaltsame vermeiden. So gesund Spazierengehen, Radfahren, Baden und andere Körperübungen sind, so schädlich kann ihr Uebermaß wirken. Gerade bei Nervosität kommt es sehr leicht zu solchem Uebermaß, weil die peinlichen Empfindungen und Stimmungen des Erschöpfungszustandes zu einer krankhaften Rastlosigkeit führen, oder weil der Nervöse eine unbestimmte Vorstellung hat, daß für seine Beschwerden etwas geschehen müsse, und nun im Gegensatz zu der vorhergehenden geistigen Anspannung sein Heil in körperlicher Ausarbeitung sucht. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß geistige und körperliche Thätigkeit doch im Grunde aus derselben Quelle gespeist werden, daß das Nervensystem bei beiden arbeitet, wenn auch in etwas verschiedener Weise, so kann man sich leicht denken, daß das Uebermaß körperlicher Anstrengung auch dem Nervösen schaden muß. Die Körperübung hat hier in der That nur soweit Berechtigung, als sie von geistiger Arbeit ableitet und eine allgemeine Anregung des Stoffwechsels und des körperlichen Ersatzes vermittelt, d. h. also, soweit sie durch die nachfolgende Ruhe vollkommen wieder ausgeglichen wird.
Zu beachten bleibt vor allem eine regelmäßige und zweckmäßige Ernährung (vgl. des Verfassers Schriften „Gesunde Nerven“ und „Kochbuch für Kranke“). Die Genußmittel wie Kaffee und Thee sollen nicht ohne besonderen Grund ausgeschlossen werden, denn nur ihr Uebermaß ist gemeinhin schädlich, während ihre anregenden Wirkungen vielen Nervösen sehr gut thun. Es ist entschieden übertrieben, wenn man alle Nervenschwachen auf Malzkaffee, Hafersuppen u. dergl. setzen will, wie das namentlich die sogenannte Naturheilkunde gern thut. Um so mehr müssen Nervöse vor den alkoholischen Getränken gewarnt werden, die man leider vielfach als eine Art Nervenheilmittel zu betrachten scheint. Insbesondere ist es ein grober Unfug, Porter und andere schwere Biere, wie die alkoholreichen Malzbiere, als Kräftigungsmittel gegen Blutarmut, zur Anregung des Appetits und als Schlafmittel ohne Einschränkung zu empfehlen. Die vorübergehende Anregung, die der Alkohol mit sich bringt, täuscht den Kranken und Schwachen allerdings über manches Unangenehme hinweg, aber sie verhindert das, was ihm wirklich not thut: die richtige Erholung und Erfrischung seiner Nerven. Bei jugendlichen Personen wirkt der Alkohol überhaupt immer schädlich auf die Nerven ein, so daß diese streng zur völligen Enthaltung vom Alkoholgenuß veranlaßt werden sollten, damit der Feind zu keiner Hinterthür in der Maske des harmlosen und guten Freundes hereinkommen kann. Wirkliche Erholung bieten dagegen der Genuß der Natur, eine vernünftige Sonntagsruhe, harmlose Geselligkeit, vernünftig genossene Ferien, glückliches Familienleben, auch leichtere anspruchslose Musik, während die aufregenden Werke der modernen Kunst, wenn sie auch noch so hohen Genuß bieten mögen, doch immer viel Nervenkräfte verzehren. Geradezu gefährlich werden anstrengende Zerstreuungen, wenn man sie Kranken bietet, in der Absicht, sie dadurch von ihrer Krankheit abzulenken. So sind auch Erholungsreisen für Nervöse nur mit großer Vorsicht zu empfehlen.
Wo sich trotz der vorbeugenden Maßregeln Nervosität entwickelt – in ihren Anfängen durch Reizbarkeit, unbehagliche Unruhe, Unfähigkeit und Unlust zu geistiger und körperlicher Thätigkeit, Kopfdruck, Störungen des Schlafes etc. gekennzeichnet –, oder wo sich eine nervöse Anlage durch anhaltende Neigung zu krankhaften Stimmungen, Kopfschmerz, Migräne, nervöses Herzklopfen etc. äußert, ferner bei hartnäckiger Blutarmut in den Entwicklungsjahren, die ja so oft das Vorspiel zu späterer hartnäckiger Nervosität bildet, da sollte man nicht Zeit mit kleinen Mitteln verlieren, die doch nicht durchgreifend helfen, sondern mit einem Sachverständigen einen ernsthaften Kurplan feststellen und diesen gründlich durchführen. Es ist gar nicht zu ermessen, wie viel Elend, wie viel persönliche Leiden, wie viel Unglück im Beruf und in der Familie der Welt erspart werden könnte, wenn wir in dieser Richtung sorgsamer würden! Aus kleinen Anfängen entwickeln sich oft Störungen, die ein ganzes Leben unglücklich machen, und oft genug eröffnet der Ausspruch, daß jemand „nur ein bißchen nervös“ sei, den Ausblick auf ein langes, durch Leiden und Unfähigkeit zu normaler Leistung verpfuschtes Leben. Besonderer Fürsorge bedarf in dieser Hinsicht die weibliche Jugend, weil sie erfahrungsgemäß im ferneren Leben, sei es als Ehefrau oder als selbständiges Glied in der sozialen Welt, viel seltener als der Mann die Schädigungen und Vernachlässigungen völlig überwindet, die ihr frühzeitig erwachsen sind. Wenn ich in meiner Schrift „Ueber die geistigen Fähigkeiten der Frau“ für die weibliche Jugend nach vollendeter Lernzeit ein Erholungsjahr gefordert habe, das der Gesundheit in erster Linie gewidmet sein soll, so bin ich dazu durch sehr ernste Erfahrungen in meinem Beruf angeregt worden. Für Nervöse oder nervös angelegte Mädchen eignet sich zur Erholung vor allem ein Aufenthalt im Seeklima, und erfreulicherweise sind ja in den letzten Jahren an der Nordsee und an der in dieser Hinsicht ihr mindestens gleichwertigen Ostsee entsprechende Einrichtungen entstanden, die sehr gute und bleibende Ergebnisse versprechen.
Eine neue Erklärung der Marskanäle.
Seit einer Reihe von Jahren hört und liest man auf unserer Erde recht viel von den Marsbewohnern. Die Astronomen haben zuerst auf der Oberfläche unseres Nachbarplaneten ein Netz von dunklen Linien entdeckt und diese Linien Kanäle genannt. Im Verlauf weiterer Beobachtungen sind einige Forscher zu der Ansicht gelangt, daß diese Kanäle nicht von der Natur geschaffen, sondern von vernünftigen Wesen angelegt worden seien. Die „Gartenlaube“ hat im Jahrgang 1896 (S. 492) die Hypothese des amerikanischen Astronomen Lowell ausführlich besprochen. Laut derselben haben wir uns Mars als einen Weltkörper vorzustellen, auf dem im Vergleich zur Erde nur wenig Wasser vorhanden ist. An den Polen sind noch große Schnee- und Eismassen angehäuft, aber die Meere des Mars sind auf das geringste Maß zusammengeschrumpft. Vernünftige Wesen haben, um die Festländer zu bewässern, nach allen Richtungen Kanäle gegraben. In der Regel sehen wir dieselben nicht. Wenn aber zur Zeit des Frühlings die Schnee- und Eismassen an den Polen schmelzen, füllen sich die Kanäle mit Wasser, die Feuchtigkeit ruft die Vegetation hervor, und dann werden uns die mit Pflanzen bestandenen Flecken als dunkle Flächen sichtbar. Die Kanäle, deren Breite 30 bis 100 km und deren Länge bis 600 km beträgt, sind somit grünende Thäler, und die rundlichen dunklen Flächen, die an den Knotenpunkten der Kanäle auftreten, Oasen auf den Festländern des Mars, die im übrigen trocken, öde und wüst sind gleich der Sahara.
Diese Hypothese, die der Rührigkeit und Leistungsfähigkeit der Marsbewohner ein so glänzendes Zeugnis ausstellt, hat jedoch nicht alle Forscher befriedigt. So hat neuerdings der Astronom Leo Brenner von der Manorasternwarte auf der Insel Lussin piccolo die Entstehung der Marskanäle auf eine andere Weise zu erklären versucht. Auch für ihn sind diese dunklen Linien nicht Naturgebilde, sondern Werke vernünftiger Wesen. Brenner geht von der Anschauung aus, daß Mars bedeutend älter ist als unsre Erde. Er zeigt also eine Beschaffenheit,, die unser Planet erst nach vielen Millionen von Jahren aufweisen wird.
Mars besitzt eine dünne Atmosphäre; die Gebirgszüge, die sich einst auf ihm erhoben, sind im Laufe der Zeiten verwittert, Berg und Thal sind ausgeglichen und seine Festländer sind zu flachen Niederungen geworden, deren Küsten das Meer unaufhörlich benagt und zu verschlingen droht. Wo keine Gebirge sind, ist die Anlage von gradlinigen Kanälen nicht besonders schwierig. Daraus läßt sich erklären, warum die Marsbewohner so schnurgerade ihre Wasserstraßen anlegen konnten und nicht, wie wir es jetzt thun müssen, sich den Schwierigkeiten des von der Natur gegebenen gebirgigen Terrains anzupassen brauchten. Erstaunlich bleibt es aber trotzdem, wie sie Kanäle von so ungeheurer Breite anzulegen imstande waren.
Dieses Rätsel versucht nun Leo Brenner durch folgende Annahme zu lösen, zu der er durch den Major z. D. Holtzhey in Erfurt angeregt wurde. Bei der flachen Beschaffenheit ihrer Länder sahen sich die Marsbewohner genötigt, an den Küsten denselben Kampf gegen das Meer aufzunehmen, den gegenwärtig die Anwohner der Nordsee führen. Um ihr Land zu sichern, legten sie Deiche an. „Sie haben zunächst ihre Küsten durch Dämme geschützt und dann darauf gesehen, den anprallenden Wogen eine weitere Ableitung durch Anlage von Kanälen zu geben. Diese Kanäle hatten dreifachen Zweck: sie sollten nicht nur das anprallende Meerwasser ableiten, sondern auch die Schiffahrt nach allen Richtungen ermöglichen und den wasserarmen Planeten bewässern. – Alle Kanäle sind zu beiden Seiten von Dämmen eingefaßt, die gar nicht [472] hoch zu sein brauchen; einige Meter für die größeren und noch weniger für die kleineren könnten vielleicht genügen. Dabei ist die Arbeit ganz dieselbe, ob die Dämme 5 m oder 300 km weit abstehen. Die Breite der Kanäle ist folglich auf die natürlichste Weise erklärt und ihre Herstellung kein Kunststück. Denn abgesehen davon, daß die Schwerkraft auf Mars nur 0,376 der Schwerkraft auf der Erde beträgt, also mit demselben Kraftaufwand dort nahezu dreimal mehr geleistet werden kann, darf man nicht vergessen, daß die Kanäle nicht ein Produkt von Jahrtausenden, sondern von Jahrmillionen sind.“
Laut dieser Erklärung wären also die dunklen mehr oder weniger breiten Linien, die wir auf der Marsoberfläche wahrnehmen, nicht mit grünendem Pflanzenwachstum bedeckte Thäler, sondern wirkliche Wasserkanäle; als solche müßten sie aber stets vorhanden sein und nicht erst zur Zeit der Frühlingsschmelze auftreten. In der That glaubt sich Brenner auf Grund eingehender, in den letzten Jahren gemachter Beobachtungen zu der Behauptung berechtigt, daß diese Kanäle stets auf dem Mars vorhanden sind; nur sind sie uns nicht immer sichtbar; sie werden zeitweilig von Unklarheiten in der Marsatmosphäre, Wolken, Nebeln u. dergl., verdeckt.
Veränderungen, die an den „Seen“ der Marsoberfläche wahrgenommen worden sind, erklären sich nach Brenners Hypothese zwanglos durch Deichdurchbrüche oder niedrigen Wasserstand. Wer sich eingehender für diese Fragen interessiert, den verweisen wir auf die Abhandlung Brenners, die in der „Naturwissenschaftlichen Wochenschrift“ (Jahrg. 1898, Nr. 22) erschienen ist. Diese neueste Hypothese über das Wesen der Marskanäle ist nicht minder bestechend wie die Lowellsche. Ob aber die eine oder andere wirklich der Wahrheit entspricht, darüber vermag die strenge Wissenschaft heute noch nicht zu entscheiden. Die „Werke der Marsbewohner“ werden noch lange als ein schwer zu lösendes Rätsel die irdischen Geister beschäftigen. *
Die arme Kleine.
Elika fuhr nach Hause in ihrem eleganten Kutschierphaethon. Sie lenkte ein schönes, frommes Gespann. Neben ihr saß, eingewickelt in einen Mantel und in eine Wagendecke, die verkörperte, anbetende Liebe, Frau Heideschmied, und hinter ihr, auf dem Rücksitz, die Treue – Hanusch, der in den Dienst ihres Bruders Franz getreten und sich immer mehr zur Vertrauensperson qualifizierte.
Wenn Hanusch dabei war, durfte Elika reiten und kutschieren welche Pferde sie wollte. – Wie bevorzugt schien sie vor den Mühseligen, die sie einholte, die ihr begegneten. Einigen, die freundlich grüßend auswichen, anderen, die mißgünstig und grollend zu ihr hinaufsahen und denen sie ausweichen mußte. Weiber, tiefgebeugt unter der Last schwerer, feuchter Gras- oder Reisigbündel, Bettler, Vagabunden, die alte Dorfbotin, die ihre Butte in Leinwandfetzen gehüllt hatte und sich mühsam schleppte …
O ja, ja! Elika, so rasch und sanft dahingetragen, so gut behütet, schien nicht nur, sie war bevorzugt vor ihnen allen und fühlte sich dennoch entsetzlich arm und verlassen. Was hatte sie diesem Bornholm gethan, daß er ihr allmählich den Mut, ihn anzusprechen, raubte? Nie war ihr Aehnliches begegnet, immer waren alle Menschen gut gegen sie gewesen … Die Schulkinder höchstens ausgenommen. Aber die, die zählten nicht. – Wenn sie sich feindlich gezeigt hatten, waren sie verleitet worden von Schlimmeren als sie. Auch ihnen galt das göttlich schöne, die Anklage in Verzeihung wandelnde Wort: „Sie wissen nicht, was sie thun“ … Und was man bedenken muß, und was ihr jetzt zum erstenmal so recht ergreifend aufs Herz fiel: die meisten von ihnen leiden, sind elend. – „Durch ihre eigene Schuld, es müßte nicht sein,“ hatte neulich der Herr Direktor gesagt, und Tante Renate hatte erwidert: „Ist es darum weniger ein Elend, nicht vielmehr das ärgste?“ Im Augenblick, in dem Elika das gehört hatte, war es an ihr vorbeigeflogen, ohne ihr einen Eindruck zu machen, und nun kam es wieder und haftete und beschäftigte sie. Zugleich besann sie sich auch, daß die Tanten, daß Apollonia das Gespräch immer abbrachen, wenn sie ins Zimmer trat während einer Konferenz, die mit dem Herrn Pfarrer und dem Doktor über Armenpflege abgehalten wurde. Man fand sie wohl zu jung, um ihr ein Urteil in solchen Dingen zuzutrauen, wollte sie schonen, ihr nicht weh thun durch den Einblick in das Leiden, von dem sie umgeben und bisher doch unberührt geblieben war … Bisher! Plötzlich begriff sie, was man ihr verbergen wollte, das Verständnis dafür kam wie durch ein Wunder. Thränen schossen ihr in die Augen. Sie wendete – was ein richtiger Kutscher doch nie thun darf – einen Moment den Blick von ihren Pferden und sprach zu Frau Heideschmied:
„Wenn man ein wundes Herz hat, das ist gut … Das ist wie wenn einem die Augen aufgehen würden, begreifen Sie? wie wenn ein Schleier sich verschieben würde … Das Herz hat eine dicke Haut gehabt und jetzt hat es eine feine! so feine!“
„Sie werden doch nicht ein wundes Herz haben, chère petite,“ erwiderte Frau Heideschmied, die sich an den einzigen klaren Satz in dieser Rede hielt, und war sehr beunruhigt, als Elika versicherte:
„Ich habe es.“
„Das vergeht, ich hoffe, daß es bald vergeht … Sie haben nur eine unangenehme Impression empfangen. Fort damit, denken Sie an etwas andres! Es giebt so viel Liebes, an das man denken kann!“ Par exemple mon mari bien-aimé, klammerte sie in Gedanken ein.
„Wenn jemand ungezogen ist – traurig für ihn. Ich möchte nicht Herr Bornholm sein … So deplorable Manieren hat nur ein mit sich selbst zerfallener Mensch; ein Mensch ohne Religion.“ Was hätte die vortreffliche Frau Heideschmied darum gegeben, diese Worte nicht ausgesprochen zu haben. Sie übten eine erschreckende Wirkung aus. Elika stammelte mit Entsetzen:
„Keine Religion?“ und sah ganz verstört drein. Empfindungen, viel zu lebhaft und mächtig für das junge zarte Geschöpf, spiegelten sich in ihren Zügen – ein so tiefer Schmerz, ein so furchtbares Grauen! Sie schwieg, aber was ging in ihr vor, wie schrecklich war ihr zu Mute! … Keine Religion! also das giebt es bei andern noch als bei den Kannibalen? … Keine Verbindung mit Gott, keinen Weg zu ihm? In Not, Krankheit, Gefahr keine Hoffnung auf eine Zuflucht … Ein hilfloses Menschenkind sein und keinen allmächtigen Vater haben, zu dem wir beten, zu dem wir schreien! Einen Vater, der hilft aus Erbarmen, oder Hilfe versagt aus Liebe, weil sein Kind des Leidens bedarf zur Stählung, zur Läuterung … Wenn ich nicht weiß, wozu ich leide, ist ja Leiden ertragen der bare, geschlagene Unsinn … Dann will ich nicht – dann geh’ ich … Die Betrachtungen der armen Kleinen endeten in dem heißen Stoßgebet: – Bewahre jeden Unglücklichen, der keine Religion hat, vor schweren Leiden, allgütiger Gott!
Das Programm, das Leopold und Franz für den Regentag entworfen hatten, wurde nicht eingehalten; die à la guerre-Partie blieb aus. Elika hatte einen langen Brief von Joseph bekommen und Bornholm brachte einen nicht viel kürzeren mit, der für ihn eingetroffen war. Joseph kündigte die Ankunft neuer Sendungen an. Er hatte sie dieses Mal nach Velice dirigiert. „Packt sie aus, Kinder,“ schrieb er an die Geschwister, „putzt meine Zimmer und, wenn es Euch freut, auch die Euren mit Kriegerschmuck aus Südaustralien auf. In zwei Jahren, in einem vielleicht, bin ich wieder da und bewundere Euer Werk. Nebenbei führe ich dem Papa, wenn er’s erlaubt, die Wirtschaft und möchte Euch nur alle wiederfinden gesund und glücklich, und die Jungen älter und die lieben guten Alten jünger geworden.“
Dann kündigte er an, daß längere Zeit vergehen werde, bevor wieder eine Nachricht von ihm in die Heimat käme. Wenn seine Briefe in Velice und Valahora gelesen würden, wo war er da? Er wußte es jetzt selbst noch nicht. Ein englischer Naturforscher unternahm in einiger Zeit, gut begleitet und ausgerüstet, eine Expedition in das Innere des Landes und hatte Joseph aufgefordert, sich ihm anzuschließen. Er ließ sich das nicht zweimal sagen.
Wieder eine große und gefahrvolle Reise! Die Damen seufzten sorgenvoll, den beiden jungen Herren brannten die Köpfe. Er war doch ein glücklicher Mensch, ihr Joseph. Sie gönnten es
[473][474] ihm von ganzer Seele, hätten aber gar zu gern an seinem Glücke nicht bloß in Gedanken teilgenommen.
Heute war nur noch von ihm die Rede, von Abenteuern, die Bornholm und er miteinander bestanden hatten, und in denen Levin die führende Rolle immer seinem Freunde zuwies. Der sonst Wortkarge, Zurückhaltende – ein wahres Chamäleon, dieser Mensch – erzählte mit Schwung und Wärme. „Joseph kann und versteht alles,“ sagte er, „hat eine beneidenswerte Gabe, die Eingeborenen zutraulich und sogar anhänglich zu machen. Mit Tieren umzugehen habe ich erst von ihm gelernt.“
„Hansl,“ sagte Elika leise.
„Er hat zuwege gebracht, was noch keinem vor ihm gelungen ist, er hat einen Beutelmarder gezähmt. Zwei Dingos gehorchen ihm, wie Ihnen Ihre Jagdhunde, schlafen vor seiner Thür. Merkwürdige Tiere, schweigende Kämpfer, haben keinen Laut für den gräßlichsten Schmerz und erheben manchmal des Nachts ohne scheinbaren Grund ein höllisches Geheul. Vielleicht gewöhnt er ihnen das auch noch ab mit seiner Strenge, seiner Geduld. O, man kann von ihm lernen! Er ist in noch ganz andern Dingen mein Lehrmeister gewesen. Der seine aber war der Abscheu vor der unmenschlichen Grausamkeit der Europäer gegen alle lebendigen Urbewohner des ältesten, von den ‚Segnungen‘ der Civilisation am längsten verschonten Weltteils. Ja, wenn es mehr solche gäbe wie Joseph … Doch sind ja seinesgleichen, der beliebten Phrase nach, nur zur Bestätigung der Regel da.“
„Und um Sie Lügen zu strafen,“ sagte Luise zu ihm – während die Aufmerksamkeit der anderen einen Augenblick durch eine Diskussion, die sich zwischen Franz und seinen Geschwistern über die Zähmung eines eingefangenen Marders erhoben hatte, abgelenkt wurde – „den haben Sie lieb.“
„Ich hab’ es eine Zeit lang selbst geglaubt, ich habe mir sogar eingebildet, daß der Abschied von ihm mir schwer geworden ist und daß der brave Bursche mir abgehen werde. Täuschung! Es war, wie es bei mir immer ist – aus den Augen, aus dem Sinn. Wenn man jemand lieb hat und ist von ihm getrennt, müßte man doch, scheint mir, manchmal denken: Schade, daß er dies oder jenes nicht mit ansieht, mit erlebt … Nun, gestern habe ich darüber nachgedacht, warum mir das in Bezug auf Joseph nie eingefallen ist.“
„Sie haben sich vielleicht nur keine Rechenschaft davon gegeben.“
„Was – Rechenschaft? Ich weiß doch wessen ich mich besinne. Nein, in mir schlägt keine Neigung Wurzel, das ist vorbei, oder ist vielmehr, ehe sich’s entfalten konnte, im Keim vernichtet worden. Welke vor der Blüte, ich sagt’ es Ihnen schon einmal und kann es nicht oft genug wiederholen! Halten Sie mich nur ja nicht für zuverlässiger als ich bin, sonst erleben Sie eine schreckliche Enttäuschung und wenden sich, noch bevor ich von hier wegziehe, von mir ab.“
Kurzsichtigkeit oder Egoismus? Wie ihr dann zu Mute sein werde, danach fragte er nicht. Er forderte sie nur auf, ihn zu ertragen mit all seinen Launen, ihn zu zerstreuen, ihm wohlzuthun. Wenn aber sie nach Frauenart für den, der ihrer bedurfte, dem ihr Umgang ein Segen war, ein warmes Interesse faßte, ihn kümmerte und verpflichtete das nicht. Uebers Jahr kehrte er nach seinem Australien zurück und sie mochte sehen, wie sie mit sich fertig wurde … Hatte er auch für Elika kein Auge? ahnte er nichts von dem, was in ihr vorging, nichts von der schwärmerischen Neigung, die das Kind ihm weihte? Ein gutes Wort, das er ihr gönnte, machte sie reich für Tage. Ließ er sich, was nun doch manchmal geschah, in ein Gespräch mit ihr ein, leuchtete das helle Glück ihr aus den Augen. Die verwöhnte, von allen auf Händen Getragene floß über von Dankbarkeit für ihn, wenn er sie nur nicht mißhandelte.
Einmal hatte sie eine Anwandlung von Tollkühnheit und wagte ihn zu fragen, ob er wirklich keine Religion habe.
Er, weder bös noch erstaunt, sondern eher belustigt, erwiderte: „Eine Gewissensfrage! Sie können eben das Erziehen nicht lassen, freilich, wenn man so glänzende Resultate aufzuweisen hat … Sie haben doch Ihre Brüder erzogen und Ihre Großtanten.“ Er hatte einen seiner allerbesten Tage, einen von den allerseltensten, und da sie schon angefangen hatte, kühn zu sein, blieb sie dabei und sagte:
„Das ist alles nichts, das machte sich alles von selbst. Sie zu erziehn sollt’ mir gelingen – das wäre was!“ –
Die ersten Fröste kamen, man winterte sich ein. Der eifrigste Eis- und Schneesport wurde getrieben, und wenn Bornholm alle übertraf an Verwegenheit und Geschicklichkeit, triumphierte Elika.
„Ihr liegt an uns gar nichts mehr,“ sagte ihr Franz bei einer solchen Gelegenheit ins Ohr, „ihr liegt nur noch an Bornholm.“
Kein Spaß, der vollste Ernst des guten Jungen. Er blickte sie finster aus seinen tiefblauen Augen an und benetzte ein paarmal rasch nacheinander die vollen roten Lippen, die ihm trocken geworden waren, mit der Zunge.
Elika geriet sogleich in eine ihr selbst unerklärliche Empörung: „Wie dumm du bist, wie dumm! Du bist ein sentimentaler alter Bär.“
Er murmelte unverständliche Worte und ging seiner Wege, und sie wunderte sich wieder über sich selbst, weil ihr Zorn ihr so geschwind abhanden kam. Er war gestiegen wie eine Rakete und erlosch wie ein ausgeblasenes Kerzchen.
In den Augen ihres Franz, ganz tief drinnen war etwas verschleiert Schmerzvolles gewesen, das ihr Gewissen rührte und ihre Zärtlichkeit wach rief. Sie eilte ihm nach, faßte ihn beim Aermel, schüttelte ihn und sagte: „Alter Franzl, guter, alter, dummer Franzl.“
„Dumm du selbst,“ war seine Antwort. Er gab sie ihr über die Achsel, recht von oben herab, aber wie ein Hauch unendlicher Liebe kam mit diesen Worten und mit diesem Blick über sie geströmt. Zwischen ihnen war alles wieder wie es sein mußte, wenn sie Freude am Leben haben sollten.
Sie hat später die Regung gebenedeit, die sie damals antrieb, ihm nachzulaufen und in ihrer Weise zu versichern: „Wir bleiben die alten, wir zwei.“
Im Grunde waren alle Herren von Kosel eifersüchtig auf Bornholm und konnten doch der Anziehung nicht entrinnen, die er auf sie selbst ausübte. Sie hatten sich schon mehr an ihn gewöhnt und hatten eine größere Sympathie für ihn, als sie selbst wußten.
„Er ist der einzige, der euch malträtiert, das macht ihn euch unentbehrlich,“ behauptete Charlotte. „Jeder Mensch hat das Bedürfnis, manchmal malträtiert zu werden.“
Leopold war anderer Meinung: „Unentbehrlich ist er uns nicht, aber man erträgt ihn und seine widerwärtig wechselnden Stimmungen, weil er einem, Gott weiß wodurch, die Ueberzeugung einflößt: Wenn man in eine schwierige Lage geriete, von allen verlassen wäre, auf den könnte man zählen, der stände treu zu einem.“
„Schon aus Trotz gegen die Mehrheit,“ bemerkte Heideschmied, der Levin nicht gewogen war und dessen Einfluß auf die jungen Leute fürchtete.
Eine Gönnerin hingegen hatte Bornholm an Tante Renate. „Er mag sein wie er will, eines ist er gewiß: er ist wahr wie der Tag,“ sagte sie. Von dem unmoralischen Leben, das er geführt haben sollte, von seiner Glaubenslosigkeit redete sie nicht. Sie betete für ihn.
Noch ein wahrhaft Frommer hatte nie ein Wort der Verdammnis des notorischen Atheisten, und das war der alte Herr Pfarrer. Ihm gegenüber blieb Bornholms Benehmen ausnahmsweise immer gleich zuvorkommend und ehrerbietig. Eine und dieselbe Erinnerung ergriff beide mit Macht, wenn sie einander trafen, die Erinnerung an die Sterbestunde der Mutter Levins. Für diesen lagen durchstürmte Jahre dazwischen, eine lange nutzlos vergeudete Zeit, seine ganze wüste Jugend, aber ein Blick in das Angesicht des greisen Priesters und ein ergreifendes Bild erhob sich vor ihm. Er sah ihn am Lager einer Scheidenden stehen und ihr die letzte schwere Stunde in eine trostvolle wandeln, und ihre Todesbangigkeit in seligste Hoffnung und himmlische Zuversicht. Das vergaß er ihm nie, seine Dankbarkeit dafür war unerschöpflich, und der alte Herr, der ihm anfangs aus dem Wege gegangen war, überwand jetzt die Scheu, Anstoß zu erregen durch den Verkehr mit einem Menschen, der nie eine Kirche besuchte. Er brachte manchen Nachmittag bei ihm zu und machte sich nützlich beim Ordnen der Sammlungen, die [475] Bornholm dem naturhistorischen Museum seiner nordischen Vaterstadt bestimmte.
Einmal ließ Bornholm, sonst die Pünktlichkeit selbst, ihn warten. Der geistliche Herr wurde nicht ungeduldig, es war ihm fast lieb. Er hatte keine Eile, die Botschaft zu bestellen, die ihm aufgetragen worden war. Endlich kam Levin, heiß vom scharfen Ritte, von quälenden Gedanken sichtlich eingenommen. Mit ungewohnter Hast brachte er eine Entschuldigung vor. Er hatte sich, wie der in der alten Ballade, Ruh’ erreiten wollen, es war ihm nicht geglückt.
So, ei, ei, Ruhe, du Armer, dachte der Pfarrer und lenkte vorerst das Gespräch auf die Verwendung der letzten großmütigen Spenden, die ihm Bornholm für die Armenanstalten in Valahora und in Vrobek zur Verfügung gestellt hatte.
Mit unterdrückter Ungeduld erwiderte Levin, daß er Hochwürden schon gebeten habe, mit dem Gelde nach eigenem Ermessen zu schalten und zu walten. Nur eines sei zu beobachten: die Herren, Bauern und Häusler dürften nicht wissen, woher es kam. Bei ihrer Bigotterie wären sie imstande, es zurückzuweisen, weil es von einem Ketzer kommt. Der Pfarrer leugnete nicht. Diese Worte bauten eine Brücke zu dem, was er Bornholm zu sagen hatte, und er gestand, es sei schwer mit den Leuten und tiefbetrübend, was sie oft als Verletzung oder als Erfüllung ihrer Christenpflicht ansähen.
„Ich habe heute ein Beispiel davon gehabt,“ versetzte Bornholm mit bitterem Hohne. „Ich traf den Schullehrer und kündigte ihm für morgen meinen Besuch in der Schule an. Er verfärbte sich. Er hat ehrliche blaue Kinderaugen, dieser Schullehrer, und ein gutes offenes Kindergesicht und dabei doch einen Zug um den Mund, der sagt: Ich hab’ schon auch meine Kämpfe bestanden … Sie erraten was kommt, Hochwürden. Beschworen hat er mich, fern zu bleiben von der Schule, ein Ketzer hat in der katholischen Schule nichts zu suchen, würden die Eltern sagen.“
Der Pfarrer neigte den Kopf ein wenig zur Seite; aus seinen festen Zügen, die einen strengen Ausdruck anzunehmen vermochten, sprach jetzt nur Weichheit und ein inständiges Bitten: Verzeih, daß ich dir weh thun muß. „Gehen Sie also nicht in die Schule, und, lieber Herr Bornholm, gehen Sie auch nicht mehr zu Fräulein von Kosel.“
Levin fuhr zurück: „Warum? … Was bedeutet das?“ …
„Etwas Trauriges, lieber Herr Bornholm. Sie ist doch bestimmt, hier zu leben, natürlich, sie hat kein anderes Zuhause. Sie muß trachten, auszukommen mit den Leuten, das ist das Ganze, lieber Herr Bornholm. Wenn Sie aber alle Tage hingehen zu ihr, wie Sie leider seit Monaten thun, das macht ihr das Leben hier unter den Leuten schwer.“
„Oho, da werde ich doch ...“
„Nichts werden Sie, lieber Herr Bornholm, weder in Güte noch mit Gewalt werden Sie. Der Haß gegen Sie ist ein Erbe, das Ihr Herr Vater Ihnen hinterlassen hat, und nach seinem Ableben ist von Ihnen aus nichts geschehen, um die Herzen zu gewinnen. Sehen Sie, das geht weit, und sogar unseren Herrschaften wird es übelgenommen, daß sie mit Ihnen umgehen. Wie nun erst einem alleinstehenden Frauenzimmer. – Lieber Herr Bornholm, so widerwillig ich’s thue, geschehen muß es doch, und sagen muß ich Ihnen: Fräulein von Kosel ist gestern am Tage Mariä Verkündigung vor der Kirchenthür be …“ er verwandelte das Wort, das auszusprechen er schon im Begriffe war, noch rasch in ein weniger starkes, „beleidigt worden. Einige Weiber fragten, was sie in unserer Kirche zu suchen habe – sie solle in die Ketzerkirche gehen … Fräulein von Kosel hat gestern an dem großen Feiertage der heiligen Messe nicht beiwohnen können.“
Bornholm hatte ihn während er sprach unablässig mit glühenden, zornsprühenden Augen angestarrt. Plötzlich beugte er sich vor, faßte die ineinander gefalteten Hände des Priesters und preßte sie mit solcher Gewalt, daß der Greis sich vor Schmerz auf seinem Sessel wand. „Und ich war heute bei ihr,“ stöhnte Levin, „und sie hat mir nichts davon gesagt. Begreifen Sie das, Hochwürden? Begreifen Sie diesen Heldenmut, diese Barmherzigkeit?“
Der Pfarrer hatte noch vieles auf dem Herzen und nahm das Anerbieten Bornholms, ihn nach Hause zu begleiten, gern an. Eine Weile wanderten sie schweigend nebeneinander. Unter allen, die ihnen begegneten, war keiner, der nicht durch irgend ein Zeichen sein Staunen oder sein Bedauern darüber zu verstehen gegeben hätte, daß der geliebte und verehrte Seelsorger sich in der Gesellschaft Bornholms treffen ließ.
„Ist die Mißstimmung der Leute gegen Sie immer so arg gewesen?“ fragte der Pfarrer endlich.
„Ich glaube ja, ich habe keine Notiz von ihr genommen.“
„Wenigstens hat sie sich früher nicht getraut, sich so offenkundig zu äußern. Es muß jemand da sein, der die Leute gegen Sie aufhetzt.“
„Wahrscheinlich besorgt das mein Bartolomäus. Ich bin kein bequemer Herr, am wenigsten für den alten Stützkopf, der seit Jahren gewohnt ist, selbst Herr zu sein. Ein Greuel sind ihm die Sendungen aus Australien. Das gottlose Zeug verpestet ihm die Zimmer; er hält jedes Fell, das ich auspacke, für eine gegerbte Menschenhaut oder doch ein Stück davon und wollte gestern durchaus einen Fischerspeer begraben, weil er behauptete, seine Spitze sei aus Menschenknochen gemacht. Ich muß nur trachten, diese Sachen bald fortzubringen, um sie vor ihm zu retten.“
„Unsinn, das ist ja lauter Unsinn, was der sich einbildet! Freilich hat der Unsinn leider Gottes viel dreinzureden in dieser Welt. Aber, lieber Herr Bornholm, es wird doch auch noch manches andere geben …“
„Es giebt die Geister der Vergangenheit, die Erinnerung an die Bedrückung, die die Eltern dieser Leute durch meinen Vater erfahren haben … und dann meine Jugend, mein eigenes, tolles, frevelhaftes Treiben … das lebt alles wieder auf.“
„Freilich, freilich,“ sagte der Pfarrer zögernd, „es ist damals viel gesündigt worden, das sich vor den Menschen nicht wieder gut machen läßt. Die schleudern dann ihren Bannfluch. Verzeihen Sie, lieber Herr Bornholm, ich bin nicht Ihr Seelsorger, ich bin gar nicht befugt … wenn ich aber schon so viel gesagt habe, will ich noch mehr sagen, will ich alles sagen. – Gehen Sie auch nicht mehr nach Velice, lieber Herr Bornholm … Wegen der jungen Leute. Wenn ich schief angesehen werde – ich halt’ das aus. Die jungen Leute, die … Es sind doch erst ein paar Jahre, seitdem Frieden – vielleicht sogar nur ein fauler – zwischen ihnen und denen im Dorfe herrscht. Soll der wieder gestört werden, wäre das gut? Sie finden gewiß, daß es nicht gut wäre, lieber Herr Bornholm.“ aaZagend wendete er sich zu ihm.
Levin erwiderte seinen Blick nicht, er nagte an der Unterlippe und sah starr in die Ferne. Wieder schwiegen beide, und an der Thür des Pfarrhausgartens angelangt, verabschiedeten sie sich kurz. Der Pfarrer hatte aber noch nicht dreißig Schritte gemacht, als er Bornholm rufen hörte: „Halt, Hochwürden, halt!“ Er blieb stehen und erwartete den Heraneilenden.
„Wollen Sie mir erlauben, Ihnen die Hand zu drücken?“ fragte Bornholm.
Der Priester reichte ihm die Rechte: „Da, aber nicht so arg wie früher.“
„Leben Sie wohl, Hochwürden,“ sprach Bornholm langsam und ernst und verließ den Garten. Der Geistliche sah ihm nach und zuckte bekümmert die Achseln, als er ihn die Richtung nach dem Schlosse einschlagen sah. Er hatte ihn doch gebeten, nicht mehr hinzugehen. Aber welchen Eindruck macht die Bitte eines Dieners des Herrn auf solch einen Ungläubigen?
Wie schon der Tag wächst! wie rasch dem längsten entgegen, und drüben in der Kolonie, dem kürzesten … „Drüben,“ sagt Bornholm noch heute, wenn er an seine zweite Heimat denkt, an seinen Garten mit den herrlichen fremdartigen Blumen, den silberblätterigen Akazien, den Riesenbäumen mit Palmenschäften, Laubwerkkränzen, majestätischen Kronen … Er denkt an den blauen, südlichen Himmel, die klare, durchsichtige Luft, in der Auge und Ohr geschärft scheinen, den tiefen, göttlichen Frieden einer australischen Landschaft. Er hat sich ihm dort drüben doch zeitweise ins Herz gesenkt, dieser Frieden. An den Stätten seiner Kindheit und seiner Jugend blüht er ihm nicht mehr. –
[476] Der weithintönende Schlag der Schloßuhr verkündete die sechste Stunde, als er den Park erreichte. Die Vögel zwitscherten; unscheinbares Völkchen, bettelhaft angethan im Vergleich mit ihren Geschwistern auf der andern Hemisphäre, aber was ersetzt den Wohllaut, der den Kehlchen dieser kleinen Sänger entströmt? – Die Sonne war untergegangen, ein lauer Dunst entstieg dem Boden, das junge Grün an Bäumen und Sträuchern prangte in Kraft und Saft, das Riedgras blühte und die Veilchenbeete dufteten.
Bornholm schritt langsam dem Schlosse zu. Vor der Einfahrt lungerten einige Diener, die seine Frage, ob Herr von Kosel zu Hause sei, bejahend beantworteten, indes keine Anstalt trafen, ihn anzumelden.
Er ging hinauf (ihm das zu wehren, wagten sie nicht), fand im Vorgemach Balthasar so fest eingeschlafen, daß es ihm leid that, ihn zu wecken, und er an ihm vorüber bei Kosel eintrat. Wie gewöhnlich war die Portiere zwischen den zwei Zimmern zurückgeschlagen, er sah Elika am Schreibtisch ihres Vaters sitzen, vor einem großen liniierten und rubrizierten Bogen. Sie hatte die Thür gehen gehört und den Kopf gewendet. Der Besuch Bornholms schien sie nicht zu überraschen, mit wenigen, ruhigen Worten sagte sie, der Papa werde gleich kommen, er sei in der Bibliothek mit dem Buchbinder, der einige Bände Zeitungen gebracht habe.
„Ich habe die Namen und Nummern hier einzutragen in den Katalog. Aber wollen Sie sich nicht setzen?“
Levin hatte eine Regung des Mitleids. Armes Ding, das einen Zeitungskatalog führen muß. Armes fünfzehnjähriges Ding …
Sie hatten vor dem runden Tisch auf den grünen Fauteuils mit den Metallknöpfen, die Tante Charlotte so albern fand, Platz genommen. „Ich komme, um Abschied zu nehmen,“ sagte Bornholm. „Ich habe mich entschlossen, meine Sammlungen doch selbst zu überbringen. Es ist besser und,“ fügte er mit forciertem Humor hinzu, „mit weniger Mühsal verbunden, als der Transport dieser Sachen auf Buschwegen gewesen ist.“
Elika hatte alle Mühe gehabt, ihre Bestürzung zu verbergen, es war ihr aber so ziemlich gelungen. „Und wann werden Sie abreisen, Herr Bornholm?“ fragte sie.
„Morgen, ganz früh. Ich habe Nachrichten erhalten, die mich zwingen, meine Reise so bald als möglich anzutreten.“
Ich weiß, dachte Elika, was für Nachrichten das sind. Ich weiß, was dich forttreibt. Ihr heißes, grenzenloses Erbarmen mit ihm erfaßte sie wieder. Er brauchte sie nur anzusehen, um zu wissen: die täuschest du nicht über den Grund deiner Flucht, die kennt ihn.
„Ich bitte Sie,“ sprach er hastig, „mich bei Ihrer Tante Luise zu entschuldigen. Ich finde nicht mehr Zeit zu einem Gang nach Vrobek, es ist unmöglich … Unmöglich,“ wiederholte er einen Augenblick völlig abwesend. „Haben Sie die Güte, ihr meine Empfehlungen zu bestellen und meine Verehrung, meinen Dank.“
Herr von Kosel erschien und war sehr unangenehm berührt, Levin da und allein mit Elika zu finden. Ein „Schön, das ist ja schön,“ als er den Zweck von Bornholms Besuch erfuhr, verriet seine innersten Gefühle. „Nach Norwegen. Ja, nach Norwegen also. Und dann? ja wohin dann?“
Die Antwort blieb aus.
„Das arme Valahora,“ sprach Elika, „und der arme Hansl. Wollen Sie ihn während Ihrer Abwesenheit nicht uns …?“
„Er ist versorgt,“ unterbrach sie Bornholm. „Er hat einen vortrefflichen Hüter, den Bruder Ihres Hanusch.“
Noch ein paar gleichgültige Reden, in die Kosel einige Sympathiekundgebungen für Norwegen einflocht. Insbesondere für den Glommen-Elf, in den er mit allen seinen Gedanken versank.
„Sie gehen nach Norwegen und dann nach Ihrem Neusüdwales. Sie wollen Luise nicht leiden machen,“ sagte Elika leise und hatte einen Ausdruck von rührender Hingebung. Es brannte ihr förmlich auf den Lippen: Wie gern würde ich für dich leiden, dich erheben, erlösen, durch mein Leiden für dich!
Aber dieses Glück war ihr nicht gegönnt, unerlöst zog er wieder fort nach dem fremden Weltteil, so arm an Glück wie er gekommen war, ohne Freude an der Gegenwart, ohne Hoffnung auf die Zukunft. Sie hätte alles für ihn thun mögen und durfte doch nicht einmal zeigen, wie er ihr leid, nicht zu viel von ihm sprechen, sie mußte ihren ganzen großen Schmerz wie etwas Unrechtes, Unwürdiges verbergen. Diese Nacht hindurch schloß sie kein Auge; eine Seele wenigstens sollte mit ihm wachen. Er hatte keine Zeit zur Ruhe vor dieser überstürzten Abreise, zu der die Bosheit der Menschen ihn zwang … Und vielleicht nicht die allein, es gab vielleicht noch einen andern Grund … Armer Bornholm! Armer Bornholm! Elika schluchzte plötzlich auf. Nein, nicht „vielleicht“ – sicher und gewiß! Er war gegangen, weil er Luise liebte und ihr doch nicht sagen durfte: Verlassen Sie Ihre Heimat und alle, die Ihnen teuer sind, und kommen Sie mit mir! Wem hätte sie diese schweren Opfer bringen sollen? Einem launenhaften, verdüsterten Menschen, der sie ihr nicht zu danken, ihr das Leben nicht leicht zu machen vermöchte. – Nein, nein, er durfte so nicht sprechen, zu Luise nicht! … Freilich, wenn er zu ihr – Elika so gesprochen hätte, das wäre etwas andres gewesen, und wie ihre Antwort gelautet hätte, wußte sie wohl … Aber sie war ja für ihn nur ein dummes, kleines Mädchen …
Am nächsten Tage kam Bartolomäus äußerst vergnügt mit Hansl und seinem Wärter nach Vrobek. Der Herr Bornholm war abgereist und schickte da das Pferd. Das Fräuln möge den Hansl beliebig verwenden, als Reit-, Wagen- oder Arbeitspferd, er wäre ganz fromm. Für alles, was er brauchte, habe sein Wärter zu sorgen, das sei alles aufs beste eingerichtet. Das Fräuln wolle nur gütigst den beiden einen Unterstand geben im Meierhof.
Leopold fand, daß die Uebersendung Hansls eine Kühnheit sei. „Ich habe aber kühne Menschen gern, und du auch, Tante Luise,“ sagte er zu ihr und lachte. Seine Zähne blinkten so weiß und hell, daß es eine Freude war, und seine lieben Augen blickten die Tante, um Verzeihung bittend, an.
„Und ich auch,“ sprach Luise ruhig und tapfer.
Das begab sich im Stall der Meierei, in dem Schekinka II und Hansl friedlich nebeneinander standen, bis an die Bäuche in Stroh, und die Huldigungen sämtlicher Mitglieder der Familie Kosel empfingen.
Elika sah abwechselnd von Hansl zu Luise hin. Die Tante erschien ihr anders als sonst, verjüngt, verschönt. Sie wurde geliebt von Joseph und von Bornholm. Geliebt werden, was ist das für eine große Sache – die größte auf Erden.
–
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – –Wieder war es Herbst geworden. Ueberlang ließ eine Nachricht von Joseph auf sich warten. Alle waren besorgt, keiner wollte es zeigen, keiner die Besorgnisse der anderen wecken. Endlich, knapp vor Leopolds nun unwiderruflicher Abfahrt nach Wien, kam die bündige Kunde: „Wir sind alle gesund, Reise erfolgreich, ausführliche Nachricht folgt bald. Ausführlichste übers Jahr, die bringe ich Euch selbst. Euer Joseph.“
Als Leopold vor der Abreise seine Abschiedsbesuche machte bei den Würdenträgern und bei den Hausgenossen, begleitete sein Vater ihn überall hin. Er wünschte offenbar etwas von ihm, sprach es aber nicht aus. Erst als Leopold sich aus den Armen Apollonias gerissen hatte, die ihn zwar nicht losließ, aber fortwährend rief: „Geh, mein Goldkind, geh, ich komme ja noch zum Wagen!“ sagte Kosel:
„So also, so, und jetzt zu deiner Mutter!“
„Da war ich schon, Papa, da war ich zuerst.“
„Ja, zuerst? … das ist also ganz recht,“ und er klopfte ihm auf die Schulter, was nur in den seltensten Fällen geschah.
Der Phaethon fuhr vor, der Hof füllte sich mit Getreuen, die Leopold noch einen Gruß zurufen wollten. Nun fiel es Herrn von Kosel ein, daß er ja seinen Sohn auf die Station begleiten könne:
„Ja, komm, komm!“ rief Leopold. „Lebt wohl, alle, alle! Auf Wiedersehen!“ Sein letzter Blick, sein letzter Wink galt der armen Kleinen, die regungslos dastand und wartete, bis der Wagen hinter den Gebüschen des Parks verschwand. Dann rannte sie hinauf und ans Fenster ihres Zimmers, und sah ihm nach, so lange er auf der Straße noch zu erblicken war.
Auf Wiedersehen, ja – so Gott will! Das war keine Trennung wie die von Joseph, aber ein Abschnitt im Leben, ein Scheiden aus dem Vaterhause war’s. Zu Besuch wird er kommen, aber daheim sein bei ihnen nicht mehr!
[477]
[478] „Adieu!“ rief sie hinaus, dem kleinen schwarzen Punkte nach, der jetzt noch einmal auf der steilen Anhöhe der Bahnhofsstation zum Vorschein kam. Nie, niemals wird sie vergessen, wie ihr zu Mute war, als sie den kleinen schwarzen Punkt nicht mehr sehen konnte. Kein Ereignis des späteren Lebens, kein Schmerz, kein Glück wird den Eindruck je verwischen, den sie damals empfing. O, welch ein Herz voll Liebe fuhr ihr davon über die Berge!
Die Gedanken der beiden Tanten waren einmal wieder mit einer und derselben Sache beschäftigt. Sie lag, sozusagen, auf der Hand und gehörte zur großen Familie des Selbstredenden, das früher oder später zu Worte kommt, dem aber eine kleine diskrete Nachhilfe manchmal auch nicht schadet. Dieses Selbstredende war, daß Felix und Luise ein Ehepaar werden müßten.
Er sollte nicht für den Rest seines Lebens ein Witwer bleiben, und Luise, die zum Ebenbild der evangelischen Hausfrau geschaffen war, sollte nicht ein altes Mädchen werden. In Felix durften ähnliche Erwägungen wohl schon aufgedämmert sein, und mehr als einmal hatte er angefangen, seiner anmutigen Verwandten den Hof zu machen. In seiner Art natürlich. Geschmachtet oder gestürmt hatte er nicht, sondern immer nur plötzlich entdeckt, daß es sich gehöre, Luise oft zu besuchen und sich ihr in ihrer kleinen Oekonomie nützlich zu machen. Das letztere vergaß er aber regelmäßig und auch das erste nur zu bald, und so geriet die Angelegenheit immer wieder ins Stocken.
Einige Monate nach der Abreise Bornholms trat – ohne Zweifel infolge einer kleinen diskreten Nachhilfe – ein neuer Aufschwung ein.
Luise hatte die leise Schwermut überwunden, von der sie eine Zeit lang befangen gewesen. Im Hause Kosel wurde Levin in ihrer Gegenwart nie mehr genannt, und auch sie erwähnte seiner nicht. Trotzdem waren die Tanten überzeugt, daß sie ihn in Erinnerung bewahre und wahrscheinlich immer bewahren werde. Er wird für sie das Interessante, das Exotische bleiben, der ungewöhnliche Mensch, in den man sich allenfalls verlieben kann, den man aber nicht heiratet.
„Das Gegenteil von Felix,“ fiel Charlotte in diese Worte ihrer Schwester ein, und Renate versetzte:
„So ist es.“
Sie feierten beide in aller Demut stille Triumphe, wenn sie ihren Neffen jetzt täglich um zehn Uhr vormittags in jedem Wetter aufs Pferd steigen und Vrobekwärts traben sahen.
Es vergingen wieder ein paar Monate und Renate sprach zu Charlotte: „Hast du bemerkt, bestes Herz, wie liebreich er sie gestern angeschaut hat?“
„Darauf,“ erwiderte Charlotte, „ist kein großer Wert zu legen. Er schaut auch mich liebreich an, wenn er gerad’ an eine Zeitung oder an eine Papiermühle denkt. Er hat einmal eine so liebreiche Zerstreutheit. Und gestern, ich muß es dir doch sagen, hat die arme Luise mir gestanden, daß er ihr mit seinen langen Vormittagsvisiten mehr Zeit raubt als er verantworten kann, und dabei eine Portion Langweile produciert, die alle Begriffe übersteigt.“
Renate fühlte sich ein wenig verletzt: „Amüsant ist er freilich nicht; aber geliebtes Herz, wer heiratet denn, um sich zu amüsieren? Das ist doch nicht der Zweck der Ehe. Uebrigens werde ich noch heute mit ihm sprechen.“
Sie that es, und das wurde der denkwürdige Tag, an dem Felix seine Cousine Luise fragte, ob sie seine Frau werden wolle: „Die Tanten meinen,“ setzte er hinzu, und seine rosenroten Wangen bekamen einen Stich ins purpurfarbige, „daß du die beste Frau für mich sein wirst.“
Luise sah ihn freundlich und gelassen an und reichte ihm beide Hände. Er ergriff sie nicht, er legte nur die kühlen, schlanken Finger seiner Rechten in diese kleinen, feinen Hände, und seine Züge hatten den Ausdruck schüchterner Verwunderung, den sie so oft annahmen. Luise hielt seine Finger fest und streichelte sie:
„Lieber Felix, sind wir nicht gute Freunde von Jugend auf und ist das nicht etwas Vortreffliches? Soll man am Vortrefflichen etwas ändern wollen?“
Er fand nicht gleich eine Antwort. Nach einer Pause erst kamen die zögernd gesprochenen Worte: „Gute Freunde können wir ja bleiben, auch wenn wir heiraten … und die Tanten meinen, du wärst die beste Frau für mich.“
„Ich meine das nicht,“ erwiderte sie, „und du selbst … Die beste Frau, die es für dich geben konnte, hast du verloren, mein armer Felix.“
Er zuckte zusammen und atmete tief auf: „Die hab’ ich verloren, ja!“ und nun war er’s, der ihre Hand ergriff und herzlich drückte. „Die hab’ ich verloren,“ wiederholte er, erhob sich und ging wie im Traum der Thür zu. Dort blieb er stehen, wendete den Kopf und sprach: „Sag’ du das auch den Tanten.“
–
– – – – – – – – – –Der angekündigte Reisebericht Josephs traf in Velice zugleich mit einem Briefe von ihm für Luise ein. Elika schickte ihn und kam ein paar Stunden später selbst nach Vrobek. Ihre Wangen glühten, ihre Augen leuchteten. Sie hielt Luisen die mit Josephs ungelenker Steilschrift bekritzelten Blätter entgegen:
„Lies! was für ein Mensch das ist! O, die Strapazen, die er ausgehalten, die Gefahren, die er bestanden hat. Und wie er das erzählt, als ob es gar nichts wäre und als ob jeder andre es auch könnte. Lies, und gieb zu lesen! Wo ist sein Brief an dich? darf ich um ihn bitten?“
Luise war rot geworden, zögerte einen Augenblick, griff dann entschlossen in die Tasche und reichte ihr das Schreiben hin: „Lies laut,“ sagte sie, „es ist mir lieber,“ und Elika las:
„Du sollst wissen, meine liebste Tante Luise, daß ich mich ganz umsonst auf die Rückkehr meines Freundes Levin gefreut habe. Es ist bloß die Hälfte von ihm zurückgekommen und nicht die bessere – nur sein Futteral. Dieses reitet täglich drei Pferde müd’, inspiziert Wollstationen, ißt, trinkt, schläft gewohnheitsmäßig, die Maschine funktioniert. Anwandlungen von Schlottrigkeit stellen sich freilich ein, wie natürlich bei einem Wesen ohne Seele, ohne höhere Interessen. Alles, was die ausmacht, hat Levin unterweges irgendwo sitzen lassen.“
Nun folgte eine Dithyrambe auf Australia felix und ein besonders begeisterter Hymnus auf Neusüdwales, auf die Felsenthore und Buchten seiner Küsten, auf seine zauberhaften Waldlandschaften, auf die Wunder der blauen Berge und die unerschöpflichen, erhabenen und lieblichen Schönheiten des Murraythals. Das Klima Südfrankreichs im Sommer und das Kairos im Winter …
„Kein treues Bild,“ sagte Elika, „ein Bild ohne Schatten, und wie dunkle und furchtbare giebt es dort!“
Luise nickte. „Gewiß, die übergeht er mit Schweigen,“ sagte sie. Ihr Blick ruhte gespannt auf den beweglichen Zügen Elikas, deren Stimme immer leiser wurde, während sie fortfuhr:
„Und in einer solchen Natur, einer so paradiesischen Welt geliebt und vergöttert werden, müßte doch noch viel schöner sein, als sich zum Beispiel in Vrobek anbeten zu lassen. Wem dieses Los beschieden sein könnte, weißt du, Tante Luise. Du könntest einen Menschen, der zu allem Guten und Tüchtigen angelegt gewesen ist, den aber das Leben aus der Bahn gestoßen hat, und der sich in der Irre sehr unglücklich fühlt, wieder ins Geleis bringen. Ueberleg’, ob du, was du thun könntest, nicht thun solltest, liebe Tante Luise. Ich gebe meinen Segen dazu, und das ist schön von mir.“
Elika hatte ihre Hand mit dem Briefe auf ihren Schoß sinken lassen und starrte auf das Blatt nieder. „Es ist schön, daß er so fertig mit sich geworden ist, schön und männlich,“ sprach sie tonlos, und nach einer Weile, ohne die Augen zu erheben: „Wirst du diesen Brief den Tanten zeigen?“
„Ja.“
„Und wirst du ihn beantworten? Und wann? … Und was wirst du antworten?“
„Ich weiß es nicht, glaube mir, daß ich es nicht weiß.“
„Wenn du aber schreibst, wirst du mir dann sagen, was du geschrieben hast?“ fragte Elika nach einer abermaligen langen Pause.
„Ich werde es dir sagen, Kind, ich verspreche es dir,“ bekräftigte sie und sah der Kleinen liebevoll beschwichtigend in die zweifelnd und bang auf sie gerichteten Augen.
Eine halbe Stunde später fuhren sie zusammen nach Velice in dem hübschen kleinen Kutschierwagen, den Leopold vor seiner Abreise der Tante verehrt hatte. Hansl war von allem Anfang [479] an ganz prächtig in der Gabel gegangen, und ihn zu lenken, machte der armen Kleinen trotz der tiefgedrückten Stimmung, in der sie sich befand, doch einiges Vergnügen. Kein großes und kein andauerndes, wie sich von selbst versteht. Die momentane Heiterkeit flog über ihr kummervolles Herz, wie ein lichter Falter an einem dunklen Wolkenhintergrund vorüberfliegt. Hätte Joseph ahnen können, was er ihr mit seinem Brief an Luise angethan! Wie verstoßen sie sich vorkam aus jedem Bereich des Glückes und der Freude auf Erden! Ja, verstoßen war sie und beraubt um eine im tiefsten Heiligtum ihrer Seele glimmende Hoffnung, so wundervoll und himmlisch, daß sie nie in Erfüllung zu gehen, nur still und ungetrübt fortzuleuchten brauchte, um ein ganzes Leben schön zu machen.
Die Ihren quälten sich in erneuten Sorgen um sie. Seit einiger Zeit war sie wieder mehr denn je die arme Kleine, obwohl noch im letzten Jahr so rasch aufgeschossen, daß sie beinahe die stattliche Größe Tante Renatens erreicht hatte. Dabei überschlank und überzart und oft leidend, ließ sie sich immer noch gern bedauern. Besonders von ihrem Bruder Franz, dem sie nie versäumte zu klagen, daß sie Herzklopfen gehabt habe. Er blickte sie dann jedesmal so eigentümlich und mit so warmem Mitleid an, strich ihr über den Kopf und sagte:
„Arme Kleine, kränke Sie sich nur nicht.“
Der Doktor behauptete zwar, daß ihr Herzklopfen gar nichts zu bedeuten habe, sie wußte das aber besser und trug sich, besonders zu Beginn ihres sechzehnten Jahres, mit Todesgedanken. Sie machte auch ihr Testament, in dem Bornholm mit einem Ring und mit einigen Versen bedacht war, die ihm Elikas innige Liebe offenbarten. Nachdem ihre letztwilligen Anordnungen getroffen waren, versöhnte sie sich mit der Wahrscheinlichkeit, die ja doch vorhanden war, dem Leben einstweilen erhalten zu bleiben. Bis zu Josephs Rückkehr und ein bißchen drüber hinaus, ein halbes Jahr etwa. Um die Freude des Wiedersehens sollte er nicht gebracht werden, die möge der gnädige Himmel ihm noch gewähren!
Bei seiner Rückkehr nach Velice sollte Joseph durch allerlei Verbesserungen und Verschönerungen im Schlosse und im Wirtschaftshofe überrascht werden. Die letzte, die noch vorgenommen wurde, war die Regulierung der Zufahrt zu den neuen Oekonomiegebäuden und das Abtragen einer längst außer Gebrauch gesetzten Scheuer. Die Arbeit begann an einem feuchten kühlen Vorfrühlingsmorgen und war schon im vollen Gange, als Franz sich von ihren Fortschritten überzeugen kam. Heideschmied war schon am Platze, stand da mit verschränkten Armen und sah zu, wie die Zimmerleute die Dachbalken teils an Seilen befestigt zur Erde gleiten ließen, teils zu Boden schleuderten. Nun ging’s an die Sparren und mit Staunen sah man Freund Hanusch auf der Höhe erscheinen, das Beil schwingen und eifrig mitthun.
„Sehen Sie doch den Hanusch,“ sprach Heideschmied, „es kommt ihm in die Finger, die Lust am alten Handwerk meldet sich. Und – zerstören, wenn die Menschen zum Zerstören berufen werden, wie geht da die Arbeit vom Fleck! Beobachten Sie, lieber Franz, das Gebaren derselben Leute beim Aufrichten und beim Niederreißen eines Baues. Wie lässig im ersten, wie eifrig im zweiten Fall.“
Franz machte sich diese Bemerkung seines Erziehers nicht zu nutze; er hatte seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge gerichtet. „Verflucht gefährlich, die Geschichte,“ sprach er. „Wo ist der Polier?“
Der Polier, ja, der war schon vor einer Weile fortgegangen.
Ob er nicht befohlen habe, die Mauern zu pölzen, namentlich die vordere, die am steil abfallenden Rand der Böschung, die rissige, unten vom Regen ausgewaschene Mauer, auf der gerade jetzt Hanusch steht.
Die? ja die – man weiß nicht, kann sein, daß er’s befohlen hat. Ueberflüssig ist’s, sagen alle.
Eine heiße Blutwelle schoß Franz ins Gesicht. Wie es jetzt nur zu oft geschah, brach er plötzlich in heftigen Zorn aus: „Herunter! gleich herunter! seid ihr verrückt?“
Die Arbeiter drüben auf der rückwärtigen Seite des Baues schienen durch seinen Zuruf eher ermuntert als abgeschreckt, ein paar von ihnen begannen wuchtig auf das Mauerwerk einzuhauen. Franz, zur Wut gereizt, wetterte ihnen ein derbes Wort zu und schrie zu Hanusch hinauf: „Hierher du, dir befehl’ ich’s!“
Der Bursche auf seinem gefährlichen Posten wendete sich: „Komm’ schon, aber gschicht nix!“ rief er beruhigend seinem Herrn zu. Die nächste Sekunde strafte ihn Lügen. Die unterwaschene Wand senkte sich. Ein splitterndes Getöse, ein dumpfes Krachen, ein Bersten, Stürzen. Atemraubend stieg ein gelblicher Brodem in dichten Wolken in die Luft – Staub, der qualmend wie Rauch aus dem Trümmerhaufen stieg, unter dem Hanusch begraben war.
Franz stürzte zur Unglücksstätte hin und war im nächsten Augenblick von den Arbeitern umgeben, die schreiend und gestikulierend oder mit stumpfsinnigem Gleichmut die Thatsache feststellten, daß die Hälfte der Mauer eingefallen und daß einer, der früher auf ihr gestanden hatte, jetzt unter ihr liege.
„Also! also!“ rief Franz ganz außer sich, ergriff einen Spaten und wies auf eine bestimmte Stelle im Schutte: „Ausgraben! helft! helft! da muß er sein … Ich weiß genau, ich hab’ ihn stürzen seh’n.“ Zum Entsetzen Heideschmieds handhabte er sein Werkzeug mit dem Aufgebot aller seiner Kräfte, mit rasender Unermüdlichkeit, unterbrach sich nur, um einen Befehl zu geben, dem die Leute jetzt willig gehorchten. Er glühte, seine Brust arbeitete wie ein Hammerwerk.
„Lieber Franz, ich beschwöre Sie,“ flehte Heideschmied, „ruhen Sie aus, ein paar Minuten nur! Es kann Sie Ihr Leben kosten.“
„Fort damit, wenn ich’s in einem solchen Augenblick schonen soll“ – keuchte Franz und warf Heideschmied, der zu ihm mit der schüchternen Absicht herantrat, ihm den Spaten zu entwinden, einen Blick zu, der ihn zurückweichen machte. Keine Jünglingsseele mehr, eine Mannesseele, der eigene starke Wille eines Mannes sprach aus ihm.
Immer mehr Leute kamen herzugelaufen, aus den Stallungen, dem Dorfe. Heideschmied sandte einen Boten ins Schloß, um Herrn von Kosel zu melden, was sich begeben hatte. Nach einer Weile trug Kosel dem Balthasar auf, nähere Erkundigungen einzuholen, und als der gar zu lang’ wegblieb, ging er, sich selbst von dem Stand der Dinge zu überzeugen. Auf dem Schauplatz des Unfalls angelangt, sah er seinen Sohn auf einem Berg von Schutt an der abgebröckelten Mauer stehen. Barhäuptig, in zerfetzten Kleidern, mit zerschundenen blutenden Händen, das Gesicht feuerrot und schweißüberströmt, aber eine Verklärung des Entzückens in seinen Zügen, die unaussprechlich war.
„Vorsicht, nur langsam, langsam jetzt!“ sprach er mit heiserer, gequetschter Stimme. Mühsam rang sich jeder Laut, zwischen zwei schweren, pfeifenden Atemzügen aus seiner Kehle: „Karausek zu mir – bleibt drüben, Novak Swoboda! – alle übrigen fort! … Heben … Eins, zwei, drei!“ Er hatte den Spaten fallen lassen und einen der Balken angefaßt, der, vom Dache geworfen, sich hier mit noch drei anderen an die Mauer spreizte. Sie bildeten eine Art Käfig, in dem man einen formlosen Klumpen liegen sah, der Versuche machte, sich zu bewegen. Als die Balken, die ihn eingeengt und beschützt hatten, nun sacht entfernt wurden, steigerte sich die Bewegung zu einem gewaltigen Rütteln und Strecken. Die Retter halfen nach, klopften, putzten an ihm, hoben ihn auf und trugen ihn über die Böschung. Da glich er noch einer großen Streusandbüchse. Im Grase niedergelegt, nochmals gesäubert, kam die menschliche Gestalt glorreich zum Vorschein. Sprechen konnte er nicht, er hatte den Mund voll Staub, auch die Augen aufzumachen, war er nicht imstande. Als aber Franz ihn anrief: „Hanusch, mein guter Hanusch, lebst? bist bei dir, Hanusch?“ schob er sich zu seinem Herrn und Freunde hin und legte den Kopf auf seinen Fuß. Franz wollte sich zu ihm niederbeugen, wankte, taumelte, griff mit beiden Händen in die Luft und stürzte lautlos zur Erde nieder.
Sechs Tage lang kämpfte die junge kräftige Lebensflamme einen harten schweren Kampf gegen ihr frühes Erlöschen. Nutzlos, wie der Arzt sogleich erkannte.
[480] Man hatte Elika anfangs über die Gefahr getäuscht, in der ihr Bruder schwebte; es war leicht gewesen, der Gedanke, daß dieser starke, blühende Mensch vor ihr sterben könne, wäre ihr nie gekommen. Sie hätte ihn, von anderen ausgesprochen, zurückgewiesen wie etwas Unsinniges und Unfaßbares. Am dritten Morgen aber, als Franz immer gleich ruhig dalag und doch nicht schlief, und sie eine Weile an seinem Bette gestanden hatte, ohne zu wagen, ihn anzusprechen, wurde sie von einer unbestimmten, furchtbaren Bangigkeit ergriffen. Apollonia trat unhörbar heran auf weichen Schuhen und wechselte den feuchten Umschlag auf der Brust des Kranken. Da öffnete er die Augen und erhob sie zu ihr und zu Elika, aber ganz fremd, wie fragend und suchend.
„Franz, Lieber,“ sprach Elika, „siehst du mich?“
„Ja,“ antwortete er, „wenn der Schleier, den ich von den Augen habe, sich verschiebt, dann seh’ ich dich.“
„Warum hast du einen Schleier vor den Augen, lieber, lieber Franz?“ Sie ließ sich auf die Kniee gleiten, küßte seine Hand, die auf der Decke lag, nahm sie in die ihre und bedauerte sie. „Arme Hand, wie du aussiehst, ganz zerschunden von Ziegeln und Steinen. Ich will sie pflegen. Gieb sie mir, Franz.“
Er antwortete nicht und als sie nun erschrocken emporblickte, sah sie, daß Tante Renate ganz leise eingetreten war, traurig mit den Achseln zuckte und einen Finger auf den Mund legte. Und Elika begriff plötzlich etwas Entsetzliches, etwas, das ihr das Herz zerriß, diese Hand, diese gute, rettende, großmütige Hand, konnte die ihre nicht ergreifen, sich nie mehr liebkosend auf ihren Scheitel legen, sie war gelähmt.
Ueberwältigt sank Elika zusammen und brach in einen Strom von Thränen aus. Apollonia faßte sie sanft unter den Armen, hob sie auf, führte sie aus dem Zimmer und wollte sie in das ihre bringen. Auf dem Gang aber traten ihnen Kosel und Leopold entgegen. Elika schrie auf: „Du!“ und flog dem Heimgekehrten in die Arme. Für so lange hatte sie von ihm Abschied genommen und wie kurz war die Trennung gewesen, und welcher neuen, grauenvollen war sie vorangegangen!
Leopold, ganz blaß und starr, mit roten geschwollenen Lidern, küßte sie und sagte einmal ums andere: „Arme Kleine, arme Kleine!“
„Papa hat dich gerufen, weil Franz sterben muß,“ schluchzte sie, „sag’s nur, sag’s nur!“
Leopold gab keine Antwort und Kosel wiederholte die tröstenden Worte, mit denen der Doktor, den man aus Wien hatte kommen lassen, sich gestern empfohlen:
„So lange noch Leben da ist, ist noch Hoffnung da.“
Dreimal vierundzwanzig Stunden und jede Stunde eine Ewigkeit voll Leid, und die Erinnerung daran den Herzen, die es tief und voll empfunden haben, unauslöschlich eingeprägt. Ein trübender Schatten für die Jungen, eine klaffende Wunde für die Alten, für die armen Tanten, denen ihr Dasein jetzt beinahe wie ein Unrecht erscheint. Was haben sie noch „da zu sein“, die welken dürren Zweige, wo die Blüte in Glanz und Schönheit vom Baume fällt?
Sie ruhten und rasteten nicht, sie wachten jede Nacht, sie machten sich zu Handlangern der Handlanger. Wenn Franz im Halbschlaf einmal flüsterte: „Die Tanten, die guten Tanten“, ergriff sie eine überschwengliche Dankbarkeit, aber unnötig oder mindestens entbehrlich kamen sie sich doch vor.
Kosel irrte wie verloren umher und sagte jedem, der ihm begegnete, ohne Ahnung, wen er vor sich hatte: „So lange noch Leben da ist, ist noch Hoffnung da.“
Immer wieder wurde Elika aus dem Sterbezimmer gebracht und kehrte immer wieder dahin zurück. Sie war überzeugt, daß Franz noch zu ihr sprechen werde, und wartete darauf angstvoll und sehnsüchtig. Einmal nannte er einen Namen, den sie nicht verstand, und sie flüsterte: „Rufst du mich, Franz? Hast du mich gerufen?“
Er sah sie groß an und schwieg.
„Den Papa? den Leopold? Tante Renate, Charlotte?“
„Hanusch,“ sagte er.
Hanusch wurde geholt. Man hatte lange nach ihm suchen müssen; er verkroch und verbarg sich scheu wie ein verwundetes Tier. – Um seinetwillen starb sein Herr, der ihm das Höchste war, er, für den er sich in Stücke hätte hauen lassen, starb um seinetwillen … Nein, er konnte ihn nicht sehen, er konnte nicht vor ihn hintreten. Er wollte liegen bleiben, wo er lag, in seinem Winkel, und auch sterben, wenn sein Herr starb. Mit größter Mühe bewog der Pfarrer ihn endlich, ihm zu folgen.
Als Franz ihn erblickte, erheiterten sich seine Züge, mit einem Lächeln grüßte der Sterbende den durch ihn, durch seine Kraft dem Leben Erhaltenen, und im letzten Kampf stählte ihn das Bewußtsein eines Sieges.
Es war am Morgen seines Sterbetages. Der Arzt hatte ihn hoch gebettet, er saß fast aufrecht, den Kopf zurückgeworfen, Elika stand bei ihm und wischte ihm mit ihrem Tuche den Schweiß von der Stirn.
„Bist du da, Kleine?“ fragte er.
Sie glitt leise mit der Wange über seine Haare: „Ich bin da, ich bin bei dir.“
Da öffnete er die Augen und hob den Blick fest und inständig zu ihr hinauf. Seine Stimme hatte fast keinen Ton, aber Elika verstand jedes Wort, das er sagte; es war das völlig Unerwartete. „Wir haben den Papa zu wenig lieb gehabt. Er ist gut, viel besser, als wir gewußt haben. Habt ihn lieb, du, Leopold und Joseph.“ Er schöpfte tief Atem, seine schweren Lider senkten sich: „Joseph … daß ich den nicht mehr seh’, ist doch schad’ …“
O die entsetzlichen Stunden, die noch nachkamen … das grausame, unentrinnbare Leiden … O die traurigen verstörten Menschen! … die ratlose Bestürzung im Hause, aus dem ein vielgeliebtes Kind sich anschickte, zu scheiden.
Ehe die Sonne im Scheitel stand, war es vorbei, und Elika hatte ein Sterben, hatte das schauerliche Wunder, mit dem ihre Phantasie gespielt vom ersten Erwachen an, sich in seiner ganzen Furchtbarkeit vollziehen gesehen.
Da lag er nun, der junge Held, niedergestreckt von der Hand Gottes, und trug noch den trotzigen Ausdruck im wachsbleichen Gesicht, den sie so sehr geliebt und hinter dem eine unerschöpfliche Güte sich verbarg. Er hatte gelitten und nicht geklagt, nie ein Zeichen des Bedauerns in Anspruch genommen, er hatte das Mitleid verschmäht.
„Mein Franz, mein Franz,“ flüsterte Elika. Die anderen waren gegangen, Vorbereitungen treffen zu all dem Herzzerreißenden, das noch durchgemacht werden mußte. Sie glaubte sich allein mit ihm und sprach zu ihm, als ob er noch lebte, und dankte ihm, als ob er sie hören könnte, für alle seine Nachsicht, Geduld und Liebe … Da plötzlich vernahm sie ein gewaltsam hervorbrechendes Schluchzen und wendete sich. Im Fauteuil neben der Thür saß ihr Vater, den Kopf auf die Brust gesenkt, und weinte. Ihr Vater, in dessen Augen sie nie eine Thräne gesehen hatte, weinte und schluchzte …
Ganz langsam und schüchtern trat sie auf ihn zu und kniete bei ihm nieder. Wie einst als kleines Kind stützte sie die Arme auf sein Knie und wußte wieder nichts anderes zu sagen als: „Armer Papa!“
Er richtete einen trüben, traurigen Blick auf sie. „Willst auch du von mir fortgehen? Hab’ ich lauter treulose Kinder?“ fragte er.
Elika sprang auf und umklammerte seinen Hals: „Nein! Ich will bei dir bleiben und dich lieb haben und dein treues Kind sein.“
Mit einem zitternden Aufschrei streckte er die Arme aus und hob sie auf seinen Schoß, und schloß sie an sein Herz und hielt sie lange an seine Brust gepreßt, und legte sanft seine Hand über ihre brennenden Augen. Die seinen blieben unverwandt auf den Toten geheftet. „Ja, Elika, ja, Kleine,“ sagte er, „wenn sie jetzt da wäre, deine Mutter, und müßte das sehen. Gut für sie, daß sie nicht da ist … gut für sie.“
Aber nicht für ihn; sie wäre ja sein Trost gewesen.
Elika zog seine Hand an ihre Lippen: „Armer Papa“. Jawohl, sie hatten ihn zu einsam dahinleben lassen und ihn zu wenig lieb gehabt, der so vieler Liebe fähig war.
Das Schweizerische Landesmuseum in Zürich.
Der 25. Juni gestaltete sich in Zürich zu einem glanzvollen Festtage. Aus allen Kantonen der Schweiz waren in den Mauern der Stadt Abordnungen erschienen, um teilzunehmen an einer bedeutungsvollen Feier. Galt es doch, das Schweizerische Landesmuseum zu eröffnen, das die ruhmreiche Vergangenheit des freien Alpenlandes in herrlichen Kunstschätzen, Erzeugnissen des Gewerbfleißes und Waffenrüstungen seiner Bewohner veranschaulicht. Bis dahin hatte die Schweiz wohl Sammlungen besessen, in welchen die geschichtlichen Denkmäler einzelner Kantone oder Gegenden pietätvoll aufbewahrt wurden, es fehlte ihr aber eine Stätte, an welcher durch wertvolle Sammlungen die kulturgeschichtliche Entwicklung des gesamten Landes klar und deutlich dem Auge des Besuchers sich darbieten konnte.
Der Gedanke, eine solche Stätte zu schaffen, war frühzeitig entstanden. Schon vor hundert Jahren, zur Zeit der „Helvetischen Republik“, plante das Direktorium die Errichtung eines schweizerischen Nationalmuseums; aber in jenen unruhigen Zeiten fehlte es an Sammlung und auch an Geldmitteln, um den Gedanken zu verwirklichen. Später kamen Jahrzehnte, in welchen das Land einen hohen wirtschaftlichen Aufschwung nahm, aber der Sinn der Bevölkerung zumeist auf nüchterne praktische Ziele gerichtet war. Erst in der Neuzeit wurde die Frage von neuem angeregt, und vor allem trat der Kunsthistoriker und Nationalrat Prof. Salomon Vögelin in zündenden Reden für die Errichtung eines Landesmuseums ein. Seine Anregung fiel diesmal auf günstigen Boden; die Bundesregierung bewilligte namhafte Mittel, hochherzige Männer waren eifrig bestrebt, im In- und Auslande wertvolle Sammlungen zu erwerben, und endlich wurde im Jahre 1890 die Frage des Ortes, an welchem das neue Museum errichtet werden sollte, endgültig entschieden. Aus dem Wettstreit der Schweizerstädte ging Zürich siegreich hervor, und im nächsten Jahre wurde der Bau begonnen. Leider war es Vögelin nicht mehr vergönnt, diesen Augenblick zu erleben, aber er fand in anderen Männern, namentlich in dem Direktor des Museums, H. Angst, würdige Nachfolger, die das große Werk mit Sachkenntnis und Umsicht der Vollendung entgegenführten.
Fünf Jahre dauerte die Herstellung des Baues, dessen Kosten sich auf zwei Millionen Franken belaufen. Er erhebt sich auf der Platzpromenade in unmittelbarer Nähe des großartigen Züricher Bahnhofes an den Ufern der rasch dahinströmenden Limmat und fesselt das Auge des Beschauers durch seine Eigenart. Der geniale Züricher Architekt Gustav Gull ließ hier anstatt eines Riesenhauses eine förmliche Burganlage erstehen, die aus einer Anzahl von Gebäuden sich zusammensetzt. Verschiedene Baustile sind zu einem harmonischen Ganzen vereinigt; denn der Gedanke war maßgebend, die Kunstschätze verschiedener Epochen in Bauten unterzubringen, die sowohl im Aeußern wie im Innern sich möglichst deren Charakter anschmiegen.
Unsere obenstehende Abbildung zeigt uns die weitläufige, mit einem geräumigen Vorhof versehene Bauanlage. Ein Thorturm überragt das Ganze. In dem kleineren Flügel, der sich rechts von ihm abzweigt, hat die Züricher Kunstgewerbeschule mit ihren reichen Sammlungen ein würdiges Heim gefunden; in dem anderen größeren Flügel mit dem wirkungsvollen gotischen Hauptbau ist das eigentliche Museum untergebracht.
Zur Feier der Eröffnung hatte sich in den Vormittagsstunden des 25.Juni eine glänzende Versammlung im Vorhof des Museums eingefunden. Mitglieder des Bundesrates und der Bundesversammlung, die Abordnungen aus allen Kantonen der Schweiz, Vertreter der Kunst, der Wissenschaft und der Bürgerschaft waren erschienen. Der Bundespräsident Eugen Ruffy und der Stadtpräsident Pestalozzi hielten Reden, worauf der riesige Schlüssel zum Landesmuseum, den zwei kleine Mädchen, Töchter des Architekten Gull, auf einem weißseidenen Kissen brachten, dem Bundesrat Lachenal, Vorsteher des Departements des Innern, übergeben wurde. Nun erschloß sich die mächtige Pforte, und die Festteilnehmer traten den ersten Rundgang durch die herrlichen Räume an.
Mehr als zwei Jahrtausende der Geschichte des Schweizerlandes überblickt hier das staunende Auge. All die alten Geräte, die Kunstschätze, die Zimmereinrichtungen, die Trachten und die Waffen gewähren uns Einblicke in das Leben und Weben, in die Mühen und Sorgen und in das kunstsinnige Streben längst verschollener Menschengeschlechter.
In den ersten Sälen, die wir betreten, fesseln Denkmäler der Vorgeschichte unsere Aufmerksamkeit. Hier sind Funde aus jener altersgrauen Zeit aufgestellt, aus der kein geschriebenes Wort, keine im Volksmund aufbewahrte Sage zu uns gedrungen [482] sind. Und wie reich ist nicht gerade die Schweiz an solchen Funden! Da sehen wir die Ueberreste der Menschen, die einst in den Höhlen bei Schweizersbild und Thayngen im Kanton Schaffhausen gewohnt haben, und neben ihnen die überaus reichen Funde aus der Pfahlbautenzeit, die seit 1853 in den schweizer Seen gemacht wurden. Werkzeuge und Schmuck aus der Stein- und Bronzezeit liegen geordnet vor uns, und an ihnen vorbei gelangen wir zu Gegenständen, die aus jener bereits geschichtlich bekannten Periode stammen, da die Römer die Helvetier bekriegten. Ihnen reihen sich an Sammlungen aus der bewegten Zeit der Völkerwanderung mit alemannischen, burgundischen, langobardischen und merovingischen Funden, und dann tritt uns in verschiedenen Werken der Frühgotik, in Altarbildern, Deckengemälden u. dergl., der Einfluß des Christentums entgegen.
Je weiter wir fortschreiten, desto glänzender, anmutiger und kunstreicher gestaltet sich das Bild. Die Blüten mittelalterlicher Kunst erfreuen mit ihrer bunten Pracht das Auge, und auf die Gotik folgt zuletzt die Renaissance mit ihren lebensfrohen Kunstwerken. Aus alten Kirchen, Kapellen und Klöstern, aus öffentlichen Bauten, aus reichen Bürgerhäusern und aus Bauernstuben der Schweiz stammen die Kunstschätze, die hier, soweit es irgendwie möglich war, zu einem harmonischen Ganzen vereint wurden; ja vollständige Zimmer- und Saaleinrichtungen samt dem Schmuck an Wand und Thür wurden in die Hallen des Museums herübergerettet, um vor Zerfall bewahrt zu werden.
In diesen Räumen schauen wir erst recht, was der Kunstsinn und der Gewerbfleiß der Schweizer in früheren Jahrhunderten geschaffen hat. Von einem wunderbaren Lichtschimmer sind viele dieser Säle durchflutet, denn ihre Fenster sind mit Glasgemälden versehen, an denen einst die Schweizerhäuser so reich waren. Bestand doch im Mittelalter die Sitte, daß man bei festlichen Familienereignissen, wie Hochzeiten, sich mit Glasgemälden für Fenster beschenkte, und die schweizer Glasmaler galten namentlich im fünfzehnten Jahrhundert als Meister in ihrer Technik, so daß ihre Werke weit und breit, auch jenseit der Grenzen des Alpenlandes, berühmt und begehrt waren.
Zur hohen Blüte war in der Schweiz die Herstellung der Kachelöfen gediehen, die früher in dem Wohnzimmer einen breiten Raum einnahmen und einen anheimelnden Schmuck bildeten. Sie waren herrlich gearbeitet, mit reichem Reliefschmuck und prächtigen Malereien verziert. Namentlich die Leistungen der Hafnerfamilien Pfau, Erhart und Graf in Winterthur standen in hohem Ansehen und erregen noch heute unsere Bewunderung. Wie an Winterthurer sind auch an anderen schweizer Kachelöfen die Sammlungen des Museums überaus reich.
Einen weiteren Schmuck alter Wohnhäuser bildeten Schnitzereien. Wohlhabende Bürger und Bauern verzierten mit ihnen Decken, Wände und Thüren; in waldreichen Gebirgsländern gedieh diese Kunst immer am besten, und auch die Schweizer leisteten darin Vollendetes. Aus der Fülle der Schnitzwerke, die das Museum bietet, mag nur ein Prunkzimmer aus der Casa Pestalozzi in Chiavenna vom Jahre 1585 hervorgehoben werden.
Die Werke der schweizer Goldschmiede sind in einer besonders feuersicheren Krypta ausgestellt, während den vielgestaltigen Volkstrachten und Kostümen der Schweiz ein besonderer Saal gewidmet ist. Den Glanzraum des Museums bildet aber ohne Zweifel die Waffenhalle, die den ganzen gotischen Mittelbau einnimmt und mit ihren Pfeilern und großen Bogenfenstern den Eindruck eines gewaltigen Kirchenschiffes macht. Bis ins zehnte und achte Jahrhundert zurück reichen die ältesten Exemplare der hier aufgestellten Waffen und Rüstungen. Dazu kommen seltene Schlachtenbanner und Siegestrophäen, die das Bild aus der reisigen Zeit vervollständigen und an so viele Ruhmestage des schweizerischen Heldenmutes erinnern.
Es wäre ein fruchtloses Beginnen, dem Leser die einzelnen Säle und Räume schildern zu wollen. Derartiges muß man mit eigenen Augen schauen. Wem es vergönnt sein wird, die freundliche Limmatstadt aufzusuchen, der wird sicher nicht versäumen, dem Landesmuseum einen Tag zu widmen; es werden ihm dann in dem Prunkzimmer aus dem Seidenhofe in Zürich, in dem Schlafzimmer aus dem Schlößchen Wiggen, in der spätgotischen Aebtissinnenwohnung, in dem berühmten „Lochmannsaal“ aus Zürich, in der originellen Apotheke aus der Benediktinerabtei Muri, in den vielen Hallen und Kreuzgängen unvergeßliche Bilder aus der Kulturgeschichte des Schweizervolkes entgegentreten.
Der Freude über das Gelingen des herrlichen Werkes haben die Schweizer am 25. Juni noch durch eine große festliche Veranstaltung Ausdruck gegeben, welche am Nachmittag stattfand. Durch die Straßen Zürichs bewegte sich ein Festzug, an dem 2800 Personen zu Fuß und 250 Reiter teilnahmen und in dem ein halbes Hundert bespannter Festwagen mitgeführt wurde. Dieser Festzug sollte die schweizerischen Volkstrachten in Bildern aus dem Volksleben vorführen. Auch der Vergangenheit wurde dabei ein breiter Raum gewährt. Sitten und Trachten, von denen uns nur noch vergilbte Bücher erzählen, lebten plötzlich wieder auf und wandelten in malerischer Schönheit vor unseren trunkenen Augen und dazwischen sah man Scenen aus dem Leben und Treiben der Gegenwart. Da zogen die Bewohner der fruchtbaren Ebene vorbei, bei einem lustigen Kirchweihfeste oder einer Hochzeit; man sah die Leute aus den rebengesegneten Gegenden bei ihren malerischen Winzerfesten; die Bewohner des blumenreichen Kantons Tessin stellten ein Blumenfest in Agno dar, und die Graubündener erschienen als Jäger und Saumtiertreiber, die über den Splügen dahinziehen. Unsere nebenstehende Abbildung giebt die Gruppe des Festzuges wieder, welche Leute aus dem durch seine malerischen Trachten berühmten Dorfe Evolena in Wallis auf der Alpfahrt zeigte. Tausende und aber Tausende standen dichtgedrängt in den Straßen und schauten freudig den Festzug, der die Feier der Eröffnung des Landesmuseums in einer so würdigen und sinnreichen Weise abschloß. A. Kr.
[483]
Blätter und Blüten
Indischer Gaukler. (Mit Abbildung.) „Sie werden sich in Madras langweilen, es giebt hier außer dem Zoologischen Garten nur wenig Sehenswürdigkeiten,“ war bei meiner Ankunft in dieser indischen Stadt die wenig ermutigende Auskunft eines wohlmeinenden Landsmannes, der schon manches Jahr dort seinen Großhandel trieb. Im üblichen Sinne war das schon richtig; es giebt in Indien prachtvollere Bauten als die Kathedrale von Madras, glänzender sind die Paläste und Parks von Kalkutta, malerischer die Villen, die „Bungalows“ der vornehmen Welt Bombays auf dem von der Seebrise gekühlten Malabarhügel. Und der erwähnte Zoologische Garten? Daß Gott erbarm’! Ein Hahn mit drei Beinen, von denen das dritte aussah, als ob es demütig um Entschuldigung für sein unerlaubtes verkümmertes Dasein bäte, war das merkwürdigste Tier dieser armseligen Menagerie. Jeder Berliner würde dort mit Recht ausrufen dürfen: „Unsre Tiger in Berlin sind mindestens noch einmal so groß als eure mageren Bestien hier in der Hauptstadt der Präsidentschaft Madras!“ Abgesehen davon, daß die weitere Umgegend von Madras wahre Schätze für den Wissensdurstigen birgt, giebt es für mich aber überhaupt keinen Ort in Indien, an dem ich mich je langweilen könnte. Kein Volksleben ist interessanter als das der Hindus, man möge hineingreifen, wo man wolle, und in Madras hatte ich gerade Gelegenheit, mit indischen Zauberern Bekanntschaft zu machen.
Wie alle Kasten in Indien hat auch die Klasse des fahrenden Volkes ihre Unterabteilungen. Der Sohn des Bärenführers verliert von seinem Kastenrang, wenn er in die Familie eines Hausierers mit tanzenden Affen heiratet; seine Sprößlinge werden nicht mehr als Bärenführer von „reinem Blute“ betrachtet. Die Tänzerin vergiebt sich nicht wenig von ihrer Würde, wenn sie eine Seiltänzerin zu einer Schüssel „Curry und Reis“ einlädt; dann ist es um ihre Kastenreinheit völlig geschehen! Ja, selbst das Schmauchen von ein paar Zügen ans der Wasserpfeife eines gewöhnlichen Taschenspielers bringt dem „Schlangenbeschwörer“ den Verlust seiner Kastenreinheit. Halb Schlangenzauberer, halb gewöhnlicher Gaukler, muß er nun mit andern Künstlern „von gemischter Kaste“ seinen Reis essen: dafür macht er sich auch kein Gewissen daraus, seinen früheren Berufsgenossen Konkurrenz zu bereiten und neben den Glanznummern fingerfertiger Taschenspieler auch den Schlangentanz zu produzieren.
Einen solchen Universalzauberer stellt unsere Abbildung dar. Vor dem Hause, das der Deutsche Klub in Madras bei meiner Anwesenheit bewohnte – er hat inzwischen ein schöneres Heim bezogen –, läßt sich die Dienerschaft etwas blauen Dunst vorgaukeln. Der feiste Hausverwalter, im europäischen Jackett, der tamulische Gärtner mit seiner Familie, der „Boy“ (d. h. der „Bursche für alles“) in seiner Ecke sowie der neben der Säule lehnende verachtete Straßenkehrer, sie alle wissen, daß jetzt um 11 Uhr vormittags die gestrengen weißen „Sahibs“ (Herren aus Europa) an ihren Comptoirtischen schwitzen und das Vergnügen hier nicht stören werden.
Mit Staunen und mißtrauischem Entsetzen bewundern sie die unheimlichen Künste des Wundermannes. Noch stehen die kleinen Holzglocken vor ihm, mit roten, gelben und grünen Ringen bemalt, unter denen er runde Nüsse erscheinen und verschwinden läßt, ein uraltes Kunststück, das die europäischen Taschenspieler nachgeahmt haben und das bei uns in keinem „Zauberkasten für Kinder“ mehr fehlt. An einer der Glocken lehnt auch noch das ausgestopfte Püppchen, das auf geheimnisvolle Weise Leben und Tanzlust in die Glieder bekam.
Diese und ähnliche unbedeutende Eingangsnummern sind jetzt beendigt; eben hat der Tausendkünstler noch schnell ein paar Kleinigkeiten aus dem Munde gezogen: ein geöffnetes Taschenmesser, ein kleines Stachelschwein und fünf rohe Hühnereier. Doch jetzt ist er auf der Höhe seiner Kunstfertigkeit. Er wickelt einen dürren meterlangen Lederstreifen auseinander und hält ihn aufgerollt weit und frei hinaus in die Luft. Unter Beschwörungen in hindostanischem Zigeuner-Rotwelsch schwingt er das Band hin und her – und siehe da, ein paar blanke Aeuglein blitzen aus dem unten herabhängenden Ende hervor, das Leder beginnt sich zu winden, zu drehen, zu wölben – mit triumphierendem Schrei schleudert der aufspringende Teufelskerl eine lebendige Schlange den erschreckten Zuschauern entgegen.
Und des Rätsels Lösung? Sehr einfach.
Unbemerkt in dem Schatten einer breitblätterigen Platane neben meinem photographischen Apparat stehend, hatte ich die Hand des Künstlers unverwandt beobachtet. Vor ihm lag ein offener Sack, der seine dürftigen Geräte barg; der Rand dieses Sackes war locker zusammengerollt, schien mir aber hin und wieder verdächtig zu zucken. Der Gaukler zeigt den Lederstreifen, hält ihn weit von sich, dreht ihn zur Prüfung hin und her – vorne nichts, hinten nichts! „O weh,“ sagt er plötzlich mit gut gespielter Bestürzung, „ich habe ja ganz vergessen, daß ihr nachher den Mangobaum wachsen sehen wollt!“ Dabei legt er das Lederband aus der Hand, und wie zufällig auf den Sackrand: dann nimmt er ein paar Mangokerne aus dem Beutel, bohrt neben sich ein Loch in die Erde, steckt anscheinend den vom Publikum gewühlten Kern hinein, bedeckt ihn mit Erde und spricht sein Hokuspokus darüber, „auf daß der Kern treibe“. In Wirklichkeit hat aber der Schlaumeier einen bereits zum Keime angetriebenen Kern verscharrt und fährt dann in dem angefangenen Kunststück fort.
Natürlich ergreift er jetzt beim Aufnehmen des Streifens die in dem Sackrand eingerollte Schlange so geschickt, daß sie von dem gleichfarbigen Streifen verdeckt bleibt, den er allmählich mit den Fingerspitzen aufrollt, worauf niemand achtet, da ja alles entsetzt auf den unten hervorzüngelnden Schlangenkopf starrt. Um den berühmten Mango-Trick aber war es für diesen Tag geschehen! Während nämlich der schwarze Schwarzkünstler seinen Schlangenzauber ausübte und den Mangokern sicher im Schoß der Erde wähnte, stapfte ein auf dem Hof herumsuchendes Hühnchen herbei, durchstöberte die frisch aufgewühlte Erde und schleppte den bereits angetriebenen Fruchtkern heimlich seitwärts in die Büsche.
Gerade diesen Augenblick nahm ich wahr und photographierte den gefiederten Dieb in flagranti, war aber schadenfroh genug, dem Zauberer die Aufklärung zu verschweigen, als er vergeblich mit verstörtem Gesicht in der lockeren Erde nach dem angeleimten Kerne herumsuchte. Ich trat nun hervor und tröstete den Mann mit dem geistreichen Bemerken, daß es noch wertvollere Dinge zwischen Himmel und Erde gäbe, die spurlos verschwänden.
Dem fahrenden Künstler schien es aber in dem Hofe des Deutschen Klubs nicht mehr recht geheuer vorzukommen – vielleicht meinte er auch, daß ich ihm in der Hexerei „über“ sei – er machte sich aus dem handhoch liegenden Staube, indem er mir giftig zurief: „Sie werden massenhaftes Geld bekommen, aber Sie werden damit nicht lebendig nach England zurückkehren!“ – Daß es nämlich außer England noch andere Länder in Europa giebt, wird den Hindus geflissentlich verschwiegen, und ich galt gewiß bei vielen für einen Erzaufschneider, wenn ich auf die Frage, ob Deutschland denn keine Provinz von England sei, höflichst erwiderte, daß dies nicht der Fall und im übrigen Deutschland beinahe noch einmal so groß sei wie England!
Dr. K. Boeck.
Gerettet. (Zu dem Bilde S. 456 und 457.) Das ergreifende Bild von R. F. Curry führt uns eine Scene an der Paßstraße des großen St. Bernhard vor. Von Martinach im Wallis sind Vater, Mutter und Kind aufgebrochen, um durch die schweigenden Einöden des
[484] Hochgebirges den Weg in die südliche Heimat, vielleicht in die nahen üppigen Gelände von Aosta, zu suchen. Schon liegen die letzten menschlichen Wohnungen hinter ihnen, die Dranse psaltert in den Felsenklüften ihr Donnerlied, an den Gipfeln ist der Herbststurm los. Da erscheint vor den ermüdeten Wanderern das schreckliche Gespenst der Berge, die „Guxete“. Aus einem Schlund des Gebirges saust eine schwarze Wolke, verfinstert mit ihrem Schneegestöber den Weg, die Armen finden den Atem nicht mehr, so reißt und schüttelt sie die Windsbraut, und herzlähmend dringt die Kälte ins Mark. Der Spuk geht rasch vorbei, ein Stündchen noch, dann ist das rettende Hospiz erreicht. Aber das Gespenst erscheint wieder – wieder! Das Kind wimmert: „Mutter, ich bin müde.“ Und jetzt schleicht sich auch den Eltern der Gedanke verführerisch in die ermattenden Sinne: „Ein wenig ruhen!“ Und da stockt der Fuß, schlafüberwältigt sinken sie nebeneinander hin und der Sturm überschüttet mit seinen Flocken den letzten heimatsüßen Traum der Sterbenden. Er soll milde und schmerzlos sein, der Tod auf verschneitem Paßweg! – Diese Verunglückten aber erwachen wieder zum Leben. Sobald die „Guxete“ oder Lawinen im Gebirge wüten, wird es auf dem Hospiz lebendig, die Chorherren des heiligen Bernhard mit ihren Klosterknechten und ihren treuen Hunden sind zur Rettung der Reisenden unterwegs, und mit dem ihnen eigenen Spürsinn wittern die Tiere die Opfer im höchsten Schnee. Sie scharren und wühlen, bis sie die Verschütteten frei haben, sie schnuppern an ihnen, bis die Schlafenden erwachen, sie stellen sich vor die Erschöpften hin, damit diese dem Fäßchen, das ihnen am Halse hängt, den stärkenden Trunk entnehmen, und melden den nachfolgenden Klosterknechten ihren Fund mit freudigem Gebell. Der Volksmund weiß von den Bernhardinerhunden die rührendsten Legenden zu erzählen, und zahlreiche Künstler haben ihre Thaten verherrlicht. Ihr Held ist und bleibt jener Barry, der 17 Reisende aus sicherm Tod gerettet hat, zuletzt aber das Opfer seines Werkes geworden ist, indem er von einem Geretteten, der ihn für einen Wolf hielt, erschlagen wurde. – Seit dem Jahr 962, also über ein Jahrtausend schon, üben die Jünger St. Bernhards ihr Werk der Barmherzigkeit. In den letzten Jahrzehnten ist manches geschehen, damit sich die eisigen Totenkammern des Hospizes nicht mehr mit so vielen Opfern füllen wie früher; mit der Mont Cenis- und Gotthardbahn bestehen Verträge, die den italienischen Konsuln in Frankreich und der Schweiz erlauben, arme Heimatangehörige zu billigstem Entgelt sicher durch die Schrecken der Berge zu führen, und die 12000 bedürftigen Reisenden, die dennoch jährlich die Mildthätigkeit des Hospizes in Anspruch nehmen und seine Mittel beinahe erschöpfen, verteilen sich auf die Jahreszeit, in der die Straße nicht zu gefährlich ist. Von Zeit zu Zeit wiederholen sich doch noch die alten Unfälle und die alten Rettungen und erneuen den Ruhm der Bernhardinerhunde. Im Sommer ziehen reisefrohe Touristen die Menge über den großen St. Bernhard, und nach der Ordensregel stellen die Chorherren auch ihnen für Speise und Trank keine Rechnung, aber wer legt angesichts des großartigen menschenfreundlichen Werkes, das sie erfüllen, dafür nicht gern einen stattlichen Obolus in den Opferstock oes Hospizes? H–r.
Ueberrascht. (Zu dem Bilde S. 465.) Hier am letzten Gartenende, wo die Wege eng werden zwischen dicht wuchernden buntfarbigen Blumenbüschen und darüber herabgreifenden Baumzweigen, hier in dieser sonnigen Stille tritt endlich ein langverschwiegenes Geständnis auf die Lippen, und zwei Herzen schlagen in banger Seligkeit dem Augenblick entgegen, der sie auf immer vereinigen soll. Da – während das erglühende Mädchen noch die Augen zu Boden senkt und Er, kühner werdend, in verlangender Liebe ihre Hand faßt, da öffnet sich das Pförtchen zum Nachbargarten. Die beiden achten nicht auf das leise Geräusch, sie sind so verloren in die Wogen ihrer Empfindungen, daß die Außenwelt nicht zu ihren Sinnen dringt. Auch wird kein weiteres Geräusch laut: die eintretende Freundin bleibt erschrocken, regungslos stehen, was sie erblickt, macht stille Hoffnungen, die sie für das eigene Herzensglück bisher gehegt, zu Schanden. Im nächsten Augenblick wird sie versuchen, leise, leise rückwärts wieder zu entkommen, bevor die beiden dort ihre Gegenwart bemerken. Und dann werden die Gebüsche da drüben den Schmerz der einen ebenso mit ihrem Schatten zudecken wie hier das Glück der anderen, während die Sonne ihren milden Schein über das Ganze breitet. Bn.
Die Heimkehr des Vaters. (Zu dem Bilde S. 469.) Der Beruf als Seemann hat seine rauhen Seiten, und es ist nicht immer ein Vergnügen, sein Tagewerk auf dem Wasser zu treiben. Und nicht bloß der „Schiffer für große Fahrt“, auch der Fischer, der in seinem Boot dem rauhen Handwerk des Fischfangs nachgeht, kann von der Mühsal erzählen, daß er im Schweiß seines Angesichts sein Brot essen, oder mit erstarrten Fingern das Netz aus eisigem Wasser heben muß. Es sieht es keiner dem zappelnden „Turbot“ (Thors Butt!), der schmackhaften Makrele oder dem scharlachroten Hummer an, was für Mühe und Arbeit dazu gehörte, sie auf die Tafel des Mannes am Lande zu bringen. Auch der Hochseefischer weiß ein Lied davon zu singen, was Sturm und Nebel und Regenbö und Schneesturm bedeuten. Schweigsam und wortkarg geht er seinem Berufe nach unter Gottes freiem Himmel.
Am Tage traumhaftes Hindämmern im Boot, wenn das Netz hinter dem Kahn im Wasser gleitet; rauhes Dasein, wenn der heulende Orkan über die See hinfaucht, das Boot sich auf die Seite legt und klatschend die Spritzer über den Dollbord spülen, daß der Fischer sich fluchend die Augen auswischt mit dem Aermel. Einsames Leben, wenn in stiller Nacht hier und da ein gelber Lichtschein wie schwankend und wankend über die See herscheint: die mattleuchtende Laterne am Mast des Fischerbootes – aber wie der Fischer vor Morgengrauen sein Segel festmacht und zu Anker geht, da leuchtet ihm aus dem Fenster seiner Hütte mit flackerndem Glutschein das Feuer, über dem der rußige Kessel mit dem kochenden Kaffee hängt, und mit Behagen denkt er an das hochgetürmte, warme Bett. – Es ist Abend; Sonnenuntergang. Blank und leuchtend liegt die See da. Der Fang war gut. Am Strande hat sie heute gewartet, seine junge Frau; sein Kind hat sie ihm entgegengehalten. Viel gesagt haben sie sich nicht, aber es lag stille Freude auf ihrem Gesicht. Dann nahm er das Kind; sie das Netz; so gingen sie nach Haus; und einen Korb mit Heringen trug sie dazu, zur Abendmahlzeit, und das Kind griff mit ungeschickten Händchen nach dem Hummer, den der Vater lächelnd ihm hinhielt: „Nee, min Jung, dat is nix för di; bekiek di dat man mal, äwer lat de Fingern davon; dat Beest kniept bannig un dat deiht weh“; und leise spült die See auf den festgeschlagenen Strand. H–s.
Im Märchenbanne. (Zu dem Bilde S. 473.) Atemlos horchend sitzen die kleinen Ferienkolonisten um die gute Schwester her, deren Obhut sie für diese Sommerwochen anvertraut sind. Sie pflegt das Wohlverhalten des Morgens durch eine Geschichte am Nachmittag zu belohnen, und es ist erstaunlich, wie viel wunderbare und nie gehörte Märchen die stille Klosterfrau den Kindern zu berichten weiß. Ach, diese ahnen ja nicht, daß das Frauenherz unter dem schwarzen Ordenskleid dereinst voll Lebensfreude schlug, aber sein junges Liebesglück ins Grab senken mußte und nun statt der gehofften eigenen Kinder die fremden mit mütterlicher Liebe umfaßt und ihnen die Schätze der Erinnerung mitteilt! Sie wissen nur, daß sie die Schwester Beate ganz ungeheuer lieb haben und daß überhaupt hier in ihrer Nähe unter dem Holunderbaum auf der grünen Wiese der allerschönste Fleck der Erde ist. Und die junge Nonne selbst, in deren Herz nach schweren Kämpfen der Friede eingezogen ist, sie sieht mit mildem Blick in die Kinderaugen und fühlt innerlich die stille Freudigkeit, welche der Lohn selbstloser Menschenliebe ist!
Urson, von Wölfen angegriffen. (Zu dem Bilde S. 477.) „Die Stachelschweine sehen erschrecklich aus und sind die allergefährlichsten Tiere. Werden sie verfolgt, so fliehen sie mit Windesschnelle, nicht aber, ohne zu kämpfen; denn sie schießen ihre todbringenden Stacheln gerade hinter sich gegen den Feind. Der Jäger darf den Stacheln gerade daher keinen Hund gegen sie loslassen, sondern muß sie mit List fangen.“ Solches erzählte ein alter Schriftsteller von dem Stachelschwein, das in Südeuropa und Nordafrika lebt. Heute wissen wir, daß dies eine arge Uebertreibung ist. Das Stachelschwein ist nicht schrecklicher als unser Igel. Wohl aber lebt in Nordamerika ein Verwandter der Stachelschweine, der Urson, der, besser bewehrt, für seine Angreifer einen grimmigen Gegner abgiebt.
Der etwa 80 cm lange Leib des Urson ist mit einem dichten Pelz bedeckt, der stellenweise in dicke scharfe Borsten übergeht, zwischen den Haaren und Borsten stehen namentlich an der Oberseite und am Schwanze scharfe bis 8 cm lange Stacheln. Das braun und grau gefärbte Tier klettert geschickt auf Bäume und nährt sich dort von der Rinde der Aeste und Zweige. Es läßt andere Geschöpfe in Ruhe, wird aber, wenn es angegriffen wird, zu einem gefährlichen Gegner. Naht ihm ein Raubtier, so sträubt der Urson seinen Pelz und betrachtet mit gesenktem Kopfe den Feind. Springt nun dieser heran, um die Beute zu fassen, so erteilt ihm der Urson mit der Schwanzspitze einen starken wohlgezielten Schlag. Die Wirkung desselben ist so furchtbar, daß der Angreifer bald von jeder weiteren Verfolgung absieht. Die Stacheln des Urson sind überaus scharf und sitzen so locker in der Haut, daß sie nach erfolgtem Schlag in den Wunden des getroffenen Gegners stecken bleiben. Maul, Nase und Zunge des Raubtieres sind mit ihnen gespickt und das arg verwundete Tier ist oft nicht mehr in der Lage, die Kinnladen zu schließen. Man hat beobachtet, daß verschiedene Raubtiere wie Wölfe, Luchse und Pumas an derartigen Verletzungen zu Grunde gegangen sind. In gleicher Weise wird der Urson auch den Jagdhunden gefährlich und das war die Ursache, daß die Jäger ihm überall nachstellten und das Tier in vielen Gegenden schon völlig ausgerottet haben. *
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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Allerlei Winke für jung und alt.
Kleine Arbeitstasche. Cremefarbiger Baumwollenkrepp bildet die Grundform der zierlichen, kleinen Arbeitstasche. Nachdem man das Muster auf den Stoff übertragen hat, näht man ein feines Goldschnürchen, welches doppelt genommen wird, mit Languettenstichen in lachsrosa Stickseide den Konturen entlang an. Ist die Arbeit
vollendet, so schneidet man den Stoff zwischen der Stickerei fort und unterfüttert die Tasche mit lachsfarbigem leichten Woll- oder Seidenstoff.
Ein kleines Knöpfchen und eine Schlinge vermitteln unsichtbar den Schluß. Die Tasche mißt 27 cm Länge zu 15½ cm Breite. A. K.
Sammelmappe für Ansichtskarten. Die Anfertigung der zierlichen Mappe ist höchst einfach und wird auch größeren Knaben und Mädchen Freude bereiten. Erforderlich sind zwei dünne Holzplatten mit abgerundeten Schnittkanten, die etwa 12 cm hoch und 17 bis 18 cm lang sein müssen; jede Platte versieht man zum späteren Durchleiten der den Schluß vermittelnden Bänder mit vier je 1½ cm langen Einschnitten, die, mit der Höhe der Platte laufend, 2 bis 3 cm von den Längsrändern und 1½ cm von den Querrändern entfernt anzubringen sind. Die eine Platte, der obere Mappendeckel, erhält eine zierliche Ausstattung, die beliebig gebrannt, gemalt oder auch geschnitzt sein kann, nur muß das Holz der Technik angepaßt gewählt werden; zum Schnitzen empfiehlt sich Erle, zum Brennen und Malen Ahorn. Hübsch ist ein Hinweis auf die aufzunehmenden Karten, wie das kleine Modell ihn zeigt, zu dessen Verzierung sich Brand- und Aquarellmalerei vereinigen. Mit dem Brennstift markiert man durch gerades Aufsetzen rings um die Platte einen gepunkteten Rand von etwa 2 cm Breite und zeichnet die Konturen eines flott entworfenen Distel- oder Blumenzweiges, wie der schräg übergelegten Ansichtskarte. Für letztere giebt eine Originalkarte die beste Vorlage; die Herstellung der kleinen Landschaft, wie das Ausmalen des Zweiges geschieht mit Aquarellfarben, denen etwas Ochsengalle zugesetzt werden kann. Ein Ueberzug von Braselin oder Aquarellfirnis schützt die Malerei. Die zweite, untere Platte bleibt unverziert, ist aber der oberen Platte entsprechend auch mit Firnis zu überziehen oder bei Kerbschnitt zu beizen. Schließlich leitet man durch die Einschnitte der Platten, in ersichtlicher Weise, 70 bis 80 cm lange, 1½ cm breite Seidenbänder.
Staubwedel aus Stricken. Aus drei Enden weißer Hanfstricke kann man einen netten und billigen Staubwedel herstellen, der für die Sachen des Flurs, der Schrank-, Ankleide- und Schlafzimmer sehr gut zu brauchen ist und den Staub besser entfernt, als dies das Staubtuch vermag.
Man nimmt drei etwa 55 cm lange Enden, flicht sie in ihrem Mittelteil zusammen, verbindet sie an den Flechtenden und wickelt dort zur Befestigung Bindfaden recht stramm herum. Nun dreht man die Enden los und schlägt sie so locker wie möglich aus, wodurch man den Wedel erhält, während oben die Flechte den Griff bildet. Will
man den Wedel zu einem hübschen kleinen Gelegenheitsgeschenk gestalten, so schlingt man um den Bindfaden noch eine volle, farbige Bandschleife, deren eine Schlupfe man mit einigen Streublümchen bestickt. Auch oben durch die Flechte bindet man eine Bandschleife, an der man den Wedel aufhängt. He.
Behandlung heller Handschuhe. Wenn die hellen Handschuhe in Benzin gereinigt sind, so werden sie noch viel rascher als vorher trübe und schmutzig. Um sie dagegen zu schützen, reibe man sie nach dem Waschen mit weißem Talkpulver ein; dieses verleiht dem matten Leder einen leichten Glanz und hält Staub und Schmutz ziemlich lange ab, ist aber nur für die ganz lichten Handschuhe zu brauchen.
Hängekreuz mit Emailmosaik. Man zeichnet sich auf eine etwa 30 cm hohe und 20 cm breite Holztafel, Linde oder Ahorn, mit Zirkel und Lineal das Muster vor und vertieft die sämtlichen Linien rillenartig mit dem Zierbohrer. Sodann sägt man das Kreuz den Konturen entlang mit der Laubsäge aus. Die eingerillten Linien werden nun durch Ausmalen mit Siccativ, dem man etwas Mennige zusetzt, und Auflegen von Blattmetall vergoldet, alle Flächen zwischen den vergoldeten Linien hingegen mit Emailfarben recht accurat bemalt. Die Farbentöne können ganz nach Wunsch gewählt werden, doch müssen sie gut harmonieren und symmetrisch verteilt werden. Bei geschickter Ausführung sieht dann das Kreuz einer echten Emailmosaik täuschend ähnlich.
Das dankbarste Zimmergewächs kann man die Plektogyne oder Aspidistra elatior nennen, die aus dem südlichen Japan stammt. Sie paßt sich wirklich allen Verhältnissen des Zimmers an, wächst noch, wenn sie ein wenig unachtsam gegossen wird und einen schlechten Platz, weit entfernt vom Fenster, erhalten hat. Ihre Blätter wenden sich dann zwar alle sehnsüchtig dem Lichte zu und die Pflanze wird einseitig, aber sie wächst doch und bleibt mit ihren großen dunkelgrünen Blättern immer schön. Die Blüte ist unscheinbar. Sie guckt nur eben aus der Erde des Topfes heraus und wird von den wenigsten beachtet. Die Aspidistra läßt sich leicht durch Teilung vermehren. Man topft dann die Pflanzen aus und bricht sie auseinander. Manchmal wird auch das Messer zu Hilfe genommen werden müssen. Das Teilen kann zu jeder Zeit geschehen, am besten im Frühjahr vor dem Treiben. Man giebt hernach kleinere Töpfe und gute Mistbeeterde. Im Garten entwickelt sich die Aspidistra auch gut. Wer im Winter eine gute Schutzdecke giebt oder einen Kasten darum bauen will, kann sie sogar auspflanzen und im Freien stehen lassen.
Eine Abart mit bunten Blättern ist nicht so unempfindlich. Sie wächst viel schlechter und treibt häufig braunspitzige Blätter. Die nebenstehende Abbildung verdanken wir der Firma Haage & Schmidt in Erfurt.
Pflege der Spargelbeete im Sommer. Im allgemeinen ist die Ansicht verbreitet, daß die Düngung der Spargelbeete hauptsächlich im Frühjahr und Winter zu geschehen habe. Gewiß ist die Düngung zu diesen Zeiten gut, aber sie vermag auf die Ernte des neuen Jahres wenig Einfluß auszuüben, weil der Spargel die Nährstoffe, die dem Boden gegeben sind, im Frühjahr nicht ordentlich verarbeiten kann. Der Spargel müßte dazu grüne Triebe machen, und das gestatten wir ihm, so lange wir stechen, nicht.
Wenn wir zu stechen aufhören, ist ein großer Teil der Nährstoffe versickert und verloren, die Düngung also nicht ordentlich ausgenutzt. Düngen wir dagegen auch nach dem Stich, also nach Johanni, dann werden alle leicht löslichen Nährstoffe sofort gierig von den Wurzeln aufgenommen und in neuen, immer kräftigeren Laubtrieben verwertet. Der Spargel kann Kraft und Reservestoffe sammeln, und beide kommen im nächsten Frühjahre zur Geltung, weil die Anlage von Knospen im Herbst reichlicher ist und diese kräftiger angelegt werden.
Flüssige Düngung ist im Sommer besonders angebracht. Bekommt der Spargel in Zwischenräumen von vierzehn Tagen bis drei Wochen für jede Pflanze zwei große Gießkannen voll, dann entwickelt er sich ganz prächtig.
Um abgeschnittene Blüten und Blumenzweige im Wasser lange frisch zu erhalten, löst man am Ende des Stiels die Rinde etwa 6 cm weit in Streifen und läßt diese am Stiel hängen. Die Zweige saugen auf diese Weise das Wasser besser auf und bleiben so viel länger frisch. – Um matt gewordene Rosen wieder zu beleben, läßt man sie einige Stunden lang in einer Schüssel voll kalten Wassers schwimmen.
[484 b]
Räthsel.
In B – erhebst du dich,
Mit H – erhebt es sich.
Scherzrätsel.
Gerecht mag dort der Richter walten,
Wo er und ich die Mitte halten.
Kettenrätsel.
as bras by gal he he ka ke ki le len ler mo ne ne ni ra ra se te ti wa
Aus obigen 22 Silben ist eine Wortkette von 11 dreisilbigen Wörtern zu bilden. Die Anfangssilbe jedes Wortes stimmt mit der Schlußsilbe des vorangehenden überein. Die Wörter bezeichnen: 1. einen Fluß in Afrika, 2. eine Abkochung aus Pflanzen oder tierischen Stoffen, 3. eine Stadt in Italien, 4. einen Nebenfluß der Donau, 5. einen Volksstamm in Deutsch-Ostafrika, 6. einen weiblichen Vornamen, 7. eine Stadt der nordamerikanischen Union, 8. einen Volksstamm in Nordafrika, 9. eine Stadt in Sizilien, 10. einen athenischen Staatsmann, 11. eine strenge Lebensweise. A. St.
Wechselrätsel.
Mit a am Ende im Gartenbeet
Als zierliche, blühende Pflanze es steht;
Mit u wird von des Färbers Hand
Als prächtiger Farbstoff es verwandt.
F. Müller-Saalfeld.
Verwandlungsrätsel.
Barzin | ...... | ...... | ...... | ...... | ...... | ......| ...... | Moskau.
Man soll mit Hilfe von sieben substantivischen Wörtern als Zwischenstationen von Barzin nach Moskau gelangen. Dabei entsteht jedes Wort aus dem vorangehenden durch Veränderung je zweier Buchstaben, deren Stelle oben durch Sternchen angedeutet ist. Umstellung der Buchstaben ist nicht gestattet.
Arithmogriph.
Die Zahlen sind durch bestimmte Buch-
staben zu ersetzen, so daß die wagerechten
Reihen bezeichen:
1. einen Staat in Europa,
2. eine Art Ziegelsteine,
3. ein Desinfektions- und Heilmittel,
4. ein Gewürz,
5. ein Gebirge in Palästina,
6. eine griechische Insel,
7. eine Küstenstadt in Süditalien. –
Nach richtiger Lösung nennen die für die fettgedruckten Zahlen
eingesetzten Buchstaben eine Stadt auf einer Insel bei Vorderindien.
Trennungsrätsel.
Wenn er hinaus zum Städtle muß,
Da flüstert sie beim Abschiedskuß
Zwei Worte wohl getrennt.
Spricht man vereint die Worte aus,
Wird ein berühmter Maler draus, Den ihr wohl alle kennt.
Den ihr wohl alle kennt.
Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 14.
Erben – Sieben.
Auflösung des Rösselsprunges auf dem Umschlag von Halbheft 14.
Was mit Ehren lohnt die Erde,
Was mit Kränzen krönt die Welt,
Ist nur eine Stundenblume,
Die vor einem Hauch zerfällt.
Doch die Pflicht, die treu erfüllte,
Die die Menge nimmer preist,
Einst an deinem Sterbelager
Steht sie als ein guter Geist.
Rittershaus.
Auflösung des Auszählrätsels „Die Tropfen“ auf dem Umschlaq von Halbheft 14.
Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 14.
C – hin – a.
Die Auflösung der Skataufgabe erscheint auf dem Umschlag des nächsten Halbhefts.
- ↑ Diese Erinnerungen Wilhelm Jordans bilden den ersten in einer Reihe von Aufsätzen, welche hervorragende Veteranen der achtundvierziger Zeit für die „Gartenlaube“ geschrieben haben. Wie diese Aufsätze persönliche Erlebnisse von historischem Wert schildern, so haben auch die politischen Urteile darin den Wert historischer Zeugnisse, die wir uneingeschränkt wiedergeben als persönliche Bekenntnisse ihrer Verfasser. D. Red.