Die Gartenlaube (1898)/Heft 14

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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14. Heft.   Preis 10 cents.   6. Juli 1898.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0420 c.jpg

Max Well & Co., cor. 12th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

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Inhalt.
Seite
Die arme Kleine. Eine Familiengeschichte von Marie von Ebner-Eschenbach (7. Fortsetzung) 422
Ein Tag im Postzeitungsamt zu Berlin. Von Wilhelm Berdrow 431
Elektrische Touristenbahnen 436
Der Künstlerverein „Malkasten“ in Düsseldorf. Gedenkblatt zum fünfzigjährigen Jubiläum. Von Ed. Daelen. Mit Abbildungen 437
Antons Erben. Roman von W. Heimburg (Schluß) 439
Der „Brutus“ der Mediceer. Von Isolde Kurz. Mit Abbildungen (Schluß) 443
Blätter und Blüten: Willibald Alexis. S. 450. – Die neuen Kölner Hafen- und Werftbauten. (Mit Abbildung.) S. 451. – Die wirtschaftliche Frauenschule. S. 451. – Ostseeküste bei Groß-Dirschkeim. (Zu dem Bilde S. 421.) S. 451. – Ein Schwerenöter. (Zu dem Bilde S. 441.) S. 451. – Therese Malten. (Mit Bildnis.) S. 452. – Das Opfer. (Zu dem Bilde S. 425.) S. 452. – Wasserpartie. (Zu dem Bilde S. 429.) S. 452. – Heitere Jagdgeschichten. (Zu dem Bilde S. 449.) S. 452. – Koloriertes Schmecken. S. 452.
Illustrationen: Ostseeküste bei Groß-Dirschkeim. Von J. Wentscher. S. 421. – Das Opfer. Von R. Ernst. S. 425. – Wasserpartie. Von Konr. Egersdörfer. S. 429. – Abbildungen zu dem Artikel „Der Künstlerverein ‚Malkasten‘ in Düsseldorf“. Die Festaufführung des Düsseldorfer „Malkastens“ zu Ehren Kaiser Wilhelms I im Jahre 1877: Blüchers Rheinübergang bei Caub. Von Fritz Neuhaus. S. 432 und 433. Initiale. Im Garten des „Malkastens“ zu Düsseldorf. Von Ed. Daelen. S. 437. Schlußbild. S. 438. – Ein Schwerenöter. Von E. Louyot. S. 441. – Abbildungen zu dem Artikel „Der ‚Brutus‘ der Mediceer“. Kardinal Ippolito. Von Tizian. S. 444. Herzog Cosimo I von Florenz. S. 445. – Heitere Jagdgeschichten. Von Fritz Paulsen. S. 449. – Die neuen Kölner Hafen- und Werftanlagen. Von R. Mahn. S. 451. – Therese Malten als Isolde. S. 452.


Hierzu Kunstbeilage XIV:0 „Partie aus dem Garten des ‚Malkastens‘ in Düsseldorf“. 0Von W. Degode.




Kleine Mitteilungen.


Tuchblumen. Noch immer bildet die Herstellung künstlicher Blumen eine Lieblingsbeschäftigung von Damen und jungen Mädchen. So verschiedenartig aber auch schon die Materialien sind, aus denen man Blumen macht, so gern nimmt man weitere Anregungen entgegen. Neuerdings kommen wieder die Tuchblumen sehr in Mode und werden vornehmlich in Verbindung mit mehr oder weniger Stickerei als Auflagen zu zahlreichen Gegenständen verwendet, z. B. Arbeitsbeuteln, Wandkörbchen, Kissen, Lambrequins, Buchdeckeln u. dergl. – Tuchblumen kannte schon Goethes Mutter, aber wie bescheiden mögen sie gewesen sein bei der geringen Auswahl des Materials und dem Geschmack der damaligen Zeit! Geschickt angefertigte und gruppierte resp. aufgenähte Tuchblumen sehen entzückend aus, dank den heutzutage so vielartig und vielfarbig vorhandenen Stoffen und Stickfäden, und wer etwas Originelles schaffen möchte, dem ist die Anfertigung freistehender oder applizierter Tuchblumen sehr zu empfehlen.

Selbstverständlich darf man nur einfarbige Stoffe benutzen und hiervon wieder möglichst nur solche, die den Naturfarben von Blumen und Blättern entsprechen. Man kann sparsamerweise billige Reste dieser Art sich verschaffen; kleine Stücke ergeben schon eine reichliche Anzahl von Blumen. Allzu dick sollen die Stoffe nicht sein, auch nicht mit irgend einem Strich versehen und schließlich auch keine ausfasernden Webefäden haben. Am besten eignen sich wohl die zu den nordischen Stickereien üblichen Filztuche, die außerdem in den zartesten Farben im Handel sind und gewiß von jedem größeren Tapisseriegeschäft bezogen werden können. Man kann diese Filztuche oder besser die daraus zugeschnittenen Blumenteile etc. übrigens auch anfeuchten und mit einem Fingerhut oder Holz in gewölbte Formen pressen.

Will man freistehende Tuchblumen anfertigen, so ist der Arbeitsgang der Herstellung aller anderen Stoffblumen fast ganz gleich: man schneidet sich die benötigten Formen nach einer Vorlage mit der Schere zu und befestigt sie untereinander mit möglichst unsichtbaren Stichen; die Staubfäden – dünne, mit einem Knoten versehene Tuchstreifchen – sind hierbei mit einzulegen, ebenfalls darf man beim Zusammensetzen das Einlegen des Stieldrahtes nicht vergessen. Die Adern und Schattierungen freistehender Tuchblumen werden mit Pinsel und Farbe markiert. Recht saftig aufgetragene Bronzefarben, die teils nach dem Schatten zu verwaschen, teils in Strichen aufgesetzt werden, sind am effektvollsten, besonders wenn man sehr belichtete Stellen noch mit Gold oder Silber hervorhebt. – Anders verfährt man bei den auf Stoffgegenstände zu applizierenden Tuchblumen. Hier sollen sie zwar auch plastisch hervortreten, sind jedoch flach zu gruppieren. Die Adern und Schattierungen können gemalt oder gestickt werden. In letzterem Fall zeichnet man die Einzelformen auf das Tuch auf, spannt dieses in einen Rahmen und stickt nun mit buntfarbiger Seide, Goldschnürchen, Kantillen, Perlen etc. möglichst naturgetreu die Formen aus, ohne hierbei jedoch den Grundstoff ganz zu verdecken. Erst hiernach werden die Teile ausgeschnitten und auf den Gegenstand entweder glatt appliziert oder nur an einigen Stellen aufgeheftet, um eine etwas bewegtere Gestalt zu erzielen. Sehr schön sehen mehrblätterige Blüten aus, deren Formen zwei- bis dreimal in abnehmender Größe und immer hellerer Nuance übereinander gestickt werden.

Soutacheverzierung. Auf Jäckchen, glatten Taillen, Röcken und Capes sieht man jetzt oft Posamenterieverzierungen aus einfacher Soutache oder auch reich mit Schmelzperlen benäht; vor Jahren war dies ebenso modern, und damals stellten die Damen diese nette, solide Arbeit vielfach selbst her, mit geringen Kosten und nicht allzuviel Mühe. In der Großstadt giebt es ja derartiges massenhaft, wenn auch nicht gerade billig, zu kaufen; am kleinen Ort und auf dem Lande aber lohnt sich’s auch heute noch, ein Muster, wie es die Modezeitungen bringen, auf Pausleinwand durchzuzeichnen und die Soutache selbst zu einem hübschen Ganzen zu verbinden. Erst wird sie, genau den Linien des Musters folgend, auf die Pausleinwand geheftet, wobei man darauf achte, daß sie scharf und genau umbiegt, wo eine Ecke oder Spitze zu nähen ist. Dann näht man die Litzen überall, wo sie einander kreuzen, aneinanderstoßen oder umwenden, mit ein paar feinen Stichen mit Seide fest, wobei man sich hütet, die Leinwand mit anzustechen. Gitterstiche und Spinnen zwischen den einzelnen Formen werden ebenfalls in Seide ausgeführt.

Das fertige Muster muß, von der Pausleinwand losgetrennt, in sich fest zusammenhängen und wird dann möglichst unsichtbar auf den Stoff appliziert. Es giebt verschiedenartige Zierbörtchen, gedrehte Seidenschnürchen etc., die sich außer der üblichen wollenen Soutache dafür verwenden lassen und durch reichliches Benähen mit Schmelzperlen und kleinen Jetplättchen noch eleganter werden. Meist wird die Arbeit in Schwarz ausgeführt, aber auch farbige Soutache mit buntschillernden Metallperlen und weiße, mit Wachsperlchen benäht, sind beliebt und bieten der schaffenden Phantasie einen weiten Spielraum.

Wäschesack für Spitzen. Von Zeit zu Zeit veranstaltet die fleißige Hausfrau Spitzenwäsche und -flickerei. Zum Sammeln und Aufbewahren der feineren Sachen ist ein besonderer Wäschebeutel praktisch, der aus irgend einem leichten Stoff als längliche Tasche angefertigt werden kann. Soll er sich gewöhnlich in der Nähe des Arbeitstisches aufhalten, so erhält er eine gefällige Verzierung durch Stickerei oder aufgenähte Spitze etc., auch ein durch Beinringe gezogenes Schlußband mit Schleife.

Rindfleischgericht aus Suppenfleisch. Im Sommer hält sich das gekochte Suppenfleisch, dem leicht kleine Reste von Suppengrün anhaften, nur ganz kurze Zeit; am besten verwendet man deshalb das Fleisch gleich an demselben Tage, an dem man die Brühe kocht. Eine treffliche und gut schmeckende Benutzung des Rindfleisches bietet das folgende Gericht. Wenn das Fleisch aus der Suppe genommen ist, hackt man es sofort mit drei Löffeln voll vorher weich gedünsteter Champignons und einer geriebenen Zwiebel fein. Auch 150 g Reis – für 1/2 kg fettdurchwachsenes Suppenfleisch gerechnet – kocht man vorher in Salzwasser mit einem Eidick Butter und einer Messerspitze Liebigs Fleischextrakt weich, mengt unter diesen Reis einige Löffel Sahne und ein Ei, mischt das gehackte Fleisch, Pfeffer und etwas Muskatnuß darunter und füllt diese Mischung in eine flache, gut vorgerichtete Tortenform. Die Oberfläche belegt man mit Butterstückchen, bestreut sie dick mit geriebenem Käse und bäckt das Gericht 20 Minuten. In dieser Zeit bereitet man eine Tomatensauce, zu der man eine braune Mehlschwitze mit Tomatenbrei und Fleischbrühe zu sämiger Beschaffenheit kocht. Im Verein mit der aus dem Rindfleisch gekochten Fleischbrühe, welche am besten eine Einlage aus Sommergemüsen erhält, giebt das Rindfleischgericht mit der Tomatensauce ein treffliches Mittagsmahl. L. H.     

Suppe von Hühnerresten. Niemals sollte ein Hühnergerippe nach der Mahlzeit weggeworfen werden, denn es ergiebt noch bei richtiger Bereitungsart eine vortreffliche Suppe. Man zerstößt zu diesem Behuf den ganzen Ueberrest, Knochen, Fleisch- und Füllungsteilchen, fein im Mörser, bräunt die Masse dann mit Butter oder Rindsfett und einer Zwiebel scharf an und füllt mit kochendem Wasser auf (3 bis 4 Teller voll auf ein Huhn gerechnet), worein noch etwas Suppengrün, Gelberübe und Sellerie gegeben wird. Nach zweistündigem Kochen schüttet man die Brühe durch ein Haarsieb, richtet sie über einem Eigelb an und giebt geröstete Semmelschnitten dazu auf den Tisch.

Echter Karlsruher Zwieback. 1/2 l Milch, 200 g Zucker, 250 g Butter, stark 2 Pfund Weißmehl, eine Messerspitze voll gestoßener Zimmet, für 5 Pfennig Hefe. Von 1/4 l Milch macht man einen Vorteig und läßt ihn gehen, bis er wieder fällt. Dann nimmt man die übrige Milch, löst den Zucker darin auf und macht mit dem Rest des Mehles einen recht festen Teig, arbeitet zuerst den Vorteig, dann die Butter und den Zimmet darunter. Hierauf wird der Teig auf das Nudelbrett genommen, längliche Laibchen daraus geformt und auf ein mit Speckschwarte gestrichenes Blech gesetzt. Der Teig muß so fest sein, daß er schön stehen bleibt. Nun muß er nochmals gehen und wird in einem nicht zu heißen Ofen schön gelb, aber nicht hart gebacken. Am folgenden Tag schneidet man die Laibchen in dünne Schnitten und röstet dieselben auf beiden Seiten hellgelb.

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PARTIE AUS DEM GARTEN DES „MALKASTENS“ IN DÜSSELDORF
Nach dem Gemälde von W. Degode
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Halbheft 14.   1898.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahresabonnement (1. Januar bis 31. Dezember) 7 Mark. Zu beziehen in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


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Ostseeküste bei Groß-Dirschkeim.
Nach der Natur gezeichnet von J. Wentscher.

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Die arme Kleine.

Eine Familiengeschichte von Marie von Ebner-Eschenbach.

 (7. Fortsetzung.)

Felix Kosel war ein vorzüglicher Reiter, der sich nicht leicht durch die Laune eines Pferdes überraschen, nicht leicht aus dem Sattel bringen ließ. Im Hof von Valahora wäre er aber bei einem Haar auf das elende, aus spitzen und eckigen Steinen bestehende Pflaster niedergesaust. Die großen und die kleinen Hunde sprangen Meta von allen Seiten an, und die sanfte, vernünftige Stute stieg empört in die Höhe und feuerte aus, daß die Funken stoben. Kosel, der wie gewöhnlich vergessen hatte, seine Reitpeitsche mitzunehmen, konnte dem Hundevolk gegenüber keine andere Waffe gebrauchen als zur Ruhe ermahnende Worte und Winke. Das Geheul der vierbeinigen Burgwächter rief endlich den zweibeinigen herbei. Bartolomäus trat aus der Thür seiner ebenerdigen Wohnung, pfiff dem Hundevolk, kam auf Kosel zu und beantwortete seine Frage, ob Herr Bornholm zu sprechen sei, verneinend.

„Nicht zu sprechen? Ja so,“ murmelte Kosel und versank in Gedanken. Nach einer Weile raffte er sich auf, wiederholte: „Nicht zu sprechen“, und ritt heim und konnte kein Ende finden mit der Beschreibung seines merkwürdigen Erlebnisses. Er war in Valahora gewesen, ja drüben in Valahora, hatte Herrn Bornholm besuchen wollen, ja er, und Herr Bornholm hatte sagen lassen, daß er nicht zu sprechen sei. Das ist doch keine Manier. Wie?

Alle mußten zugeben, daß es keine Manier sei.

Dafür aber am nächsten Vormittage, welche Ueberraschung! Bornholm ließ sich bei Herrn von Kosel melden, wurde – vor lauter Ueberraschung – empfangen und sogar ziemlich freundlich. Er fand den Herrn von Velice umkreist von Rauchwolken, die seinem Tschibuk entstiegen, inmitten eines Ringgebirges von Zeitungen. Kosel stand auf und reichte ihm die Hand.

„Sie sehen, daß ich da Zeitungen ordne,“ sprach er.

„Ja,“ erwiderte Bornholm. „Und ich komme, um Ihnen zu sagen, daß ich sehr bedaure, Ihren Besuch versäumt zu haben. Ich war nicht zu Hause.“

„Sie waren nicht zu Hause? Ja das, das ist etwas andres. Das ist ja etwas andres.“ Und nun stieg er über das Gebirge, an der Stelle, wo es am niedersten war, und lud Bornholm ein, auf einem der großen Fauteuils Platz zu nehmen: „Ich ordne da einige Zeitungen, heute kommt der Buchbinder. Also. Sie sind gestern nicht zu Hause gewesen. Ich habe Sie besuchen wollen.“

„Sie wünschten Nachrichten von Ihrem Sohn zu erhalten,“ sagte Bornholm, „ich kann Ihnen die besten geben. Er verträgt das Klima, die Strapazen, ist der Leiter der Station. Ich bin nur noch ein Bummler.“

Kosel trug ihm eine Cigarre an, er wies sie fast mit Ekel zurück, er rauche nicht mehr.

„Nicht mehr? wieso, wie kommt das?“

„Wahrscheinlich habe ich mich überraucht.“

„Ueberraucht; ein gutes Wort, ich habe es noch nie gehört und auch noch nicht gelesen und man liest in Zeitschriften doch oft neue Worte. Halten Sie Freemans Journal? Es ist berühmt.“

„Joseph liest es.“

„Ja, der Joseph! Er wird doch auch einmal ans Nachhausekommen denken müssen. Ewig geht das nicht so! Eine große Reise hat er jetzt auch gemacht. Wo waren Sie also mit ihm?“

Levin hatte mehr Geduld mit seinem nicht sehr aufmerksamen Zuhörer, als er mit Elika gehabt hatte, die gar zu gern eine aufmerksame Zuhörerin gewesen wäre. Er beantwortete Kosels Fragen ziemlich ausführlich und sprach dann von seiner Absicht, den Winter in Valahora zuzubringen, und von der Notwendigkeit, sich in seinem Raubneste ein wenig einzurichten. Auch ein Pferd mußte er haben und hatte erfahren, daß Herr von Kosel eines der seinen verkaufen wolle. – Verkaufen, ein Pferd? Das war Herrn von Kosel neu. Soviel er wußte, dachte er nicht daran, ein Pferd zu verkaufen. Wirklich dachte er in dem Augenblick an nichts anderes als an Freemans Journal. Levin betrachtete ihn mit Geringschätzung. Was für ein Hohlkopf; und was für vage Augen er hat! In die kommt wohl niemals ein Ausdruck. Nun – das war ein Irrtum, der, kaum entstanden, widerlegt wurde.

Aus den „vagen“ Augen Kosels, der Levin gegenüber saß, mit dem Gesichte der Thür zugekehrt, leuchtete plötzlich etwas Liebes, Gutes. Es verflog bald wieder, aber es war doch dagewesen, hatte diese schönen, nichtssagenden Züge belebt.

„Aha, oho, die Kleine!“ sagte er.

Levin wendete sich: auf der Schwelle, unter der zurückgeschlagenen Portiere stand Elika.

Sie machte einen kurzen Knicks, ging auf ihren Vater zu, umarmte ihn und sprach: „Ich bin schon einige Minuten da und jetzt erst siehst du mich. Herr Bornholm meint den Hansl.“

„Wie – was – den Hansl?“

„Herr Bornholm wird gehört haben, daß du ihn weggeben willst.“

„Ja so, den Hansl, ja den! Aber Herr Bornholm braucht ein Reitpferd, und der Hansl läßt sich nicht reiten; du weißt ja.“

„Warum?“ fragte Levin und Elika erwiderte:

„Er ist zu bös.“

„Kein Tier ist bös, kein vernunftloses Wesen ist bös.“

„Dann thut der Hansl nur dergleichen, aber so schrecklich natürlich, daß es ihm jeder glaubt.“ Sie lachte, geriet aber sogleich in Verlegenheit darüber, daß sie gelacht hatte, umarmte ihren Vater noch einmal und nahm Platz auf der breiten Lehne seines Fauteuils, wie auf einem Damensattel. Einer ihrer Füße kam in seinem hellbraunen Schuh unter dem Saume des weißen Kleides zum Vorschein, fein gefesselt, fast lächerlich schmal, und so waren auch die Hände, die sie nachlässig um das hinaufgezogene Knie schlang. Ihr einfaches Matrosenhütchen hatte sie in den Nacken geschoben, ihre etwas zu hohe Stirn war ganz frei, ihre feinen Haare, sehr dicht geworden, ringelten sich nicht mehr. Sie wurden zurückgekämmt und in einen Zopf geflochten, der ihr über den Rücken hing. Wunderhübsch angewachsen waren diese feinen, an den Wurzeln fast weißen Haare und bildeten da, wie sich aufbäumend, einen schimmernden Bogen um die Stirn und die Schläfen. Elika fing an, ihrer schönen Mutter ähnlich zu sehn, und doch konnte man sie nicht einmal hübsch nennen, mit ihrem blassen Gesichtchen und ihren blassen Augen. Was anzog, was gefiel, das war ihre Anmut, ihr um Liebe werbendes Wesen.

Das Gespräch drehte sich noch immer um Hansl, der den Reitknecht, einen jungen verwegenen Burschen und vorzüglichen Reiter, so oft abgeworfen hatte …

„Vierzehnmal,“ fiel Elika ihrem Vater ins Wort, „bis der Papa ihm verboten hat, wieder aufzusteigen. Und jetzt soll der Hansl eingespannt werden, aber der Kutscher Vincenz sagt, das geht auch nicht. Und das ist so schad’, denn der Hansl ist schön und jung und fehlerfrei.“

Sie seufzte und jeder andere hätte ihre Wichtigthuerei drollig gefunden, Bornholm fand sie aber unausstehlich und dachte: Jetzt spielt sie sich gar auf die Pferdekennerin.

„Ist Hansl wirklich fehlerfrei?“ fragte er Herrn von Kosel über die Kleine hinweg, und der Blick, mit dem er sie dabei streifte, war alles eher als wohlwollend.

Die sonst so leicht Verletzte zeigte nicht eine Spur von Empfindlichkeit. Nur eine leise Traurigkeit dämmerte in ihren Augen, und der kluge, ausdrucksreiche Mund, der Klang ihrer Stimme, jede ihrer Bewegungen verrieten stille Ergebung ins Unvermeidliche, und ein Versichern, ein inniges Beteuern: Kränke mich so viel du willst – ich verzeihe.

„Fehlerfrei – also gekauft,“ lautete das letzte Wort, das Bornholm am Ende der Beratung, die sich nun entsponnen hatte, sprach: „Ich lasse das Pferd morgen abholen.“ Er stand auf und auch Kosel erhob sich.

„Oho! Sehen müssen Sie es früher doch.“ Er war ganz aufgekratzt und ungewöhnlich geistig beisammen, die Gegenwart des Australiers wirkte außerordentlich belebend auf ihn. „Die Katz’ im Sack darf man nicht kaufen.“

„Kommt auf den Verkäufer an,“ erwiderte Levin, und Elika traute ihren Ohren nicht – das war ja eine Art Kompliment, zum mindesten eine Höflichkeit. – „Aber wenn Sie wollen, sehen wir ihn an.“

[423] Auf dem Wege durch den Garten zu den Stallungen trafen sie die ganze Familie in Begleitung des Herrn Pfarrers. Luise kam ihrem Vetter entgegen, und ihr Anblick machte ihm das Vergnügen, das man empfindet, wenn einem ein Licht aufgeht:

„Ja so, du bist da, ich habe nicht gewußt, wieso sie hergekommen ist, die Kleine.“

Bornholm wurde den Alten, die Jungen wurden ihm vorgestellt, und die Gesellschaft machte sich auf zum Besuche Hansls.


Die Pferde in Velice führten ein beneidenswertes Dasein. Sie waren vortrefflich untergebracht, genährt, gewartet. Sie verdienten aber auch ihr Glück, alle ohne Ausnahme, die Wagen- und die Reitpferde, die Siebzehnfäustigen und die Ponies, lauter edle, feurige und leutselige, menschenfreundliche Tiere. Ihr freudiges Gewieher und Gestampfe begrüßte die Eintretenden, besonders ihre junge Gebieterin und ihre jungen Gebieter, von denen sie mit Lob und Liebesbeteuerungen überschüttet wurden. Hansl blieb stumm und regungslos in seiner Ecke. Er war isoliert; links von ihm die Mauer, rechts drei leere Stände. Man schien zu fürchten, daß seine Nähe der Bravheit seiner Kameraden Gefahr bringen könnte.

Kosel befahl, ihn herauszuführen, auf den mit Lohe bestreuten Longierplatz vor den Stallungen. Dahin begab man sich, und der immer galante Leopold brachte Stühle für die Damen.

Schon unter der Thür leistete Hansl den ersten Widerstand, spreizte die Vorderbeine und schlug gewaltig aus.

„Wie ein gemeiner Wald- und Wiesenesel,“ sagte Leopold, aber Bornholm erwiderte:

„Nein, er ist schön.“

Knallende Peitschenhiebe, die ein hinter dem Unband Stehender ihm versetzte, trieben ihn vorwärts. Da war er. Ein Kohlfuchs ohne Abzeichen, etwas hochbeinig, mit breiter Brust, prachtvollem Hals und Kreuz und ziemlich plumpem Kopf, den er in die Höhe hob, um mit Verachtung, mit heißem ingrimmigen Haß auf die Menschen, die Peiniger, herabzuschauen. Er schüttelte sich, blies die Nüstern auf und stieß einen scharfen, bedrohlichen Laut, mehr ein Schreien als ein Wiehern, aus. Eines seiner großen, rotunterlaufenen Augen war geschwollen und blutrünstig, die Haut mit Striemen getigert. Scharfe Sporen hatten ihm die Flanken zerwühlt; einmal ums andere durchlief ein kurzes, nervöses Zucken seinen mißhandelten Leib.

Luise stand hinter dem Stuhle der Tante Renate, und einige Schritte weit von ihr, zwischen Kosel und Leopold, Levin Bornholm. Sie wußte selbst nicht, warum sie gerade jetzt zu ihm hinsehen mußte; vielleicht weil auch seine Augen sich auf sie gerichtet hatten. Aus seinem Gesichte sprach eine so mühsam zurückgehaltene zornige Entrüstung, daß sie erschrak. Und doch schien ihr, als sei in seinem Blicke etwas gewesen, das ihr dankte. Sie hatten, jedes in seiner Weise, dieselbe Empfindung gehabt, und sie wußten es.

Dicht hinter Hansl war der Kutscher gekommen, schwang die Peitsche und brachte einen Nasenring herbei; zwei Stallpagen mit Bändigungswerkzeugen folgten ihm. Es war kein kleines Kunststück, das der Reitknecht zustande brachte, indem es ihm gelang, Hansl, der bockte, schlug und biß, festzuhalten, ohne von ihm verletzt zu werden.

„Hohla! oh – la!“ schrie der Kutscher und näherte sich mit der Bremse.

„Warum denn? Wozu ein Folterinstrument?“ fragte Bornholm, trat hinzu und griff nach den Zügeln. Hansl schnaubte ihn an; da war wieder einer, ein Mensch, also ein Feind, und der bekam seinen Willkommsgruß. Ehe Levin sich’s versah, schnappte das Tier nach ihm und grub ihm die breiten Zähne in den Arm. Er gab kein Zeichen des Schmerzes und ein ermahnendes: „Aber pfui!“ war alles, was er sagte. Drüben hatten alle aufgeschrieen, die Männer stürzten herbei, drohend, Peitschen und Stöcke schwingend, und riefen durcheinander:

„Untier das!“ „Gebissen!“ „Die Schulter ist weg!“ „Nein, der Ellbogen“ …

Bornholm winkte eifrig ab: „’s ist nichts! Fortbleiben! … Ich bitte!“ Die Stallleute aber fuhr er an: „Nicht anrühren! Das Pferd ist mein!“

Ja so! Ja – da gratulierten sie zu dem Besitze, sie waren froh, ihn los zu sein.

Hansl hatte den neuen Bändiger angestarrt, als warte er auf die unausbleiblichen Folgen seiner Unthat. Sie stellten sich nicht ein, und das überraschte, beängstigte ihn, machte ihn doppelt argwöhnisch. Je länger sie überlegen, die Menschen, um so Schlimmeres führen sie dann aus.

Ein langer Kampf begann, der Kampf zwischen Stützigkeit, Bosheit, Tücke und unermüdlicher Geduld. Das ordinäre Publikum lachte und freute sich über jeden gescheiterten Versuch Levins, dem scheuen Tier Zutrauen einzuflößen, das feine Publikum war voll Interesse und endlich voll Bewunderung. Heideschmied fühlte sich sogar begeistert.

„Sehen Hochwürden nur hin,“ flüsterte er dem Herrn Pfarrer zu, „je schwieriger der Schüler, je langmütiger der Lehrer; ich glaube seine Liebe zu dem Wildling wächst mit jeder Unbill, die er von ihm erfährt.“

„Ich kann mir ungefähr denken, was in ihm vorgeht – er sieht vielleicht sich selbst in dem Verstoßenen und Verfemten da, dem man – es ist ja möglich – manchen Fehler – eingeprügelt hat,“ erwiderte der geistliche Herr.

Mit seinem: „’s ist nichts“, hatte Levin übrigens unrecht gehabt. Es war etwas, und sein Arm mußte ihm gewaltig weh thun. Man sah, wie sehr er litt. Schweißtropfen, vom Schmerz erpreßt, standen ihm auf der Stirn, gelblichweiße Ränder bildeten sich um seine sonnverbrannten Wangen.

Doch hatte er etwas erreicht. Hansl ließ sich ohne allzu heftigen Widerstand dreimal nacheinander um den Longierplatz führen. „Jetzt empfehlen wir uns,“ sagte Bornholm. „Ich nehm’ ihn gleich mit.“

Weder Kosel noch seine Söhne wollten das zugeben. Er durfte ihn nicht selbst nach Hause führen mit seinem verletzten Arm, es ging durchaus nicht. Levin blieb allen Einwendungen gegenüber unerschütterlich, und die seine Geduld am meisten bewundert hatten, bedauerten auch am meisten seinen Eigensinn.

„Geduldig wie ein Heiliger und eigensinnig wie ein Bock,“ sprach Charlotte zu ihrer Schwester und machte sich gleich darauf die größten Skrupel – Bornholm konnte ihre halblaut hervorgestoßenen Worte gehört haben. Wenigstens war ihr, als ob er sie spöttisch anlächle. Ein kurzer Gruß und er ging hin mit seinem Pferd an der Hand. Ein Verwundeter, der einen Gefolterten führte. So lange er noch in Sicht blieb, rührte sich niemand, als er aber das Parkthor erreicht hatte, liefen Leopold und Franz, demselben Impulse folgend, ihm nach.

Bald darauf kehrten sie zurück und brachten die Nachricht, daß er glücklich in Valahora eingetroffen sei mit seiner zweifelhaften Acquisition.

Elika hatte die Zeit über lautlos in höchster Spannung dagesessen. Als Bornholm von Hansl gebissen wnrde, war sie so blaß geworden, daß Frau Heideschmied ihren Angstschrei „Elle se meurt!“ mit Mühe unterdrückte. Als aber Levin die ersten kleinen Siege über den Unbändigen errang, schwellte beseligender Stolz ihr Herz. Sie sah um sich, und ihre Blicke fragten: Was sagt ihr nun?

Als Bornholm fort war, langweilte sie die guten Tanten, weil sie nur von ihm sprach, und sie wieder fand es unbegreiflich, daß man heute an etwas andres denken könne. So gestaltete sich der Morgenbesuch in Velice recht unerquicklich. Zu Mittag ließ Kosel einspannen und Luise und Elika fuhren nach Hause. Es war früher noch bestimmt worden, daß der Urlaub der Kleinen in zwei Tagen aus sein solle. Sie mußte ihre Beschäftigungen wieder aufnehmen. Studien sagte man nicht. Für Renate hatte das Wort einen unweiblichen Beigeschmack, Charlotte fand es protzig. Mehr als vier Stunden täglich wurde Elika nicht am Lehrtisch festgehalten durch den Herrn Pfarrer und durch das Ehepaar Heideschmied. Guten soliden Musikunterricht erteilte ihr der neue Schullehrer; der alte war unter vielen Ehrungen zum Oberlehrer an eine andere größere Schule befördert worden, man sprach von seiner bevorstehenden Erwählung zum Landtagsabgeordneten.

Während der Rückfahrt bewahrte Elika anfangs tiefes Schweigen und brach es erst, als man an Valahora vorüberkam: „Dort ist der Arme und hat gewiß schreckliche Schmerzen und niemand kümmert sich um ihn.“ Es erschien ihr wie eine Fügung des Himmels, daß sie unterwegs den Doktor einholten, der immer [424] mit Vorliebe auf der breiten Straße blieb und die Feldpfade und -steige „wegen leichten Ausrutschens“ mied. Er ging langsam, der alte, kurze, dicke Herr. Die Brusttaschen seines dunklen Tuchrockes waren mit Medikamenten so vollgestopft, daß sie ein ansehnliches Vorgebirge bildeten.

„Halt, Vincenz, halt!“ rief Elika. „Wohin, lieber Herr Doktor?“

Er hatte sich und seine Ladung vor den herantrabenden Pferden, in den Straßengraben gerettet, grüßte, indem er den Zeigefinger der Rechten an die Krempe des umfangreichen Lodenhutes legte, und erwiderte: „Nach Vrobek. Hab’ dort einige Kranke.“

O wie herrlich sich das traf! dann konnte ja der Herr Doktor jetzt mitfahren, den Wagen in Vrobek warten lassen und auch zur Rückfahrt benutzen. Elika setzte sich untenan aufs „Bänkchen“ und überließ ihren Platz dem Doktor. Er stieg mit Vergnügen ein; seit einiger Zeit wurde das Gehen ihm schwer. Nur placierte er sich, um nicht indiskret viel Raum einzunehmen, ganz schief und ließ einen Fuß auf dem Tritte stehen. Von einem Wartenlassen der „herrschaftlichen Equipage“ wollte er nichts hören, das konnte er nicht verantworten, es würde zu lange dauern.

„Wie lange, Doktor?“ fragte Elika.

„Eine Stunde gewiß.“

Sie seufzte tief: „Lange, sehr lange! Aber das Wetter ist schön und Vincenz und die Pferde sind gern im Freien. Also, lieber Herr Doktor, lassen Sie“ – abermals stieß Elika einen tiefen Seufzer aus – „lang’ warten, dann aber haben Sie die einzige, die große Güte – besuchen Sie auf dem Rückwege einen Patienten …“

„Keine Güte, liebes kleines Fräulein, Schuldigkeit! Wo befindet sich der Patient?“

„In Valahora. Es ist Herr Bornholm.“

Der Doktor war zusammengefahren, daß die Fläschchen und Büchsen in seinen Taschen schepperten: „Was denken Sie, kleines Fräulein? Zu Herrn Bornholm?“ – –

„Der Hansl hat ihn gebissen, ganz schrecklich.“

„Habe davon gehört, bedaure, kann nicht helfen.“

„Doktor! … So arg ist’s, daß man nicht mehr helfen kann!“ In Bestürzung hatte sie es ausgerufen und griff mit beiden Händen nach seiner Hand.

„Aber Elika! so ist’s nicht gemeint.“

„Aber liebes kleines Fräulein, so mein’ ich’s nicht!“ riefen zugleich Luise und der Doktor. Das eintönig ziegelfarbige Gesicht des alten Mannes rötete sich dunkler, die braunen Aeuglein blitzten durch die großen runden Brillengläser, der schmale, zahnlose Mund verschwand fast gänzlich im Schatten der scharf gebogenen Adlernase. Nie hatte der Doktor mehr Aehnlichkeit mit einer Eule gehabt. „Nur ich kann Herrn Bornholm nicht helfen,“ fuhr er fort, „weil ich zu Herrn Bornholm nicht gerufen werde. Herr Bornholm verachtet die Medizin wie noch so manches andre Ehrwürdige, um nicht zu sagen alles.“

„Da thun Sie ihm vielleicht doch unrecht,“ fiel Luise ein, und Elika wiederholte:

„Vielleicht? – Schweres, abscheuliches Unrecht thut er ihm.“

Der Doktor betrachtete sie mitleidig: „Die arme Kleine ist auch sehr in die Irre geführt. Der Rattenfänger, der!“

„Was hat er Ihnen gethan?“ fragte Elika und kämpfte mit Thränen des Zornes.

„Dasselbe, was er Ihnen gethan hat, den Joseph zur Flucht verleitet.“

„Lüge! Das ist eine Lüge, das ist Verleumdung!“

„Kann ihn gut brauchen auf seinen australischen Besitzungen als unbesoldeten Diener.“ Der laute Protest der beiden jungen Damen störte ihn nicht, er überbot sich noch: „Geben Sie acht, rate ich, geben Sie sehr acht, sonst gehen Leopold und Franz denselben Weg.“

„Nicht Ihr Ernst, Herr Doktor,“ sagte Luise, „Herr Bornholm ist an der Flucht Josephs ganz unschuldig. Das glaube ich.“

„Ich weiß es,“ sprach Elika. „Sie haben ihm unrecht gethan, Sie haben ihn verleumdet, Herr Doktor … Machen Sie das gut,“ setzte sie mit einer plötzlichen Wendung hinzu, „gehen Sie zu ihm!“ Sie bat liebenswürdig, schmeichelnd, inständig, und der Doktor wand sich in Seelenpein. Ihr Nein sagen, ihr etwas verweigern, ihr, der jeder – und er wahrlich nicht zuletzt – so gern den Willen that, immer mit dem Hintergedanken, wie lange wird man’s noch können? Sie sah jetzt beunruhigend übel aus, blaß und aufgeregt, und nichts war schädlicher für sie als Aufregung.

„Bitten Sie nicht! ich bitte Sie, nicht zu bitten, ich halte das nicht aus.“ Er machte sich los von den kleinen Händen, die seine Hand wieder flehend umklammert hatten. „Bleiben Sie stehen, Vincenz; einen Augenblick. So.“ Schwerfällig erhob er sich und klomm mühsam aus dem Wagen. „Ich danke, ich gehe lieber,“ beantwortete er die Ausdrücke des Bedauerns, die Luise und Elika ihm nachriefen.


„Bleib’ bei mir, bis ich eingeschlafen bin,“ sagte am Abend die Kleine zu Luise, die ihr beim Auskleiden behilflich gewesen war und sie zu Bett gebracht hatte wie ein Kind.

„Ich bleibe, aber gesprochen wird nicht.“

„Kein Wort?“

„Nein.“

„Also kein Wort, nur eine Frage: Glaubst du, daß der Doktor ein guter Mensch ist?“

„Freilich glaub’ ich das.“

„Nun, wenn die Guten lügen und verleumden, will ich die Bösen lieb haben.“

Luise erwiderte nichts, setzte sich an den Tisch, nahm eines der Bücher, die dort lagen, und schlug es auf. Sie blätterte, las, sah nach dem Titel: „Buch der Lieder“. Sie wußte, daß es existierte, daß es berühmt war, in der Hand hatte sie es nie gehabt. Ihren Eltern blieb kein Geld übrig, um Bücher zu kaufen; und die Zeit, sie zu lesen, hätten sie ihrer Tochter am wenigsten schaffen können. Sie brauchten Luisens Zeit für sich, die ganze, legten Beschlag auf die Thätigkeit ihrer Tage, die Ruhe ihrer Nächte und spendeten ihr den herben Trost: „Es wird ja nicht lange dauern.“ Es hatte auch wirklich nicht lange genug gedauert, um den Frühling in einer jungen Seele im Dienst des Alters zu ersticken. Sie waren hingegangen, die armen Verbitterten und ewig Unzufriedenen, und ihre Einzige, die alles für sie gethan, war mit der Empfindung an ihrem Grabe gestanden, daß sie ihnen nichts gegeben, immer nur von ihnen empfangen habe. Ihren Lebensmut hatten sie ihr nicht gebrochen, die stille und gleichmäßige Heiterkeit, deren sie so sehr bedurfte, nicht getrübt. Die beiden hohen Güter waren ihr geblieben, ließen sie einer traurigen, einsamen Zukunft gelassen entgegen sehen.

Sie hatte so viel Versäumtes nachzuholen, zu lesen, zu lernen. Wenn man denkt! mit diesem Buche, in dem eine Welt des Schönen ihr aufging, das eine Sprache sprach, wie sie noch keine vernommen, in ihrem Innern Saiten ins Schwingen brachte, die noch keine Regung durchzittert hatte, mit diesem Wunderbuche war die vierzehnjährige Elika wohl vertraut. Sie hatte fast auf jedem Blatt einzelne Stellen und Strophen angestrichen und mit haarfeinen Buchstaben schwungvoll an den Rand geschrieben: Herrlich! – Und man durfte sich ihrer Führung anvertrauen, sie verstand aus dieser Fülle des Reichtums das Kostbarste zu wählen.

Merkwürdiges kleines Ding! Luise wendete sich und sah von dem Buche auf und zu Elika hinüber. Die lag still, die Arme auf der Decke, und war hellmunter. „Du schläfst noch immer nicht?“

„Nein, lies nur weiter, ich werde noch lange nicht schlafen, ich muß nachdenken.“

Luise erhob sich, kniete am Bette nieder, stützte die Ellbogen auf und lehnte die Wange an die gefalteten Hände. „Worüber mußt du nachdenken?“ fragte sie.

„Ueber diese Dummheit … Ist das nicht zu dumm?“

„Was denn?“

„Daß sie glauben, daß Herr Bornholm ihn verleitet hat. Herr Bornholm hat nichts gewußt, niemand hat etwas gewußt“ … Die zwei Worte: nur ich, schwebten ihr auf den Lippen, sie sprach sie aber nicht aus. „Joseph ist fort, weil er gewollt hat, nicht weil ein andrer gewollt hat. Er ist fort, weil …“

„Weil ihn die Buch- und Schulweisheit anwiderte,“ sprach Luise.

„Auch noch wegen etwas andrem. Ich hab’ es damals nicht verstanden, ich war zu klein – jetzt weiß ich es.“ Sie richtete

[425]
Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0425.jpg

Das Opfer.
Nach dem Gemälde von R. Ernst.

[426] ihren Blick auf Luise und sah ihr tief und fest in die Augen: „Kannst du dir nicht denken, was das andre war?“

„Nein, gar nicht.“

„Hast du auch nicht bemerkt, daß du mir einmal sehr zuwider gewesen bist?“

„O weh! Sieh nur, auch das hab’ ich nicht bemerkt.“

„Du bist mir zuwider gewesen, weil er immer so verlegen worden ist vor dir und so rot.“

„Ach geh! du träumst.“

„Nein. Und jetzt sag’ ich dir das andre, das ihn fortgetrieben hat.“ Ihre Stimme hatte einen rauhen und gedrückten Ton: „Daß du ihn behandelt hast wie ein Kind und daß er dich lieb gehabt hat – geliebt hat, begreifst du?“

„Du bist nicht gescheit … Was das für Einbildungen sind! Schlafe deine Einbildungen aus.“ Sie erhob sich: „Gute Nacht also.“

„Gute Nacht.“ Elika erwiderte kühl ihren herzlichen Händedruck.

Luise trat an den Tisch, nahm das „Buch der Lieder“. „Du erlaubst doch,“ sagte sie, löschte das Licht und verließ das Zimmer. – 00000000000000000000

Am folgenden Vormittag kam Leopold, wie immer heiter und gut gelaunt, und fand Luise und Elika im Garten hinter dem Hause, mit dem Abnehmen der schönen Früchte eines Zwergapfelbaumes beschäftigt. „Fleiß und Arbeitsamkeit wohin man schaut!“ rief er ihnen zu. „Guten Tag, zwei Gute Tage!“ erwiderte er die Begrüßung der Tante und der Schwester. „Wo war ich jetzt? – In Valahora. Ja, meine Damen, staunen Sie! Rühmst dich vor dem Patriarchen und den Erztanten dieser Visite beim Teufel nicht, habe ich mir vorgenommen und – wen finde ich beim Teufel? – den Papa.“

„Diesen Engelspapa!“ sprach Elika ganz begeistert, und Leopold bewunderte auch, daß sich der Papa an das Geschwätz über Bornholm nicht kehrte. Aber komisch war es, wie ihn in Valahora nichts so sehr interessierte als die australischen Zeitungen. Bornholm …

„Wie geht’s mit seinem Arm?“ unterbrach ihn Luise, nahm einen letzten herrlichen Calvilapfel vom Baume und legte ihn sorgsam in den Korb, der schon die übrigen barg.

„Seid ihr fertig? darf ich das tragen?“ fragte Leopold.

„Du darfst; darfst auch so viel nehmen als dir beliebt ...“

„Wie es Bornholm geht, möchten wir wissen,“ fuhr Elika ungeduldig drein.

„Davon war nicht die Rede. In den Rockärmel scheint er nicht hineingekommen zu sein, war in einen Plaid drapiert wie ein Schotte. Den Hansl hatte er schon gefüttert und longiert.“

„Tante,“ wendete er sich an Luise, „darf ich mich bei euch ein bißchen niederlassen, oder hast du zu thun und schickst mich fort?“

„Wir haben nichts zu thun als dir zuzuhören. Also wie war’s in Valahora?“

Sie setzten sich alle drei ins Gras unter einen alten Nußbaum, der teils ganz dürre, teils spärlich belaubte Aeste gegen den Himmel reckte. Leopold lehnte behaglich den Rücken an seinen Stamm, streckte die langen Beine und sprach:

„Bornholm packt heute eine von den Kisten aus, die er sich hat nachschicken lassen. Pflanzen, Mineralien kommen zum Vorschein, alles von Joseph etikettiert, katalogisiert. Bornholm sagt, die Matura wird Joseph nie bestehn, aber einen akademischen Grad als Naturforscher verdient er heute schon. Das hat den Papa gefreut.“

„Und freut mich – und dich – und dich!“ rief Elika, sprang auf, umarmte Luise und Leopold nacheinander stürmisch und zärtlich und setzte sich wieder zwischen sie: „Und was war noch drin in der Kiste?“

„O, reizende Sächelchen! Zwei schneidige Katta-Twirris, durch und durch mit Blut getränkt, eine Waddy, an der noch die Haare des letzten kleben, der mit ihr erschlagen worden ist. Ein Trinkgefäß aus der Hirnschale eines Eingeborenen …“

„Entsetzlich,“ unterbrach ihn Luise.

„Den australischen Weibern kommt es nicht so vor. Bornholm sagt, daß fast jedes von ihnen einen solchen Trinkbecher benutzt, den sich die Damen zurecht rösten und polieren.“

„Kannibalenart.“

„Du, Tante, denk’ nicht gering von den Kannibalen, wenn du’s mit Bornholm nicht verschütten willst. Bornholm sagt, daß sie Gold sind im Vergleich zu den Europäern, die ekelhafte Geldgier nach Australien treibt und die ...“

„Laß gut sein. Da spricht Bornholms Vorliebe für die dem Tiere näherstehende Rasse.“

„Möglich, sie sind naiv, und Naivetät ist Unschuld, sagt Bornholm.“

Luise sah ihn mit gutmütigem Spotte an: „Sagt Bornholm. Ich möchte wissen, wie oft du das schon wiederholt hast. Eine Stunde warst du bei ihm und kommst zurück zum Ueberfließen mit seinem Geiste angefüllt. Ueberhaupt, meine lieben Kinder, seitdem der Mann da ist, wird nur noch von ihm gesprochen! Ich bitte um eine andre Konversation.“


Elika kam nach Velice zurück und Frau Heideschmied und Apollonia ließen es sich nicht nehmen, das Ereignis durch die Errichtung eines Triumphbogens vor dem Schloßthore zu feiern. Sie nahm die Huldigung sehr gnädig und sogar gerührt entgegen. Sie war höchst liebenswürdig und sehr sanft und ein bißchen verträumt, und Charlotte fand, das Kind habe seit der Heimkehr „etwas Eigenes“. Sie hatte sich ganz entschieden verändert während der vierzehn Tage, die sie auf Urlaub zubrachte. Jeder fand es, und jeder wollte an ihr etwas Ungewohntes entdecken.

„Gewachsen ist sie,“ meinte Franz, „das ist das Ganze.“

Aber Elika lachte: „In vierzehn Tagen so gewachsen, daß man’s merkt? Du bist nicht gescheit!“

„Gut also, so bin ich nicht gescheit; dann aber war Hanusch es auch nicht. Der hat gleich gesagt: ‚Wie groß sie geworden ist und –,‘“ jetzt brach er in Lachen aus, „‚wie schön!‘ Ein guter Kerl der Hanusch.“

„Ja freilich, weil er mit dir auf die Jagd geht und dir die Hasen trägt.“

„Freilich“ – er machte ihr nach – „immer sagst du: freilich. Freilich geht Hanusch mit mir auf die Jagd, er geht aber auch durchs Feuer für mich.“ Er sagte das ganz zornig und wurde puterrot. Das war jetzt so und völlig unheimlich, daß er über die kleinste Kleinigkeit, über den geringsten Widerspruch förmlich in Wut geraten konnte.

„Und das schadet ihm,“ hatte Apollonia seiner Schwester anvertraut.

Die war in Schrecken versetzt: „Es fehlt ihm doch nichts?“

„Nichts, mein Herzerl … daß du gleich so erschrickst! nichts fehlt ihm … Nur – weißt, wenn einer so im Wachsen ist und das viele Studieren – die Plag’.“

Jawohl, das Studieren strengte ihn an, war eine große Plage für ihn, und nur aus Pflichtgefühl unterzog er sich ihr. Elika besann sich eines Wortes, das Heideschmied einmal zu Tante Charlotte gesprochen hatte, die ihren Großneffen einige Professorensöhne zum nachahmenswürdigen Beispiel angeführt hatte.

„Kaum zu verlangen, kaum zu vergleichen, meine Gnädigste; jene jungen Leute haben von Vater und vielleicht schon von Groß- und Urgroßvater her trainierte Gehirne.“

Es kamen stille Wochen. Der Verkehr mit den entfernteren Nachbarn hatte seit dem Tode Frau von Kosels völlig aufgehört. Nur während der Treibjagden im November füllte Schloß Velice sich drei Tage lang mit Gästen. Vorläufig war Luise die einzige, die sich Nachmittag für Nachmittag einfand, die man immer freudig begrüßte, immer ungern scheiden ließ, die immer wohlthuend und erheiternd wirkte. Es war ein Ereignis, als sie einmal ausblieb. Bis sieben Uhr warteten die Tanten in Aufregung und Sorge; dann ritt Leopold nach Vrobek, um zu fragen, was denn geschehen, ob denn Luise unterwegs verunglückt sei. Nun – gottlob, nein; sie war schon deshalb unterwegs nicht verunglückt, weil sie gar nicht ausgegangen war. Ein Besuch hatte sie aufgehalten. Bornholm war bei ihr gewesen.

Die Nachricht setzte Herrn von Kosel in großes Staunen. „Bornholm ist bei ihr gewesen? … Höre, Tante Renate, hör’ einmal, Tante Charlotte – Bornholm,“ sagte er mehrmals nach jeweiligen gehörigen Zwischenpausen.

Im Sibyllenturm wurde Luise am nächsten Tage womöglich noch liebevoller als sonst empfangen, und dennoch machte etwas [427] Störendes, eine gewisse Zurückhaltung sich bemerkbar. Mit großer Selbstüberwindung fragte Renate, nachdem man von allerlei gleichgültigen Dingen gesprochen hatte, endlich: „Sag’ mir, Kind, findest du es ganz passend, daß Bornholm dir einen Besuch gemacht hat? Denk’ nur, Tante Charlotte und ich können es nicht ganz passend finden.“

Luise hatte sich schon die Zeit über auf diese Bemerkung vorbereitet, sich auch die Antwort ausgedacht, die sie darauf geben wollte, und war nun doch befangen und ratlos und sagte mit forcierter Heiterkeit: „Ein erster und letzter Besuch und gar nicht gern abgestattet. Herr Bornholm hat sich vielleicht verpflichtet gefunden, mir den meinen zu erwidern.“

„Erwidern? einen unabsichtlichen Besuch? … Nun ja, du spaßest. O Kind! du bist ja deine eigene Herrin, aber ich meine nur, du stehst so allein, und er ist doch ein junger Mann und hat nicht den besten Ruf und du bist ein junges Mädchen …“

Luise küßte ihr auf das Innigste die Hand: „Bin ich? Dn schmeichelst mir, gute, gute Tante … Wenn du wüßtest, wie ich mich fühle – älter als alt.“

Kosel und seine Kinder kamen, Luise zu begrüßen, die man schon so lange nicht gesehen hatte, und Elika schlug vor, das Vesperbrot in der Laubhütte im Wäldchen auftragen zu lassen. „Dorthin wird der Wagen bestellt und Luise fährt nach Hause, aber erst sehr spät. Sie muß heute vier Stunden bei uns bleiben, sie hat noch zwei von gestern einzubringen.“

Die „arme Kleine“ hatte gesprochen, das Gesetz war gegeben.

Eigentlich gehörte das Wäldchen noch zum Garten und war nur durch ein leichtes Drahtgitter von ihm getrennt. Seine grünen Wiesen, seine freundlichen Auen reichten bis zur Grenze der großen Waldungen Velices, die sich hügelauf, hügelab hinter denen von Valahora im Halbkreise hinzogen.

Ein breiter gerader Weg durchschnitt das Wäldchen. Wenig befahren, ganz eben, mit kurzem, dichtem Gras bewachsen – ein unübertrefflicher Reitboden. Von diesem Weg zweigte ein schmaler ins Innere des Gehölzes ab und führte mehr oder weniger sanft aufsteigend zur Laubhütte, dem Ziel der heutigen Wanderung. Die ganze Gesellschaft, Menschen und Tiere – jeder der Herren, Heideschmied ausgenommen, hatte einen Hund mit – bog auf den Fußpfad ein, nur Franz, nach Jägerart immer lauschend, spähend, blieb zurück. Elika wendete sich nach ihm um:

„Nun, Monsieur, ist’s gefällig?“

„Still!“ Er warf ihr einen seiner strengsten Blicke zu.

„Jetzt schaut er wieder wie ein Bushranger, dieser Mensch. Franzl, schau nicht so!“

Er legte den Finger auf den Mund: „Still! wenn ich dir schon sag’ … Still, er kommt, kommt auf dem Hansl.“ Mit einem Satz war er an Elikas Seite. „Ruhig, verstecken wir uns.“

„Und kuschen die Hunde!“ befahl Kosel.

„Kuschen, hörst, daß der Hansl nicht erschrickt, sonst giebt’s ein Malheur,“ flüsterte Leopold seiner braunen Lady zu. Elika und Franz brannten die Wangen. Sie drängten sich vor, guckten durchs Gebüsch und verkündeten leise: „Da ist er, da ist er schon!“

Die alten Tanten hatten einen und denselben Gedanken: Wenn es hieß „Er“, brauchte man nicht mehr zu fragen, wer gemeint war.

Der Hufschlag eines Pferdes ließ sich gedämpft auf dem weichen Grund vernehmen. Im mittelstarken, leichten und regelmäßigen Trabe kam Bornholm auf dem Hansl einhergeritten. Das war nicht mehr der scheue Bosnickel, das war ein seines Daseins frohes Tier, und stolz in seiner Dienstbarkeit. Sie schien nicht drückend, erniedrigte es nicht zur Maschine, ließ ihm die goldene Freiheit eigener Initiative, auf die sein Herr auch offenbar vertraute. Er saß in nachlässiger Haltung ohne Peitsche, ohne Sporen, und schien mit allem anderen mehr beschäftigt als mit seinem Pferde. So still die Späher im Gehölz auch meinten, sich gehalten zu haben, er hatte die Nähe von etwas Lebendigem bemerkt und den Blick – einen scharfen unguten Blick – sogleich nach der richtigen Fährte gelenkt. Ihm kam es nicht überraschend, als sich die Zweige plötzlich auseinander bogen und die braune Lady, die Leopold einen Augenblick unbeaufsichtigt gelassen hatte, hervor und mit wildem Gebell auf Hansl losstürzte. Er machte einen gewaltigen Seitensprung, die zuredenden Worte des Herrn gaben ihm aber bald wieder seine Seelenruhe zurück. Leopold war seinem Hunde nachgeeilt, machte ihm die bittersten Vorwürfe und entschuldigte sich bei Bornholm.

Alle kamen nach und nach herbei und Hansl erntete viel Lob. Kosel wünschte zu erfahren, was Bornholm mit dem Pferde „angefangen“ habe. Nichts, durchaus nichts Besonderes. Er hatte sich gefaßt gemacht, alles erdenkliche Böse von ihm zu erfahren, und „er thut ja nichts“.

„Was Sie sagen!“ Kosel dachte nach: „Ja, hat er Sie denn nicht gebissen?“

„Ach das – das war nur ein kleines Mißverständnis. Nicht wahr, Hansl, mein Alter?“ Er war abgesessen, legte den Arm um den Hals seines Pferdes, drückte ihn an sich und lachte, und der Plumpsack – Leopold hatte ihn schon mit diesem Spitznamen dekoriert – war unglaublich gewinnend, wenn er lachte. Schade, daß es so selten vorkam. Eine warme, freundschaftliche Regung stieg in Leopold auf.

„Bleiben Sie bei uns!“ rief er, „wir vespern in der Laubhütte. Kommen Sie mit! Gute Tanten, lieber Papa, sagt ihm, er soll mitkommen!“

„Er soll, er soll! Herr Bornholm, kommen Sie mit!“ fielen Franz und Elika ein.

Einige Betroffenheit über diese unversehens vorgebrachte Einladung malte sich in den Gesichtern der alten Damen, und auch Kosel sah nicht besonders erfreut aus. Aber was war zu thun? Unartig sein gegen den Freund Josephs konnte man nicht, und so wurde denn die Aufforderung der Kinder von den Tanten und Kosel wiederholt. Die Augen Bornholms richteten sich fragend auf Luise; sie war die einzige von der Familie, die geschwiegen hatte, und gab auch jetzt kein Zeichen der Zustimmung.

„Tausend Dank,“ sprach Bornholm, „es ist unmöglich, ich bin ja nicht allein.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er nach Hansl.

„O, deswegen!“ sprach Franz. „Geben Sie ihn mir, ich reit’ ihn nach Hause,“ und er trat dicht an das Pferd heran.

„Was ihm einfällt!“ „Das ist eine Idee!“ „Nein, das wirst du nicht!“ klang es durcheinander. Elika lief auf ihren Bruder zu und wollte seine Hand ergreifen. Voll Ungeduld wich er aus. „Franz, um Gotteswilleu, wenn du mich nur ein bißchen lieb hast … Franz!“ Mit einem Schrei des Schmerzes stieß sie es hervor. Zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie ihn umsonst bei seiner Liebe zu ihr angerufen. Er schob sie weg, gleichgültig, hörte nicht sie, sondern nur Bornholm, der zu Kosel sprach:

„Lassen Sie ihn. Er ist ein guter Reiter, ich hab’ ihn schon zu Pferd gesehen.“

Franz hatte wieder alles Blut im Kopfe, machte seine dicke, trotzige Lippe und schwang sich rasch in den Sattel.

„Nur abgeben, dem Bartolomäus, im Hof – sich nicht weiter mit ihm zu thun machen!“ warnte Bornholm.

Als Hansl den fremden Reiter auf seinem Rücken spürte, bog er den Hals wie eine Schlange und schnappte, aber nur Luft, es war ihm nicht ernst, es war nur eine Reminiscenz an frühere Tölpeleien. Den ersten Hilfen schon gehorsam, schlug er seinen weitausgreifenden Trab an und eine Freude für jedes Reiterauge war seine freie und korrekte Aktion.

Alle blieben auf der Straße stehen und sahen ihm nach.

„Ja – wenn ich wüßt’, was Sie mit dem Tier angefangen haben,“ begann Kosel von neuem.

„Ich sage Ihnen ja – nichts, es war nur verprügelt durch Ihre Leute.“

„Auch durch uns,“ gestand Leopold. „Wir haben ihn auch geritten und miß – verstanden.“

„Geritten? den Hansl? Es war euch verboten!“ rief Elika streng und verweisend und hätte gleich darauf vor Beschämung und Reue in den Boden sinken mögen. Bornholm hatte sich nach ihr umgesehen – so geringschätzig, so deutlich fragend: Hast du mitzureden? … O grausam! grausam! … Der bewunderte sie nicht und bemitleidete sie nicht. Für den war sie nichts. Der begriff wohl kaum, daß sie anderen etwas war.

Mit erratendem Verständnis las Luise ihr vom Gesichte ab, was in ihr vorging. Sie nahm ihren Arm, und so folgten sie den Tanten, die schon rüstig voran wanderten, von Heideschmied und seiner Gattin umschwärmt. Die feine Frau machte [428] zirpend auf das Gezirpe der Waldvögelchen aufmerksam und der Gemahl flüsterte ihr ins Ohr:

„Sie singen nicht so lieblich wie du.“

Kosel, Leopold und Bornholm schlossen den Zug. Levin vernahm die Erörterungen Kosels über Pferdedressur nur noch wie ein Geräusch, das unartikuliert und gleichmäßig an ihm vorüberzog. Er horchte einer andern Stimme. Gedämpft und doch voll edlen Klanges sprach sie zu einem Kinde. Was sie sagte, verstand er nicht; aber sie that ihm wohl, glitt wie ein belebender Hauch über längst entschlafene Erinnerungen. Liebliche, holde aus der Kinderzeit, andere, die ihm schwer aufs Herz fielen. Sie mahnten an den Undank, mit dem er gar oft Liebe gelohnt, an die Opfer, die seine wilde Genußsucht gefordert hatte: Glück und Zukunft so manchen jungen Lebens für eine Stunde des Rausches. Häßlich mutete ihn heute an, was ihm damals süß und schön erschienen war. Er hätte die Gedanken daran aus seinem Gedächtnis wegtilgen mögen, aber sie blieben, sie bohrten sich ein, peinigten und quälten. Warum das auf einmal? War das Reue, die er abgeschworen, war das das sogenannte Gewissen, das er doch längst als etwas künstlich Anerzogenes abgethan hatte?

Als er diese Frage an sich stellte, klang leise Luisens Lachen zu ihm herüber mit seinem sanften weichen Schalle. Ihm war, als müsse er es schon einmal gehört haben in besseren Tagen, in einer helleren Welt.


Im Oktober stellte regnerisches Wetter sich ein; und wenn am Nachmittag auch nur eine drohende Wolke sich am Himmel zeigte, kam schon ein Wagen aus Velice angefahren, um Luise abzuholen. Sehr früh wurde er geschickt und spät wieder angespannt, um sie nach Hause zurückzubringen. Am liebsten hätte man sie beständig in guter Hut behalten und gar nicht fortgelassen. Sie war für die Tanten und für Kosel, wenn er nicht gerade an Zeitungen dachte oder auf irgend einem Steckenpferdchen einen Schulritt unternahm, ein Sorgenkind geworden. Man wußte, und es fiel ihr nicht ein, es zu leugnen, daß Bornholm sich täglich in Vrobek einfand. Ums Mittagsläuten kam er, blieb manchmal eine volle Stunde, manchmal nur wenige Minuten, und war immer wieder ein andrer Mensch. Heute still und in sich gekehrt, morgen heiter und mitteilsam, und dann plötzlich ergriffen wie von einem bösen Geist, hart, herb, aggressiv. Da erging er sich in Sarkasmen, die sie verletzten, in Lästerungen, die sie abstießen, und mehr als einmal hatte sie die Empfindung gehabt, daß auch er sich von ihr abgestoßen fühle und, von einem Kampfbedürfnis getrieben, daherkomme, Unruhe zu säen in ihr stilles Haus und Unfrieden in ihre gleichmütige Seele. Er ahnte nicht, wie sehr ihm das gelungen. Ihre vielgerühmte Heiterkeit war nur noch ein mühsam bewahrter, täuschender Schein. In Wahrheit lag sie im schwersten Kampfe mit sich selbst. Zu diesem Manne, in all seiner Kraft, Gesundheit, mit all den geistigen Fähigkeiten begabt, die seine ärgsten Schmäher gelten ließen, mit all seinem großen Reichtum, zog ein unwiderstehliches, oft bis zur Pein gesteigertes Mitleid sie hin. In solchen Augenblicken wurde diese Luise, die für so ruhig und kühl galt und sich selbst dafür hielt, von dem brennenden Wunsch erfaßt, zu ihm hinzutreten, beide Arme um ihn zu schlingen, seinen Kopf an ihr Herz zu ziehen, ihre Lippen auf seine Stirn zu drücken und zu sagen: Da, ruhe aus, du Unrast, da hast du dein Zuhause, da strömt dir ein Quell unerschöpflicher Liebe und all der Nachsicht, die du brauchst. An diese Liebe kannst du glauben, du Glaubensloser.

Sie stand am Fenster ihres Salons, von dem aus ein Stück des Weges zu überblicken war, der herüberführte von Valahora. Wenn er heute nicht käme – es wäre gut. Sie wünschte es fast. Sie wünschte einmal wieder Renatens besorgte Frage: ‚Hast du Besuch gehabt?‘ mit Nein beantworten zu können. Und Bornholm war gestern ungewöhnlich mild gestimmt und vertrauensselig gewesen – da gab es am Tage darauf regelmäßig einen Rückschlag. Vielleicht fand er es heute schon recht unnütz, daß er von der Jugend seiner Mutter, von ihrem Martyrium gesprochen hatte. Sie war auch eine von den Vielen gewesen, die, zu schwach, um sich zur Wehr zu setzen, dem Wohl einer Gesamtheit zum Opfer gebracht werden. Höchst alltäglich der Anfang dieser Lebens- und Leidensgeschichte. Zwei junge Liebende, verarmten Adelshäusern entsprossen, von Eltern erzogen, denen alles eher möglich erschien, als daß eines ihrer Kinder seinen eigenen Willen haben könnte. Ihn, den jüngsten von sechs Söhnen, bestimmte der Vater zur Auswanderung. „Du bist kühn, stark, hast Talent, hast Unternehmungsgeist; geh’ hin, verdien’ dir dein Brot, erwirb ein Vermögen, wenn du kannst.“ Wenn ich eins erwerbe, leg’ ich es dir zu Füßen, sprach er im Scheiden zur Geliebten und sie antwortete: Warte nicht zu lang, rufe mich, wenn die Trennung dir unerträglich wird. Ich komme über Meere und Länder. Es ist nie eine Botschaft von ihm zu ihr, von ihr zu ihm gelangt. Ihre Eltern, von den Gnaden Bornholms lebend, seiner Willkür unterworfen, stellten sich blind, ließen ihn schalten und walten, gaben zu, daß die Briefe des Ausgewanderten unterschlagen und vernichtet, die ihrer Tochter zurückbehalten wurden. „Du siehst, er hat dich vergessen, ist untreu,“ wiederholten sie ihr, wenn sie durch andere hörte, dem Geliebten ginge es gut, er sei wohlhabend geworden in Neusüdwales. Bornholm aber war treu, war der großmütige, immer helfende Freund, der Retter aus der Not – aus Unehre. Und sie, stark im Dulden, schwach im Thun, abwechselnd bedroht und angefleht, gab endlich nach.

Klägliche Jahre verflossen. Die Gattin Bornholms führte das peinvoll erniedrigende Leben einer edlen, feinfühligen, der Zärtlichkeit und der Eifersucht eines ungeliebten Mannes ausgelieferten Frau. Da verbreitete sich plötzlich die Kunde, ‚der Australier‘ kehre in die Heimat zurück. Ohne Zögern, als handle es sich nur um die Ausführung eines längst gefaßten Entschlusses, verkaufte Bornholm seine nordische Besitzung, zog hierher und erwarb das Gut Valahora. Dort spielte sich das Ende der Familientragödie ab. Dem „Australier“ gelang es, Beweise für die Niedertracht zu erlangen, mit der an ihm und an der Geliebten gehandelt worden war; er kam und forderte sie von dem Betrüger zurück, forderte Trennung der auf Lüge und Verrat gegründeten Ehe. Im Angesicht des Mannes rief er der Frau zu: „Rede! Wem hat dein Herz von Jugend auf gehört, wem gehört es noch?“ – Und im Angesicht des Mannes gab sie ihm Antwort.

Dieses eine und einzige Mal in ihrem armen verkümmerten Leben bäumte sie sich auf. Die Entrüstung, die Verzweiflung, die Nähe des Erwählten gaben ihr den Mut, ihre Lippen zum vollen stolzen Bekenntnis der Wahrheit zu öffnen:

„Wen ich geliebt habe, wen ich liebe brennend und sehnsüchtig? und ewig lieben werde? – Dich!“ – Das leidenschaftlich hervorgestoßene Bekenntnis war zugleich ein Abschied. Sie konnte ihm nicht folgen, ihren verabscheuten Quäler nicht verlassen. Ihre Ehe lösen, ihm folgen werde sie nicht. Sie hatte ja ihr Kind … Aber auch das sollte sie von Stunde an nicht mehr haben. Bornholm entfremdete es ihr, lehrte es, Grauen vor seiner Mutter zu empfinden. Von allem Unverzeihlichen, das sein Vater gethan, war das in den Augen Levins das Unverzeihlichste. Uebers Grab hinaus haßte und verabscheute er ihn dafür.

Dem furchtbaren Auftritt im Schlosse war ein Duell ohne Zeugen gefolgt. Die Kugel des Gegners und Rivalen konnte Bornholm nie aus dem Leibe geschnitten werden, mahnte ihn durch unausgesetzte Schmerzen an die bitterste und beschämendste Stunde seines Lebens. Ein Trost blieb ihm: Sein Schuß hatte noch besser getroffen als der des Feindes. Nach langem Siechtum schiffte dieser – ein vom Tode schon gezeichneter Mann – sich wieder nach Australien ein. Er wollte seine Ländereien und seine Homestation noch einmal sehen. Er wollte die Güter, die er für die Vielgeliebte erworben hatte, ihrem Kinde sichern und vertraute die Verwaltung treuen Händen an, aus denen der junge Erbe sie einst ungeschmälert erhalten sollte. Ein Gruß des Sterbenden, die Kunde seines Todes und seiner letzten Verfügungen gelangten nach Valahora und blieben unbestellt; ein Geheimnis für jeden so lange Bornholm noch lebte. Und dieses konnte Alwilde, die Levin sonst alles verriet, ihm nicht verraten. Die Zwei stachelten einander auf zum Hasse gegen den Herrn und den Vater. Im Herzen der Magd gärte er seit Jahren, im Herzen des Sohnes war er am Totenbett der Mutter erwacht. Ein furchtbares Verhältnis gestaltete sich

[429]
Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0429.jpg

Wasserpartie.
Nach einer Originalzeichnung von Konr. Egersdörfer.

[430] zwischen den beiden Bornholm. Der Alte entsetzlich in seiner geist- und herzlosen Tyrannei, Levin, als Knabe wie ein kleines Kind, als Jüngling wie ein Knabe behandelt, unablässig rebellierend.

Dann der plötzliche Tod des Bedrückers und sein Sohn aus atemraubender, herzbeklemmender Knechtschaft ohne Uebergang in absolute Ungebundenheit versetzt. Neunzehnjährig, frühreif, einer wild wuchernden Phantasie überantwortet, die ihm in den Jahren des Erwachens die Freuden des Lebens in einem Lichte zeigte, im Vergleich zu dem auch die schönste Wirklichkeit als trübe kahle Dämmerung erscheint. Und nun ein Hineinstürmen in diese Wirklichkeit, ein tolles Jagen, ein leidenschaftliches Ringen nach einem unerhörten Glück. Allmählich dann ein immer tiefer Sinken, ein Sinken bis zum Wüstling …

Am Schlusse dieser Beichte hatte Levin ausgerufen: „Und als es mir einmal einfiel, über mich nachzudenken und mich zu fragen: wie steht’s mit dir? lautete die Antwort: du bist verwelkt, ehe du geblüht. Das ist durch nichts mehr gut zu machen, keine Macht der Erde bringt ein, was da verloren ging. – Keinen barmherzigen Zweifel, ich bitte Sie,“ war er Luise, die sprechen wollte, ins Wort gefallen. „Halten Sie mich nicht etwa für trostbedürftig. Ich bedarf weder eines Trostes, noch eines Rates, ich spreche auch nicht zu Ihnen so aufrichtig über mich, weil ich die Schroffheiten und Härten meines Wesens mit der elenden Erziehung, die ich erhalten habe, entschuldigen will. Es ist ohne jede Absicht geschehen – und warum?“ In leichtfertig spöttischem Tone setzte er hinzu: „Vielleicht aus Dankbarkeit, weil Sie sich Mühe geben, mir Teilnahme zu zeigen, vielleicht, weil Sie eine große Kunst vortrefflich verstehen, die, aufmerksam zuzuhören.“

Damit war er aufgestanden und war gegangen, und hatte ihr nicht einmal Zeit gelassen, ihm Lebewohl zu sagen …

Zwölf Uhr. Das Gebimmel des Mittagsglöckchens durchzitterte die regenschwere Luft. Nun kommt er nicht mehr und das ist gut. Er sollte wirklich nicht täglich kommen, es gehört sich nicht und stört ihr den Frieden. Sie trat fort vom Fenster, sie hatte noch allerlei in ihrer kleinen Wirtschaft zu thun, Arbeiten zu beenden, die halb fertig auf dem Tische lagen, und auch noch Rechnungen abzuschließen. Heute nacht hatte es sie heiß überlaufen; da war ihr eingefallen, daß sie vergessen hatte, am vorigen Samstag ihre Wochenrechnungen zu bezahlen und ihre Krankenbesuche im Dorfe zu machen. Ein großes Unrecht. Ihr Interesse für Bornholm durfte sie keine Pflicht versäumen lassen, ihr Interesse für andere nicht in Schatten stellen. Und doch war’s geschehen. Sie gab sich genaue Rechenschaft davon. Seine breite Gestalt hatte sich zwischen sie und die ihr früher liebsten Menschen geschoben und ihr diese ferner gerückt. Die guten Tanten, den armen langweiligen Vetter Felix, seine Kinder, Elika sogar – alle, alle … Wie das nur gekommen war, und was ihr denn an ihm gefiel? Und gefiel er ihr denn überhaupt? Sie mußte sich gestehen: nein, vieles an ihm mißfiel ihr sogar entschieden und verletzte und beängstigte sie. Aber immer erwachte von neuem das grenzenlose Mitleid. Ein vielleicht falsch angewendetes Mitleid, ein unberechtigtes und vor der Vernunft kaum zu rechtfertigen. Aber komm’ zu Worte, Vernunft, du rechnende, du wägende, wo das Gefühl seine stürmische Stimme erhoben hat.

Indessen – trotz ihm! … Man kann es besiegen wollen, der Wille ist doch auch etwas … An dein Tagewerk, saumselige Hausfrau.

Sie verließ das Zimmer, hatte aber den Treppenabsatz kaum überschritten, als das Thor der Halle geöffnet wurde und Levin eintrat: „Guten Tag, Fräulein von Kosel,“ rief er zu ihr hinauf und schwenkte den Hut. „Störe ich Sie? haben Sie zu thun? Wenn ja, schicken Sie mich fort. Ich bitte nur um einen Augenblick Gehör, ich habe Ihnen etwas zu sagen.“

Er hatte in einem ihm ganz ungewöhnlichen Ton gesprochen, so unbefangen und heiter wie noch nie. War ein plötzliches Glück ihm begegnet? Er sah ganz danach aus.

„Ich habe wirklich zu thun,“ erwiderte sie, „aber mir scheint, daß Sie eine gute Nachricht zu bringen haben; die muß ich hören. Kommen Sie!“

Luise ging in den Salon zurück und Bornholm folgte ihr auf dem Fuße. Sie nahm Platz in der Ecke des Kanapees und er ihr gegenüber auf einem Sessel, vor dem mit Weißzeug und Näharbeiten bedeckten Tisch. „Die Nachricht, die ich bringe, ist wirklich gut,“ begann er, „gut für mich, sie betrifft mich allein; und doch drängt es mich, sie Ihnen mitzuteilen.“ Er zögerte ein wenig und sprach dann rasch: „Sie sind mir eine Wohlthat, Fräulein von Kosel.“

„Das freut mich sehr,“ versetzte sie ernst, „dergleichen hört man immer gern. Und Ihre Nachricht?“

„Das eben ist meine Nachricht. Sie sind mir eine Wohlthat. Sie haben einen großen und guten Einfluß auf mich.“

Sie war im ersten Augenblick ratlos. Wie kam er dazu, ihr eine Art Freundschafts- und Vertrauenserklärung zu machen? Plötzlich, ohne die geringste unmittelbare Veranlassung? „Es freut mich sehr, wenn es so ist, Herr Bornholm,“ wiederholte sie, „und ich möchte wissen, an welchem Zeichen Sie diesen Einfluß erkennen. Ich habe noch nichts von ihm bemerkt.“

Seine Augen leuchteten auf und suchten den Blick der ihren festzuhalten: „Er besteht. Vom ersten Tag an, von noch früher an. Joseph hat mir Ihr Bild gezeigt und viel von Ihnen gesprochen. Ich habe diesen Einfluß von Tag zu Tag mehr empfunden. Heilen wird auch er mich nicht, aber über einige Monate meines Lebens kann er mich gelinder, als es mir sonst zu teil wird, hinwegbringen. Entziehen Sie ihn mir nicht.“

„Warum sollt’ ich das?“ fragte Luise unsicher und befangen.

„Man rät es Ihnen, Menschen, die Ihnen teuer sind, raten es Ihnen … Ob eindringlich, mit vielen Worten, ob stumm – durch kummervolle Mienen, ist ja gleich … Ihr Vetter Kosel – ich komme jetzt auf das, womit ich hätte anfangen sollen – ist bei mir gewesen vorhin. Eben. Er kam – als Sendbote, gewiß – eigene Initiative ist nicht sein Fall – mir anzudeuten, daß meine Besuche bei Ihnen unpassend gefunden werden. Ich war mehr aufs Erraten als aufs Verstehen angewiesen – die letzte Nummer der „Evening News“ lag auf dem Tisch … Sie begreifen, da konnte er doch nicht bei der Stange bleiben … Wie er daheim bestehen soll im Examen über den Erfolg seiner Mission, ist mir unklar, und klar nur, daß er sie hatte … und denken Sie, Fräulein von Kosel! mit meiner Kunst, das Unangenehmste für das Nächstliegende zu halten – ergriff mich die Sorge, er habe die Mission von Ihnen.“

„Irrtum,“ sprach Luise.

„Ich weiß … Ich dachte es mir gleich. Sie würden mir nicht durch einen Dritten sagen lassen: ‚Ihre Anwesenheit bei mir erregt Aergernis. Bleiben Sie fort‘ … Ich weiß noch etwas. Sie sagen das überhaupt nicht. Sie sind zu stolz und unabhängig, um Ihre Handlungsweise zu ändern, weil alberne Leute an ihr Anstoß nehmen könnten.“

Luise hatte den Kopf gesenkt, erhob ihn nun und versetzte mit einem herzgewinnenden Lächeln: „Ich weiß nicht, ob ich sagen soll, Sie thun mir unrecht, oder, Sie thun mir zu viel Ehre an. Eben heute habe ich überlegt, ob ich nicht gut thäte, Sie zu bitten, seltener zu kommen.“

„Der Leute wegen?“

„Der Leute wegen, die Sie albern nennen, und die es so gar nicht sind.“

„Wohl denn!“ rief er, „ich geb’ es zu, es sind die respektabelsten Leute – aber auch durch die sollen Sie sich nicht bestimmen lassen, mich vor die Thür zu setzen.“ Er schien ganz und gar aus seinem Charakter gefallen, sein männliches Gesicht nahm einen geradezu kindlichen Ausdruck an und es lag eine erstaunliche Naivetät in dem Tone, in dem er ihr zum drittenmal die Versicherung gab: „Sie sind mir eine Wohlthat, Fräulein von Kosel!“


„Tante Luise!“ rief jetzt eine junge Stimme, und Elika öffnete die Thür so weit als nötig, um ihren Kopf durchzustecken. Beim Anblick Bornholms stotterte sie: „O – o!“ … zögerte ein wenig und trat dann ein und sah in ihrem langen lichten Regenmantel mit aufgestülpter Kaputze hübsch und herzig aus. Luise war rot geworden, Bornholm plötzlich in Verstimmung geraten.

„Frau Heideschmied ist auch da,“ sprach Elika, aber mehr um das peinliche Schweigen zu brechen, als um auf die Anwesenheit der Französin aufmerksam zu machen, die ihren Mantel auf dem Palier abgelegt hatte und jetzt knapp vor der Thür eine zierliche Reverenz ins Werk setzte.

[431] Luise war aufgestanden und begrüßte die Damen, Bornholm blieb sitzen. Er gab sich keine Mühe, zu verbergen, wie verdrießlich die Unterbrechung seines Gesprächs mit Fräulein von Kosel ihm war. Frau Heideschmied, viel zu wohlerzogen, um die Verlegenheit der Herrin des Hauses und die Unart ihres Gastes zu bemerken, nahm dankend die Einladung Luisens, sich neben sie aufs Kanapee zu setzen, an und teilte ihr in höchst angeregtem Tone mit, daß es regne und wahrscheinlich den ganzen Tag fortregnen werde, wenn nicht etwa Aufheiterung eintreten sollte.

Elika hatte sich neben sie auf einen Fauteuil placiert. Ihr kluger und scharfer Blick glitt über die drei: über Bornholms finsteres Gesicht, über Luise, die so befangen, Frau Heideschmied, die so wohlerzogen war. Sie verstand alle, erriet, was in jedem von ihnen vorging, sie hatte das stolze Bewußtsein, die Situation völlig zu beherrschen, sie, die jüngste, sie, das „kleine Mädchen“. – „Wir kommen, dich zu Tische zu bitten, Tante Luise,“ sagte sie mit einer freundlichen und anmutigen Ueberlegenheit, die Frau Heideschmied entzückte. „Der Herr Pfarrer und der Herr Doktor und der Herr Direktor und seine Frau werden erscheinen. Nachmittags arrangieren Leopold und Franz eine große à la guerre-Partie im Billardzimmer. – Wollen Sie uns auch das Vergnügen machen, zu Tische zu kommen, Herr Bornholm?“

Er verneigte sich obenhin, in seiner spöttisch ablehnenden Miene war die Frage zu lesen: Ist das Ihre Sache, mich einzuladen?

Schnell und gleichsam zu ihrer Rechtfertigung setzte Elika hinzu: „Der Papa und die Tanten würden sich gewiß sehr freuen, Sie zu sehen.“

„Ja dann,“ er hatte immer noch seine spöttische Miene, „und wenn Sie es erlauben, werde ich am Nachmittag nach Velice kommen.“

„Zu Tische nicht?“

„Mit Ihrer Erlaubnis, am Nachmittag,“ wiederholte er ungeduldig.

„Auf Wiedersehen also!“ Elika stand auf und, als ob sie elektrisch mit ihr verbunden wäre, zugleich auch Frau Heideschmied.

„Auf Wiedersehen, meine, meine Kleine,“ sprach Luise, winkte sie zu sich heran, umschlang und küßte sie.

In Gnaden hatte Elika sich zu ihr herabgeneigt und sich ihre Liebkosungen gefallen lasten. Jetzt, wieder aufgerichtet, warf sie einen Seitenblick auf Bornholm und fragte: „Wie geht’s dem Hansl?“

„Gut.“

„Ist er brav und haben Sie ihn lieb?“

„Lieb? – er nützt mir und ich nütze ihm. Das hat mit dem Liebhaben nichts zu thun,“ erwiderte er trocken und abweisend. Es fehlte nur, daß er noch hinzugefügt hätte: Alberne Frage!

Elika zuckte traurig die Achseln, wendete sich und ging, wurde aber, ehe sie die Thür erreichte, von Luise eingeholt. Die nahm ihren Arm und begleitete sie die Treppe hinab. In der Halle blieben sie stehen und die Kleine sagte mit einem tiefen Seufzer: „Er ist noch sehr verwunschen!“

„Warum sind Sie so unfreundlich mit ihr?“ fragte Luise, die, in den Salon zurückkehrend, Bornholm auf seinem frühern Platze fand. Er hatte beide Hände in die Taschen gesteckt und schaukelte sich auf seinem Sessel: „Ich weiß es selbst nicht. Sie ärgert und langweilt mich. Sie hat etwas so Gouvernantenmäßiges. ‚Haben Sie ihn lieb?‘ Unerträglich fad, solche Sachen … Ich hab’ überhaupt nichts lieb. Ich kenne das nicht.“

„Sie kennen das nicht?“ wiederholte Luise ungläubig. – „Herr Bornholm, wenn ich ein Wort wüßte, das genau das Gegenteil von Selbstüberschätzung bedeutet, würde ich es Ihnen zurufen.“

„Es träfe mich aber nicht. Mich zu verleumden, liegt mir fern, gerade so fern wie es mir liegt, etwas zu bereuen“ … Er sprudelte es heraus mit unmotivierter Heftigkeit in unzusammenhängenden Sätzen: „Man ist wie man ist – kann es in schwachen oder, wenn Sie wollen, in hellen Stunden bis zur Verzweiflung bedauern, ändern kann man es nicht. Man kann nicht für sein Selbst … muß sich weiterschleppen mit diesem unzertrennlichen, miserablen Ich … Sie erschrecken? erschrecken Sie doch nicht!“

„Ja – auch ich kann nicht anders, auch ich bin wie ich bin, das heißt, in beständiger Angst, wenn sich jemand vor mir auf seinem Sessel schaukelt. Wollen Sie nicht die Güte haben, ruhig sitzen zu bleiben?“ Sie sprach es bittend, lehnte sich vor und sah ihn, der die Hände aus den Taschen gezogen und eine stramme Haltung angenommen hatte, heiter und freundlich an. Ihre Blicke ruhten ineinander, und die Härte und der Trotz des seinen milderten sich unter dem Einfluß der unendlichen Güte, die ihm aus dem ihren entgegen leuchtete.

„Jetzt haben Sie mir wieder wohlgethan,“ sprach er. „Sie übersehen das Unverbesserliche an mir und rügen eine üble Gewohnheit, die ich – in Ihrer Gegenwart wenigstens – ablegen kann.“

„Die Rüge war doch auch recht gouvernantenmäßig … Dank, daß Sie es mir verzeihen,“ kam sie der Einwendung zuvor, die er machen wollte. „Und jetzt muß ich Sie verabschieden. Ich habe noch viel zu thun und weiß nicht, wie ich’s in ein paar Stunden fertig bringe.“ Sie reichte ihm über dem Weißzeugberg die Hand, die er kräftig schüttelte.

(Fortsetzung folgt.)


Ein Tag im Postzeitungsamt zu Berlin.

Von Wilhelm Berdrow.

[ Da der Verfasser erst 1954 verstorben ist, kann der Text hier erst ab 2025 transkribiert werden.]

[432]
Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0432.jpg

Die Festaufführung des Düsseldorfer „Malkastens“ zu Ehren Kaiser Wilhelms I im Jahre 1877: Blüchers Rheinübergang bei Caub.
Nach dem Wandgemälde von Fritz Neuhaus im neuen Düsseldorfer Rathaussaal.

[433] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [434] [ Da der Verfasser W. Berdrow erst 1954 verstorben ist, kann der Text hier erst ab 2025 transkribiert werden.] [435]

[ Da der Verfasser W. Berdrow erst 1954 verstorben ist, kann der Text hier erst ab 2025 transkribiert werden.]


[436]

Elektrische Touristenbahnen.

Die Zwecke der Anlage und des Betriebes von Eisenbahnen haben sich im Laufe des jüngsten Menschenalters nach gar verschiedenen Richtungen hin verändert und verzweigt. Zu den großen, Länder und Kontinente durchquerenden Bahnlinien sind die Stadtbahnen, die Straßenbahnen, die Bergbahnen, die Kleinbahnen und manche andere gekommen. Aber keiner dieser neuen Wege, die der Eisenbahnverkehr eingeschlagen hat, ist wohl jünger und für den Augenblick zukunftsreicher als jene Art von Bahnen, die abgesehen von aller Völker- und Städteverknüpfung, weit entfernt von irgend welchen Absichten auf Handels- und Güterverkehr, abseits von jedem reinen Nützlichkeitszweck nichts weiter wollen, als dem Vergnügungs- und Erholungsreisenden die Wege ebnen. Das Durchfliegen der Welt im D-Zuge kann für die Kenntnis von Menschen und Gegenden nichts leisten, die für gesunde und kräftige Leute gewiß am meisten zu empfehlende Fußwanderung verlangt mehr Zeit, als vielen Touristen zu Gebote steht – hier will die Touristenbahn eine Lücke ausfüllen und dem Wanderer hin und wieder ein Stück seiner Arbeit erleichtern, ohne ihm von den ästhetischen Genüssen der Landschaft allzuviel zu entziehen.

Diesem Zwecke, der ein Ueberwinden mannigfacher Terrainhindernisse, ein Anschmiegen an lokale Eigentümlichkeiten verlangt, wie es die normalspurige Dampfeisenbahn niemals leisten könnte, ist die Elektricität am besten gewachsen. Man bringt deshalb für diese Art von Eisenbahnlinien der Elektricität mehr Vertrauen entgegen als jeder anderen Betriebsart. Wohl sind im vergangenen Jahrzehnt, als die Anwendung des elektrischen Stromes für Eisenbahnzwecke noch tief in ihren Anfängen stak, einzelne touristischen Zwecken gewidmete Linien und besonders eine ganze Reihe von Bergbahnen noch nach anderen Betriebssystemen gebaut, aber schon heute liegt die Sache so, daß nur außerordentliche Gründe den Ingenieur zwingen können, eine Bahnlinie der bezeichneten Art anders als auf elektrischem Wege zu betreiben. Die Freiheit der Linienführung, die Stärke der Steigungen, die Billigkeit des Betriebes, die Leichtigkeit von Bahnkörper und Betriebsmaterial, schließlich selbst die Annehmlichkeit der Fahrt sind durch kein anderes System gleich gut gewährleistet. Was uns schließlich im besonderen veranlaßt, den elektrischen Touristenbahnen diese kurze Betrachtung zu widmen, ist der Umstand, daß sie in erster Linie berufen sind, einen der größten Wendepunkte vorzubereiten, die dem Eisenbahnwesen nach dem Stande der heutigen Erkenntnis überhaupt noch bevorstehen.

Die technische Richtung unserer Zeit geht offenbar mehr und mehr darauf aus, die Elektricität zur Universalkraft zu machen, gleichviel ob sich’s nun um die Spendung von Wärme, Licht oder Kraft, um die Nachrichtenvermittelung, um häusliche Dienste oder um welche Thätigkeit sonst handelt. Auch das Eisenbahnwesen wird ihr einmal in seiner ganzen Ausdehnung verfallen, und wenn wir selbst es auch nicht mehr erleben, daß die letzte kohlenverschlingende Lokomotive mit Kessel und Schlot irgend einem Museum als technische Sehenswürdigkeit einverleibt wird, so werden es doch unsere Kinder oder Enkel erleben. Wo aber hat die Elektricität schon jetzt bessere Gelegenheit, sich frei von den Einseitigkeiten der Stadtbahnen, Bergbahnen etc., in ihrer ganzen Vielseitigkeit und Ueberlegenheit zu zeigen, wie bei dem Betriebe der jetzt so vielfach geplanten Touristenlinien?

Werfen wir auf die letzteren selbst, so viel ihrer die jüngsten Jahre gezeitigt haben, einen Blick, so steht allen voran das gewaltige Unternehmen der Jungfraubahn. Schon ist eins der elektrischen Turbinenwerke, die sowohl den meilenlangen Tunnelbohrungen als später dem Betriebe ihre Kraft leihen sollen, vollendet, das zweite, das gleichzeitig als Kraftcentrale für die weitere Umgebung dienen soll, der Vollendung nahe. Schon sind einige der Lokomotiven fertiggestellt, die die stärksten, bis jetzt zur Ausführung gelangten Betriebsmittel für Bergbahnen darstellen. Schon steht die erste oberirdische Strecke der Bahn vor der Betriebseröffnung. Die Jungfraubahn ist freilich in erster Linie Berg- und zwar Hochgebirgsbahn, aber ihr Zweck ist doch weniger der, träge oder körperlicher Strapazen unfähige Reisende auf einen berühmten Aussichtspunkt emporzuschnellen, als der, bewegungsfrohen Touristen in ihren 2000 bis 3000 m hoch liegenden Zwischenstationen Ausgangspunkte für Touren in die unvergleichliche Gletscherwelt zwischen der Wengernalp und dem Jungfraujoch zu erschließen. – Neben dieser größten aller gegenwärtig in Angriff genommenen Alpenbahnen ist noch eine Menge anderer Projekte teils in Ausführung, teils der Verwirklichung nahe. Bald soll sich die Zahnradschiene 3140 m hoch auf den Gornergrat schwingen; von Meiringen wird eine Bahn über die große Scheidegg nach Grindelwald führen, um die zwischen Grindelwald und Lauterbrunnen bereits begonnene nördliche Schienenumrahmung des Berner Oberlandes zu vollenden. Eine andere 42 km lange Alpenbahn wird von Meiringen durchs Hasli- und Gadmenthal zum Sustenpaß emporsteigen und dann längs der wilden Mayenreuß hinab nach Wassen, wo sie den Anschluß an die Gotthardlinie findet. Die beiden letztgenannten Bahnen, natürlich schmalspurig und nur für den Sommerbetrieb gebaut, sind auf 14 Millionen Franken veranschlagt und haben die Genehmigungen zur Ausführung erhalten. Genehmigt ist auch die Touristenbahn, die sich demnächst im bayrischen Oberlande von Garmisch und Partenkirchen nach dem Eibsee erstrecken soll, während an einer anderen Linie von Murnau nach Oberammergau bereits gebaut wird. Eine dritte ist endlich schon voriges Jahr zwischen Aibling und dem Wendelstein in Thätigkeit getreten; allen aber ist es gemeinsam, daß die jugendfrischen Katarakte der Vor- oder Hochalpen ihnen ihre Energie leihen, um mittels der elektrischen Spannkraft die Lokomotive über Berg und Thal zu führen.

Aber man braucht nicht bis in die Alpen zu gehen, um Beispiele dieser modernen Gründungslust für elektrische Touristenbahnen kennenzulernen. Die elektrische Bahn von Schandau durch das Kirnitzschthal bis zum Lichtenhainer Wasserfall, die als bequemste Route zum Kuhstall in der Sächsischen Schweiz vielen Tausenden willkommen sein wird, ist jüngst eröffnet, und für später ist ihre Fortsetzung durch die großartige Felsenenge des Zschand bis zum Fuße des Prebischthors und nach Herrnskretschen geplant. Im Riesengebirge, wo die neuerlich aufgetauchte Idee, die in Fülle vorhandenen Wasserkräfte auf elektrischem Wege dem Fortschritt und der Industrie dienstbar zu machen, allseitig begeisterte Aufnahme gefunden hat, tauchen die verschiedensten Pläne für Touristenbahnen auf. Da sich der ganze schlesische Abhang des Riesengebirges im gräflich Schaffgotsch’schen Privatbesitz befindet, so ist bei dem Interesse, welches diese Verwaltung der Erschließung des Gebirges entgegenbringt, an der Ausführung der zum Teil schon eingehend bearbeiteten Pläne kaum zu zweifeln. Schon in 2 bis 3 Jahren hofft man, durch ein dichtes Netz von Riesengebirgsbahnen, die in Warmbrunn, Hermsdorf, Petersdorf, Krummhübel, Arnsdorf und Schmiedeberg an die bestehenden Linien Anschluß finden sollen, sowohl den Interessen des Touristenverkehrs als dem Aufschluß der gewaltigen Holzbestände des Gebirges entgegenzukommen. An die bestehende Zweigbahn Zillerthal-Krummhübel anschließend, soll die Hauptlinie der künftigen Gebirgsbahnen, die Kammlinie, in großen Kurven über Brückenberg zur Kirche Wang emporführen, über die Schlingel- und Hampelbaude in langen Schleifen den Kamm ersteigen und sich endlich von der Riesenbaude in zwei großen Spiralen bis zu den Koppenhäusern erheben. Diese Linie wird an Höhe und Kühnheit mit vielen Alpenbahnen wetteifern. Im böhmischen Teil des Gebirges soll eine Linie von Hohenelbe über Spindelmühl und durch die sieben Gründe den Kamm bei der Schneegrubenbaude erreichen.

So drängen sich Projekte und Ausführungen elektrischer Touristenbahnen an allen Enden. Wie in den Alpen die elektrische Lokomotive den Reisenden bald in die Firnfelder geleiten wird, so trägt sie ihn in Amerika hoch am schroffen Abhang des wirbelnden Niagarastromes dahin. Ueberall aber beweisen die elektrischen Bahnen dieser Art, daß sie nicht nur für den Personenverkehr der Städte geschaffen sind, den man ihnen anfangs allein zuerteilen wollte, sondern daß ihre Aufgaben höher hinaus gehen und nicht früher enden werden, als bis die letzte Dampflokomotive, sei es in der Ebene, sei es im Gebirge, ihre Geleise der vom elektrischen Strome belebten Schwester abgetreten hat.


[437]

Der Künstlerverein „Malkasten“ in Düsseldorf.

Gedenkblatt zum fünfzigjährigen Jubiläum. Von Ed. Daelen.
(Hierzu die Kunstbeilage XIV und das Bild S. 432 u. 433.)

Alle guten Genien walteten über der Düsseldorfer Künstlerschaft, als diese sich vor fünfzig Jahren zusammenthat und zum Zwecke der geselligen Unterhaltung und Erholung der Künstler den „Malkasten“ ins Leben rief; nicht leicht ist ein Verein im Laufe der Zeit seiner ursprünglichen Bestimmung in vollkommenerer Weise gerecht geworden. Der „Malkasten“ hat sich stets als ein anziehendes Heim erwiesen, das den fruchtbarsten Boden für eine sprudelnd heitre Künstlerlaune, für eine nach ernstem Schaffen frisch anregende Geselligkeit bietet. Das ist und bleibt seine nächste Sorge. Aber auch den Fernerstehenden da draußen hat er jederzeit als liebenswürdiger Wirt mit Freuden seine traulichen Hallen geöffnet und mit der ihm eigenen zwanglosen, echt künstlerischen Fröhlichkeit an alle, die da zu ihm kamen, seine Gaben verteilt.

Und jetzt ladet er alle Freunde zu einem Fest, das die Herzen der Seinigen mit ganz besonders inniger Wonne und mit stolzer Erregung zu erfüllen geeignet ist – zur Jubiläumsfeier seines fünfzigjährigen Bestehens, die am 2. und 3. Juli stattfindet. Wohl verdient hat es der Jubilar, daß ihm an diesen sonnigen Tagen zu den bereits erworbenen Schätzen ein neues Lorbeerreis als Angebinde seinem goldenen Ruhmeskranze hinzugefügt werde. Auch die „Gartenlaube“ darf sich zu seinen Freunden zählen; sie hat des öfteren ihm ihr warmes Interesse bekundet. Schon einer der ältesten Malkästner, Wolfgang Müller von Königswinter, hat in früherer Zeit (1863) als poesievoller Führer den Lesern der „Gartenlaube“ die Bekanntschaft des Düsseldorfer Künstlervereins vermittelt; und später, 1877, 1885 sowie 1892, ist diese durch Bild und Schrift eingehend erneuert worden. So will sie denn auch heute in der langen Reihe der Glückwünschenden nicht zurückstehen und dem gefeierten Geburtstagskinde an seinem Ehrentage einen herzlichen Festgruß darbringen.

In ungeschwächter Jugendkraft blickt der Jubilar auf eine fünfzigjährige ereignisreiche Lebensbahn zurück. Zwar nicht gerade auf den 2. Juli fällt sein Stiftungstag, der eigentlich wie alljährlich am 6. August gefeiert werden müßte, aber diese Verschiebung um ungefähr einen Monat voraus hat ihren guten Grund; anfangs August sind in der Regel schon viele Vereinsmitglieder auf Studien- oder Erholungsreisen von Düsseldorf abwesend und bei seinem Jubelfeste möchte der „Malkasten“ gerne die Seinigen alle zugegen sehen.

Ein Rückblick auf die Vergangenheit, wie solche Erinnerungsfeste ihn heischen, kann an dieser Stelle um so kürzer gefaßt werden, als die „Gartenlaube“, wie schon erwähnt, der Geschichte des „Malkastens“ in ihren Spalten gerecht geworden ist. Nur zwei Höhepunkte, die sich als die lichtvollsten Stellen in der Malkastenchronik kennzeichnen und die zugleich auch durch die beigefügten Illustrationen eine weitere Erläuterung finden, mögen hier besonders hervorgehoben werden. Im ersten Viertelsäkulum

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0437 2.jpg

Im Garten des „Malkastens“ zu Düsseldorf.
Nach dem Gemälde von Ed. Daelen.

[438] war dieser Glanzpunkt in der bunten Kette freudiger Ereignisse die Erwerbung des alten Jacobischen Besitztums, des herrlichen Parks in Pempelfort. Es war ein Ereignis, das für den „Malkasten“, seine Blüte und sein Fortbestehen von der allerglücklichsten Bedeutung wurde. Denn er erwarb hiermit ein Eigentum, das ihn instand setzte, nicht nur seinen Mitgliedern ein Künstlerheim in des Wortes idealstem Sinn, ein wahres Tusculum zu schaffen, sondern auch die zahlreichste Festgesellschaft zu glänzenden Aufführungen in seinen Mauern zu Gaste zu laden. Zwei von unsern Bildern bringen Partien aus den Parkanlagen, die ein reizvoller Zauber umschwebt, zur Anschauung, das Bild von Degode (vgl. die Kunstbeilage) einen der traulichen Laubgänge an der fröhlich vorüberrauschenden Düssel, das Bild von Daelen S. 437 das schattige Plätzchen unter einer umgestürzten Ulme, das eine heitere Tischgesellschaft junger Künstler sich für die Sommermittage zum Lieblingssitze erkoren hat.

Aus dem Kranze der festlichen Veranstaltungen bezeichnet eine vor allen die glanzvollste Seite der ganzen „Malkasten“-Geschichte; diese Festlichkeit überbot alle übrigen sowohl an hoher freudiger Veranlassung wie an Umfang und Pracht und glücklichem Erfolge. Es war das Fest, das am 6. September 1877 dem „Malkasten“ zu begehen vergönnt war zu Ehren des siegreichen Begründers des neuen Deutschen Reiches: Kaiser Wilhelms des Ersten. Mit vollem Recht wurde dieses Kaiserfest nicht nur als der höchste Ehrentag des Vereins, sondern auch als ein wahrhaft historischer Tag für die ganze Stadt Düsseldorf betrachtet, und als zum Schmuck für ihren neuen Rathaussaal zu Motiven für die Wandbilder die hervorragendsten Momente in ihrer Geschichte gewählt wurden, da trat dieser Tag als das leuchtendste Ereignis der neueren Zeit in den Vordergrund. Mit glücklichem Griff wählte F. Neuhaus, dem die Ausführung dieses Bildes übertragen wurde, die Scene des Festspiels, welche auf der Bühne „Blüchers Rheinübergang bei Caub“ zur Darstellung brachte, weil sie den alten Kaiser als eine bedeutsame Erinnerung aus seiner eigenen Jugendzeit ganz besonders ergriffen hatte. Im großen Stile ist dieser Vorgang, der so beziehungsreiche Momente aus der deutschen Geschichte im engen Rahmen zusammenstellt, von dem Künstler in seinem Bilde, wie es unser Holzschnitt S. 432 und S. 433 zeigt, wiedergegeben worden.

Die linke Seite des Bildes nimmt die glänzende Schar der Zuschauer ein: zunächst auf goldenen Thronsesseln das Kaiserpaar, ihm zur Seite die Heldengestalt des Kronprinzen in Kürassieruniform, hinter diesem Prinz Friedrich Karl, daneben die Kronprinzessin und der Erbprinz von Hohenzollern nebst Gemahlin, einer geborenen Prinzessin von Portugal, ferner die Großherzöge von Mecklenburg-Schwerin und von Sachsen-Weimar, der Fürst zu Wied und andere fürstliche Herrschaften. Aus dem zahlreichen Gefolge von hohen Würdenträgern der Armee und des Hofes ragt vor allen die ehrwürdige Greisengestalt des großen Schlachtendenkers Moltke hervor. Noch weiter links gruppieren sich die Künstler, welche die Ausführung des Festspiels leiteten; ganz im Vordergrunde interessiert vor allem der geistvolle Kopf Andreas Achenbachs, links von diesem sitzen Chr. Kröner und Wilh. Sohn und hinter ihnen steht der geniale Erfinder der herrlichen Festaufführung, Carl Hoff, während auf der anderen Seite vom Kaiserpaar als dessen Führer, durch die Festräume Wilh. Camphausen Aufstellung genommen hat.

In der Mitte des Bildes thront Germania in wallendem Purpurmantel, das schöne hoheitsvolle Haupt mit der strahlenden Kaiserkrone geschmückt. Sie ist umgeben von den lieblichen Mädchengestalten der neun Musen in leuchtenden Gewändern, im Vordergrunde steht die Leiterin des Spiels, die Kunst, die auf das eben sich entrollende Bild „Blüchers Uebergang bei Caub“ den Zuschauerkreis aufmerksam macht. – Heute nun hat der „Malkasten“ auch sein zweites Viertelsäkulum vollendet, mit Genugthuung kann er die zurückgelegte Wegstrecke überblicken und freudigen Herzens sein Jubelfest begehen. Dieses ist, dem jederzeit festgehaltenen Charakter entsprechend, für zwei Haupttage geplant: während der erste den Mitgliedern gewissermaßen ein Familienfest bietet, gilt der zweite den Gästen von nah und fern, die zu einem Gartenfest geladen werden.

Nachdem am Vorabend bei einem frischen fröhlichen Humpenschwingen die Begrüßung der eingetroffenen Ehrengäste stattgefunden hat, wird am folgenden Tag durch einen Redeakt im Vereinssaale die eigentliche Feier eröffnet. Dem dann sich anschließenden Festessen folgt eine Bühnenaufführung, welche in lebenden Bildern und begleitendem Text die lichtesten Tage aus der Vergangenheit des Jubilars vor den Zuschauern heraufbeschwört. Ein weit allgemeineres Gepräge trägt die festliche Veranstaltung des zweiten Tages. Nur symbolisch gelangt darin die Veranlassung der Feier in einer Weise zum Ausdruck, die hauptsächlich darauf Bedacht nimmt, in einem malerischen Schaugepränge allen Zuschauern ein heiteres farbenprächtiges Bild vor Augen zu führen. Zu solchem Zweck faßt der Festplan die Gründung des „Malkastens“ als eine hochzeitliche Verbindung auf, die der Vater Rhein mit der Kunst gefeiert hat. Dieses Jubelpaar begeht somit heute seine goldene Hochzeit, die nun zugleich, um die unverwüstliche Jugendlichkeit der Einigung anzudeuten, mit der Hochzeit des Ritters Humor und der Prinzessin Phantasie verbunden ist.

Die zahlreichste und glänzendste Hochzeitsgesellschaft hat sich eingefunden, um diesem freudigen Ereignis beizuwohnen. Auch ist davon aus aller Herren Ländern eine Menge Künstler, Kaufleute, Gaukler, Spielleute und fahrendes Volk angezogen worden. So hat sich im Garten das bunteste Kirmestreiben entfaltet; in malerischem Aufbau sind allerhand Sehenswürdigkeiten, vor allem eine humoristische Kunstausstellung, aber auch Cirkus, Panorama, Raritäten- und Geheimkabinett und noch manches derartige vereinigt; dabei fehlt es nicht an Volksbelustigungen wie Schifferstechen auf dem Venusteich, Zigeunerlager, Karussell, Spiel und Tanz in traulichen Schenkstuben und dergleichen Zauber mehr.

Da verkündet ein dreimaliger Fanfarenruf den Beginn der eigentlichen Festaufführung, deren erster Teil eine solenne Begrüßung der Hochzeitsgäste durch den „Major Domus“ einleitet. Im dunklen Versteck aber hat der „Griesgram“ einen verderblichen Plan geschmiedet und zur Ausführung desselben die ganze Hölle als Helfershelfer angeworben. Die heitere Festgesellschaft soll mit einem Schlage vernichtet werden. Kaum ist diese in die reichgeschmückte Halle eingezogen, da schleicht der grimmige Ränkeschmied mit seiner Rotte heran, doch wird er nach kurzem Kampfe von den Streitern des Lichts zurückgeschleudert, und nun hält freudestrahlend der Bräutigam „Humor“ seinen jubelnden Einzug. Die Hochzeitsfeierlichkeit nimmt ihren ungestörten Verlauf und gipfelt in einer Apotheose, die durch die Enthüllung eines lebenden Bildes „Albrecht Dürer, der Schutzpatron des ‚Malkastens‘, huldigt der Düsselnixe, von Germania gesegnet,“ ihren Mittelpunkt und wirkungsvollsten Abschluß findet. Mit einem Triumphzug durch den Garten bei Fackelbeleuchtung und unter den Klängen des „Malkastenmarsches“ endet das Festspiel.

Wie nun dieses Jubelfest eine frohbewegte und geschichtsreiche Epoche würdig beschließt, so möge es für den Jubilar zugleich den ersten Schritt in eine Zukunft bedeuten, die ihm eine gleiche nie erlahmende Fröhlichkeit und Jugendfrische bis in die fernsten Tage gewährt.




[439]

Antons Erben.

Roman von W. Heimburg.

 (Schluß.)

Aus der Pforte des Krankenhauses in dem halbpolnischen Städtchen tritt ein großer Mann, dessen blonder, leicht mit Weiß gemischter Vollbart ein gelblichblasses Gesicht umrahmt, ein Gesicht, das mit seinen tiefliegenden Augen und dem müden Ausdruck von schwerer, eben überwundener Krankheit erzählt. Er stützt sich fest auf seinen Stock, als er die Stufen herunterschreitet, wendet sich dann noch einmal um und nickt einem Manne zu, dem Krankenwärter, der ihn gepflegt hat während dreier Monate.

„Sehen Sie, es geht ganz gut, lieber Kramer; ich bin wieder gesund; Sie brauchen mich nicht zu begleiten, ich muß mich gewöhnen an das Alleingehen. Und nochmals vielen Dank!“

„Adjes, Herr Mohrmann! Alles Glück, und kommen Sie gut heim!“

Anton Mohrmann geht die Straße entlang dem Gasthof zu, wohin er seine Sachen hat schicken lassen, und wo für ihn ein Zimmer bestellt ist. Er erwartet Heine, den er gebeten hat, ihn zu besuchen.

Kommen Sie gut heim! wiederholt er bitter – heim! – Heimatloser ist er als der Sperling, der auf dem festgestampften Schnee des Fahrwegs hüpft, um Nahrung zu suchen; der hat doch ein Nest! Ja, was wird er nun beginnen? – Er will Heine bitten, ein paar Wochen gegen mäßige Pension bei ihm bleiben zu dürfen, denn er fühlt sich noch immer sehr schwach, und vom Krankenhaus aus ist’s ihm nicht gelungen, eine neue Stellung zu gewinnen, Scorodowo aber ist besetzt. Der Herr hat auf ihn nicht warten können, hat bald einen Inspektor hingeschickt, der mit Flüchen und Prügeln bei der Hand ist, der die polnischen Mägde aus dem Hause wirft und mit der Wirtschafterin um so besser steht, kurz, einen, der dahin paßt.

An jenem Tage, als Heine zu ihm kam, ist Anton krank geworden. Er erinnert sich nur noch undeutlich, daß man ihn spät abends aus seinem Bette in den Wagen trug, daß er noch hörte, wie der Arzt von „Typhus“ sprach, und dann hatte er wochenlang die Besinnung verloren. Hinterher sollte das Gesundwerden kommen, und das wollte erst nicht gelingen; er bildete sich in seiner Mattigkeit, seiner Kraftlosigkeit ein, er werde dennoch sterben, obgleich der Arzt ihm versicherte, daß die Gefahr vorüber sei. Er empfand bei diesen Todesgedanken etwas wie Glück; es war so still um ihn, so friedlich, er hatte auf Erden nichts mehr zu suchen, und – seine Kinder – – seine Kinder sind ja bei Christel! – – Welche Ruhe sich über ihn ausbreitet bei diesem Gedanken an Christels Liebeswerk, so eine süße wohlige Ruhe! Erst mit den wiederkehrenden Kräften kommt das Bewußtsein über ihn, daß er noch Pflichten hat, und damit die alte Sorge, der alte Zweifel, die alte Niedergeschlagenheit.

Er braucht nicht betteln zu gehen in der nächsten Zeit, nein, das nicht. Er hat vor kurzem aus dem beendigten Konkurs noch den Rest seines einstigen Vermögens, einen kleinen Bruchteil desselben, ausgezahlt erhalten, dreitausend Thaler. Es ist nicht viel. Aber doch etwas, um mit Ruhe suchen zu können nach einer Stellung, um nicht in der Verzweiflung zugreifen zu müssen nach jedem Strohhalm, um der Frau, die selbst um ihr täglich Brot ringt, seine Kinder, die Last, die sie sich in ihrer endlosen Herzensgüte, ihrem Mitleid selbst aufgebürdet, wieder abnehmen zu können. Er will Heine bitten, die Kinder zu holen und ihnen ein Heim, ein vorläufiges Heim zu gewähren.

Wie gern hätte er Christel selbst gedankt für ihre Güte, aber das kann er nicht, das nicht! Er will sie nicht wiedersehen, will sich nicht kaltfreundlich von ihr anschauen oder gar abweisen lassen; Heine muß seinen Dank mitnehmen.

Es geht mit den müden Füßen noch nicht so recht vorwärts, murmelt Anton und wandert über die Straße dem „Schwarzen Adler“ zu, dem einzigen Gasthof des Städtchens. Er hat deutsche Kellner, aber einen polnischen Wirt, einen Wirt, der aussieht wie ein Graf, die elegantesten Manieren besitzt und ausgezeichnet selber kocht. Den herkömmlichen Schmutz abgerechnet, ist dies Hotel eine Perle unter seinesgleichen.

Der Krankenwärter ist tags vorher dort gewesen und hat ein geheiztes Zimmer nach vorn heraus bestellt. Der kurze Dezembertag neigt sich seinem Ende zu und doch ist es kaum drei Uhr. Ein Kellner begleitet Anton in sein Zimmer, schürt im Ofen das Feuer, schreibt seinen Namen auf und geht, als der Gast auf Weiteres vorläufig verzichtet, hinaus; und nun sitzt Anton da, allein im fremden Hause, den Kopf auf die Sofalehne gestützt, und wartet. Auf was? Er weiß es eigentlich selber nicht, er hat auf nichts zu warten mehr – – Ja so, auf Heine, Heine muß ja kommen.

Draußen stiebt ein feiner scharfer Schnee in der Luft. Ueber die Mauer des benachbarten Grundstückes ragen schneebedeckte Aeste, auch eine Tanne ist dabei, auf deren dunklem Grün es flimmert und glitzert. Von diesem Bilde ist’s nur ein Sprung zum Weihnachtsbaum und zu den Kindern, und neben den Kindern steht Christel, immer Christel!

Aber das hat er sich verscherzt, das Glück, das große, große Glück! – –

Der Kellner tritt nach kurzem Anklopfen wieder ein und bringt einen Brief. Anton nimmt ihn halb zerstreut und hält ihn ein ganzes Weilchen in der Hand; endlich tritt er nahe ans Fenster und erkennt den Poststempel von Heines jetzigem Wohnsitze. Ein Schreck durchzuckt ihn, es ist nicht seine Handschrift, und als er nun den Brief entfaltet, schreibt richtig die kleine Frau Heine, daß ihr Mann nicht kommen könne, daß auch er erkrankt sei, und zwar an einer Lungenentzündung, und daß sie den ihr und ihrem Manne so werten Gast jetzt leider nicht aufzunehmen vermögen, so schwer es ihnen auch werde, auf diese Freude verzichten zu müssen.

Anton geht auf seinen Platz und fragt sich wieder einmal: Was nun? – Wohin? Und plötzlich packt ihn eine so starke, alle Bedenken überwältigende heiße Sehnsucht nach dem einzigen Menschen, der ihn verstanden hat, nach dem einzigen Herzen, das ihm Liebe und Treue bewahrte, daß er jäh aufspringt und in der Stube hin und her wandert.

Heim! Heim – wie der verlorene Sohn! Nur noch einmal ihre Stimme hören, noch einmal in dies freundliche blaue Auge sehen und dann, wenn sie ihn wegweist – schlimmer kann’s ja auch nicht werden – dann will er die Kinder nehmen und – im Notfalle nach Amerika mit ihnen!

Heim! Ein anderes Heim als das an ihrer Seite hat er ja nie besessen! Das schlichte treue Nebeneinander mit ihr ist das einzige wahre Glück gewesen, das er je gekannt, alles andere war Schein, Lüge, Erbärmlichkeit! Er will ihr das sagen, alles sagen, was er erduldet und erlitten, sie muß ihn hören!

Er langt den Ueberrock vom Nagel, nimmt Hut und Stock und beauftragt den Hausknecht, ihm den Koffer nach dem Bahnhof zu bringen. Dann bezahlt er den Wirt und macht sich auf den Weg. Der Zug gehe erst in einer Stunde, hat der Mann ihm gesagt.

Desto bester, er kann ja nur langsam gehen. Und indem er dahinwandert, fühlt er den eisigen Wind nicht, und nicht den Schnee, der ihm entgegenfliegt und Hut und Ueberzieher mit glitzernden Krystallen bedeckt. Er sagt nur immer wieder das eine Wort „Heim“!

Schlafen kann er nicht in dem sausenden, rüttelnden Wagen des Schnellzuges. In Berlin muß er nach einem andern Bahnhof fahren; er sieht die hastenden, jagenden Menschen auf der Straße im Nebel des kalten Wintermorgens, an dem um neun Uhr die Laternen noch brennen, wie im Traum. Er vergißt Essen und Trinken auf dem Anhalter Bahnhof und atmet erst auf, als er im Zuge nach Dresden sitzt. Und dann ist er auch dort angekommen. Er nimmt in aller Eile eine Tasse Kaffee und löst ein Billet nach dem Städtchen, das Christels Station ist; Heine hatte ihm alles ausführlich schreiben müssen, als er wieder in der Besserung war.

Wie hat er sich in den langen, einsamen Stunden der Rekonvalescenz den Ort ausgemalt, in dem sie und seine Kinder weilen! [440] Rödershof – wie traulich das klingt! Er kennt ihre Stube, er sieht die alten lieben Möbel und er sieht die Kinder um sie. So traut wie eine Heimat erscheint ihm das Unbekannte. Gleich einem fährt er dahin, der jahrelang verbannt war aus dem Frieden des Vaterhauses, der aus fernem öden Lande zu ihm flüchtet, um immer dort auszuruhen von Sturm und Not. –

Und wenn er die Thür verschlossen findet? Wenn ihm die Rast dort verweigert wird? Wenn er wieder davonwandern muß – im Dunklen, Kalten mit seinen drei Mutterlosen? Ist es nicht etwas Ungeheures, was er da verlangt in seiner heißen Sehnsucht, seiner schreienden Herzensnot? Sie kann ihm ja gar nicht verzeihen, sie kann’s nicht! sagt er sich. Und dennoch treibt’s ihn hinaus von der kleinen Station auf die Chaussee nach Bärenwalde, in den sinkenden Abend hinein mit unheimlicher Macht.

Wunderbar, er fühlt keine Müdigkeit mehr, es ist ihm, als habe er Flügel! In der Ferne vor ihm liegt ein letzter blaßgoldener Schein wie die Verheißung von lauter Glück, über ihm funkeln die Sterne bereits, die Sterne des Christmonats.

Am Eingang des Dorfes fragt er einen Jungen, wo der Rödershof sei. Und für den gespendeten Nickel läuft der Kleine bereitwillig vor Anton her und bleibt am Sandsteinpfeiler stehen. „Den Weg da müssen Sie hinaufgehen, und an der Hausthür ist ein Klopfer.“

Und Anton geht den Weg hinauf, sehr langsam. Sein Mut ist jählings von ihm gewichen, ebenso seine physische Kraft, die er überschätzt hat in seinem sehnsüchtigen Verlangen, und er starrt auf den Schein des Lichtes, das durch die Ausschnitte der Fensterläden dringt, als seien diese hellen runden Flecken abweisende, warnende Augen. Dann lehnt er schwer am Stamm der Linde und trocknet den Schweiß von seiner Stirn.

Schlimmer als ein Bettler erscheint er sich! – 00000000000000000000

Christel sitzt in der Wohnstube mit den Kindern. Sie nimmt die Kleinen jetzt immer mit hinunter, da kann sie von Küche und Milchkammer aus schneller bei ihnen sein. Mit unendlicher Mühe und Anspannung aller Kräfte hat sie es durchgesetzt, ihre Wirtschaft in regelrechte Ordnung zu bringen. Nach Neujahr soll ein Inspektor antreten; sie ist mit einem älteren Manne handelseinig geworden, der gern noch etwas verdienen möchte zu seiner Pension als ehemaliger gräflicher Beamter, und glaubt, mit der Arbeit auf dem Rödershof noch gut fertig werden zu können. Christel hat zwei leere Zimmer oben für ihn bestimmt, denn der alte Mann bringt seine Tochter mit, derentwegen er hauptsächlich wieder auf dem Lande leben möchte; sie sei ein wenig kränklich, sagt er.

Wendlandt ist des öftern im Rödershof gewesen und hat seinem Patenkind auf die Finger gesehen, und einmal hat er Christels Hand genommen und recht herzlich gesprochen: „Schwägerin, ich red’ aus andern Beweggründen wie Louischen, aber ich rate dasselbe – thun Sie die Last von sich mit den drei Kindern und nehmen Sie selbst wieder die Zügel der Wirtschaft in die Hand; es haut nicht aus auf solch kleinem Gut mit Inspektorgeschichten – glauben Sie’s mir, es frißt zu viel Zins.“

Aber Christel hat den Kopf des Jungen an sich gedrückt und hat, außer sich, gerufen: „Wenn ich die Kinder wieder missen soll, dann ist’s mir ganz egal, was aus allem wird, dann mögt ihr mich am liebsten gleich begraben! Könnt ihr die Zeit dazu nicht abwarten? Ueber kurz oder lang holt man sie mir ja doch weg, und dann seht zu, was aus mir werden wird!“

„Aber, Schwägerin, gerade diese Kinder –!“

Christel hat ihm nicht geantwortet, ihn nur angestaunt mit großen Augen. Gerade diese Kinder! Begreift denn der Mann nicht, daß ihr keine Geschöpfe auf Gottes Erde näher stehen könnten als eben diese Kinder?

Und Wendlandt ist gegangen und hat zu sich selbst gesagt: „Du hättest doch eigentlich wissen müssen, daß sie den Vater nicht vergessen kann bis auf den heutigen Tag, und daß all diese jahrelang zurückgedrängte Liebe auf seine Kinder ausströmt! Du hättest es wissen müssen, sie hat dich ja heimgeschickt mit einem Korb. Wenn’s ihr nur um Kinder zu thun war, hätte sie ja die deinen lieben können? Aber siech und elend wird sie sich machen in ihrer übertriebenen Gewissenhaftigkeit; jede Nacht um zwölf Uhr oder später zu Bett, und um drei Uhr morgens auf – wo will das hin?“

Ja, diese große blühende Frau war bleich und schmal geworden unter der Arbeitslast, unter der fortwährenden Angst, man könne ihr die Kinder nehmen. Sie schrickt zusammen, hört sie einen Fremden kommen, sie zittert, wenn sie den Postboten sieht, und Heine antwortet so beharrlich nicht auf ihre Fragen.

Bisweilen, wenn sie sich matt fühlt unter all der Last, dann sagt sie sich zur Aufmunterung: „Wenn ich als Witwe zurückgeblieben wäre mit den Kindern, da hätt’ ich’s ja auch nicht leichter, und wie viele müssen durch die Welt mit einem noch größeren Häufchen Waisen; und gleich darauf kommt das Bittere – aber dann wären es meine eignen und ich brauchte nicht zu zittern vor einer Trennung.“

Louischen hat ihr einmal spöttisch zugerufen, die Sorge sei überflüssig und der Herr Vater jedenfalls froh, sie los zu sein, die Kinder. Sie glaube bestimmt, daß er in Amerika ein freies Leben führe. Christel hat nichts erwidert, nur gedacht, das wäre der erste Schiffbrüchige noch nicht, der sich dorthin gerettet hat. Aber die Hoffnung ist doch gleich daneben aufgesproßt: er kann die Kinder nicht vergessen, er muß ja nach ihnen sehen!

Und heute früh ist Karl Weiser gegangen, denn man schreibt bereits den fünfzehnten Dezember, und seine Schwiegereltern erwarten ihn drunten in Dresden, in der Papierhandlung. Er hat sich so sehr gefreut auf die Arbeit neben seiner kleinen Braut in dem hübschen Laden, zwischen all den sauberen, zierlichen Sächelchen; und da wird ja der Laden auch mal leer sein auf einen Augenblick, der zu einem Kusse reicht.

Christel hat ihm sehr gedankt, ihm alles Gute gewünscht, und der treuherzige Bursche hat gemeint, ihr eine rechte Wohlthat zu erweisen, indem er ihr rät, doch wieder einen Mann auf den Rödershof zu bringen, so ein schönes Gütchen; die Frau könn’s ja nicht zwingen bei den Kindern. Aber Christel hat den Kopf geschüttelt und gesagt: „Sie denken, weil Sie das Heiraten im Kopfe haben, Karl, ist’s das einzige Heil der Welt! Es giebt gar herbe Enttäuschungen, lieber Karl.“

Aber der hat lachend und mit der ganzen Zuversicht der Jugend gemeint: „Ich denke, es ist eben das einzig Richtige, Frau; aber freilich, glücklich muß man zusammen sein, das bleibt die Hauptsache.“ Und dabei hat er ausgesehen, als ob für ihn diese Hauptsache verbrieft und besiegelt wäre, als ob das Glücklichsein von ihm allein abhinge.

Christel hat ihm nachgeschaut, wie er den Weg vom Rödershof hinunter mehr gesprungen als gegangen ist, und hat still gelächelt. Nun ist’s später Nachmittag und sie sitzt mit den Kindern am Tisch. Die kleinen Mädel knieen ihr zu beiden Seiten auf dem Sofa, Lothar auf einem Stuhl, und alle drei sehen zu, wie sie Nüsse vergoldet. Die Kinder haben so erwartungsvolle glückselige Augen und von nichts weiter ist die Rede als vom Weihnachtsmann. „Bringt er den Papa auch wirklich?“ fragt Lothar.

Ueber Christels Gesicht fliegt es trübe. „Du mußt schon recht darum beten,“ erwidert sie, und zögernd setzt sie hinzu: „Und dann nimmt er dich am Ende mit, mein Liebling.“

„Und Toni und Josepha auch?“

„Das wird er gewiß thun.“

„Und dich, Tante?“

„Nein, ich bleibe hier.“

„Dann bleiben wir auch hier, ich und die Kinder,“ damit meint er seine kleinen Schwestern, „und Papa auch.“

„Papa auch!“ spricht die kleine Toni nach und nickt wichtig mit dem Köpfchen.

„O ihr – ihr –“ sagt Christel, die beiden Mädchen umfassend, und sieht sie an mit thränengefüllten Augen.

„O du Kindermund, o du Kindermund,
Unbewußter Weisheit froh,
Vogelsprachekund, vogelsprachekund
Wie Salomo!“

klingt’s in ihrer Seele. Wohl wäre es die einfachste, die richtigste Lösung! Aber Wunder geschehen nicht mehr.

„Warum weinst du?“ fragt Lothar und gleitet von seinem Stuhl, um zu ihr hinüberzulaufen.

[441]

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0441.jpg

Ein Schwerenöter.
Nach dem Gemälde von E. Louyot.


„Nich weinen, Tata!“ ruft die kleine Josepha.

Und in diesem Augenblick fällt draußen der Metallklopfer auf die Platte, ungestüm heftig, dreimal hintereinander.

Christel wundert sich – sollte Louischen? Aber das ist ihre Art nicht, zu klopfen. Wer nur sonst? Und plötzlich überkommt sie ein starkes Herzklopfen, so, daß sie nicht fähig ist, aufzustehen, und nur hinüber horcht nach dem Flur, von wo die eiligen Tritte Mariens erschallen, die zu öffnen geht. Wenn’s Heine wäre, der um die Kinder – – – ? Sie hat die Nacht vorher so schwer geträumt; sie suchte die Kinder und fand sie nicht, nur Oede und Stille ringsum – es war so schrecklich gewesen!

Die Thüre öffnet sich und Marie kommt herein. „Frau, da ist jemand, der Sie sprechen will, ein Herr; ich glaube, ’s wird wegen der Inspektorstelle sein. Ich hab’ ihm gesagt, wir hätten schon einen, aber er besteht darauf, er will die Frau sprechen.“

In Christels Herzen steht plötzlich die Gewißheit: Heine ist’s, der die Kinder holt. Sie richtet sich langsam auf, alles Blut ist ihr aus dem Antlitz gewichen. „Nimm sie mit hinaus, Marie, bringe sie nach oben,“ sagt sie tonlos, „und führe den Herrn hier herein. Er soll einen Augenblick entschuldigen, ich komme gleich. Folgt der Marie, Kinder, spielt hübsch oben; Lothar, sei nicht so wild – ich rufe euch bald.“

Sie geht in das Schlafzimmer, weil sie fühlt: sie muß sich erst sammeln, muß Kraft finden für das Unabänderliche. Es ist dunkel hier und kalt, hinter den Läden sind die Fenster noch offen. Sie sinkt auf einen Stuhl und holt tief und schwer Atem. Nun ist’s doch so weit, nun kehrt sie zurück in die alte trostlose Einsamkeit, in die Arbeit, die nur den Zweck hat, das Leben ihr erträglich zu machen, keinem andern etwas nützend. Sie wird nicht mehr die roten Lippen der kleinen Mädchen auf den ihren fühlen, die schon so etwas zärtlich Weibliches in ihren Liebkosungen haben, sie wird nicht mehr die stürmischen Umarmungen des Jungen abzuwehren brauchen, der so eifersüchtig ist auf die Schwesterchen – allein wird sie bleiben, allein alt werden, alt und müde, müder noch als sie sich augenblicklich fühlt.

Nebenan geht ein Männerschritt hin und wider. Sie muß hinaus zu dem, der ihrer wartet. „Mut!“ spricht sie sich selber zu, „es ist vielleicht doch eine ganz andere Angelegenheit!“ Aber nach diesem Sturm, der eben in ihr getobt hat, da sagt sie sich auch, daß sie es nicht lange mehr aushalten wird so – daß ihre Nerven, ihr Herz nach Gewißheit schreien, daß ein Ende mit Schrecken besser ist als ein Schrecken ohne Ende, als dieses Zweifeln, Bangen und Fürchten.

Sie tappt sich hinüber nach der Thür und öffnet. Das Licht der Lampe blendet ihre Augen; sie erkennt im ersten Augenblick nur eine große, etwas gebeugte Männergestalt, die unweit von ihr stehend sich auf den Tisch stützt. Dann faßt auch sie, wie Hilfe suchend, nach einem Halt und starrt ihn an mit großen erschreckten Augen. Keines spricht ein Wort. Sie sehen nur staunend gegenseitig in ihre Züge, da hinein Sorge und Gram, die Sehnsucht nach dem verlornen Glück Runen gegraben haben während der Jahre ihrer Trennung, der sieben Jahre, die wie ein Strom zwischen ihnen dahinrauschten, über den keine Brücke führt.

[442] „Was willst du?“ fragt Christel endlich mit einer Stimme, die vor Angst heiser ist, „die Kinder? Nicht wahr, die Kinder? Sag’s nur, ich bitte dich!“

Er schüttelt traurig den Kopf, aber er rührt sich nicht vom Fleck. „Ich wollte dir danken, ich wollte dich bitten, mir zu vergeben, Christel, wenn du kannst.“ Er hat es leise und stockend gesprochen, und wie sie eine Handbewegung macht, die ihn schweigen heißt, da sagt er, sich noch schwerer auf den Tisch stützend: „Heim wollt’ ich, dich wollt’ ich wieder sehen, Christel, nur noch einmal, Christel!“ – Er hat einen Schritt vorwärts gethan, nun schwankt er, greift hinter sich nach einem Halt und bricht in die Kniee. Die Aufregung, die Schwäche nach überstandener schwerer Krankheit übermannen ihn, er ist ohnmächtig geworden.

Als er wieder zu sich kommt, liegt er auf das Sofa gebettet, ein weiches Kissen unter dem Haupt, und auf der Stirn fühlt er eine linde Hand, die ihm die Schläfen mit Kölnischem Wasser reibt. Ein liebes vertrautes Antlitz ist dicht über dem seinen und schaut ihn an, erschreckt und besorgt, mit treuen blauen Augen.

„Anto,“ klingt’s bebend in sein Ohr und sie kniet neben ihm, „Anto, ich bin’s, Anto, lieber Anto!“

„Christel!“ flüstert er, weiter vermag er nichts.

„Gottlob, du kennst mich! Komm’, trinke einen Schluck Wein!“

Gehorsam, wie ein Kind, trinkt er, dann verwirren sich seine Gedanken wieder, er schließt die Augen und sucht tastend nach Christels Hand. Ein glückliches Lächeln um den Mund, schläft er ein, den tiefen Schlaf der Erschöpfung. Sie bleibt an seinem Lager knieen, den Kopf auf seine Rechte gelegt, die die ihre fest umspannt hält, als wolle er sie nimmer wieder lassen. So ruhig ist’s im Zimmer, so heimelig. Gleichmäßig tickt die alte Schwarzwälder, der Kanarienvogel zwischert ganz leise im Schlaf, und über ihnen klingen dumpf die kleinen Schritte der Kinder, seiner Kinder.

„Ist das ein Traum?“ fragt sich Christel, „lieber Herrgott, ist’s ein Traum? Hat er wirklich gesagt: ‚Dich wollt’ ich! – heim wollt’ ich – dich bitten, mir zu vergeben!‘ – Soll es keine Oede, keine Einsamkeit mehr geben für mich, ist das Glück wiedergekommen, das alte, nie vergessene schlichte Glück meiner Jugend aus dem Pächterhause in Wartau? – Ach, schöner, noch viel schöner!“

Sie hebt den Kopf. „Hast du mich lieb, hast du wirklich Heimweh nach mir gehabt?“ fragt sie leise und betrachtet sein schmal gewordenes Gesicht. „Aber nicht heißer ist deine Sehnsucht gewesen als die meine nach dir, Anto, nein, gewiß nicht! Und nun lasse ich dich nicht wieder fort, nie wieder, nie! Gesund sollst du mir wieder werden in Arbeit, Einfachheit und Ordnung, und in der Sorge um deine Kinder – unsere Kinder.“

Das alles spricht sie ganz leise, als könne er sie verstehen, und ebenso leise, um ihn nicht zu wecken, entwindet sie ihm ihre Hand, schleicht sich nach einem letzten langen Blick auf ihn aus der Stube und schafft eine halbe Stunde in der Küche umher. Die Hände zittern ihr ein wenig, das Gesicht ist rosig erglüht, sie sieht so merkwürdig jung aus, die Frau Christel.

Ein Weilchen später kommt sie nach oben, wo Marie bei den Kindern sitzt. „Nimm eine reine Schürze aus der Kommode, Marie,“ befiehlt sie, „und ihr kommt her und laßt euch waschen, ganz sauber und fein müßt ihr euch machen,“ sagt sie, „und sehr artig sein.“

„Frau, ich muß wohl in die Küche, es wird Zeit zum Abendessen,“ drängt Marie.

„Ja, ja! Aber sei leise – drunten im Wohnzimmer liegt ein Herr, der ist krank und schläft jetzt ein wenig, geh’ nicht etwa hinein! Und helfen kann ich dir schon nicht, Marie, mußt den Hasenbraten, der in der Sahne liegt, und ein wenig Weinsuppe kochen, ich habe dir schon alles Nötige hingestellt.“

„Herr Jeses, Frau – das war ein Besuch? Und das sagen Sie mir jetzt erst?“ jammert das Mädchen, und im nächsten Augenblick ist sie schon auf dem Wege nach der Küche.

„Was fällt der Frau nur heute ein?“

Und Christel sitzt da oben, die Augen immer mit glückseligem Ausdruck auf die Uhr gerichtet, in der Ofenecke. Sie hat die Kinder gewaschen und frisch gekleidet. Um Sieben will sie ihn wecken, bis dahin mag er schlafen, aber dann soll er seine Kinder sehen!

Wie die heisere Stimme der Uhr anhebt zu schlagen, nimmt sie die kleinen Mädchen auf den Arm und sagt zu dem Jungen: „Komm’, Lothar.“ Dann geht sie vorsichtig die schwach erhellte Treppe hinunter.

„Tante,“ fragt der Bub’, „du hast so frohe Augen, ist der Weihnachtsmann gekommen?“

Da nickt sie. „Er hat dir gebracht, was du so sehr gewünscht hast, mein Herzblatt.“

„Wieder einen Pony, Tante?“

„Was viel Besseres, das Beste von allem.“

Und leise öffnet sie die Thür und kommt über die Schwelle mit den Kindern.

„Lauf hinüber, Lothar, und wecke den Papa,“ flüstert sie.

Das Kind steht einen Augenblick und sieht verständnislos von der Tante zu dem Manne auf dem Sofa, dann jauchzt es hellauf und läuft hinüber und klettert an dem Schläfer empor. „Papa! Mein lieber, lieber Papa!“

Als Anton die Augen aufschlägt, da sieht er über den dunklen Lockenkopf seines Jungen hinweg Christel stehen, die blonden Kinder auf beiden Armen, und ein halb glückliches, halb verlegenes Lächeln zuckt um ihren Mund, ihre Augen aber sehen ernst und still in die seinen.

„Papa, bleibst du hier?“ fragt Lothar, „lieber Papa, du darfst nicht wieder weggehen.“

„Christel?“ fragt Anton bange.

Da sagt sie ruhig und freundlich wie in alter Zeit: „Noch einmal fährt Papa fort, Lothar, nachher, um neun Uhr, zum Onkel Doktor nach Dresden, aber wenn er dann in kurzem wiederkommt, dann bleibt er immer bei Tata daheim.“

„Daheim!“ wiederholt er, „bei euch, Christel!“

Und nach einer Stunde fährt Karl vor mit dem Wagen, Christel begleitet Anton bis zur Station. Schweigend sitzen sie nebeneinander, er hat den Kopf an ihre Schulter gelehnt und ihre Hände haben sich fest umschlossen.

„Grüße deinen Freund und vor allem die Frau Doktorin,“ sagt sie endlich, „sie sollen dich bald gesund pflegen.“

„Sie werden sich wundern, Christel!“

„Worüber?“

„Daß du mir verziehen hast, du bestes Herz; daß du wieder meine Frau werden willst, mein getreues Weib!“

„Sie werden sich gar nicht wundern, Anto, sie wissen ja, daß ich nie aufgehört habe, dich zu lieben, und“ – Christel stockt ein wenig – „die Liebe höret nimmer auf,“ vollendet sie in ihrer Seele, aber der Mund schweigt. Und Anton schweigt auch. Er ist gedrückt, überwältigt von der Güte und Liebe, von der stillen Treue Christels, die nicht einen einzigen Vorwurf für ihn hatte, und Christel, die ihn immer so gut verstand, die fühlt das mit ihm. Und mit einem Anflug ihres einstigen schlichten Humors sagt sie: „Höre du – auf dem Rödershof fehlt halt der Mann, sagen die Leute; wie sehr sie recht haben, das kannst du an der Wirtschaft sehen; wir müssen tüchtig arbeiten miteinander, mehr noch als im Anfang, du, denn wir haben Erben, drei Erben, Anto, und vorläufig sieht’s windig aus mit der Hinterlassenschaft!“

„Wenn sie deinen Sinn erben könnten, Christel, deine Liebe, deine Treue, was Besseres brauchen sie nicht,“ antwortet er und drückt ihr dankbar die Hand.

„O, Anto!“ wehrt sie beschämt ab, „du wirst doch nicht jetzt noch anfangen wollen, mir Schmeicheleien zu sagen? – Gottlob, da sind wir, reise glücklich, hoffentlich kannst du bald heimkehren!“

„Heimkehren!“ wiederholt er und es ist ihm zu Mute, als verstehe er heute zum erstenmal, was das Wort „Heim“ bedeutet.


[443]

Der „Brutus“ der Mediceer.

Von Isolde Kurz.

 (Schluß.)

Ippolito war das seltsamste Exemplar von einem Kardinal, das die verweltlichte Hauptstadt der Christenheit damals aufzuweisen hatte, denn er haßte das geistliche Gewand, ging stets in kriegerischer Tracht, und ein Trupp Soldaten mußte jeden Augenblick seines Winks gewärtig sein. In seinem Palast sah man nie gesehene Trachten und hörte nie gehörte barbarische Laute; ein Heer fremder abenteuerlicher Menschenbilder aus fernen Zonen: tatarische Schützen, indische Taucher, maurische Reiter, jeder in seiner Art unübertroffen, bildeten den Hofstaat des Kardinals. Wie seine Vorfahren, liebte er den Verkehr der Dichter und Gelehrten, und die florentinischen Künstler, die damals in Rom zusammenströmten, fanden bei ihm ein allzeit offenes Haus. So beschützte und beherbergte er Benvenuto Cellini, als der tolle Goldschmied wegen eines Totschlags von den Häschern des Papstes gesucht wurde, und selbst der stolze Michelangelo, der sonst den mediceischen Epigonen gern so weit wie möglich aus dem Wege ging, gehörte zu seinen Freunden.

Dieser glänzende Name gab der Sache der ausgewanderten Florentiner einen festen Kitt. Jetzt hatte Alessandro keine Stütze mehr im Vatikan: auf dem päpstlichen Stuhl saß ein Farnese, der wiederum nichts Eiligeres zu thun hatte, als für seine eigene Familie zu sorgen und die Einrichtungen seines Vorgängers aufzuheben. Dazu kam ihm der mediceische Familienzwist sehr gelegen, er schürte nach Kräften zwischen den Vettern und munterte die Ausgewanderten zur Befreiung ihrer Vaterstadt auf.

Man beschloß, vom Kaiser die Entfernung Alessandros und die Wiederherstellung der Republik mit Ippolito an der Spitze zu verlangen. Freilich möchte der Kardinal sich schwerlich damit begnügt haben, für die Ausgewanderten die Kastanien aus dem Feuer zu holen, er wollte den Purpur ablegen und selber Herzog sein, aber wenigstens hätte er die höchste Stelle würdiger ausgefüllt.

Doch Karl, der eben zu einem Kriegszug nach Tunis rüstete, hatte keine Zeit für die florentinischen Händel. Der Kardinal wurde ungeduldig. Zwischen den Vettern handelte sich’s jetzt darum, wer dem andern beim Kaiser den Rang abliefe. Der Herzog unterhielt geheime Agenten am kaiserlichen Hof; der Kardinal, der dies wußte, wollte durch persönliche Gegenwart Alessandros Einflüsse kreuzen. Er brach mit seinem prächtigen bunten Gefolge, dem sich viele der verbannten Florentiner anschlossen, nach Neapel auf, um sich dort nach Tunis einzuschiffen und unter den Fahnen des Kaisers mitzukämpfen; das Kriegshandwerk lag ihm ohnehin im Blute. Aber seine Laufbahn war zu Ende. Am 1. August kam er in Itri an, wo er ein paar Tage Rast machte, um seine schöne Freundin Giulia Gonzaga, die schönste Frau Italiens, die in Fondi wohnte, zu besuchen. Da erkrankte er jählings und starb nach wenigen Tagen am Gift, das sein Mundschenk ihm gereicht hatte, – auf wessen Antrieb, wollte der Mörder nie bekennen, doch daß er bei dem Herzog von Florenz eine Zuflucht fand, spricht laut genug für Alessandros Schuld. Der treulose Diener erhielt seinen Lohn, da er einige Monate später an der umbrischen Grenze von dem empörten Volk in Stücke gerissen wurde.

Die ganze Expedition löste sich voll Schreck und Trauer auf, die meisten ihrer Teilnehmer gingen auf der Rückreise elend zu Grunde. Ippolitos Leiche wurde von seinem farbigen Gefolge unter lautem Wehklagen auf den Schultern von Itri nach Rom getragen. Er war erst sechsundzwanzigjährig, als er starb; in dieser kühnen Jünglingsgestalt hatte noch einmal aller Glanz der niedergehenden Renaissance aufgeleuchtet, und sein früher Hingang ließ ein allgemeines Bedauern zurück.

Sein Bild, von Tizian gemalt, hängt im Palazzo Pitti zu Florenz: eine kriegerische Gestalt im braunen Sammetrock, über den das Schwert geschnallt ist, ein rotes Barett mit Pfauenfedern auf dem Kopf, in der Rechten den Kommandostab, in der Linken den Degengriff, der Ausdruck ernst, ja tragisch, als ob das frühe Verhängnis schon über ihm schwebte – nichts erinnert in dieser stolzen Erscheinung an einen Mann der Kirche.

Durch den Verlust ihres Hauptes ließen die Verbannten sich nicht entmutigen. Der Strozzi, der mit seinen Söhnen den Meuchelmördern Alessandros entgangen war, hielt die Partei zusammen. Sobald Karl aus Tunis zurück war, begab sich eine Deputation nach Neapel, ihm die Klagen der Verbannten vorzutragen. Von Florenz war auch Alessandro unterwegs mit fürstlichem Pomp, er und seine Edelleute um den Tod des Kardinals in frischer Trauer. Er kam, um sich von den ihm zur Last gelegten Verbrechen zu reinigen; aber das schwerste von allen beging er erst jetzt.

In Collevecchio lebte noch seine Mutter, die sich und ihre jüngeren Kinder kümmerlich mit Wollespinnen ernährte. Der herzogliche Sohn hatte sie im Elend gelassen, weil er sich ihrer schämte. Jetzt wußte er, daß die Verbannten damit umgingen, die alte Mulattin zu seiner Schmach an den Hof des Kaisers zu führen, und um dem Skandal vorzubeugen, räumte der Unmensch die arme Alte durch Gift aus dem Wege.

Danach zog er mit einer glänzenden Begleitung von mehr als dreihundert Berittenen in Neapel ein und stieg gleich in Castel Capuana ab, um seine Braut zu begrüßen. In der kaiserlichen Residenz kam es zwischen den Herren von seinem Gefolge und den ausgewanderten Florentinern zu bösen Worten und selbst zu Thätlichkeiten. Unter den Ankömmlingen befand sich auch Lorenzino. Er haßte den Herzog wenn möglich noch grimmiger als zuvor, denn in dem Kardinal hatte er eine der wenigen Personen, an die ihn ein aufrichtiges Wohlwollen band, verloren.

Jetzt stieß er am Hof des Kaisers mit seinem alten Freunde Piero Strozzi zusammen. Voll Verachtung warf ihm dieser in Gegenwart vieler Herren seine Verrätereien ins Gesicht.

„Ich glaubte einmal, Ihr wäret ein Mann,“ sagte er wegwerfend, „aber jetzt weiß ich es anders.“

Lorenzino hörte ihn mit unbeweglichem Gesichte an, dann antwortete er ruhig:

„Messer Piero, ich werde Euch bald beweisen, daß ich doch ein Mann bin.“ – Aber nach diesen Worten verließ er schleunig den Saal und suchte Alessandro auf, dem er die ganze Begegnung erzählte, so daß, als gleich darauf einer der Höflinge kam, den Herzog zu warnen, dieser schon durch Lorenzino selbst von allem unterrichtet war.

Der Herzog besaß ein wunderbar gearbeitetes Panzerhemd aus feinsten Stahlringen, auf das er große Stücke hielt, weil es leicht und elastisch wie ein Handschuh am Leibe saß. Er äußerte gelegentlich, wenn er nicht dieses Prachtstück von Schmiedearbeit besäße, das ihm nicht die mindeste Unbehaglichkeit verursachte, so würde er lieber gänzlich ungewappnet gehen; darum plante Lorenzino seit lange, ihm das Eisenhemd zu entwenden, um den Weg zu seiner bloßen Brust zu finden. In Neapel ließ es der Herzog eines Tages beim Umkleiden auf seinem Bette zurück. Lorenzino, der allein im Zimmer war, nahm es eilig an sich und warf es in einen Brunnen hinter dem Palast. Der Herzog vermißte es gleich und ließ das ganze Haus danach durchsuchen, und das rätselhafte Verschwinden des Eisenhemdes brachte großen Verdruß und Argwohn unter die Dienerschaft, doch wagte niemand den Thäter, den man wohl vermutete, anzuklagen. Das Gerücht von diesem Vorfall drang bis nach Florenz, und gleich bei der Rückkehr des Hofes ließ der berüchtigte Polizeidirektor sich bei dem Herrn melden und sagte ihm dringlich:

„Wenn Eure Excellenz mir die Erlaubnis giebt, den Philosophen zu befragen, so will ich schnell erfahren, wo Ihr Stahlwams geblieben ist.“

Der Herzog scheute sonst vor den Mitteln des Ser Maurizio nicht zurück, aber seinem Faktotum wollte er kein Härchen krümmen lassen.

„Was,“ antwortete er in seiner derben Art, „möchtest du dem Lorenzino zu Leibe? Geh, laß ihn in Frieden.“

Er war in gnädiger Laune aus Neapel zurückgekehrt, denn es war dort alles nach seinen Wünschen gegangen. Die Mission der Ausgewanderten hatte klägliches Fiasko gemacht. Es waren zwar langatmige Reden gehalten und umfangreiche Schriftstücke [444] eingereicht worden, aber Alessandros Sprecher, der berühmte Staatsmann und Geschichtschreiber Guicciardini, hatte dem Kaiser seine Verbrechen als kleine Jugendverirrungen darzustellen gewußt und Karl hatte den Herzog aufs neue in allen seinen Rechten bestätigt. Dann feierliches Ringewechseln zwischen dem Bastard und der Kaiserstochter, worauf Alessandro schleunigst vorausgereist war, um in Florenz für den Besuch des Schwiegervaters zu rüsten.

Dieser Einzug, für den die ganze Stadt in ein Feenschloß verwandelt werden mußte, diente erst recht dazu, die Florentiner zu belehren, daß fortan zwischen der kaiserlichen Majestät und seinem Schwiegersohne ein Wille herrschte und daß es nutzlos war, noch länger einem Gedanken an die Wiederkehr des Vergangenen nachzuhängen.

Kaum waren diese anspruchsvollen Gäste abgezogen, als die kaiserliche Braut mit ihrem Ehrengeleite aus Neapel eintraf. Abermals Triumphbogen, Festgeläute und Freudenfeuer; in San Lorenzo wurde das Volk auf Staatskosten bewirtet, und es gab viel zu gaffen, bis alle Ceremonien und Feste vorüber waren und der Herzog an der Spitze seiner Edelleute „Madama Margarita“, wie die Florentiner sie nannten, in sein eigenes Haus abholte.

Die spätere Geschichte kennt sie unter dem Namen Margarete von Parma als die Regentin der Niederlande, die kluge Freundin des Grafen Egmont, die durch ihre aus Italien mitgebrachte religiöse Toleranz den leidenden Provinzen ein Segen ward, bis der furchtbare Alba sie von ihrem Posten verdrängte. In Goethes „Egmont“ erscheint sie als majestätische Frau von männlichem Charakter mit einem „kleinen Bärtchen auf der Oberlippe“, und dieses strenge Bild will die Gestalt der jugendlichen Braut, die im Jahre 1536 unter dem blauen toskanischen Himmel im Palaste Medici ihren Einzug hielt, in der Phantasie nicht aufkommen lassen. Schön war sie auch damals nicht, wie die Denkmünzen beweisen. Sie wurde dem Herzog fast noch als ein Kind vermählt, mehr zur Sicherung der beiderseitigen Interessen als um so früh seine Gattin zu sein. Aber schon jetzt harrten ihrer die schwersten Prüfungen, denn die Katastrophe stand unmittelbar vor der Thüre.

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Kardinal Ippolito.
Nach dem Gemälde von Tizian.

All seiner Feinde glaubte Alessandro sich entledigt zu haben; aber den einzigen, der wahrhaft zu fürchten war, hielt er als besten Freund an seiner Seite.

Die Verblendung des sonst so argwöhnischen Despoten, der in jedem Florentiner einen Verschwörer witterte, erschien seinen Getreuen wie ein Werk der Gestirne. An Warnungen fehlte es nicht. Schopenhauer stellt einmal den wunderlichen Satz auf, daß ein schweres Geheimnis, lange in der Brust eines Menschen verschlossen, sich am Ende von selbst der Außenwelt mitteilen müsse. An dieses mystische Wort wird man erinnert, wenn man sieht, wie Lorenzinos Umgebung ihm den Mordgedanken aus der schweigenden Seele las.

Schon bei der Grundsteinlegung der Citadelle war dem Herzog vom Astrologen, der dieser Handlung vorstand, der Tod durch die Hand seines Vetters prophezeit worden. Alessandro hatte nur gelacht; er war dem alles beherrschenden Aberglauben so unzugänglich, daß er als ein Ausnahmemensch in seiner Zeit erscheint. Zum Entsetzen der Florentiner hatte er sogar einen astronomischen Unglückstag (eine Sonnenfinsternis) und obendrein einen Dreizehnten zum Hochzeitstag gewählt.

Ein Soldat seiner Leibwache träumte, der Herzog sei von einem kleinen, schmächtigen Menschen, dessen Aeußeres er sich genau erinnerte, ermordet; er redete den Herrn des Morgens unter der Thüre an, um ihm den Traum zu erzählen, und da Lorenzino eben dazutrat, rief er: „Dieser ist’s!“ – aber der Herzog schickte ihn mit barschen Worten weg. Maria Salviati, die Mutter des jungen Cosimo, sagte ihm ins Gesicht, Lorenzino stehe ihm nach dem Leben. Von allen Seiten empfahl man ihm Vorsicht; „niemand könne seinem Schicksal entgehen“, war das einzige, was der Herzog darauf antwortete.

Selbst den gemeinsamen Spießgesellen war Lorenzinos Wesen unheimlich geworden, denn auf einem ihrer nächtlichen Abenteuer wollte der Kämmerer Giomo den Strick, an dem jener sich über eine Mauer hinabließ, abschneiden und seinem Herrn den verdächtigen Menschen vom Halse schaffen, aber der Herzog fiel ihm in den Arm.

Mit einer an Wahnsinn grenzenden Entschlossenheit lauerte Lorenzino auf den günstigen Augenblick. Wenn sie zusammen auf einem Pferd über den Mercato ritten, war er öfters versucht, den Herzog, der keinen Stahl mehr auf dem Leibe trug, rücklings niederzustoßen, aber die Nähe der Trabanten hielt ihn ab. Ein andermal hätte er ihn von einer hohen Mauer, die sie nachts zusammen überkletterten, hinabstürzen können, aber nun mußte er fürchten, daß entweder der Tyrann mit dem Leben davonkommen oder daß man seinen Tod einem Zufall zuschreiben könnte, und damit war ihm nicht gedient: er bedurfte des Ruhms; so tief man ihn jetzt verachtete, so hoch sollte man ihn später verehren.

Allmählich war es ein öffentliches Geheimnis geworden, daß der schweigsame Melancholikus etwas gegen den Herrn im Schilde führte. Ihm selbst entschlüpften gelegentlich Andeutungen, die der Herzog nicht ernst nahm.

Schon im Vorjahr, als er seine Komödie „Aridosia“ vor versammeltem Hofe aufführen ließ, sollte er geäußert haben, er werde bald ein blutiges Trauerspiel folgen lassen, das den Titel Fiorenza (Florenz) führen solle.

Ein anderes Beispiel dieser Art erzählt Benvenuto Cellini in seiner Lebensbeschreibung. Der Künstler hatte in seiner Eigenschaft als Münzmeister und Stempelschneider beim Herzog Zutritt und wunderte sich oft, wenn er nach Tisch den Herrn allein mit seinem unheimlichen Günstling schlummern fand. Eines Tages hatte er das Bildnis des Herzogs für eine Schaumünze in Wachs bossiert und wollte nun Urlaub nehmen, um sich in Rom für einen früher begangenen Totschlag den Ablaß zu holen. Der Herzog ward ärgerlich und suchte den geschickten Meister zum Bleiben zu bereden. Er war jenes Tages unpaß und lag zu Bette, niemand war um ihn als Lorenzino, der während des ganzen Gespräches einsilbig blieb; der „fatale Blick“, mit dem er [445] immerfort den Herzog ansah, fiel dem Künstler auf. – Cellini antwortete dem Herrn auf sein Drängen, er werde die Schaumünze in Rom vollenden, und sie solle schöner werden als alle seine früheren derartigen Arbeiten. Dann wandte er sich an den Günstling: „Ich hoffe, Herr Lorenzo giebt mir eine Kehrseite dazu, er ist gelehrt und von großem Geiste.“

Darauf antwortete Lorenzino schnell: „Ich denke an nichts anderes, als dir eine schöne Kehrseite zu geben, die Seiner Excellenz wert sei.“

„Der Herzog,“ so erzählt Benvenuto, „lächelte spöttisch und sagte: ‚Bring’ ihn auf die Kehrseite, so verreist er nicht.‘

Da sagte Lorenzo: ‚Ich will so schnell wie möglich fertig sein, es soll etwas werden, worüber die Welt erstaunt.‘

Der Herzog, der ihn zum besten hatte und überhaupt nicht achtete, drehte sich im Bett herum und lachte über diese Worte.“

Benvenuto erzählt nun, wie er nach diesem Gespräch Florenz ohne weitere Umstände verließ. In Siena holte ihn ein Diener des Herzogs ein, der ihm im Namen seines Herrn ein Geschenk von fünfzig Goldgulden überbrachte und hinzusetzte: „Herr Lorenzo läßt dir sagen, daß er zu der Denkmünze, die du machen willst, eine wundersame Kehrseite im Sinne habe.“

Dies war im Sommer gewesen; einige Monate vergingen, der Künstler lebte in Rom und hatte bereits zum Verdruß der Ausgewanderten den Kopf des Herzogs in Stahl gegraben; aber er konnte die Medaille nicht vollenden, weil ihm Bild und Schrift für die Rückseite fehlten. Da schrieb er an einen Freund in Florenz, man möchte Herrn Lorenzo an sein Versprechen erinnern. Der Freund antwortete, er habe den „närrischen, hypochondrischen Philosophen“, den Lorenzino, gesprochen, der ihn versichert habe, er denke Tag und Nacht an nichts anderes und wolle so bald wie möglich die Rückseite liefern. Doch riet der Freund, nicht weiter darauf zu hoffen, sondern die Medaille nach eigener Erfindung zu vollenden, was jener dann auch that.

Am Dreikönigsfest war Benvenuto Cellini nach seiner Gewohnheit mit einem Freunde auf die Jagd geritten. Bei der Heimkehr nach Rom, da es schon nachtete, will er von einer Anhöhe aus einen mächtigen, funkelnden Feuerbalken in der Gegend von Florenz am Himmel wahrgenommen haben. Auch der Freund soll gleichzeitig des Phänomens ansichtig geworden sein, und beide waren sofort überzeugt, daß dieses Himmelszeichen auf ungeheure Vorgänge in Florenz deute.

Am folgenden Abend spät kam die Nachricht von der Ermordung des Herzogs Alessandro, und jetzt verstanden Benvenuto und seine Freunde, welche Kehrseite der melancholische Sonderling im Sinne getragen hatte.

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Herzog Cosimo I von Florenz.
Nach der Büste Benvenuto Cellinis im Nationalmuseum in Florenz.

Von der That und ihrer Vorbereitung giebt es die ausführlichsten Schilderungen, die aus Lorenzinos eigenem Munde stammen.

Der Herzog, den die Nähe der jungen Gattin nicht bändigte, hatte seine begehrlichen Augen auf die schöne Caterina Ginori, eine Frau von unantastbarem Ruf und nahe Verwandte Lorenzinos, eine jüngere Halbschwester seiner Mutter, geworfen. Sie lebte in bedrängten Verhältnissen und ging wenig in Gesellschaft, aber ihr Haus lag nicht weit von der Rückseite des Mediceerpalastes, und so mochte Alessandro ihr auf der Straße begegnet sein. Ohne Rücksicht auf die nahe Verwandtschaft vertraute er sich seinem gewohnten Helfershelfer an und hatte die Stirn, ihn um Vermittlung anzugehen.

Lorenzino frohlockte: auf eine solche Gelegenheit hatte er seit lange gewartet. Er übernahm es, cynisch wie immer, dem Herzog eine Zusammenkunft mit der Dame zu verschaffen, und ohne seiner Tante ein Wort zu sagen, hielt er ihn mit leeren Versprechungen hin, bis die Zeit seinem Vorhaben günstig wäre.

Darüber war der 5. Januar, der Vorabend des Epiphaniafestes, herangekommen, das in Florenz Befana heißt und bis auf den heutigen Tag durch ungeheuren Lärm gefeiert wird.

An jenem Tage, es war ein Sonnabend, hatte Lorenzinos Mutter sich zu ihrem jüngeren Sohn Giuliano begeben, der krank in Caffagguolo lag, ihre Töchter waren bei Verwandten untergebracht; Lorenzino blieb somit allein in der Wohnung. Unter seinen Dienern befand sich ein gewisser Scoronconcolo, dem Lorenzino einmal, da er wegen eines Totschlags verurteilt war, das Leben gerettet hatte. Gegen diesen, der ein verwegener Bursch und seinem Herrn mit Leib und Seele ergeben war, hatte Lorenzino sich schon des öftern beklagt, daß er von einem Feind bei Hofe gehänselt und beschimpft werde, worauf Scoronconcolo sich jedesmal dringend erbot, ihm den Gegner, wer er auch sei, vom Halse zu schaffen. Diesen Burschen holte Lorenzino, der Mutter Abwesenheit benutzend, sich jetzt zum Frühstück, wie er häufig zu thun pflegte, um sich seine Anhänglichkeit zu sichern, und bei Tische teilte er ihm mit, daß er für den Abend etwas Großes plane.

Man war bereits im Karneval und die doppelte Festlichkeit brachte einen Geist der Ausgelassenheit über die ganze Stadt. Am Morgen, da etwas Schnee gefallen war, belustigten Alessandro und sein Günstling die junge Herzogin durch Schneeballenwerfen im Hofe des Palastes. Am Nachmittag verkleideten sich die beiden als Rinderhirten aus den Apenninen, bestiegen zwei schlechte Esel und tollten durch die Stadt, indem sie vor den Fenstern gefeierter Schönheiten allerhand Späße aufführten. So hetzte Lorenzino den Herzog den ganzen Tag herum und brachte ihn am Abend abgemattet von Vergnügungen in den Palast zurück. Er selbst mit dem Fanatismus der fixen Idee, die in ihm glühte, spürte keine Müdigkeit. Nach Tische wollte der Herzog sich legen. Da schlich sein böser Geist hinter ihn und raunte ihm ein paar Worte zu, die jenem den Schlaf vertrieben. Alessandro erhob sich rasch, warf ein mit Zobel gefüttertes Atlasgewand über, wählte ein paar parfümierte Handschuhe und verließ mit wenigen Vertrauten den Palast.

Um nicht belauert zu werden, begab er sich zuerst nach dem Markusplatz und entließ dort seine Begleiter alle bis anf den Unghero. Mit diesem kehrte er nach der Wohnung Lorenzinos um, die zunächst an den Mediceerpalast stieß. Dorthin hatte ihn der Verräter bestellt unter dem Vorwand, daß die schöne Caterina endlich in eine Zusammenkunft gewilligt habe, nur verlange sie um ihres Rufes willen die größte Vorsicht und Heimlichkeit. Der Herzog ließ den Unghero gegenüber von Lorenzinos Hausthüre warten mit der Weisung, sich nicht zu rühren, wen er auch aus- oder eingehen sehe.

Darauf führte ihn Lorenzino in sein eigenes Zimmer, wo ein gutes Feuer im Kamin brannte. Alessandro warf sich, müde [446] wie er war, aufs Bett, nachdem er den Degen abgeschnallt hatte; flink umwickelte jener Griff und Scheide mit dem Gurt, um die Waffe unbrauchbar zu machen, und legte sie dem Herzog aufs Kissen. Dann entfernte er sich, scheinbar um die Dame herzubegleiten, in Wahrheit, um den Scoronconcolo aufzusuchen, dem er sagte, der Augenblick sei da, der Feind liege schlafend auf seiner Kammer; er solle sich brav halten und nicht darauf achten, daß es ein Freund des Herzogs sei.

Der Bursch verschwor sich, ihm sei alles gleich, und wenn es der Herzog selber wäre – und so erfuhr er erst im letzten Augenblick, wem das Attentat galt.

Lorenzino stieß die Thür auf, näherte sich dem Bett, und mit den Worten: „Herr, schlaft Ihr?“ hatte er dem Herzog schon sein kurzes Schwert durch den Leib gerannt.

Tödlich verwundet sprang Alessandro auf, und es entspann sich eine Scene, deren Einzelheiten zu grausig sind, um sie zu erzählen. Der unglückliche Herzog, der sich, ohne einen Laut auszustoßen, wie ein Löwe wehrte, wurde von den zweien überwältigt, Lorenzino sagte ihm noch mit satanischem Hohn: „Es wird nicht fehlen, Herr!“ – indem er ihn aufs Bett zurückdrückte und durch seinen Helfershelfer das schauerliche Werk vollenden ließ.

Dann hoben sie den Toten, der in einem See von Blut auf den Boden gerollt war, wieder aufs Lager und zogen die Bettvorhänge über ihm zu.

Als alles vorüber war, schleppte Lorenzino sich keuchend ans Fenster, um Luft zu schöpfen. Sein Daumen, den das Opfer ihm im letzten Verzweiflungskampf durch und durch gebissen hatte, ließ einen breiten Blutfleck auf dem Gesimse. Auf der Straße, die hell im Mondschein dalag, war alles still geblieben, der Unghero hatte längst seinen Posten verlassen und sich im Zimmer des Herzogs schlafen gelegt. Auch im Hause regte sich nichts. Frau Maria, die Witwe Giovannis delle Bande Nere, die den anderen Flügel bewohnte, hatte zwar Lärm und Tritte vernommen, aber nicht darauf geachtet, denn Lorenzo hatte absichtlich schon wiederholt des Abends junge Leute auf sein Zimmer gebracht und mit ihnen scherzweise Raufscenen aufgeführt, wobei er hin und her rannte und schrie, als ob ein Mord geschähe.

Kaum war die That vollbracht, als bei Lorenzino der Rückschlag eintrat. Mit der übermenschlichen Spannung seiner Kräfte verließ ihn die fanatische Entschlossenheit. Der Tyrann war tot; jetzt hätte es gegolten, in die Stadt zu eilen, den Tod des Herzogs zu verkündigen und das Volk zur Befreiung aufzurufen. Wenn je die Zeichen für eine Volksbewegung günstig standen, so war es an diesem Tag, denn der Kaiser focht fern im Norden und die Stadt selbst war von Truppen entblößt, weil der Vitelli mit seinen Leuten sich an die umbrische Grenze begeben hatte.

Aber wo waren jene tapfern Bürger, jene Freunde der Freiheit, auf die man in einem solchen Augenblick zählen konnte? Und wenn es deren noch gab, würden sie dem Günstling und Spion des Tyrannen Glauben schenken, mußten sie nicht vielmehr annehmen, er wolle sie im Einverständnis mit dem Herzog in eine Falle locken? Ein einziger Fehler war von Anfang an in seiner wohldurchdachten Rechnung gewesen, und der verdarb ihm jetzt das ganze Spiel. Die Flamme der Begeisterung anzublasen, ein verzagtes Volk um seine Fahne zu scharen, das war keine Aufgabe für einen Lorenzaccio.

Zu dieser Erkenntnis gesellte sich der rasende Schmerz an der gebissenen Hand und die Angst seines Spießgesellen, der nicht aufhörte, ihn zur Flucht zu drängen. Lorenzino verlor den Kopf, die tollsten Vorsätze gingen durch sein verstörtes Hirn: er wollte die Getreuen des Herzogs einzeln rufen und sie neben der Leiche ihres Herrn ermorden, ebenso dessen natürliches Söhnchen Don Giulio. Zunächst that er etwas ganz Sinnloses: er ließ seinen Diener Freccia rufen, zeigte ihm die Leiche und schlug über dessen Entsetzen ein wahnsinniges Gelächter auf. Dann kam er wieder zu sich und begann nun an seine und seines Mitschuldigen Sicherheit zu denken.

Der Erzbischof Marzi hatte als Vertrauensperson des Herzogs die Schlüssel der Stadt in Händen. Zu ihm begab sich Lorenzino und bat um Durchlaß, weil sein Bruder sterbend in Caffagguolo liege. Der Erzbischof hatte kein Arg, da er Lorenzos nahes Verhältnis zum Herzog kannte, und um dem Günstling gefällig zu sein, gab er ihm aus freien Stücken auch noch die Postpferde.

Lorenzo stieg mit den beiden Dienern zu Pferd und ritt in rasender Eile nach Bologna.

Dort führte der Zufall ihm gleich einen der ausgewanderten Florentiner, von denen die Stadt wimmelte, in den Weg. Diesem erzählte er noch fiebernd das Vorgefallene und zeigte ihm den durchbissenen Daumen, den er in Bologna frisch verbinden lassen mußte, und den Schlüssel seines Zimmers, in dem der Tote eingeschlossen lag.

Auf den Ausgewanderten stand seine ganze Hoffnung, in ihnen lebte, was vom Geist der echten Florentiner noch übrig war, und sie besaßen Waffen, woran es in der Stadt gänzlich gebrach. Schon seit längerer Zeit beunruhigten sie das Land durch kriegerische Anstalten, und Lorenzo zweifelte nicht, sie würden auf die Nachricht von dem Geschehenen hin sogleich mit Truppenmacht in der Toskana einrücken.

Aber auch hier wurde sein schlechter Leumund ihm hinderlich: man glaubte ihm nicht und ließ ihn mit seiner Erzählung ablaufen. Er verlor seine Zeit in nutzlosem Reden, bis er einsah, daß er in Bologna nichts erreichte. Da warf er sich aufs neue zu Pferd und ritt in Eile nach Venedig weiter.

Am Montag kam er gegen Mitternacht dort an und weckte mit seiner Nachricht Filippo Strozzi aus dem Schlaf. Bei diesem fand er endlich Glauben, Jubel und Begeisterung. Filippo umarmte ihn, nannte ihn den neuen Brutus, den Retter des Vaterlandes. Um die Unbill des Schicksals an ihm und den Seinigen wieder gutzumachen, warb er gleich für seine Söhne Piero und Roberto um Lorenzinos Schwestern, die beide bildschön und vortrefflich erzogen, aber ihrer Armut wegen von den Freiern nicht gesucht waren. Die Ausgewanderten, die in Venedig lebten, umringten den Ankömmling und feierten ihn als Helden und Befreier; endlich hatte er erreicht, wonach er seit lange dürstete.

Mit Blitzesschnelle lief die Kunde von seiner That durch die ganze Halbinsel und erregte einen Sturm der Begeisterung. Es regnete von Sonetten, die den „neuen Brutus“ in den Himmel erhoben, und jener Molza, der einst wegen der Verstümmelung der römischen Kaiserbilder die öffentliche Schmährede gegen ihn gehalten hatte, schlug jetzt ein umgekehrtes rhetorisches Rad, indem er als Widerruf ein berühmt gewordenes Epigramm schrieb:

Mit kühnem Stahl traf Laurens den Despoten,
Des Joch sein freigebornes Volk ertrug.
Wie, rief er, schickt’ ich dich nicht zu den Toten,
Der ich Roms marmorne Tyrannen schlug? –

Das herrliche Wetter, das in jenen Tagen durch ganz Italien herrschte, wurde als Beifall der Natur gedeutet, und allgemein hieß es, die Blumen blühten aus Freude über Alessandros Tod. Die Verbannten glaubten den Tag ihrer Rückkehr nahe, aber bevor sie zu einem gemeinsamen Schlag bereit waren, hatten sich innerhalb der Mauern die Geschicke ihrer Heimat vollzogen.

Des Herzogs Verschwinden war am Sonntag Morgen nicht sogleich aufgefallen. Später, als er vermißt wurde und auch im Lauf des Tages nicht zum Vorschein kam, begannen seine Getreuen sich zu beunruhigen.

Unterdessen flüsterte man sich schon in der Stadt ganz leise zu, der Herzog liege ermordet im Zimmer seines Vetters. Dieser hatte nämlich vor der Flucht seinem Hausmeister, der in Eile das wenige vorrätige Geld für ihn zusammenraffen mußte, den Auftrag hinterlassen, in aller Frühe sein Zimmer zu öffnen und einigen Bürgern, die er ihm bezeichnete, von dem, was er da finden würde, Meldung zu machen. Der Mann war seiner Weisung nachgekommen und hatte mit der Nachricht von dem schrecklichen Fund an verschiedene Häuser geklopft, aber es war ihm widerfahren, was Lorenzino für sich selbst vorausgesehen: man hatte ihm die Thür vor der Nase zugeschlagen, weil man seinen Bericht für einen Fallstrick hielt. Dennoch sickerte das Gerücht durch, aber niemand regte sich: Freund und Feind waren in Aengsten, der Herzog wolle ihre Gesinnung prüfen, und keiner mochte als der erste erscheinen, der dieser Nachricht Glauben geschenkt hätte.

[447] Am Hof war man in großer Aufregung, man sagte den Besuchern, der Herzog habe die ganze Nacht gespielt und schlafe noch; um das Volk zu beschäftigen, ließ man vor dem Palastthor Sand streuen und einen Faßreif, mit vielen Preisen behängt, aufstellen, als ob Wettspiele veranstaltet würden.

Durch den Erzbischof erfuhr jetzt Giomo, daß Lorenzino in der Nacht Postpferde erhalten habe und mit zwei Begleitern weggeritten sei. Die Hofleute klammerten sich noch an der Hoffnung fest, ihr Herr sei mit darunter. Man schickte nach Caffagguolo, ob sich Lorenzino bei den Seinigen befinde, und erst als man hörte, er sei ohne Aufenthalt dort vorbeigesprengt und habe eine Wunde an der Hand, die ihm auf der ersten Poststation verbunden worden sei, erkannte man den Sachverhalt. Aber jetzt befiel ein solcher Schreck die Anhänger der Medici, daß niemand das Schlafzimmer Lorenzinos zu erbrechen und sich Gewißheit zu verschaffen wagte, denn man glaubte, das Volk würde bei der Nachricht aufstehen und seine Bedrücker, waffenlos wie es war, mit Stöcken und Steinen niedermachen. Ganz geheim schickte man Boten aus und ließ von allen Seiten Mannschaft zusammenziehen, und erst als schon alles schlief, drang man in die blutüberschwemmte Kammer ein. Des Herzogs Leichnam, der mit Wunden besäet war, wurde rasch in einen Teppich gewickelt und in aller Stille nach der Sakristei von San Lorenzo getragen.

Am Montag Morgen war die Wahrheit nicht mehr zu verheimlichen. Ueberall standen die Bürger in Gruppen umher und besprachen das Vorgefallene. Man kramte die alten Prophezeiungen Savonarolas wieder hervor, wonach jetzt ein goldenes Zeitalter der Freiheit anbrechen müsse, aber niemand stellte sich an die Spitze, um zu handeln, denn die Tüchtigen und Entschlossenen waren alle in der Verbannung. Ganz allmählich füllte sich die Stadt mit Soldaten, von denen man nicht wußte woher sie kamen. Alessandro Vitelli besetzte die Festung, und während die Bürger müßig schwatzten, verstrich die Stunde zur Befreiung ungenützt.

Unterdessen saß auf seiner Villa im Mugello, fünfzehn Meilen von Florenz, der siebzehnjährige Cosimo de’ Medici, Cosimino, wie man ihn seiner Jugend wegen nannte, und vertrieb sich die Zeit mit Jagen und Fischen. Dieser kam, von seiner Mutter benachrichtigt, mit geringer Begleitung nach Florenz, wo die alten Soldaten seines Vaters ihm in Scharen zuliefen. Ganz bescheiden und ehrbar stellte er sich dem Rat der Achtundvierzig vor, der im Palast der Medici tagte, um Alessandros Nachfolger zu wählen. Cosimo war jetzt der nächste am Thron, denn von Lorenzino, dem rechtmäßigen Erben, konnte natürlich keine Rede sein, und Alessandros natürliches Söhnchen war erst fünf Jahre alt. Als Sohn des „unbesiegten“ Giovanni und einer Enkelin des Magnifico, besaß Cosimo das allgemeine Zutrauen, aber niemand wußte eigentlich, wes Geistes Kind er war. Am Hof Alessandros hatte er stets den unterwürfigen Diener gespielt, und bei den Freunden der Medici galt er für einen harmlosen, etwas beschränkten Jungen, der für nichts Sinn habe als für das Vergnügen. Dieser Ruf kam ihm jetzt zu statten, denn unter den Räten war keiner, der sich nicht geschmeichelt hätte, einen solchen Fürsten wie eine Drahtpuppe regieren zu können. Er selbst ließ sich nur schieben, aber seine Lauheit setzte die ehrgeizigen Freunde in Flammen, und den Ausschlag gab die Soldateska, die vor den Thüren lärmte. So ward der junge Cosimo Herzog von Florenz.

Die Glocken läuteten, Freudenfeuer wurden angezündet, und das Volk strömte nach dem Mediceerpalast, um den neuen Herrn zu sehen. Am ausgelassensten betrugen sich die Soldaten des Vitelli, die dem Gefeierten eine sonderbare Huldigung darbrachten. Sie stürzten sich, untermischt mit Pöbelhaufen, die Palle! Palle[1] schrieen, auf das neben dem großen Palast gelegene Stammhaus der Medici, das zur einen Hälfte dem Sohn Giovannis, zur andern den Erben Pierfrancescos gehörte, und plünderten, ohne daß Frau Maria oder die Freunde zu wehren vermochten, sowohl Cosimos wie des Verräters Lorenzo Wohnung, indem sie alles wegschleppten, was seit vielen Generationen an Kostbarkeiten, seltenen Büchern, antiken Statuen dort aufgehäuft war. Aus Rom, wo es üblich war die Wohnung neu gewählter Päpste dem Pöbel preiszugeben, hatten sie diesen Brauch herübergebracht.

Lorenzinos Haus wurde überdies in der ganzen Breite des Zimmers, in dem der Mord geschehen war, vom Dach bis zu den Grundmauern eingerissen,[2] er selbst als Staatsverbrecher mit dem Strick am Fuß, den Kopf nach unten, auf die Festungsmauer gemalt und ein Preis von achttausend Dukaten auf seinen Kopf gesetzt. Seine und seines Bruders Giuliano Habe, soweit sie nicht von den Soldaten Vitellis weggeschleppt war, fiel als „Rebellengut“ dem neuen Herzog zu.

Alessandros Reste sind in der „Neuen Sakristei“ von San Lorenzo im Grabmal des Herzogs von Urbino bestattet. Michelangelos Marmorkolosse decken die Gebeine des Vaters und des Sohnes, und darüber sitzt der finstre „Pensieroso“, die Kolossalgestalt des vorangegangenen Herzogs, wie in tiefem Brüten über die Geschicke seines Hauses.[3]

Niemand trauerte um den Toten als die junge Herzogin, die Tag und Nacht in ihren Gemächern weinte. War doch sein Leben der besseren Züge nicht völlig bar, wie er auch Anwandlungen von Großmut und Gerechtigkeit hatte. Alessandro hinterließ eine Reihe nützlicher und wahrhaft volksfreundlicher Einrichtungen und hätte ohne seine Laster wohl das Zeug zu einem tüchtigen Regenten gehabt. Es sind einige salomonische Urteile von ihm erhalten, die für die ungewöhnliche Klarheit und Schnelle seines Geistes zeugen. Er war eine derbe Natur, stark, gewaltsam und rachsüchtig, aber auch gerade heraus und wollte nicht besser scheinen, als er war. Die Schmeichler verachtete er und gab ihnen Fußtritte. Aber er war kein echter Medici: die Ehrfurcht vor Kunst und Wissenschaft kannte er nicht mehr, Florenz verödete unter ihm. Michelangelo hat es stets als seine Rettung betrachtet, daß er sich bei Clemens’ Tode auf Reisen befand, in Florenz wäre er vor der Rachsucht Alessandros nicht sicher gewesen.

Sein Nachfolger war ein völlig andrer Mensch. Die erstaunten Florentiner meinten später, Gott habe Cosimo zu seinem Herrscheramt erst nachträglich den Verstand gegeben, aber solche, die ihn von Kindheit an kannten, hatten dem stillen Wasser nie getraut. Mit einer unheimlichen Reife und Sicherheit trat er nun als ein völlig fertiger Charakter in den Vordergrund. Im Handumdrehen machte der Siebzehnjährige sich zum Herrn der Lage. Vor allem hatte er den Mut, undankbar zu sein; keinem der Räte gestattete er den geringsten Einfluß – die ihn groß gemacht hatten, stürzte er mit so unfehlbarer Sicherheit wie seine Gegner. Unverzüglich bestätigte der Kaiser seine Wahl, nur Cosimos Werbung um die Hand der verwitweten Herzogin wurde abgewiesen, denn ihr Vater hatte bereits in Ottavio Farnese, dem zwölfjährigen Enkel des Papstes, einen zweiten Gatten für sie gefunden.

Bevor die Bürger zur Besinnung kamen, lag ihnen ein neues Joch auf dem Nacken, das noch fester saß als das vorige. – Man hat viel darüber gestritten, ob Lorenzino de’ Medici den Namen des neuen Brutus, den die Ausgewanderten ihm beilegten, wirklich verdiente; das eine hatte er jedenfalls mit dem Mörder Cäsars gemein, daß seine Befreiungsthat in ihr völliges Gegenteil umschlug, indem sein Dolch einem weit schlimmeren Unterdrücker den Weg zum Throne bahnte. Eine gewisse Aehnlichkeit zwischen Augustus und Cosimo springt überhaupt in die Augen. Aber noch weiter ließe sich die Parallele verfolgen, denn nun sollten die Ausgewanderten, mit denen auch Lorenzino zurückzukehren hoffte, unweit der heimischen Mauern ihr Philippi finden.

Zwischen Prato und Pistoja, am Fuß des Apennin liegt [448] die ehemals befestigte Ortschaft Montemurlo. Dort floß im Sommer 1537 zum letztenmal florentinisches Blut im Kampfe für die Freiheit.

Filippo Strozzi hatte endlich die Ausgewanderten durch ganz Italien unter einen Hut gebracht, er selbst gab die Mittel für das ganze Unternehmen. Frankreich und der Papst bliesen heimlich in die Flammen. Aber Filippo Strozzi war kein Feldherr. Mit einer Handvoll Soldaten und etlichen sechzig Ausgewanderten zog er wohlgemut wie zu einer Lustpartie von Bologna herunter und setzte sich in der sichern Erwartung, daß sein Sohn Roberto mit der Hauptmacht von Mirandola her zu ihm stoßen werde, in dem halbzerfallenen Schlößchen von Montemurlo fest. Jedoch Roberto blieb mit den Seinen infolge heftiger anhaltender Regengüsse im Gebirge stecken, und der ältere Bruder Piero, der, die Gefahr des Vaters erkennend, ihm mit einem andern Truppenteil nachgezogen war, erlitt durch eigene Uebereilung zwischen Prato und Florenz eine schwere Niederlage. Bevor Entsatz zur Stelle war, mußte auch das schwach verteidigte Montemurlo sich ergeben. Die bezahlten Hauptleute streckten zuerst die Waffen, die Ausgewanderten, unter ihnen Filippo Strozzi, der an diesem Tage die Sünden seiner Vergangenheit gut machte, wurden mannhaft kämpfend gefangen genommen. Eine Viertelstunde später erschien die Hauptmacht mit wehenden Fahnen vor Montemurlo und stieß dort auf Pieros zersprengte Scharen, aber beide Brüder kamen zu spät, den Vater zu retten, und kehrten mit ihren Truppen, selber übel zugerichtet, über den Apennin zurück.

Der reichste Mann Italiens, der mit Königen und Päpsten als ihresgleichen verkehrt hatte und ein Liebling des Glücks gewesen, wurde nebst den andern auf einem elenden Klepper schmachvoll als Hochverräter nach Florenz geschleppt. Viele Tage hintereinander floß das Blut der Gefangenen im Hofe des Bargello,[4] bis die Haltung des Volkes so drohend ward, daß Cosimo von weiteren Hinrichtungen abstand und den Rest der Unglücklichen zum langsameren Tod in unterirdischen Verließen begnadigte.

Nur des Strozzi konnte er zu seinem Verdruß nicht habhaft werden, denn sein alter Freund Vitelli, dem Filippo sich persönlich ergeben hatte, hielt ihn in der Festung als Gefangenen des Kaisers verwahrt, um ihm Geld und kostbare Geschenke auszupressen. Jeden Einfall des habsüchtigen Kommandanten und seiner Frau befriedigten Filippos Söhne von Venedig aus, aber sie konnten die Lage ihres unglücklichen Vaters nicht erleichtern. Er wurde wiederholt gefoltert, weil man ihm das Geständnis entreißen wollte, daß er an Alessandros Ermordung mitschuldig gewesen, und eines Tages fand man ihn tot in dem Gefängnis, das er selbst gebaut hatte – es hieß, er habe selber Hand an sich gelegt, aber der Verdacht blieb an Cosimo haften, daß er ihn im Einverständnis mit dem Kommandanten heimlich habe töten lassen.

Jetzt lebte nur noch einer, nach dessen Blut Cosimo dürstete. Der „neue Brutus“ war nicht mit nach Montemurlo gezogen. Filippo Strozzi hatte ihn zu seiner Sicherheit nach Mirandola geschickt, das im Bund mit Frankreich stand; er sollte dort Truppen für die Ausgewanderten werben. Aber nach dem Tag von Montemurlo war auch in Mirandola seines Bleibens nicht mehr, und nun begann für den Geächteten ein unstetes Wanderleben. Mit Filippo Strozzi hatte er den einzig wahren Freund verloren, für die andern war die Person des Verräters und Fürstenmörders eine Verlegenheit.

Zuerst flüchtete er nach Frankreich zum König Franz, der ihn freundlich aufnahm und ihn gleich mit einer Gesandtschaft nach Konstantinopel weiterschickte. Vom Orient zurückgekehrt, hielt er sich längere Zeit in Paris im Haus eines florentinischen Ausgewanderten verborgen; dort sah ihn Benvenuto Cellini wieder, der damals für den König Franz arbeitete. Eine Zeit lang gab er sich auch für einen Studenten aus. Er mußte häufig Namen und Wohnung wechseln, weil Cosimo, der geschworen hatte, den Tod seines Vorgängers zu rächen, ihm überall nachspüren ließ. Sein Leben war eine beständige Furcht. Unter dem Druck der ewigen Verfolgung versiegte auch sein Talent. Nur einmal raffte sein erschöpfter Geist sich noch auf, als er ungefähr ein Jahr nach der That die berühmte Schutzschrift L’apologia di Lorenzo de’ Medici verfaßte, worin er die Gründe seines Handelns verteidigt. Es ist eine Schrift von so hinreißender Beredsamkeit und messerscharfer Logik, daß man zu sagen pflegte, Lorenzino habe mit der Feder den Herzog Alessandro zum zweitenmal getötet. Sonst schrieb er im Exil nichts weiter als ein paar schwermütige Sonette, um seiner Sehnsucht nach den Ufern des Arno Ausdruck zu geben.

Schnell verwelkte sein Ruhm. Die Freunde, die ihn ihren Brutus genannt, hatten teils unter dem Beil geendet, teils schmachteten sie noch in Cosimos Kerkern, die übriggebliebenen hatten mit dem Bestehenden ihren Frieden gemacht oder lebten da und dort zerstreut in der Verborgenheit. Nur die Strozzi standen treulich zu ihm. Filippos Söhne, die ihrem liebenswürdig leichtsinnigen Vater im Leben wenig Ehrfurcht bewiesen hatten, wollten nach seinem Tode pietätvoll sein gegebenes Wort einlösen und führten Lorenzos Schwestern Maddalena und Laudamia heim. Aber der blutige Glorienschein um das Haupt des Tyrannenmörders verbleichte, die Zeit ging unerbittlich über das Geschehene hinweg. Zehn Jahre nach seiner That war er ein Vergessener.

Nur Cosimo und der Kaiser vergaßen ihn nicht. Karl verlangte Sühne für das Blut seines Schwiegersohnes, und Cosimo fand seine Rechnung dabei, dem Kaiser gefällig zu sein: zwischen ihm und Lorenzino herrschte von Jugend auf bitterer Haß, der durch den langen Erbschaftsprozeß noch verschärft worden war, und überhaupt lag es in Cosimos Interesse, in der Verwandtschaft aufzuräumen. Seine besoldeten Mörder waren dem Unglücklichen überall auf den Fersen und sogar die offiziellen Gesandtschaften hatten den Auftrag, „die Pestbeule, den Verräter Lorenzo“ aus der Welt zu schaffen.

Nach dem Tode Franz’ I war Lorenzino wieder nach Venedig zurückgekehrt, wo noch ein Häuflein florentinischer Ausgewanderter zusammenhielt. Seit Catarina de’ Medici, Alessandros Schwester, den Thron mit Heinrich II teilte, war es ihm in Frankreich nicht mehr geheuer. Die Inselstadt beschützte politische Verbrecher, und der Gondelverkehr bot ihm dort eine verhältnismäßige Sicherheit. In Venedig führte er den Namen eines Herrn Marco und wohnte mit seiner Mutter und einem mütterlichen Oheim zusammen; Piero Strozzi versah den Schwager mit Geldmitteln und hielt ihm drei Bewaffnete zur persönlichen Sicherheit.

Aber der Roman seines Lebens neigte sich zum Ende. Ob er es müde geworden war, so ängstlich auf seiner Hut zu sein, ob ihn die Länge der Zeit unvorsichtig gemacht hatte: er ging häufig zu Fuß durch die engen Gassen und ließ sich unter den Fenstern einer schönen Dame blicken, zu der er ein leidenschaftliches Verhältnis unterhielt. Und doch wußte er, daß er keinen Augenblick seines Lebens sicher war. Verdächtige Persönlichkeiten hatten sich wiederholt in seine Nähe gedrängt, einmal war sogar die Gondel, in der Lorenzino sich befinden sollte, von unbekannten Strolchen, die sich für Zollwächter ausgaben, gewaltsam angehalten und durchsucht worden. Und noch ein andres Schwert hing schreckhaft über seinem Haupt: Cosimo hatte der venetianischen Regierung einen flüchtigen Verbrecher ausgeliefert und erwartete in der Person seines geächteten Vetters das Gegengeschenk. Zu seiner Sicherheit sprengten die Freunde aus, er sei nach Frankreich zurückgekehrt, aber schon hatten zwei Glücksritter, die von Cosimo gedungen waren, seine Spur gefunden, und am 26. Februar 1547 lief er endlich in sein Verhängnis.

An diesem Morgen sahen die zwei Mordgesellen Lorenzino mit seinem Oheim in die Kirche Sän Polo, die seiner Wohnung gegenüberlag, zur Messe gehen. Sie postierten sich unter der Kirchthüre, bis die beiden heraustraten, und fielen sie auf der menschenleeren Piazza an.

Lorenzino wurde mit gespaltenem Schädel zu Boden gestreckt und sein Oheim, der ihn verteidigen wollte, gleichfalls schwer verwundet. Beim ersten Lärm flog die Mutter Lorenzinos herbei, und die unglückliche Frau kam gerade recht, den letzten Seufzer ihres sterbenden Sohnes zu empfangen. Auch der Oheim erlag seinen Wunden; es hieß, die Waffen seien vergiftet gewesen.

Lorenzinos Name schwankt auf ewig in der Geschichte zwischen Schmach und Ruhm. Vieldeutig wie sein Charakter

[449]
Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0449.jpg

Photographie im Verlage von G. Schauer in Berlin.
Heitere Jagdgeschichten.
Nach dem Gemälde von Fritz Paulsen.

[450] sind die Motive seiner That. Das eine läßt sich mit Sicherheit behaupten, daß er es mit seinen Mitbürgern ehrlich gemeint hat; der Wunsch, seine Vaterstadt zu regieren, ist nie in Lorenzinos Kopf gekommen. Ein falscher Idealismus, der sich an der Lektüre der Alten bis zum Taumel erhitzte, vermischt mit krankhaftem Nachahmungstrieb, war der erste Hebel seiner Handlungen. So gewiß ihm bei der Verstümmelung der Antiken in Rom die berühmte Hermenschändung des Alcibiades vorschwebte, so gewiß glaubte er in jener furchtbaren Dreikönigsnacht sich zum Brutus oder Timoleon seines Vaterlandes gemacht zu haben.

Ein Bänkelsängerlied, das nach seinem Tode verfaßt und über ganz Italien verbreitet wurde, schildert, wie der Verräter zuerst vergebens an die Himmelspforte klopft und dann auch vom Höllenfürsten abgewiesen wird, weil dieser fürchtet, er möchte ihn gleichfalls verraten. Daher pflegte man lange Zeit von einem, der sich zwischen zwei Stühle niedergesetzt hatte, zu sagen: es geht ihm wie Lorenzino, den weder Gott noch der Teufel wollte.

Besser als bei den Geschichtschreibern ist Lorenzinos problematische Gestalt bei den Dichtern weggekommen. Alfieri, Niccolini, Leopardi haben vielleicht mit zuviel Naivetät ihn als Freiheitsmann verherrlicht, Musset suchte dagegen die Rätsel seines Wesens zu lösen, indem er ihn zu einem Hamlettypus umschuf. Sein „Lorenzaccio“, der lange halb verschollen war, ist in vergangenem Winter durch den neu erwachten Mussetkultus in Frankreich auf die Bühne gebracht worden, und Sarah Bernhardt hatte die Laune, auf dem Théatre de la Renaissance in der Titelrolle aufzutreten.

Es sind keine authentischen Bildnisse von Lorenzino erhalten, man kennt nur eine Denkmünze, die ihn im Brutuskostüm darstellt, mit einem mächtigen Kriegerkopf, der dem persönlichen Charakter des Dargestellten nicht entsprochen haben kann. Auffallend ist die Aehnlichkeit mit der herrlichen Brutusbüste des Michelangelo, die für den Kardinal Salviati, einen der Teilnehmer an der großen Verschwörung der Ausgewanderten gegen Alessandro, gearbeitet ist – ob aber dem Künstler die Züge Lorenzinos vorschwebten, oder ob man umgekehrt das Bildnis des „toskanischen Brutus“ diesem idealen Brutuskopf anzunähern gesucht hat, läßt sich nicht entscheiden. –

Nachdem alle Hindernisse beseitigt waren, regierte Cosimo glücklich und lange. Er hatte zwar noch schwere Kämpfe gegen den tapfern Piero Strozzi zu bestehen, der an der Spitze eines französischen Heeres den Tod des Vaters und die Unterdrückung der Heimat zu rächen suchte, aber Cosimo trug den Sieg und einen Zuwachs an Macht davon.

Cosimo I war ohne Frage ein bedeutender Mensch. Vom Vater hatte er die rasche Entschlossenheit und von der Mutter das leise Zuwarten und die tiefe Berechnung geerbt. Als er in den Windeln lag, ließ Giovanni delle Bande Nere sich einmal in einer wilden Laune das Söhnchen aus einem Fenster des hohen Palastes in den Hof herabwerfen und fing es in seinen Armen auf. Man wollte daraus schließen, daß das Kind zu großen Geschicken geboren sei. Und in der That, das Glück hat mehr für Cosimo gethan als für die Genialsten seines Geschlechts. Wie es ihn durch eine ganz unerwartete Verknüpfung äußerer Umstände zum Throne führte, so blieb es ihm bei allen seinen Regententhaten treu. Nur am häuslichen Herd verließ es ihn, sein Familienleben erschütterten blutige Tragödien, über die die höfische Geschichtschreibung ihren Schleier gezogen hat. Aber es gelang ihm, seine Dynastie für Jahrhunderte zu befestigen.

Von Pius V erhielt er den Titel eines Großherzogs von Toskana und umgab sich mit Ceremonien und Etikette. Die letzten Zuckungen der Freiheit erloschen unter ihm und ein Geist des Byzantinismus griff um sich, der das ganze Leben verwandelte. Die Nachkommen der großen Florentiner haschten nach Hofämtern, Titeln und Orden; sie pflanzten zum Zeichen ihrer loyalen Gesinnung die Büsten des Herrschers über ihren Hausthüren auf. Unter diesem Eiseshauch erstarrten die letzten späten Blüten der Renaissance, die Kunst verlor ihr inneres Leben. Bandinelli und Ammanati wetteiferten, Florenz durch ihre Werke zu verunzieren; subalterne Geister, wie Vasari und Cellini, paßten sich an, aber Michelangelo blieb gegen alle Lockungen Cosimos taub und wollte erst als Leiche in seine Vaterstadt zurückkehren. Die Platonische Akademie, die noch unter Clemens einen Macchiavelli zu ihren Mitgliedern zählte, wurde eine Schule hohler Redensarten, der Herrscher führte selbst das Protektorat und lenkte jede geistige Bewegung auf seichte Spielereien ab. Er schuf das lederne Institut der Crusca,[5] das nur seiner mumienhaften Beschaffenheit das Fortbestehen durch die Jahrhunderte dankt.

Unter den Mediceern, die, welches auch ihr politisches Wirken war, doch als Menschen immer unendlich anziehend bleiben, weckt Cosimo I die wenigste Sympathie; selbst der brutale Alessandro und der unselige Lorenzino stehen unserem Anteil näher. Widerwärtig sind auch die wohlgeformten Linien seines Gesichts, denen jede Größe mangelt. Der tragische Zug, der durch die ganze Familie geht und selbst die Schlimmeren unter ihnen adelt, ist verschwunden, und durch die Aehnlichkeit mit dem ernsten, an den ersten Napoleon erinnernden Kopf seines Vaters fällt das Kleinliche in Cosimos gemachter Majestät doppelt unangenehm auf.

Unter ihm und seinen Nachfolgern vollendete sich die friedliche Entartung seines Volks, die das bewußte Ziel seiner Politik war. Ein mildes Regiment tröstete die Florentiner später für die verlorene Freiheit; ihr Wahlspruch wurde: „Essen, trinken und guter Dinge sein“, und ein glückliches Schlaraffenleben lullte alle tieferen Fähigkeiten ein. – Wer die heutigen Florentiner betrachtet, dem scheint es unfaßbar, daß sie von dem Titanengeschlecht der alten Republik abstammen sollen. Der Uebergang, an den man sich sträubt zu glauben, ist das Werk des ersten Großherzogs.



  1. Feldgeschrei der mediceischen Partei, das sich auf die Kugeln in dem Mediceerwappen bezieht.
  2. Durch die Bresche sollte ein Durchgang gelegt werden, dem der Name Chiasso del Traditore (Verrätergasse) bestimmt war. Aber diese Gasse, die in der Phantasie der Florentiner eine große Rolle spielt, hat nach den neueren Forschungen nie in Wirklichkeit bestanden, nur der Trümmerhaufe zwischen den Häuserreihen blieb als Wahrzeichen liegen. Erst 1737, also genau zweihundert Jahre nach der That, durfte an der Stelle, wo Lorenzinos Dolch den Herzog traf, wieder gebaut werden. Das Haus, das auf den Trümmern des alten Stammhauses der Medici entstand, diente später dem Tondichter Rossini als Wohnsitz.
  3. In den sechziger Jahren unsres Jahrhunderts wurde die Gruft geöffnet, wobei man die Gebeine der beiden Herzöge noch so wohl erhalten fand, daß man die Schädel in Gips abgießen konnte. Derjenige Alessandros war an den Spuren der Mordwaffen leicht zu erkennen.
  4. Bargello, das damalige Justizgebäude, jetzt Nationalmuseum.
  5. Die noch heute bestehende Gesellschaft für Reinhaltung der italienischen Sprache.


Blätter und Blüthen.


Wilibald Alexis. Der deutsche Schriftsteller, dessen hundertster Geburtstag auf den 23. Juni d. J. fiel, hat auf dem Gebiete des historischen Romans Unvergängliches geleistet. Er wuchs in einer Zeit auf, da die deutsche Lesewelt für Walter Scott und seine der schottischen Geschichte entnommenen Romane schwärmte; ihn trieb es, zum Walter Scott der an heroischen Ueberlieferungen so reichen Geschichte seiner brandenburgischen Heimat zu werden. Wilibald Alexis ist der Dichtername für Wilhelm Heinrich Häring; er stammte von französischen Protestanten ab, die nach dem Edikt von Nantes in Preußen eine neue Heimat gefunden und hier ihren Familiennamen Harenc ins Deutsche übersetzt hatten. Am 23. Juni 1798 wurde er in Breslau geboren, doch kam er bald nach Berlin, wo er das Werdersche Gymnasium besuchte. Im Alter von siebzehn Jahren machte er den Feldzug von 1813 gegen Frankreich als Freiwilliger mit. Dann studierte er die Rechte in Berlin und wurde Kammergerichtsreferendar; aber er verließ bald die juristische Laufbahn, um sich ausschließlich der schriftstellerischen Thätigkeit zu widmen. Seine ersten Romane „Walladmor“ und „Schloß Avalon“ (1823 und 1827) waren direkte Nachahmungen Walter Scotts, und er ließ sie ohne seinen Namen, nur mit der Bezeichnung „Frei nach dem Englischen des Walter Scott von W … s“ erscheinen. Das Publikum ging auf die Mystifikation ein und der ungemeine Erfolg äußerte sich auch dadurch, daß das erstere Werk ins Englische übersetzt wurde. Dann schrieb er Novellen und Reisebriefe, die sich besonders durch lebensvolle Naturschilderungen auszeichneten. Für diese wählte er das Pseudonym Wilibald Alexis, nach dem Spitznamen, den er als Student in seiner Verbindung führte, einer Ableitung vom lateinischen alex, wie die Römer eine pikante Fischspeise nannten, die für sie die Bedeutung unseres marinierten Herings hatte. Unter diesem Namen gab er dann auch seine großen vaterländischen Romane, zunächst den „Cabanis“, heraus, Werke von selbständiger Erfindung, die durch ihre poetischen Eigenschaften an Scott erinnerten, ohne bloße Nachahmungen zu sein. Wie dieser hat es Alexis verstanden, die spannenden Begebenheiten, die er schildert, in innige Beziehung zu der eigentümlichen Kultur und Landschaft des Heimatbodens zu setzen; die wenig augenfällige Schönheit der Mark, die kraftvolle Eigenart ihres Volkstums hat er in diesen Romanen dem allgemeinen Verständnis erschlossen. Die berühmtesten derselben sind „Der Roland von Berlin“ (1840), wohl der trefflichste von allen, auch von Dramatikern mehrfach ausgebeutet, „Der falsche Waldemar“ (1842), „Die Hosen des Herrn von Bredow“ (1846–48), „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ (1854), „Isegrimm“ (1854) und „Dorothee“ (1856). Sie schildern Zeiten und Stoffe, die sich später in den patriotischen Dramen Wildenbruchs wiederfanden, aber während diese mit glänzendem Erfolg über die Berliner Hofbühne gingen, wurde den Romanen von Wilibald Alexis bei aller Anerkennung der Kritik nur eine mäßige Teilnahme des Publikums zu teil: die ersten und [451] besten fielen in die vormärzliche Zeit, wo man wenig Neigung hatte, sich in die Vergangenheit zu versenken, sondern nur einer freien Zukunft begeisterte Hymnen sang. Und die beiden späteren Romane, die in der Napoleonischen Zeit spielten, appellierten an eine patriotische Begeisterung, die in der dumpfen Reaktion der fünfziger Jahre fast erloschen schien. Dabei hatte der Dichter manche Seiten, die eigentlich einem großen Publikum willkommen sein mußten: der Herausgeber des „Neuen Pitaval“ (1842–63), dieser vielgelesenen Sammlung von Kriminalgeschichten, war wohlvertraut mit der Kunst, spannend zu erzählen. Wenig Glück hatte er mit den zahlreichen Unternehmungen und finanziellen Spekulationen, mit denen sich sein unruhiger Geist beschäftigte: ein großartiges Lesekabinett, eine Verlagsbuchhandlung, auch das Bad Heringsdorf, das seinen Namen trägt und jetzt ein glänzendes Seebad geworden ist, verschafften ihm nicht die Erträgnisse, die er sich von ihnen versprach. Als er sich 1856 eben in die thüringischen Berge zurückgezogen und in Arnstadt ein Tuskulum gegründet hatte, wurde er vom Schlage gerührt und so lebte er halbgelähmt in der anmutigen thüringischen Stadt bis zu seinem Tode am 15. Dezember 1870. Der Wert seiner brandenburger Romane ist seitdem immer allgemeiner anerkannt worden. †      

Die neuen Kölner Hafen- und Werftbauten. (Mit Abbildung.) Nichts ist mehr geeignet, von der hohen Blüte Kölns und dem mächtigen kommerziellen Aufschwung dieser Stadt Zeugnis abzulegen als die neuen „Hafen- und Werftbauten“, eine Anlage, die schon durch ihre gewaltige räumliche Ausdehnung auffällt, aber auch im einzelnen eine so hohe technische Durchbildung aufzuweisen bat, daß sie unbedingt mit zu den hervorragendsten Schöpfungen moderner Wasserbaukunst gezählt werden muß. Das Werk, vor einer Reihe von Jahren mit einem Kostenaufwande von 14 Millionen Mark seitens der Stadt begonnen, ist so weit gefördert, daß es in nächster Zeit dem Verkehr übergeben werden kann; die Benutzung des neuen Hafenbassins, welches nicht hinter den größten Binnenhäfen der Neuzeit zurücksteht, ist schon jetzt eine sehr lebhafte.

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Die neuen Kölner Hafen- und Werftanlagen.
Nach einer Skizze von Herm. Siegfr. Rehm gezeichnet von R. Mahn.

Der zum Hafenbecken führende Eingang hat eine Breite von etwa 22 m, gestattet also den größten Schiffen der Rheinflotte bequem den Ein- und Auslaß. Hier, in unmittelbarer Nähe des Malakoffturmes, dessen Erhaltung wie diejenige des altersgrauen, allen Rheinfahrern wohlbekannten Bayenturmes aus vielerlei Gründen geboten erschien, begegnen wir sofort einem wichtigen Teile der Hafenanlage, der hydraulisch zu bewegenden „Drehbrücke“, welche den Zugang von der Stadt zu den Werftplätzen vermittelt. Auf letzteren erhebt sich eine Reihe großer Bauten, die auf eine weite Strecke das Stromufer einsäumen und in dem äußerst malerischen Panorama Kölns sehr lebendig zur Geltung kommen. Ein hervorragendes Interesse in dieser Bautengruppe, deren Stilformen sich der älteren Kölner Architektur ziemlich glücklich anpassen, darf das neue „Hauptzollamt“ beanspruchen, welches auf der Spitze der Rheinauhalbinsel eine ebenso zweckmäßige wie für das Auge anziehende Lage erhalten hat. Das stattliche Gebäude umfaßt die Amtsräume der Steuerverwaltung, die Dienstwohnungen des Vorstandes, eines oberen Beamten und des Pförtners. Auf unserem Bilde ist es links von der Drehbrücke, zum Teil durch den Malakoffturm verdeckt, zu sehen. Blicken wir von ihm weiter nach rechts, so sehen wir zunächst die Revisionshalle und dann mächtige „Lagergebäude“, von denen das größte mit fünf Stockwerken eine Länge von 120 m besitzt. Vor ihm stehen Zollschuppen, Maschinenräume, Werkstätten etc. Das Ladegeschäft auf den Werftplätzen wird auf maschinellem Wege betrieben, zu welchem Zwecke hydraulische, auf fahrbaren Gerüsten angebrachte Kränen aufgestellt sind. Den Abschluß der Anlagen (rechts auf unserer Ansicht) bilden das Hafenamt und hinter ihm der Bayenturm.

Die wirtschaftliche Frauenschule zu Nieder-Ofleiden in Oberhessen, von deren Gründung wir seinerzeit berichteten (Jahrg. 1897, S. 675), hat ihr erstes Arbeitsjahr vollendet und darf mit Befriedigung auf dessen Resultate blicken. In lieblicher Landschaft zwischen großen Gärten und anstoßenden Feldern erhebt sich das Schulgebäude, in welchem 24 Mädchen den vielseitigen Unterricht der Anstalt erhielten. Der praktische Teil gliedert sich in die Hauptgruppen Kochen, Hausarbeit, Wäsche, Gärtnerei, Bienen- und Geflügelzucht, jede von ihnen wird in kurzen zeitlichen Abständen stets wiederholt und gründlich von der Pike auf geübt, und der stärkende Einfluß dieser Arbeiten in guter Landluft macht sich aufs erfreulichste im Gesundheitszustand der Schülerinnen geltend. Die theoretischen Fächer gehen in wohlberechneter Weise ergänzend nebenher. Die in dem nahen Dorfe Ofleiden neu gegründeten Anstalten, Kleinkinderschule und Wirtschaftsschule für Landmädchen, führen sowohl die Zöglinge in die Wohlfahrtspflepe ein, als sie ihnen auch Gelegenheit geben, sich auf die Leitung ländlicher Haushaltschulen vorzubereiten, was bei der vielfach von den Behörden in Aussicht genommenen Gründung von solchen als sehr wichtiger Umstand zu betrachten ist. Sieben Zöglinge erhielten in der Prüfung vom 1. April 1898 das Zeugnis: „Befähigt zu leitenden Stellungen in wirtschaftlicher Frauenarbeit“ und traten teils in den Dienst des Hauses selbst, teils in auswärtige Stellungen ein.

Selbstverständlich braucht es noch größerer Teilnahme in weiten Kreisen und sehr vermehrter Geldspenden, um dieses wirtschaftlich so wertvolle Unternehmen auf feste Basis zu stellen und seine Grundzwecke:

1. Erschließung der praktischen Arbeitsgebiete für Frauen,
2. Erziehliche Einwirkung auf die ärmere ländliche Bevölkerung,
3. Belebung des allgemeinen Interesses für Wirtschaftsbetrieb und Wohlfahrtspflege auf dem Lande,

der Erfüllung näher zu bringen. In Berlin wird demnächst ein selbständiger Verein zur Gründung wirtschaftlicher Frauenschulen mit einem Jahresbeitrag von 3 Mark an ins Leben treten. Wer zum Beitritt geneigt ist, möge seine Adresse einsenden an Freifrau v. Dobeneck, Nettelbeckstraße 24, oder an Fräulein J. v. Teichmann, Ansbacherstraße 54, oder an Fräulein G. Hermes, Genthinerstr. 15.

Den Eltern im ganzen Reich aber sei es ans Herz gelegt, bei der heute mehr und mehr sich aufdrängenden Frage: „Was für einen Beruf soll unsere Tochter ergreifen?“ der praktischen Ausbildung durch die wirtschaftliche Frauenschule zu gedenken!

Anfragen und Anmeldungen sind zu richten an Fräulein v. Kortzfleisch, Hannover, Hildesheimerstraße 23, oder Freifrau Schenk zu Schweinsberg, Nieder-Ofleiden (Oberhessen).

Ostseeküste bei Groß-Dirschkeim. (Zu dem Bilde S. 421.) Das Samland im Norden Königsbergs ist nicht nur als Fundort des Bernsteins, sondern auch durch seine landschaftlichen Reize berühmt. Das Hügelland zeichnet sich durch Fruchtbarkeit aus, bietet herrliche Waldungen; seine Küste fällt vielfach schroff zum Meere ab und bildet dabei malerische Schluchten. Die Glanzpunkte, welche Sommerfrischler und Touristen anlocken, sind das Seebad Cranz, Rauschen und der königliche Forst Warnicken. In dieser Gegend liegt auch das Gut Groß-Dirschkeim, in dessen Nähe die Küste zerklüftet und überaus malerisch gestaltet ist. Gleich Burghügeln ragen hier die von Wetter und Wogenschlag zernagten Felsen am Strande empor. Hellrot leuchtet der Eisenocker auf ihren schroffen Wänden im Lichte der Tagessonne, und wunderbar wird das Farbenspiel, wenn die Abenddämmerung Land und Meer in schimmernde Farben taucht oder der Vollmond die Küste mit silbernem Glänze verklärt. Wanderungen durch diese Gebiete, bald durch rauschende Wälder, bald durch die stille Heide, an verlassenen Bernsteingruben oder klaren Bächen vorbei, zählen zu den eigenartigsten Genüssen, die uns Norddeutschland zu bieten vermag. *      

Ein Schwerenöter. (Zu dem Bilde S. 441.) Spaß gesagt und Ernst gemeint? . . Soll sie’s glauben oder nicht, die hübsche blonde Wirtstochter, bei welcher der junge Stadtschreiber ein halbes Stündchen zu verplaudern liebt, während er sich mit einem Imbiß und einer [452] Kanne Wein für die bevorstehende lange Sitzung stärkt? Nicht glauben scheint rätlicher – sie sieht auch gerade so aus, als wüßte sie genau, was das für ein leichtfertiger, verliebter, flatterhafter Herr ist, aber sie hört seine Reden doch an und hält bei ihrer Arbeit inne, um eine lachende Antwort zu geben, gerade so herausfordernd listig, wie seine kecken Anspielungen sie verdienen. Feuer legen, daß ein Brand entsteht – Gott bewahre, daran denken sie beide nicht! Aber so ein bißchen mit dem Feuer spielen, das hat, meinen sie, nichts auf sich und sorglos schlagen sie die Mahnung des altbewährten Warnspruchs „Spielt nicht mit dem Feuer!“ in den Wind.

Therese Malten. (Mit Bildnis.) Am 15. Juni feierte Therese Malten, eine der hervorragendsten dramatischen Sängerinnen der Gegenwart, ihr 25jähriges Bühnenjubiläum, das vor allem an der Königlichen Hofoper in Dresden festlich begangen wurde. Therese Malten ist in Insterburg in Ostpreußen als Tochter eines preußischen Militärbeamten am 21. Juni 1855 geboren. Schon früh zeigte sich ihre musikalische Begabung: sie sang schon im vierten Jahre ihrer Mutter Arien und Lieder nach und machte im Klavierspiel, das sie bald darauf erlernte, so glänzende Fortschritte, daß man geneigt war, sie zu den Wunderkindern zu zählen.

Therese Malten als Isolde.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph W. Höffert in Dresden.

Ihre Eltern waren nach Berlin übergesiedelt; ein tüchtiger Opernsänger, Anton Woworsky, erkannte das vielversprechende Talent des Mädchens und riet, sie zur Sängerin ausbilden zu lassen. Professor Gustav Engel erteilte ihr Gesangsunterricht und der Hofschauspieler Kahle, ein Jünger Heinrich Laubes, war ihr Lehrmeister in der dramatischen Kunst. In ihrem achtzehnten Lebensjahre trat sie zuerst am Dresdener Hoftheater als Pamina in der „Zauberflöte“ auf; nach ebenso erfolgreichen Leistungen als Elsa in „Lohengrin“ und Agathe im „Freischütz“ wurde sie an dies hervorragende Kunstinstitut, dem sie noch heute angehört, fest engagiert. 1880 ward sie zur Kammersängerin ernannt; 188l sang sie an der Deutschen Oper in London den Fidelio und einige Wagnersche Rollen. Sonst ist sie nicht übers Meer gegangen, wie sie sich überhaupt von dem geschäftsmäßigen Herumgastieren fern gehalten hat. Nur eine zweite künstlerische Heimat hat sie gefunden: Bayreuth. Richard Wagner hatte sie im Jahre 1881 in Dresden singen hören und sogleich erkannt, daß sie eine künstlerische Kraft ersten Ranges für die großen Aufgaben siner Musikdramen sei. Er forderte sie sofort auf, im nächsten Sommer in Bayreuth die Kundry im „Parsifal“ zu siugen; sie kam dieser Einladung nach und schuf in dieser Kundry eine von genialer Inspiration zeugende dämonische Gestalt, welche den Dichterkomponisten selbst wie alle Hörer zur Begeisterung hinriß. Seitdem hat Richard Wagner in ihr die berufenste Trägerin seiner weiblichen Heldengestalten gesehen. Von gleich mächtiger Wirkung wie als Kundry ist sie als Brünhilde sowie als Isolde, in welch letzterer Rolle sie das obenstehende Bildnis darstellt. Aber auch die jugendlich dramatischen Partien der Wagnerschen Opern, eine Senta, Elisabeth, Eva, gehören zu ihren Musterleistungen. Mit dem Dichterkomponisten selbst blieb sie, solange er lebte, in brieflichem Verkehr, und er machte kein Hehl aus seiner Bewunderung für ihre Kunst. Außerdem zählen zu ihren Hauptrollen Fidelio, Rezia, Margarethe, Armida und Viviana in Goldmarks „Merlin“. Ihre Stimme ist gleich mächtig in der Höhe und Tiefe, ausgeglichen in allen Registern; vor allem aber sind Spiel und Gesang bei ihr zu künstlerischer Einheit verbunden und so entspricht sie dem Ideal der Wagnerschen Kunstanschauung. †      

Das Opfer. (Zu dem Bilde S. 425.) Kein Land der Erde bietet so merkwürdige Erscheinungen auf dem Gebiete des Religionswesens wie das märchenhafte Indien. Hier haben die Arier die milden Lehren von Brahma und Buddha ausgebildet, bis hierher drang der Islam erobernd vor, und bei zahlreichen Volksstämmen erhielt sich als ein Ueberrest der Religion der Naturvölker ein finsterer Dämonenkultus. Kein Wunder, daß in diesem so dichtbevölkerten Lande unter diesen Umständen eine Menge von Sekten entstand, in welchen die wunderbarsten Bräuche herrschen. Die Arier hatten schon frühzeitig in ihrer Götterverehrung auf das blutige Opfer verzichtet. An Stelle der Rosse, Kühe, Ziegen und der Tiere des Waldes traten bei den Brahmanen und Buddhisten mildere Opfergaben, die in Feldfrüchten und Blumen bestehen. Aber hier und dort haben sich dennoch Gewohnheiten aus barbarischer Vorzeit erhalten. So verehrt man z. B. in Bengalen und Südindien die Göttin Parvati durch einen blutdürstigen Dienst. Sie wird in den Tempeln bald in abscheulicher Gestalt, bald in anmutigeren Formen dargestellt, und in vielen Gegenden gilt sie als die Göttin der pestartigen Krankheiten. Zu ihrer Sühnung sind blutige Opfer nötig, und von ihr wird in alten Büchern berichtet, das Opfer eines Menschen oder eines Raubtieres besänftige sie für tausend Jahre. An solche Ueberlieferungen hat R. Ernst gedacht, als er sein stimmungsvolles Bild schuf, das wir heute im Holzschnitt wiedergeben. Die Leute, die hier in dem geheimnisvollen Tempel ihr Opfer darbringen, huldigen noch zum Teil dem Dämonenglauben und meinen, daß in dem Tiger Dämonen stecken oder böse Menschen die Tigergestalt annehmen. So gewinnt ihr Opfer noch eine tiefere Bedeutung. Neben dem Weihrauchbecken kniet der Priester, durch dessen Gebete das Opfer erst die volle Wirkung erreicht. Dem Künstler ist es trefflich gelungen, die Gegensätze, die in den Glaubensbekenntnissen der Indier so häufig verborgen sind, zum Ausdruck zu bringen. Neben dem Buche mit den heiligen milden Lehren, neben duftigen Blumengaben und dem inbrünstig betenden Priester gemahnt die Schar der Männer, die das wilde Tier des Waldes in die stille Tempelhalle tragen, an die Thatsache, daß hier Millionen von Menschen noch in den Banden des tiefsten Aberglaubens seufzen. *      

Wasserpartie (Zu dem Bilde S. 429.) Was kann es Lustigeres geben als eine Kahnfahrt am hellen Sommertag zwischen grünen Ufern, während droben im Himmelsblau die weißen Wölkchen ziehen! Sonnenschein ringsum, Sonnenschein auch auf den Gesichtern der jungen Mädchen, die sich des Kahnes bemächtigt haben und ohne männlichen Schutz auf gut Glück den See befahren wollen. Weit entfernt kann aber dieser Schutz doch nicht sein, das sieht man an dem schelmischen Lachen des ruderführenden hübschen Kobolds, der scheinbaren Entrüstung der geneckten Freundin am anderen Ende und dem lächelnden, fragend verheißungsvollen Blick der aufrecht stehenden Schönen, die sich über beide hinweg nach dem Ufer zurückwendet. Noch sind sie ihm nahe genug – ein kühner Sprung und dem Boot wird der Steuermann nicht fehlen! Ob das ganz ohne Protest der weiblichen Besatzung geschehen wird, scheint freilich zweifelhaft, aber so viel dürfte gewiß sein, daß das Schifflein schließlich unter verdoppelter Lustigkeit dahinfliegen und erst nach einer gründlichen Erforschung des ganzen hübschen Sees wieder zum Lande lenken wird!

Heitere Jagdgeschichten. (Zu dem Bilde S. 449.) Eine gutgelaunte Jägerschar ist es, die nach beendeter Jagd unterwegs Rast hält und die Zeit durch lustige Unterhaltung sich verkürzt. Heute hat sie einen Neuling in ihrer Mitte, den behäbigen starken Herrn, der auf der niedrigen Bank sitzt und dem Beschauer den Rücken zukehrt. Er ist ein Liebhaber, jedoch kein Kenner des edlen Weidwerks und wird darum von den Fachleuten ein wenig gefoppt. Sein Gegenüber, der lustige Rat der Gesellschaft, giebt gerade ein Jagderlebnis zum besten. Was er da vorträgt, ist das beste Jägerlatein, das aber der behäbige Herr für bare Münze nimmt. Die Jäger merken den Scherz, und ihre Augen heften sich auf den Laien, und je unglaublichere Dinge der Erzähler vorbringt, desto mehr Freude spüren sie an dem gläubigen Neuling. Das Spiel wird fortgesetzt: der ersten Geschichte werden andere noch unglaublichere folgen, bis dem Gefoppten die Augen aufgehen und unter fröhlichem Lachen der Aufbruch erfolgt. *      

Koloriertes Schmecken. Als „synoptische Symptome“ hat Lombroso Erscheinungen bezeichnet, die nach seinen Untersuchungen bei einer großen Anzahl von Menschen auftreten. Es ist dies die Eigenschaft, beim Hören eines bestimmten Tones zugleich eine bestimmte Farbe zu sehen, mit andern Worten: koloriert zu hören. Diesen Zusammenhang giebt es aber nicht allein zwischen Gehör- und Gesichtsempfindungen, sondern, nach einer Veröffentlichung in einer Wiener wissenschaftlichen Zeitschrift zu schließen, auch zwischen Geschmacksempfindung einer- und Gesichtsempfindung anderseits. Die Person, von der in dem betreffenden Aufsatz die Rede ist, sieht beim Schmecken einer sauren Substanz eine blaue Farbe, eine rote oder gelbe dagegen beim Schmecken von etwas Bitterem. Kommen ihr dagegen die betreffenden Farben zu Gesicht, so hat sie regelmäßig die entsprechenden Geschmacksempfindungen. Folgerichtig muß man diese Erscheinung als koloriertes Schmecken bezeichnen. Vielleicht ist auch sie, gleich dem kolorierten Hören, weiter verbreitet und es bedarf nur näherer Beobachtuugen, um das festzustellen.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Allerlei Winke für jung und alt.



Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0452 a 1.jpg

Staubtuchtasche aus Hobelspänen.

Staubtuchtasche aus Hobelspänen. Man besorgt sich bei einem Tischler etliche breite Hobelspäne, legt diese einige Zeit in kochendes Wasser, um sie glatt und geschmeidig zu machen, und schneidet sich hiernach so viele spitzgeformte größere und kleinere Teile daraus, als man zum Besetzen einer runden Pappscheibe gebraucht, in deren Mitte man nach Art unserer Abbildung eine auf eine zweite, halb so kleine Pappscheibe gespannte feste Tasche aus Tuch aufklebt oder aufnagelt. Hiernach gruppiert man recht gefällig die aus dem Hobelspan geschnittenen Teile rund herum und verziert jeden einzelnen mit ein paar Blümchen in Malerei oder Brandarbeit. Auf die Tasche näht man ein Zweiglein, das ebenfalls aus Hobelspänen zugeschnitten ist. Kann man Späne von verschiedenen Farben oder doch von verschiedenen Hölzern bekommen, so sieht die Arbeit noch schöner aus.

Rokokodeckchen. Verschlungene Schleifen bilden den Rand der kleinen Decke; sie sind mit hellgrünem Heliosgarn in unregelmäßigem Languettenstich gearbeitet und werden, nachdem man einen Fond von Filetguipure oder Tüll gearbeitet hat, demselben ringsherum sauber aufgenäht. S.     

Helle Herrenkrawatten zu reinigen. Mit den hellen Frühlings- und Sommertagen erwacht auch im Menschen das Verlangen, sich durch die Farben seiner Kleidung der Jahreszeit anzupassen, und selbst unsere Herren, die sonst nur dunkelfarbige Sachen tragen, greifen jetzt wenigstens zu hellen Waschwesten und lichten Krawatten. Das Waschen der hellen Westen ist zwar etwas zeitraubend, aber weiter nicht mühsam; anders verhält es sich mit den hellen Seidenkrawatten, deren Reinigung meist nicht gelingt, so daß man sie deshalb den chemischen Waschanstalten anvertraut und manche Mark dafür opfert. Nach folgender Methode wird auch unerfahrenen jungen Hausmüttern das Reinigen gelingen. Hat man lange Krawatten, so löst man etwas Gallseife in lauem Wasser auf, zertrennt die Krawatte, legt die schmutzige Seite des Seidenstoffes auf ein reines Tuch und bürstet mit einer weichen Bürste die Seide von links nach rechts mit dem Seifenwasser gut ab. In reinem Seifenwasser, dann in reinem lauen Wasser wird die Seide aus- und nachgespült, ohne Winden und Drücken herausgenommen, glatt gezogen und in ein trockenes Tuch gelegt. Man läßt den Stoff nur etwas abtrocknen, plättet ihn auf der linken Seite, heftet ihn auf die alte Unterlage und näht ihn mit losen Stichen fest. – Die kleinen Schleifenkrawatten lassen sich noch einfacher reinigen: sie werden mit reinem, in Benzin getauchtem Watteflausch tüchtig Streifen für Streifen abgerieben, wobei man unter die zu reinigende Stelle ein kleines reines Leinentuch legt. Das Abreiben mit oft erneutem reinen Watteflausch muß meist zwei- bis dreimal wiederholt werden. H.     

Ersatz für seidene Schnürbänder. Wie wenig haltbar die seidenen Schnürbänder der kurzen wie halbhohen Schnürstiefel sind, davon weiß man besonders auf Reisen ein Klagelied zu singen. Und wie schwer ist es dann oft, überhaupt in kleinen Orten, Ersatz in passender Farbe zu bekommen. Wollene Schnürbänder indes, die meist überall käuflich sind, lösen sich infolge ihrer Sperrigkeit trotz Sicherheitsvorrichtungen sehr leicht und können dadurch recht unliebsamen Aufenthalt hervorrufen. Sehr praktisch ist dagegen seidenes, etwa 6 mm breites schwarzes oder braunes Gummiband. Man zieht es wie gewöhnlich durch die Schnürlöcher, näht es oben an den Enden zusammen und setzt kleine seidene Bandschleifen darauf. Gummischnürbänder lösen sich niemals auf, sind angenehm dehnbar und halten ausgezeichnet. L.     

Wandbehälter für Briefe. Die Rückwand des hier abgebildeten Behälters schneidet man in gefälligen Formen aus starker Pappe zu und überdeckt sie mit einem dunklen Sammet- oder Friesstoff, der an den Konturen mit einer golddurchwirkten Schnur abgeschlossen wird. Die eigentlichen Behälter bilden drei in gleicher Art und Farbe überzogene Pappestücke, welche taschenartig an ihrer Unterseite fest anzuheften sind und durch seitlich angebrachte, mit Pompons verzierte Schnuren am Herabfallen verhindert werden. Vor der Befestigung der Taschen malt man mit in Siccativöl recht feucht angerührten Bronzen in verschiedenen Farben einige leichte Blumenzweige auf.

Was beginnt man mit verblaßtem Kattun? Es ist mit nichten alles echt in der Wäsche, was als echt verkauft wird; diese Erfahrung macht manche Hausfrau zu ihrem bitteren Leidwesen, wenn der Herzblättchen zartfarbige Sommerkleider nach der Wäsche ein gar trübselig mißfarbenes Aussehen zeigen. Sind die Sachen noch neu, so ist es am besten, daß man sie einfach mit Soda gut kocht und dann in der Sonne bleicht, man erhält dann weiße Kleidchen oder Schürzen, die man leicht mit farbigen Schleifen oder einer bunten Seidenschärpe aufputzen kann, so daß diese Dinge sehr hübsch aussehen. Handelt es sich um ältere Kleider oder auch um verblaßte Kattungardinen, so kann man diese nach dem Kochen und Bleichen noch zu weißen Röckchen oder zu Höschen verwenden, sie auch als Futter zu Sommerkleidern benutzen. Sollten durch das Kochen und Bleichen einzelne Farben, die widerstandsfähiger und daher waschechter sind, nicht völlig verschwunden sein, so kann man diese entfernen, wenn man das Zeug ganz rasch durch eine Chlorlösung zieht, dann sofort gut ausspült und in die Sonne hängt. L.     


Hauswirtschaftliches.


Hübsches Sommergemüsegericht. Für die Sonntagsmittagstafel oder bei Gelegenheit eines lieben Besuches bietet die nachfolgende allerliebst ausschauende und trefflich mundende Gemüseschüssel der Hausfrau Gelegenheit, Beifall und Anerkennung für ihre Kochkunst zu ernten. Man braucht einen großen Kopf Blumenkohl, dreißig junge geschnittene Bohnen. 30 Stück junge unzerteilte gereinigte Karotten, einen Teller voll junger Erbsen und 175 g Maccaroni. Jedes dieser Gemüse wird für sich weich gekocht und dann wie folgt angerichtet: Der Blumenkohl muß ganz bleiben, wird mit gerösteter Semmel und etwas Parmesankäse bestreut, mit Krebs- oder Sahnenbutter beträufelt und dann in die Mitte einer Schüssel gestellt. Von den Karotten, die nicht zu weich gekocht sein dürfen, schneidet man die dicken Enden ab, höhlt diese vorsichtig zu dünnen Hüllen aus und füllt sie mit den in etwas Butter geschwenkten Erbsen. Die Schnittbohnen werden in wenig Bouillon aus Liebigs Fleischextrakt mit Butter und Petersilie geschwenkt, und die weichen Maccaroni mit Butter, Muskatnuß und geriebenem Parmesankäse heiß gerührt. Die Schnittbohnen legt man als Kranz um den Blumenkohl, stellt um diese die gefüllten Karotten und legt als Abschluß die Maccaroni um das Ganze. Gebackener Schinken, Rippchen oder Röstschnitten von Rindslende giebt man auf einer Schüssel für sich zu dem Gemüsegericht. L.     

Gute Kirschenspeise. Zur Kirschenzeit, wo die Kirschen recht billig sind, giebt die folgende Kirschenspeise in Verbindung mit einer Suppe von jungen Erbsen, in die man Schwamm- und Fleischklößchen und einige Rauchwurstscheiben legt, ein sättigendes Mittagsmahl. Man rührt 40 g Butter schaumig, giebt 50 g Zucker und vier Eigelb allmählich dazu und rührt dann 185 g Mehl und 1/2 l Milch langsam darunter. Man mengt jetzt den festen Eiweißschnee und 1/2 kg ausgekernte, vorher eine Stunde gut eingezuckerte dunkle Kirschen unter die Masse, thut sie in eine glatte, gut ausgebutterte Porzellanform aus feuerfestem Material und bäckt die Speise knapp eine Stunde. Man muß den Auflauf sofort auftragen, wenn er fertig ist, da er sonst fällt.

Frische Erdbeeren einige Tage zu erhalten. Keine Frucht ist wohl so dem Verderben ausgesetzt wie die Erdbeere; wenden wir keine besonderen Vorsichtsmaßregeln an, so halten sich die frischen Früchte kaum einen Tag, ohne zu faulen oder weich und unansehnlich zu werden. Wenn die Erdbeeren schon etwas feucht sind, soll man es überhaupt nicht versuchen, sie mehrere Tage aufzubewahren, nur bei ganz trockenen Früchten lohnt es sich. Diese legt man nebeneinander in nicht zu dicht geflochtene Weidenkörbe, auch wohl auf große grobe Siebe und deckt sie mit frischgepflückten Weinblättern gut zu. Man stellt die Erdbeeren an einem möglichst kühlen Ort über einen Kübel mit kaltem Salzwasser, das man abends und morgens erneuern muß. Auf diese Weise bewahren die Erdbeeren drei bis vier Tage völlig Frische und Aroma. He.     
Blindgewordenen, lackierten Möbeln kann man selbst in sehr feuchten Wohnungen zu dauerndem Glanz verhelfen, wenn man sie nach Abwaschen mit Seifenwasser (zwecks einfacher Reinigung) und gehörigem Abtrocknen mittels eines wollenen Läppchens mit einer Masse einreibt, die zu gleichen Teilen aus Spicköl und weißem Wachs besteht. Man zerbröckelt das Wachs, thut es in das Spicköl und erwärmt vorsichtig beides bis zur Auflösung des Wachses. Das Auftragen der Masse darf nicht zu dick geschehen und ist letztere nach etwa einer halben Stunde mit einem Leinentuch blank zu reiben. Die Möbel werden nun tadellos neu aussehen.

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Allerlei Kurzweil.


Auszählrätsel „Die Tropfen“.
Von Al. Weixelbaum.

Rösselsprung.
Von Oscar Leede.


Skataufgabe. Von K. Buhle.

Es wird bei einem Bierskat Zwangsramsch gespielt und Hinterhand hat folgende Karten:

(tr.As) (tr.Z.) (tr.7.) (c.Z.) (c.K.) (c.9.) (c.7.) (p.8.)

außerdem noch zwei grüne (p.) Blätter, in ihren zehn Karten aber ebensoviel Augen wie Mittelhand. Den Ramsch fängt aber die Vorhand mit zwei Jungfern, indem sie alle Stiche nehmen muß, obwohl sie nur 14 Augen in ihren zehn Karten hat.

Welche zwei Blätter hat Hinterhand noch bekommen und wie sind die übrigen Karten verteilt?


Scherzrätsel.

Ich weiß ein Land, da wächst noch mancher Zopf;
Setz nur zur Mitte hin noch Fuß und Kopf!  E. S.


Rätsel.

Er – sind zu suchen, wo im Leben
Des Todes Sense niedermäht;
Sie – hat die Acht stets im Gefolge
Und wird als böse viel geschmäht.

Auflösung des Logogriphs auf dem Umschlag von Halbheft 13.

 Held, hold, Huld.


Auflösung des Silbenrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 13.

Semiramis. – 1. Pensa, Sago; 2. Geier, Erwin; 3. Lima, Major; 4. Nain, Ingo; 5. Hera, Rabe; 6. Noah, Ahle; 7. Colmar, Martin; 8. Kain, Inster; 9. Hase, Severn.


Auflösung des Bilderrätsels „Künstlerwappen“ auf dem Umschlag von Halbheft 13.

Den Namen der in den Schildchen befindlichen Figuren in der Reihenfolge, von unten beginnend links herum, entnimmt man stets den so und sovielteu Buchstaben, als die Zahl der Perlen im Schilde anzeigt. Zum Beispiel Berg = 2 Perlen = e, Ziege = 4 Perlen = g u. s. f. Die so gefundenen Buchstaben geben der Reihe nach den Namen:
Defregger“.


Auflösung der Entzifferungsaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 13.

Mit dem Klagen, mit dem Zagen,

Wie verdirbst du’s, ach, so oft!

Lerne Trübes heiter tragen,

Und dein Glück kommt unverhofft.

 E. Geibel.


Auflösung der Damespielaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 13.

1. e 3 – f 4   g 5 – e 3 +

2. D e 1 – g 3   h 4 – f 2 +

3. c 1 – b 2   D a 1 – c 3 +

4. D f 8 – e 7   d 6 – f 8 +

5. D b 8 – e 7! + + + + f 8 – d 6 +

6. g 1 – a 7 + + + und gewinnt.



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Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.