Die Gartenlaube (1898)/Heft 17

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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17. Heft.   Preis 10 cents.   17. August 1898.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0516.jpg

Max Well & Co., cor. 12th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

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Inhalt.
Seite
Schloß Josephsthal. Roman von Marie Bernhard (2. Fortsetzung) 517
Die Vierlande. Von O. Schwindrazheim. Mit Illustrationen von H. Haase 528
Flügellahm. Erzählung von Hans Arnold (Anfang) 532
Oberschlesische Zustände im Jahre 1848. Ein Erinnerungsblatt von Max Ring 540

Blätter und Blüten: Eine Erinnerung an Emil Rittershaus. S. 544. – Das Jubiläum des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Von Heinrich Heß. S. 546. – Das Stauffacherin-Denkmal für Steinen. (Mit Bild S. 517.) S. 546. – Karl der Kühne in der Schlacht bei Nancy. (Zu dem Bilde S. 520 und 521.) S. 546. – Ländliche Kunstbetrachtung. (Zu dem Bilde S. 525.) S. 546. – Deutschlands merkwürdige Bäume: die Zwerg- oder Krüppelbuche bei Königslutter. Von Bode. (Mit Abbildung.) S. 547. – An dem „Thore des verlorenen Sohnes“ der Kathedrale in Toledo. (Zu dem Bilde S. 533.) S. 547. – Phyllis. (Zu dem Bilde S. 537.) S. 547. – Auf der Terrasse der Ebernburg. (Zu dem Bilde S. 541.) S. 547. – Das Friedrich Hofmann-Denkmal in Ilmenau. (Mit Abbildung.) S. 548. – Urwaldspuk. (Zu dem Bilde S. 545.) S. 548. – Petrarca und Laura. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 548.

Kleiner Briefkasten: S. 548.

Illustrationen: Der Entwurf des Stauffacherin-Denkmals für Steinen. Von Max Leu. S. 517. – Karls des Kühnen Flucht in der Schlacht bei Nancy. Von G. A. Cloß. S. 520 und 521. – Ländliche Kunstbetrachtung. Von C. Pattein. S. 525. – Abbildungen zu dem Artikel „Die Vierlande“. Von H. Haase. Bauernhaus. Beim Sortieren der Maiblumenkeime. S. 528. Geschirrtrockenständer. Die Diele. S. 529. Die „Stuv“. Inneres der Kirche in Altengamme. S. 530. Vierländerinnen im Sonn- und Festtagsgewand. Bauern im Alltags- und im Sonntagsgewand. S. 53l. – An dem „Thore des verlorenen Sohnes“ der Kathedrale in Toledo. Von R. de Madrazo. S. 533. – Phyllis. Von Heinr. Lossow. S. 537. – Auf der Terrasse der Ebernburg. Von E. Geibel. S. 541. – Urwaldspuk. Von A. Schmidhammer. S. 545. – Deutschlands merkwürdige Bäume: die Zwerg- oder Krüppelbuche bei Königslutter. Von Max Burchard. S. 547. – Das Friedrich Hofmann-Denkmal in Ilmenau. S. 548.

Hierzu die außerordentliche Beilage „Fürst Bismarck †“
und Kunstbeilage XVII: „Petrarca und Laura“. Von J. Flour.




Kleine Mitteilungen.


Friedrich Hebbel-Stiftung in Kiel. Vor einigen Jahren hat die hochbetagte Witwe des Dichters Friedrich Hebbel, der 1863 in Wien verstarb, den Grundstock zu einer Stiftung gelegt, deren Ertrag unbemittelten Künstlern, in erster Linie jungen Dichtern aus Schleswig-Holstein, der Heimat Hebbels, zu gute kommen soll. Hebbel, der als Sohn unbemittelter Bauersleute in tiefster Armut zu Wesselburen in Dithmarschen aufwuchs und als Schreiber beim Kirchspielvogt ein karges Brot fand, hatte, als sein Genius die Schwingen zu regen begann, es nur einer günstigen Fügung des Schicksals zu danken, daß sein Talent im Kampfe mit Not und Sorgen der Nation nicht verloren ging. Es ist aus seiner Biographie bekannt, wie nur die Teilnahme, welche einige seiner Gedichte in einem Kreise von Hamburger Kunstfreunden weckten, ihm die Mittel bot, nachträglich noch zu studieren und jene hohe Bildung zu erwerben, welche seine Dramen durchleuchtet. Erst spät, nach seiner Verheiratung mit der Wiener Schauspielerin Christine Enghaus, fand er die Muße zu einem sorglosen Schaffen. Die Hebbel-Stiftung hat den Zweck, aufstrebenden Talenten, die in ähnlicher Weise zu kämpfen haben, diesen Kampf zu erleichtern und die Wege zu günstigen Daseinsbedingungen zu ebnen. Sie hat ihren Sitz in Kiel und ihre Statuten bestimmen, daß die Verwendung der Zinsen erst dann beginnen darf, wenn das Kapital eine Höhe von 30000 Mark erreicht hat.

Der Vorstand der Stiftung hat jetzt einen Aufruf erlassen in der Hoffnung, daß es recht bald gelingen werde, durch freiwillige Beiträge das Kapital auf die genannte Höhe zu bringen. Erster Vorsitzender ist Klaus Groth. Wir unterstützen den Aufruf aufs wärmste. Die Kieler Bank, bei welcher das Vermögen der Stiftung ruht, ist ermächtigt, die erbetenen Beiträge entgegenzunehmen.

Ein Handbuch der Federviehzucht. Seit Jahren hat die Statistik nachgewiesen, daß Deutschland alljährlich große Summen für die Erzeugnisse der Geflügelzucht an das Ausland zahlen muß. In der letzten Zeit haben dieselben die drückende Höhe von rund 90 Millionen Mark jährlich erreicht! Wir zahlen also dem Ausland für Eier, Geflügel und Bettfedern annähernd ebensoviel wie für den Roggen, den wir einführen müssen, um unseren Brotbedarf zu decken. Man hat behauptet, daß Deutschland mit anderen Ländern schwerlich auf diesem Gebiet wetteifern könne, weil unser Klima nicht so günstig sei wie zum Beispiel das von Frankreich oder Italien. Dieser Einwand trifft nicht zu. Dänemark ist in dieser Hinsicht nicht besser gestellt als wir, und doch hat dort durch zielbewußtes Vorgehen die Geflügelzucht in kurzer Zeit einen raschen Aufschwung genommen. Im Jahre 1870 betrug die dänische Ausfuhr nur 11/8 Millionen Eier, aber von da an stieg sie stetig, betrug nach zehn Jahren rund 40 Millionen Eier, und heute hat das kleine Dänemark von seiner Eierausfuhr eine Einnahme von 3 Millionen Mark.

Wir sollten darum die Hände nicht in den Schoß legen, sondern eifrig für die Hebung unserer Federviehzucht sorgen, dem Hühnerhof in unserer Wirtschaft einen weiteren und wichtigeren Platz einräumen. Hier und dort hat man sich bereits aufgerafft und auch, wie zum Beispiel in Baden, gute Erfolge erzielt.

Die wirtschaftliche Geflügelzucht ist allerdings nicht so leicht und einfach, wie man oft zu glauben pflegt. Nur derjenige kann auf dem Markte sich behaupten, der die guten Erfahrungen seiner Vorgänger und Nebenbuhler kennt und sie auch zu verwerten versteht. Auch in der Wahl des Zieles muß eine weise, den Kräften des Züchters angemessene Beschränkung getroffen werden. Wer genügende Mittel zur Verfügung hat, kann zum Beispiel in Bezug auf die Hühner die Zucht im großen betreiben, sich zugleich mit Eierproduktion, Brut, Aufzucht und Mast befassen; wessen Mittel geringer sind, sollte sich die Grenzen enger ziehen. Er wird gut thun, je nach Neigung und vorhandenem Absatz nur einen Teil der Zucht zu betreiben, sich entweder der Eierproduktion, der Aufzucht oder der Mast zu widmen.

Wir werden von Zeit zu Zeit den Besitzern kleinerer und kleinster Wirtschaften praktische Winke für ihren Hühnerhof geben; heute aber möchten wir alle, die ihren Geflügelhof heben wollen, auf ein treffliches Buch aufmerksam machen, das ihnen bei ihrer Arbeit die besten Dienste erweisen wird. Vor etwa 20 Jahren hat der berühmte Kenner des Geflügels Dr. A. E. Baldamus ein „Illustriertes Handbuch der Federviehzucht“ herausgegeben, das allgemeinen Beifall fand und von dessen erstem Teil eine zweite Auflage nötig wurde. Nach dem vor einigen Jahren erfolgten Tode des Verfassers stellte sich die Notwendigkeit heraus, das Buch mit den neuesten Errungenschaften der Federviehzucht in Einklang zu bringen. Der Verlagsbuchhandlung von G. Schönfeld in Dresden ist es gelungen, für diesen Zweck einen der tüchtigsten Fachleute, Otto Grünhaldt, zu gewinnen. Derselbe hat das Werk vollständig umgearbeitet und umgestaltet und darin klar und anschaulich die Federviehzucht als Wirtschaftszweig und als Liebhaberei geschildert. Der erste Band des reich illustrierten Werkes behandelt die Hühnervögel, während der zweite sich mit den Tauben und dem Wassergeflügel befaßt.

Tischläufer aus frischen Blumen. Im Sommer und Vorherbst ist zum Schmucke der Tafel nichts hübscher als ein Tischläufer aus frischen Blumen, welcher die Stelle eines gestickten Läufers einnimmt. Die Kinder Floras sind ja in diesen Jahreszeiten so billig zu kaufen, vielfach sogar können wir sie selbst in Wald und Flur pflücken, daß der Kostenpunkt dieses Blumentischläufers nicht allzusehr ins Gewicht fällt. Damit das Tafeltuch nicht leidet und nach dem Mahl die fatalsten Farbflecke zeigt, breitet man ein derbes Küchenhandtuch in der Mitte des Tisches aus oder legt, soll die Mitte der Tafel eine große Fruchtschale tragen, zwei kleinere Tücher auf beide Enden des Tisches. Diese Tücher werden dicht mit einer Lage frischen, gut angefeuchteten Mooses bedeckt, in dem man die Blumen, deren Stiele gleich lang sein müssen, nach Form und Farbe zu einem hübschen Muster ordnet. Rings um den Rand des Moosteppichs steckt man, um diesen zu verbergen, zierliche gefiederte Blätter, wie Frauenhaar zum Beispiel, welches einen graziösen und anmutigen Abschluß bildet. Die Blüten muß man möglichst spät auf dem Moosbett arrangieren, damit sie bei der Mahlzeit völlig frisch sind; gut thut man, wenn man den ganzen Blumenläufer, bevor zu Tisch gegangen wird, mit einem Zerstäuber leicht überspritzt. Die Fruchtschale in der Mitte des Tisches, auch die im Sommer so beliebte, später aufgetragene Bowle sollte man mit einem Blumengewinde umgeben. H.     

Auffrischen von Krepp. Nichts ist gegen einen plötzlichen Gewitterschauer empfindlicher als alle Kreppsachen, ob es sich nun um Hut- oder Kleidergarnitur handelt: nach solchem Regenguß ist beides verdorben. Nur bei einer sachgemäßen Behandlung gelingt das Auffrischen von Kreppsachen. Die folgende wird in Fachkreisen angewendet. Man setzt auf gutes Feuer einen Waschkessel, zu zwei Dritteln mit Wasser gefüllt, und bringt es ins Kochen, worauf man für 10 Pfennige Gummiarabikum hineinwirft und ein doppelt zusammengelegtes Stück schweren dunkelbraunen Packpapiers auf den Kessel legt. Der verdorbene Krepp wird auf dem Papier geordnet, unter dem das Wasser brausend kochen muß. Nach einigen Minuten fühlt sich der Krepp feucht an, worauf man alle verdrückten Stellen glättet und sie den Dämpfen unter beständigem Glätten und Ausbreiten so lange aussetzt, bis der Stoff wieder steif und kraus aussieht. Je nach der Größe der verdrückten Stellen muß man längere oder kürzere Zeit dämpfen, in ersterem Falle muß man das Packpapier übrigens einmal erneuern, damit es nicht zu feucht wird. He.     

Kleine Riechsäckchen an farbigen Bändern empfehlen sich als billige, niedliche Gaben zu Lotterien und Bazaren, zu welchen Zwecken es auf möglichst geringe Herstellungskosten ganz besonders ankommt. Man suche möglichst verschiedenfarbige Restchen von Seidenstoffen und -bändern zusammen und stelle daraus kleine Säckchen in verschiedenen Größen, bis zu 5 zu 7 cm, her; „je kleiner, desto niedlicher,“ heißt es auch hier; man füllt sie mit Watte und Veilchenpulver, bindet sie mit bunten Schleifchen zu und verbindet nun möglichst viele (ich sah bis zu zwei Dutzend) mit strohhalmbreiten farbigen Seidenbündchen von 1/4 bis 1/2 cm Länge, die Bändchen oben sämtlich zu einer Rosette oder Schleife vereinigend. Das Ganze giebt einen sehr niedlichen Wandschmuck oder auch Zierat für den Toilettentisch ab.

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Außerordentliche Beilage.
Halbheft 17.   1898.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.



Fürst Bismarck †

Eine erschütternde Trauerkunde geht durchs Land – Fürst Bismarck ist nicht mehr! Den großen, weltberühmten Staatsmann, welcher der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sein Gepräge aufdrückte, hat der Tod in der Nacht vom 30. Juli dahingerafft. Ueber dem Deutschen Reiche weht die Trauerflagge, denn er ist dahin, der zu seinem Bau die mächtigen Quadern emporgetürmt! Und wenn ihm auch nicht vergönnt war, das Steuer, das er so lange Zeit unter günstigen Sternen gelenkt, bis an sein Lebensende zu führen: was er der Nation gewesen, der Verlust, den sie erleidet, wird überall im Volke in aller Frische empfunden. Das ganze deutsche Volk klagt heute um seinen kühnen Führer zur Macht und Größe, um seinen väterlichen Berater bei der friedlichen Arbeit des Tages. Der Tod hat eine läuternde Macht; er streift alles Vergängliche ab und nur das geschichtliche Erzbild bleibt stehen in seinem reinen Glanze. Die Trauer gilt des Reiches „eisernem Kanzler“! So haben ihn die Zeitgenossen genannt, so wird die

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[516 g] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [516 h] Nachwelt ihn nennen, weil er geharnischt von Kopf zu Fuß für seine Pläne eintrat, niemals abhängig von persönlichen Rücksichten, mit ehernem Schritt hindurchschreitend durch eine Welt von Hindernissen. Er war der unbestechlichste Sachwalter der großen Interessen seiner Nation. Doch er gehörte nicht zu den Fanatikern, die unbeweglich an ihren Glaubensartikeln festhalten und sich lieber unter den Trümmern begraben lassen, ehe sie auch nur einen derselben preisgeben; er hatte einen zu scharfen Blick für die wechselnde Physiognomie der Zeiten und die Nötigungen des Augenblicks; in fortwährender geistiger Arbeit begriffen, mußte er manches später unhaltbar finden, wofür er früher eingetreten war; als großer Staatsmann mußte er mit der sich stets verschiebenden Weltlage rechnen, Zugeständnisse machen nach dieser und jener Seite. Wer wollte ihn deshalb der Wandelbarkeit zeihen? Er blieb immer ein Mann aus einem Gusse, welcher wußte, was er wollte, und wollte, was er wußte, der stets zur rechten Zeit die entscheidenden Entschlüsse faßte und sie durchführte mit unerschütterlichem Mute und nie versagender Kraft.

In einer Zeit, in welcher Oesterreichs Uebermacht auf Preußen drückte und die Schmach von Olmütz auf dem Gewissen des Preußenvolkes lastete, da hatte zwar Bismarck anfangs noch in Oesterreich ein mächtiges Bollwerk gesehen gegen den Andrang des revolutionären Geistes, den er selbst in Preußen so rückhaltlos bekämpfte: aber dem Bundestagsgesandten in Frankfurt ging dort, gleichsam an der Quelle des Unheils, die Ueberzeugung auf, daß der Deutsche Bund unhaltbar sei, wenn zwei Großmächte darin um die Herrschaft kämpften. Er durchschaute das ganze Elend deutscher Kleinstaaterei und dynastischer Eifersucht, das die überlebte Verfassung des Deutschen Bundes großgezogen hatte und fortwuchern ließ, und all sein Denken und Handeln trat in den Dienst der einen Idee, Deutschland stark durch die Führung eines starken Preußens zu machen und die innere, alles Wachstum ins Große lähmende Zwietracht zwischen Preußen und Oesterreich einer offenen Auseinandersetzung entgegenzutreiben. Und dieser Gedanke erlosch nicht in ihm, als er Preußen vertrat an der Newa, an der Seine – er wuchs in ihm zugleich mit dem Weltblick, mit der Ueberschau über Europas Lage, und nach Berlin zurückgekehrt als Leiter des Kabinetts, schärfte er die Waffen zu diesem Entscheidungskampf. Im vollen Einverständnis mit König Wilhelm I half er ein schlagfertiges Heer schaffen, das in Schleswig-Holstein seine ersten Siege erfocht, und als hier die Saat der Zwietracht zwischen den beiden Großmächten in vollen Aehren aufschoß, da warf er die Lose: Krieg oder Frieden; und als der Krieg entbrannt war, leider, da die Mittelstaaten der Fahne Oesterreichs folgten, zugleich ein deutscher Bruderkrieg, der vielen Patrioten das Herz zerriß, da wurde auf dem Schlachtfelde von Königgrätz die Zukunft Deutschlands im Sinne von Preußens großem Staatsmann entschieden. Im Frieden, der daran sich schloß, wurde der deutsche Norden zum starken Bunde zusammengefaßt, dem Süden die Bahn freigegeben zum künftigen Anschlusse, und durch weise Mäßigung gegen den Besiegten auch schon der Grund gelegt zum neuen, freien Vereine mit Oesterreich.

Der Krieg von 1866 war Bismarcks eigenster Gedanke; nur zögernd folgte sein edler Fürst; schwer wurde es ihm, die Bande der Bundesgenossenschaft zu brechen. Doch Bismarck glaubte an Preußens Stern und Deutschlands Zukunft; er wagte kühnen Wurf um hohen Einsatz. Und nun galt es noch, den Gewinn zu sichern gegen den westlichen Nachbar, der grollend neben sich eine neue Weltmacht emporgekommen sah. Als bei künstlich hervorgesuchtem Anlaß, dem Streit um Spaniens Thronfolge, dieser Groll zum Ausbruch kam, da entflammte Bismarcks zündender Geist die deutsche Volksseele zu jenen Großthaten, aus denen das neue Reich erstand. Metz und Sedan vollendeten, was bei Königgrätz begonnen war. Und als Reich und Kaisertum wiedergeboren waren im Sieg über Frankreich, da hielt er unerschütterlich daran fest, daß des Sieges Preis, die alten Reichslande, dem neuen Reiche nicht verloren gingen.

Fast zwei Jahrzehnte lang hat er seines Amtes gewaltet, als Kanzler dieses Reiches – das Schiedsrichteramt über Europas Geschicke, das einst der dritte Napoleon sich angemaßt, war in seine Hand gegeben. Auf hoher Warte stand er jetzt, ein Friedenswächter; dem nun versöhnten Oesterreich reichte er die Hand zum Bunde und im Herzen Europas schuf er einen mächtigen Widerstand gegen die von Osten oder Westen kommende Drohung; es schien, als wäre er der Mächtige, der alle Stürme zu bändigen vermöchte. Und solche Macht war ihm zu eigen, weil die Völker alle an ihn glaubten. Wie er im Innern Preußens und des Reichs gewaltet, welche Kämpfe er bestanden, bald energisch vordringend, bald nachgebend bei veränderter Weltlage, wie er sich zur Kirche, zu den politischen und wirtschaftlichen Parteien gestellt: das wird die Geschichte in ihren Büchern aufzeichnen. Immer war er ein rüstiger und unermüdlicher Kämpfer, ein Gewaltiger, dem das zündende Wort nicht versagt war, das den Gegner im Tiefsten erschüttert. Ja, seine Reden gehören zu den wichtigsten Aktenstücken der Zeitgeschichte, obgleich die Rede ihm nur Mittel zum Zweck war und er den glänzenden Aufputz verschmähte. Und wie in seinem Kopfe sich die Welt gespiegelt, das wird stets festgehalten werden von den Geschichtschreibern der Zukunft.

Es gab eine Zeit, da man beim hohen Wogenschlag der volkstümlichen Bewegung nur in den Massen die forttreibende Kraft der Geschichte sah und erklärte, daß die Zeit der großen Männer vorüber sei. Da trat Bismarck auf, und selbst seine Gegner mußten bald einräumen, daß er um Haupteslänge die Masse überragte. Auch hatte kein anderer eine so wunderbare Entwicklung durchgemacht. Der Junker, welcher die Zeitgedanken am eifrigsten bekämpft hatte, war ihr siegreichster Fahnenträger geworden. Durch diese Eigenart der Entwicklung hob er sich von allen Zeitgenossen ab und die Welt mußte den Köhlerglauben aufgeben, daß die Geschichte nur ein von Ameisenhaufen zusammengetragener Termitenbau sei und daß es für sie keine führenden Geister mehr gebe, die einen vorbedachten Bauplan schöpferisch zu gestalten wüßten.

So ist Bismarck dahingeschieden, und an seinem Sarg, den der Genius des Ruhms mit frisch grünendem Lorbeer, der Genius des Friedens mit seinem Palmzweig schmückt, trauert das Vaterland.

Der Künstler, der diese dem großen Toten gewidmeten Zeilen mit dem Werk seiner Phantasie begleitet, läßt den Dämon der Vergänglichkeit seine Waffe senken und die Göttin der Geschichte seinen Namen in jene Tafeln eintragen, welche die Thaten der großen Männer der Unsterblichkeit überliefern.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. 0Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0516 i.jpg

PETRARCA UND LAURA
Nach dem Gemälde von J. Flour


Die Gartenlaube 1898. 0Kunstbeilage 17

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Halbheft 17.   1898.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahresabonnement (1. Januar bis 31. Dezember) 7 Mark. Zu beziehen in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


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Der Entwurf des Stauffacherin-Denkmals für Steinen.
Von Max Leu.

Schloß Josephsthal.

Roman von Marie Bernhard.
(2. Fortsetzung.)


5.

Wie dehnt sich die Nacht, die nach gesundem Schlafe so kurz erscheint, endlos, endlos hin an einem Krankenbett!

Alix hatte noch nie in ihrem Leben eine ganze Nacht durchwacht. Dennoch war sie in der Krankenpflege nicht ganz unerfahren. Frau Maria war der Ansicht gewesen, daß das ihrer Erziehung anvertraute reiche Mädchen, so viel es irgend angänglich war, vom Leben und den Anforderungen, die es an den Menschen stellt, kennenlernen sollte; sie wünschte nicht, daß es in Situationen geraten könnte, denen gegenüber es vollkommen hilflos wäre. Der Bekanntenkreis des Laurentius’schen Hauses hatte sich vielfach darüber gewundert, daß die Professorin es so energisch durchzusetzen wußte, ihren Zögling vielerlei lernen zu lassen, was dies vornehme junge Mädchen doch gewiß nie würde brauchen können. Alix mußte einen Samariterkursus in einer berühmten Krankenanstalt durchmachen, sie mußte einen ganzen Winter hindurch mehrmals wöchentlich in einer Volksküche thätig sein, sie mußte nicht nur feine und schöne Handarbeiten lernen, sondern auch die einfachsten und notwendigsten, einen Strumpf zu stricken und eine Naht zu nähen. Sie hörte populäre Vorträge über Nationalökonomie und begleitete Frau Maria regelmäßig auf deren Armengängen, bei welchen auch ihr, der verwöhnten jungen Dame, feste Pflichten zufielen. Sie mußte sehen, wie die von ihr beschenkten Leute wohnten und lebten, wie sie speisten und sich kleideten, sie lernte abschätzen, wie viel eine Familie von so und so viel Köpfen ungefähr zu ihrem Lebensunterhalte braucht, sie bekam einen Einblick in die Vergnügungen und Erholungsstunden der ärmeren Klassen.

Ohne Kampf hatte die Professorin dies System nicht durchgesetzt; Alix hatte sich sehr dagegen gesträubt und gefragt, wozu sie das solle … wie die Bekannten fanden, mit allem Recht. Das war ja nur unnütze Zeitverschwendung – ein Mädchen wie Alexandra von Hofmann würde doch in ihrem ganzen Leben weder Diakonissin, noch Armenpflegerin werden oder Handarbeiten für Geld liefern, sie konnte sich in all der Zeit viel besser beschäftigen, und wenn sie wohlthätig sein wollte …. du lieber Gott, wie leicht konnte sie das thun mit ihrem Gelde! Bezahlte Hände fanden sich immer in Hülle und Fülle, die das alles viel besser machten als sie!

[518] Frau Maria dachte ebensowenig daran, Alix zur Kranken- oder Armenpflegerin zu machen, wie ihr ganzer Umgangskreis und das junge Mädchen selbst dies that. Aber sie wollte aus Alix keine weichliche Egoistin machen, sie wollte ihr die Wohlthat angedeihen lassen, ihren Gesichtskreis zu erweitern, damit sie lerne, mit offenen Augen um sich zu schauen. Sie sollte nicht nur mit ihresgleichen verkehren und gelegentlich an Vereine ein Almosen hinwerfen, ohne sich darum zu bekümmern, wem es zu gute kam. Sie sollte wissen, daß es Armut und Not auf der Welt giebt, und sie sollte die Mittel kennenlernen, sie einigermaßen zu lindern. Ihr Geld sollte ihr und andern zum Segen werden. Frau Maria lehrte ihren Zögling, zu geben, und damit erwies sie ihm die beste, bedeutungsvollste Wohlthat, die es in ihren Augen geben konnte.

Die jungen Damen, die nur für sich selbst auf der Welt sind und es nicht lernen, was es heißt, auch einmal für andere da zu sein und ein Opfer an Zeit oder Bequemlichkeit zu bringen, die mit ihrer naiven Ahnungslosigkeit womöglich in Gesellschaft kokettieren und lachend fragen, wie es einer Familie überhaupt möglich sei, mit fünfhundert Thalern auszukommen, die waren der Professorin ein Greuel. Sie hatte es sich selbst und ihrem Manne gelobt, Alix dürfe niemals wie eine von diesen werden, und sie hatte redlich ihr Wort gehalten. Stolz und launenhaft, herb und absprechend, wie die junge Erbin oft im Verkehr mit ihresgleichen war, hatte sie ein warmes Herz für alle Armen und Kranken, und sie verstand es, ihnen wohlzuthun auf ihre Weise.

Sie hatte im Laurentius’schen Hause oftmals in Krankheitsfällen hilfreiche Hand geleistet, sich mit Maria in die Pflege der Kinder abwechselnd geteilt und oft zu später Stunde neben den kleinen Betten gesessen, aber eine ganze Nacht hatte sie noch nie durchwachen dürfen!

Auch heute wollte man sie nicht wachen lassen. Alle waren dagegen, Justizrat Ueberweg, der Josephsthaler Arzt, Françoise, die beiden barmherzigen Schwestern. Warum sich nach der anstrengenden Reise die Ruhe nicht gönnen, da der Kranke ohne Bewußtsein lag, von ihrer Nähe nichts spürte und zur Pflege, soweit von einer solchen in diesem traurigen Fall überhaupt die Rede sein konnte, die „Schwestern“ zur Hand waren?

Alix ließ all diese Bitten und Vorstellungen über sich ergehen und beantwortete sie nur immer wieder mit demselben Satz: „Ob mein Vater weiß, daß ich da bin, oder nicht: die heutige Nacht kann seine letzte werden, und da will ich bei ihm sein!“

Sie hatten ihr endlich den Willen thun und gehen müssen – alle, die Pflegerinnen mit dem Vorbehalt, jede zweite Stunde nachsehen zu dürfen – und nun war sie mit ihrem Vater allein.

Er stöhnte und röchelte schon lange nicht mehr, er lag wie zuvor, als sie ankam, einer Leiche ähnlich, aber die Brust unter dem schneeweißen Linnen hob und senkte sich.

Die elektrische Lampe goß ihr klares, stetiges Licht über das große schöne Zimmer, in dem der sterbende Mann so viel gearbeitet und gedacht, in dem er all seine Pläne geschmiedet, seine neuen Schöpfungen ersonnen hatte. Auf dem großen Schreibtisch, der die halbe Wand einnahm, lagen noch die Pläne und Zeichnungen, die Entwürfe der Neubauten, mit denen er sich beschäftigt hatte; offene Briefe, Zettel mit Notizen von seiner Hand daneben – ein Bleistift in einer silbernen Hülse, so sorgsam quer über eine Tabelle mit Zahlen und Berechnungen gelegt, als müsse die Rechte, die diesen Stift geführt, jeden Augenblick wieder bereit sein, um ihn zu ergreifen. Ein großes Bild der neuen Schneidemühle, der Lieblingsschöpfung seiner rastlosen Unternehmungslust, hing über dem Schreibtisch, so daß der Blick des daran Sitzenden beim Aufsehen gerade darauf fiel. Große Mappen, reihenweise geordnet, lagen zur Linken. Auf der einen stand in großen Golddrucklettern zu lesen: „Walzmühle“, auf einer zweiten: „Preßhefefabrik“, auf der dritten: „Oelmühle“ – und so fort. Rechts neben dem Schreibtisch war ein Geldschrank in eine Mauervertiefung eingelassen, er schien einfach, aber sehr solid gearbeitet zu sein und wies nirgends ein Schloß oder eine Oeffnung auf. Ueber dem Geldschrank war auf schwerem gußeisernen Gestell eine schöne bronzene Uhr befestigt, eine Minerva stand neben dem Zifferblatt und sah mit ihren strengen ehernen Zügen wie die verkörperte Verstandesthätigkeit aus.

Alix’ Augen gingen in scheuer Hast rundum. War denn nirgends in diesem großen, geräumigen Zimmer Platz für ein Porträt ihrer Mutter oder für ihr eigenes gewesen?

Nein! Wie sie auch suchte und suchte, es fand sich nichts, es war überhaupt kein Porträt im Zimmer – nichts, was auf irgend eine persönliche Zuneigung des Besitzers schließen ließ.

Dem jungen Mädchen schnürte sich das Herz zusammen.

Sie neigte sich über die wachsbleiche Hand und küßte sie mit zuckenden Lippen. Die Hand lag nach wie vor regungslos und war so kalt, daß Alix einen eisigen Hauch bis ins Herz hinein zu fühlen meinte.

Durch die Stille der Nacht gab eine tieftönige Glocke aus einiger Entfernung die zwölfte Stunde an, es mochte die Josephsthaler Kirchenglocke sein. Die Uhr mit der bronzenen Minerva that ebenfalls zwölf volle, laute Schläge; erschrocken wandte sich Alix nach dem Kranken um. Er lag wie zuvor; es ging alles, alles spurlos an ihm vorüber.

Die Thürvorhänge teilten sich, und über den dicken Teppich kam lautlos eine der Pflegerinnen gewandelt, um nachzusehen, wie es stünde, und um die junge Dame zu überreden, sich niederzulegen.

Alix schüttelte wieder den Kopf:

„Ich würde doch nicht schlafen können! Ich möchte bleiben!“

Und sie blieb in dem großen stillen Zimmer allein mit ihrem Vater, der nicht sterben konnte.

Die Nacht ging hin. Töne erwachenden Lebens machten sich bemerkbar, langsam brach der Februarmorgen herein, mühselig kämpfte das bleiche Tageslicht gegen die strahlende Helle der elektrischen Flammen. Murmelnde Stimmen ließen sich im Nebenzimmer vernehmen. Françoise erschien mit verweinten Augen und brachte ihrem armen Liebling auf silbernem Tablett dampfenden starken Kaffee.

Ueberweg kam und winkte Alix mit einer bittenden Geste zu sich ins Nebenzimmer.

„Verzeihen Sie, daß ich nicht zu Ihnen komme! Aber wenn er uns auch nicht hört, es widerstrebt mir doch, neben seinem Schmerzenslager Dinge zu besprechen, die –“

Alix nickte ihm verständnisvoll zu.

„Es geht mir ebenso!“

„Nun, dann bitte!“

Er schob ihr in dem wohldurchwärmten Zimmer, in dessen Kamin ein helles Feuer brannte, einen Sessel hin. „Ich hätte allerlei mit Ihnen zu reden, meine liebe Alix! Ich habe mir nämlich erlaubt, einen selbständigen Schritt zu thun, mit dem Sie hoffentlich einverstanden sein werden –“

„Und der war?“

„Ihren Vetter Mr. Cecil Whitemore in London telegraphisch zu benachrichtigen. Er stand Ihrem Herrn Vater geschäftlich sehr nahe, die beiden Herren unterhielten seit Herrn von Hofmanns letzter Anwesenheit in England einen lebhaften Briefwechsel, und ich glaube bestimmt, Mr. Whitemores Hiersein dürfte notwendig sein und Ihnen, liebe Alix, in jeder Hinsicht nützen, da die vielfachen, oft sehr verwickelten Geschäfte doch nur von einem durchaus sachkundigen Mann - -“

„Wäre der nicht im Oberingenieur Harnack zu finden gewesen?“

Doktor Ueberweg blickte betroffen auf.

„Soll ich diese Frage so verstehen, als ob Sie mit meinem Telegramm an Mr. Cecil Whitemore nicht einverstanden wären?“

Alix hielt ihm rasch die Hand hin.

„Nein – nein, nein, es ist alles gut, wie Sie es anordnen, und ich bin Ihnen dankbar dafür. Ich dachte eben nur, weil Sie diesen – diesen Herrn Harnack so sehr rühmten –“

„Das that ich, und das thue ich noch! Als Oberingenieur bei den Schneidemühlwerken halte ich ihn für geradezu unentbehrlich. Aber wohlverstanden: nur da! Ob er sonst fähig ist, die Disposition über den ganzen, so riesig [519] ausgedehnten Betrieb zu übernehmen, er, der noch keine zwei Jahre hier ist - -“

„So kurze Zeit erst?“

„Ja! Und ob er mit den Fabrikdirektoren, den Buchhaltern, Kassierern, Unterbeamten zurechtkommen würde …. er ist nicht sonderlich beliebt, wie mir scheint –“

„So?“

„Wie mir scheint!“ betonte der Justizrat mit Nachdruck. „Ich bin ja kein unfehlbarer Beobachter, und dem Josephsthaler Geschäftsbetrieb stand ich von jeher persönlich fern. Ich war Rechtsbeistand Ihres Herrn Vaters, weiter nichts. Daß aber sehr viel dazu gehört, um das Ganze hier zu leiten, das weiß ich genau.“

„Und Sie meinen, dazu wäre mein Vetter Cecil die geeignete Person?“

„Ich habe nicht die Ehre, den Herrn zu kennen, aber – aber Ihr Herr Vater hielt ihn dafür. Er hat sich sehr anerkennend über Mr. Whitemore zu mir geäußert, hat gesagt, derselbe habe einen hervorragend praktischen Verstand, großen Scharfblick und vortreffliche Schulung, er sei zum Leiter eines großartigen Unternehmens wie geschaffen und könne in London ganz gut entbehrt werden, da sein Vater noch rüstig genug sei, um selber seinen Fabriken vorzustehen. Er fügte hinzu, daß er hoffe, seinen Neffen mit der Zeit für Josephsthal zu gewinnen, und daß er überzeugt sei, derselbe würde sich rasch einarbeiten. So dachte ich denn, in Ihrem Sinn zu handeln - -“

„Gewiß! Gewiß! Und was haben Sie ihm depeschiert?“

„Daß Ihr Herr Vater infolge eines schweren Unfalls lebensgefährlich verwundet und Mr. Cecil Whitemores baldigstes Herüberkommen unbedingt wünschenswert sei!“

„Und wann sandten Sie das Telegramm ab?“

„Etwa drei Stunden nach dem Unfall, als die Aerzte ihr Gutachten abgegeben hatten.“

„Er hat noch nicht geantwortet?“

„Bis jetzt noch nicht! Es war dies, wie gesagt, meine einzige eigenmächtige Handlung; ich glaubte aber, Ihre Einwilligung nicht mehr abwarten zu können, auch erschien mir dieselbe als selbstverständlich. Würden Sie mir nun vielleicht weitere Aufträge erteilen? Ich möchte Ihnen jede Mühe abnehmen, alles in Ihrem Namen erledigen, aber Sie müssen eben Ihre Bestimmungen treffen.“

Alix besann sich einen Augenblick.

„An meinen Onkel Alexander von Holsten-Delmsbruck, der Oberst in Metz ist, bitte ich Sie in meinem Namen zu telegraphieren, daß es mir angenehm wäre, wenn er herkommen könnte, da Papa schwer erkrankt sei. Papas sonstige Verwandtschaft steht mir fern. Was aber soll ich mit fremden Leuten hier im Hause zu einer solchen Zeit wie die jetzige?“

„Hm! Was ich sagen wollte…. da wir von Verwandten soeben gesprochen haben: ist Ihnen ein Zweig Ihrer Verwandtschaft – mütterlicherseits – bekannt, der den Namen Hagedorn führt?“

„Nein – oder irre ich mich? Lassen Sie mich einmal nachsinnen! Hagedorn? Mir ist doch, als hätte meine Mutter zuweilen von einer Cousine, die sie sehr liebte und die viel im Hause ihrer Eltern war, gesprochen; sie war älter als meine Mutter und heiratete als blutjunges Mädchen, gegen den Willen der Familie, einen – Gelehrten oder einen Lehrer –“

„Ganz recht! Hat, Ihr Herr Vater Ihnen nie von den Kindern dieses Herrn Hagedorn gesprochen?“

„Nie! Ich wußte nicht einmal, daß Kinder vorhanden sind!“

„Jedenfalls eines! Und dieser Sohn …. Was giebt es?“

Ein Diener näherte sich den beiden. Unwillkürlich standen sie von ihren Sitzen auf.

„Ist Herr von Hofmann kränker?“

„Ist der Arzt gekommen?“

„Bitte um Verzeihung – nein! Es ist jemand am Telephon, der wissen möchte, ob das gnädige Fräulein angekommen sind!“

„Von Greifswald?“

„Jawohl, Herr Justizrat!“

Alix und Ueberweg tauschten einen Blick.

„Wollen Sie mit mir kommen, liebe Alix!“

Er bot ihr den Arm.

„Kann man so schnell von London herüber?“ fragte sie während des Gehens.

„Warum nicht? Wer viel reist und einen kräftigen Körper hat, für den sind zwei Nächte und ein Tag schon eine lange Zeit. Bitte hier!“

Alix setzte sich in dem kleinen Zimmer, das neben ihres Vaters Comptoir lag, nieder und lauschte aufmerksam.

„Hier Cecil Whitemore aus London. Sind Sie selbst zur Stelle, Cousine Alexandra?“

„Ja. Ich bin seit gestern abend hier.“

„Bin vor einer Stunde angekommen. Justizrat Ueberweg hat mich gerufen. Kann ich einen Wagen bekommen, oder soll ich mir hier einen mieten?“

„Nicht nötig. Ich werde sofort das Anspannen bestellen.“

„Wie lange fährt man?“

„Ich denke, etwa anderthalb Stunden. Machen Sie nicht den Umweg zur Station Josephsthal. Ruhen Sie lieber und warten Sie auf den Wagen!“

„Wie Sie wünschen. Also in drei bis vier Stunden auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen. – Schluß!“ –

Alix trat vom Telephon zurück. Das war eine zweckentsprechende, sachliche Besprechung gewesen – kein Wort zuviel. Dafür war Vetter Cecil ein praktischer Engländer und sie ein vernünftiges Mädchen, das alle Sentimentalität haßte! Cecil hatte kein Wort über den Unglücksfall mit ihrem Vater verloren – – natürlich! Hätte er ihr etwa durchs Telephon sein Beileid ausdrücken sollen!?

- - - Als sie das Comptoir ihres Vater durchschritt, gewahrte sie einen sehr brünetten, schlanken Herrn am geöffneten Pult sitzend, dem er einen ganzen Stoß von Papieren entnommen hatte. Beim Eintritt der jungen Dame sprang er auf und verbeugte sich tief: „Baroneß wollen gestatten – Oberingenieur Harnack!“

Alix sah sich den Mann aufmerksam an. Er hatte ein intelligentes Gesicht, sichere Manieren und war sehr sorgfältig gekleidet; seine Hände waren klein und gut gepflegt, er trug einen schönen Brillantring am vierten Finger der Linken. Sein sich emporbäumendes straffes Haar war schwarz, auch seine Augen schienen von glänzendem Schwarz.

„Ich habe bereits viel von Ihnen gehört, Herr Ingenieur. Justizrat Ueberweg hat mir Ihre bedeutende Fachkenntnis gerühmt, er nannte Sie die rechte Hand meines Vaters.“

Harnack verbeugte sich abermals.

„Ich bin dem Herrn Justizrat für seine gute Meinung zu Dank verpflichtet, und ich schätze mich glücklich, Ihrem Herrn Vater, gnädigste Baroneß, von Nutzen sein zu können.“ee

Alix wollte mit einer leichten Neigung des Kopfes weitergehen.

„Gnädiges Fräulein wollen verzeihen –“

„Sie wünschen?“

„Baroneß werden sich sagen können, daß ein so ausgebreiteter Betrieb einer leitenden Hand bedarf. Die Werke dürfen nicht feiern, die Arbeiter müssen beschäftigt, neue Dispositionen getroffen, Aufträge zu Lieferungen erteilt werden. Es sind Abschlüsse zu machen, Zahlungen zu leisten. Der älteste technische Direktor, der Form nach wohl der oberste Angestellte, ist – die Situation wird meine Offenheit entschuldigen! – für einen so verantwortlichen Posten absolut ungeeignet. Ich habe vorgestern und gestern, auf des Herrn Justizrats Zureden, selbständig meine Maßregeln getroffen, und der Herr Justizrat machte sich anheischig, dies vor Ihnen, gnädiges Fräulein, einstweilen zu vertreten. Da die Tochter unseres verehrten Chefs jetzt selbst zur Stelle ist, so würde ich sie bitten, mir gütigst eine Vollmacht auszustellen, die mich ermächtigt, nach eigenem Ermessen, selbstredend ganz im Sinn meines erkrankten Chefs, zu disponieren, um später von jeder meiner Maßnahmen genaue Rechenschaft abzulegen.“

Es war gegen das, was der Ingenieur vorbrachte, direkt nichts zu sagen. Dennoch klang etwas mit hinein, was Alix nicht gefallen wollte und sie innerlich reizte. Sie besann sich einen Augenblick und entgegnete dann in einem Ton, der

[520]
Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0520.jpg

Karls des Kühnen Flucht [i]n der Schlacht bei Nancy.
Nach einer Originalzeichnung von G. A. Cloß.

[521] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [522] unwillkürlich etwas hochfahrender ausfiel, als sie es beabsichtigt hatte:

„Das dürfte unnötig sein, da mein Vetter, Mr. Cecil Whitemore aus London, in wenigen Stunden hier eintrifft, um einstweilen die Verwaltung des gesamten Betriebes zu übernehmen.“

„Baroneß gestatten mir die Frage: Ist die Sachlage derart aufzufassen, daß ich, im Fall Herr von Hofmann nicht wieder gesund wird, in Mr. Whitemore aus London meinen künftigen Chef und den späteren Herrn der Werke zu sehen habe?“

„Nein,“ sagte Alix, und sie fühlte zu ihrem Aerger, daß sie rot wurde, „das soll damit durchaus nicht gesagt sein. Mein Vetter besaß seit langem das Vertrauen meines Vaters in hohem Grade, deshalb will ich ihm jetzt die Bestimmung überlassen, was zunächst zu thun ist.“

Diesmal machte Ingenieur Harnack keinen weiteren Versuch mehr, das junge Mädchen zurückzuhalten. Er verneigte sich nur stumm und ernst und schritt zur Thür, die er weit offen hielt, Während Alix hindurchging.

Sie war nicht mit sich zufrieden, wie sie durch die Zimmerflucht zu ihrem Kranken zurückkehrte. Es mußte ihr daran liegen, den Mann, dessen Fähigkeiten man ihr so gerühmt hatte, dem Werk zu erhalten, und sie hatte sein Anerbieten, die Oberleitung zu übernehmen, zurückgewiesen und ihren englischen Vetter vorgeschoben. Aber das mußte sie, das war sie Cecil schuldig! Sie konnte ihn, einen so nahen Verwandten ihres Hauses – ihre und seine Mutter waren Schwestern gewesen – nicht unter die Botmäßigkeit eines Ingenieur Harnack stellen!

Gleichviel! Sie hätte dabei rücksichtsvoller zu Werk gehen können, und sie tadelte sich darum. Rief sie sich aber den Mann in die Erinnerung zurück und den Ausdruck in seinen Augen während er mit ihr gesprochen hatte, so fühlte sie sich in ihrem Innern wieder ebenso gereizt, als da sie ihm gegenüberstand. Seine Rede hatte höflich und sachgemäß geklungen, aber unterdessen führten seine heißblickenden, schwarzen Augen eine gänzlich andere Sprache, es lag etwas Zudringliches darin, etwas, das Alix zurückstieß.

Im Krankenzimmer fand sie Doktor Petri. In seiner ruhigen Bestimmtheit verordnete er ihr ein Glas starken Weines und ein paar Stunden Schlaf, ging auch nicht früher fort, als bis Françoise ihre junge Herrin zur Ruhe gebracht hatte. Ein kurzer schwerer Schlummer ließ Alix wenigstens für eine Zeit lang die schreckliche Gegenwart vergessen. Als sie erwachte, sah eine bleiche Wintersonne zum Fenster herein, und es war zwei Uhr mittags. Der englische Vetter, für den Alix unmittelbar nach ihrer Unterredung mit dem Ingenieur einen Wagen nach Greifswald beordert hatte, konnte jeden Augenblick in Josephsthal eintreffen.

Françoise, die das reiche Haar ihrer Herrin mit geschickten Händen knotete und dann mit einem Pfeil durchstach, hatte viel zu berichten.

„Denken Sie nur, mignonne, vor einer Stunde, als Sie noch schliefen, sind Herren gekommen vom Gericht, um die blutige That zu untersuchen, näher zu untersuchen – o, und ich glaube, auch welche von der geheimen Polizei. Ich zittere, daß sie mich verhören werden!“

„Dich, Françoise? Sprich doch nicht solchen Unsinn! Wozu sollte das dienen?“

„Nun, man kann nie wissen! Alles, was zum Haus gehört, soll vernommen werden, und ich gehöre doch dazu! Doch ehe ich’s vergesse, der Herr Justizrat wünscht Sie zu sprechen – es habe sich herausgestellt eine Sache von großer Wichtigkeit!“

„Und das erfahre ich jetzt erst?“ Alix sprang aufgeregt vom Stuhl empor. „Warum hast du mich nicht sofort geweckt?“

Alix hörte die Rechtfertigung der schwatzhaften Französin nicht mehr mit an, sie hatte bereits das Zimmer verlassen. Den Diener, der ihr entgegenkam, hielt sie an:

„Wo sind die Herren vom Gericht?“

„In Herrn von Hofmanns Comptoir, Baroneß! Darf ich dem gnädigen Fräulein nicht zuvor im kleinen Speisezimmer das Diner servieren?“

„Nein! Führen Sie mich sogleich zu den Herren!“

„Wie gnädiges Fräulein befehlen. Es führt ein Weg zum Comptoir durch verschiedene Zimmer, wie gnädiges Fräulein diesen Morgen gegangen sind, der andere geht über die Korridore, und das ist der kürzere!“

„So gehen wir diesen!“

Im Comptoir traf Alix außer Ueberweg noch vier Herren, drei davon in mittleren Jahren, der vierte sehr jung aussehend, mit einem bartlosen Gesicht und einem beinahe kindlichen Ausdruck in den hellen Augen.

„Herr Staatsanwalt Bindemann, Herr Landgerichtsrat Keller, Herr Assessor Grün, Herr Korty – Baroneß Alexandra von Hofmann!“

Die Herren verneigten sich.

„Wollen sie der Dame nicht auch meinen Titel nennen, Herr Doktor?“ fragte der zuletzt Genannte mit einem ganz leichten Lächeln. „Es dürfte sich doch empfehlen, sie ins Vertrauen zu ziehen!“

„Gewiß, wie Sie wünschen. Ich mußte mich aber zuvor Ihrer Zustimmung versichern. Also: Herr Korty, Geheimpolizist aus Berlin.“

Alix sah aus großen, erstaunten Augen auf das glatte Knabengesicht mit der harmlosen, nichtssagenden Miene.

„Herr Korty wird von heute an als Mechaniker hier eintreten und einige seiner Gehilfen als Arbeiter bei den Walzwerken!“ sagte der Justizrat. „Ich brauche wohl nicht besonders zu betonen, liebe Alix, daß sein Name sowie der Zweck seines Hierseins strengstes Geheimnis ist, das nur wir Juristen mit Ihnen und Ihrem Vetter Mr. Cecil Whitemore teilen. Für alle übrigen, hohe und niedere Angestellte, für alle, wohlverstanden, ist dies Herr Neubert aus Stralsund, der durch Vermittlung Ihres Herrn Vetters, der ihn in London bei einem deutschen Geschäftsfreund kennengelernt hat, hierher gekommen ist, um bei den hiesigen Werken zu arbeiten, zum Teil schriftlich, zum Teil auch praktisch. Wir werden Mr. Whitemore, sowie er eintrifft, hiervon verständigen. Herrn Neuberts Stellung wird es mit sich bringen, daß er möglichst mit allen Schichten der Josephsthaler Bevölkerung in Berührung kommt – Sie sehen die Notwendigkeit dieser Maßregeln ein, nicht wahr?“

„Vollkommen!“ bestätigte Alix. Dann wandte sie sich zu den andern:

„Darf ich die Herren ersuchen, wieder Platz zu nehmen und mir, soweit Ihnen dies zulässig erscheint, Mitteilung von dem Geschehenen zu machen? Meine Bonne erwähnte andeutungsweise etwas von einer wichtigen Entdeckung – –“

„In der That!“ Landgerichtsrat Keller, der älteste der anwesenden Herren, ergriff das Wort: „Wir wünschten, Sie, gnädiges Fräulein, als die einzige und majorenne Tochter Herrn von Hofmanns, in den Sachverhalt einzuweihen, und gaben daher die in ganz allgemeinen Ausdrücken gehaltene Parole von der wichtigen Entdeckung aus, die freilich auch zu Recht besteht. Es handelt sich nämlich um eine kurze Notiz in Ihres Herrn Vaters Brieftasche, die Kollege Ueberweg im Schreibtisch Herrn von Hofmanns gefunden hat, des Inhalts, daß Ihr Herr Vater eine größere Summe in Banknoten, etwa zweimalhunderttausend Mark, dem Direktor der Oelmühle hat übermitteln wollen, um mit dem größten Teil des Geldes neu eingelaufene bedeutende Lieferungen zu decken, mit dem übrigen die Gehälter an die Angestellten des Etablissements zu zahlen. Herr von Hofmann war die Ordnungsliebe und Pünktlichkeit in Person. Irrtümer und Vergeßlichkeiten sowie Verwechslungen sind daher so gut wie ausgeschlossen, zumal es sich um eine so bedeutende Geldsumme handelte. Der Termin der Ablieferung war genau im Notizbuch angegeben: der achtzehnte Februar – – ebenso die einzelnen Nummern der Wertpapiere, hinterher die Bemerkung: sofort nach eigenhändiger Ablieferung persönlich einzutragen! – Der Direktor der Oelmühle, seit fünfzehn Jahren Ihres Herrn Vaters Beamter, ein durchaus zuverlässiger Mann, ist am Morgen des achtzehnten Februar um neun Uhr zehn Minuten per Telephon durch Herrn von Hofmann benachrichtigt worden, sich kurz vor zwölf Uhr mittags zu [523] einer Besprechung bereit zu halten, was der Direktor auch pflichtgemäß gethan hat. Erwiesenermaßen ist aber Herr von Hofmann an jenem Tage gar nicht auf der Oelmühle gewesen; man hat vergebens von Stunde zu Stunde auf sein Erscheinen dort gewartet, wie das gesamte Personal, in Uebereinstimmung mit dem Direktor, ausgesagt hat. Zwischen elf und zwölf Uhr ist der Mordanschlag verübt worden, kurz vor ein Uhr haben die beiden bäuerlichen Besitzer den umgestürzten Schlitten gefunden. Das Riemenzeug des Pferdes ist durchschnitten gewesen, doch hat man das Tier in der Nähe der Unglücksstelle getroffen und eingefangen. Von den Banknoten fand sich bei Herrn von Hofmann nichts vor. In welcher Verpackung er sie bei sich trug, ist nicht festzustellen. Ihr Herr Vater hat, wie das seine Gewohnheit war, mit niemand von dem hiesigen Personal über diese Summe und ihre Verwertung gesprochen, er hat es nicht einmal jemand mitgeteilt, daß er überhaupt nach der Oelmühle hinüberfahren wollte, viel weniger noch, zu welchem Zweck.“

„Auch Herrn Oberingenieur Harnack nicht?“ warf Alix, die mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört hatte, ein.

„Nein, auch ihm nicht! Warum meinen Sie, daß es geschehen sein könnte, gnädiges Fräulein?“

„Aus keinem andern Grunde, als weil Herr Justizrat Ueberweg diesen Herrn die rechte Hand meines Vaters nannte. Ich dachte, er könnte mit ihm eine Ausnahme gemacht haben.“

„Herr Ingenieur Harnack war mit eine der ersten Personen, die in der Angelegenheit verhört wurden. Er hat die Aussage zu Protokoll gegeben, daß während seiner zweijährigen Anwesenheit in Josephsthal Herr von Hofmann niemals mit ihm über Zahlungen an seine anderweitigen Etablissements, über einlaufende oder zu verausgabende Gelder gesprochen hat. Es war sein besonders streng durchgeführtes System, jedes der ihm zugehörenden Werke mit seinen Einkünften und Ausgaben zu specialisieren.“

Der Gerichtsrat schwieg, und nachdenkliches Schweigen lagerte auch über den andern.

Endlich sagte Alix in gedrücktem Flüsterton: „Also doch – doch ein Raubmord!“

„Zweifellos! Und geschickt genug in Scene gesetzt! Dadurch, daß die sehr kostbare Uhr und Kette, die Ringe und das gemünzte Geld bei Herrn von Hofmann vorgefunden wurden, konnte ein solcher Verdacht zunächst nicht aufkommen.“

„Mußte aber der Mörder nicht fürchten, daß der Direktor der Oelmühle von der Absicht meines Vaters unterrichtet sei?“

„Wohl wahr! Allein der Raubmörder konnte ebensogut wissen, daß eine solche Benachrichtigung nicht zu den Gepflogenheiten Ihres Vaters gehörte. Jedenfalls hat er um seine Absicht gewußt. Es waren auch deutliche Spuren dafür da, daß die Taschen des Opfers in aller Eile umgekehrt worden sind, was darauf hinweist, daß man das Notizbuch, das er meistens bei sich zu tragen pflegte, bei ihm gesucht hat.“

„Also in aller Eile?“ fragte Korty.

„Offenbar. Das Taschenfutter war nach außen gekehrt, ein seidenes Tuch achtlos auf den Weg geschleudert. Daß es dem Räuber nur um die große Geldsumme und um nichts anderes zu thun gewesen ist, beweist schon der Umstand, daß nicht alle Taschen durchsucht worden sind, der gezogene Revolver steckte unangerührt in einer Seitentasche des Pelzes. Auch daß das hilflose Opfer nicht vollständig getötet wurde, giebt zu denken! Der Schwerverwundete konnte doch noch für eine kurze Zeit zum Bewußtsein kommen und den Thäter nennen – es war nicht sehr wahrscheinlich, aber keineswegs unmöglich. Mir liegt die Annahme sehr nahe, daß den Mörder entweder unmittelbar nach seiner That und der Beraubung des Opfers eine sinnlose Angst gepackt hat, die ihn zur Flucht trieb, oder daß irgend ein Geräusch in der Nähe ihn einen Zeugen seiner Blutthat vermuten und eiligst aufbrechen ließ …. denn in großer Eile muß er gewesen sein, alle Anzeichen sprechen dafür!“

Korty nickte bestätigend.

„Kommt mir gleichfalls sehr wahrscheinlich vor. Und die Kugel, die man aus dem Stirnbein hat entfernen können –“

„Sie werden sie ja sehen!“ sagte der Justizrat. „Kleines Kaliber, gewöhnliche Revolverkugel englischen Systems – bietet gar keinen Anhalt weiter!“

„Die Fußspuren waren verschneit, sagen Sie?“

„Leider ganz und gar. Ich bin sofort mit dem Aktuar nach dem Schauplatz der That hinübergefahren, aber wir konnten gar nichts mehr konstatieren. Ich bitte Sie, wenn es während zwei, drei Stunden ununterbrochen wie aus dem Sack schneit! Kaum die Stelle, wo der umgestürzte Schlitten gelegen hatte, war durch eine leichte Einsenkung markiert, an Fußspuren nicht zu denken. Wir versuchten, ganz vorsichtig etwas davon aufzudecken, aber es erwies sich als vollkommen fruchtlos. Selbst die Bauern, die eine gute Stunde vor mir dorthin gekommen waren, versichern, übereinstimmend mit dem Arzt, keine Fußstapfen gefunden zu haben, und das ist leicht zu begreifen! Vielleicht um halb Zwölf wurde das Attentat ausgeführt, kurz vor ein Uhr erst waren die Leute zur Stelle – dazwischen unausgesetzter Schneefall!“

Wieder folgte tiefes Schweigen. Jeder der Anwesenden versuchte die einzelnen Glieder dieser Kette von Vorgängen aneinanderzupassen, kombinierte so und so …. noch war und blieb alles in Dunkel gehüllt.

Da pochte es diskret an die Thür, der grauhaarige Diener trat ein.

„Die Herrschaften wollen verzeihen. Gnädiges Fräulein, Herr Whitemore ist soeben vorgefahren!“

„Ich komme!“ sagte Alix.

Gesenkten Hauptes, immer noch fruchtlos grübelnd, um den Schlüssel zu diesem traurigen Rätsel zu finden, durchschritt das junge Mädchen die angrenzenden Gemächer. In dem letzten derselben kam ihr raschen Ganges ein junger Mann entgegen.

In seinem praktischen und doch eleganten Reiseanzug, mit seinem frischen Gesicht, das Blondhaar kurz geschoren, an jeder Wange seitlich einen schmalen Bartstreifen, sah Mr. Cecil Whitemore so korrekt, so chic, so „englisch“ aus, wie Alix ihn bei ihrem Londoner Aufenthalt täglich hatte aus der City heimkehren sehen.

Von Müdigkeit, von Aufregung keine Spur. Im Blick der blaugrauen Augen lag viel Energie, in der Kopfhaltung ausgeprägtes Selbstbewußtsein.

„Liebe Cousine Alexandra, wie dankbar würde ich sein, wenn ich Ihnen in Ihrer gegenwärtigen traurigen Lage nützlich sein könnte!“

Das wurde ohne eine Beimischung von Sentimentalität in fließendem, wenn auch ausländisch klingendem Deutsch gesagt. Sie hatten des öfteren in London deutsch miteinander gesprochen, mehr aber noch englisch, daher das „Sie“ bei der Anrede, das keinem von ihnen einer Verwandlung in das vertrauliche „Du“ zu bedürfen schien. Auch erhielt Alix keinen Handkuß von Vetter Cecil zum Willkommen, ein kräftiges Handschütteln war alles.

„Haben Sie Dank, Cecil, daß Sie gekommen sind! Ich glaube, ich werde Ihrer sehr bedürfen!“ entgegnete Alix.

„Darf ich Onkel Hofmann sehen?“

„Gewiß. Er ist ganz ohne Bewußtsein geblieben, seit – seit das Unglück geschah. Möchten Sie jetzt gleich mit mir zu ihm gehen?“

„Ich möchte – falls es Sie nicht zu sehr aufregt!“

Um ihre Lippen zuckte es.

„Kommen Sie!“

Er ging stumm neben ihr her und betrachtete sie dabei. Welch schöne, vornehme Erscheinung sie doch war, diese deutsche Cousine Alexandra!

Für ihren Vater hatte der junge Mann immer viel Verständnis und Sympathie gehabt. Seine deutsche Mutter war ganz ohne Einfluß auf ihn geblieben, und ihr Tod, der in Cecils fünfzehntes Jahr fiel, bedeutete für ihn keinen schweren Verlust! So war er in englischen Grundsätzen erzogen worden und Herrn von Hofmanns kühles, gehaltenes Wesen, sein auf große, weitaussehende Ziele gerichteter praktischer Blick hatten ihm die größte Achtung vor dem klugen Geschäftsmann eingeflößt. Auch seinem Vater war es so gegangen.

Und hier lag nun der Mann, der Whitemore und Sohn so gründlich imponiert hatte, vor Cecil, hingestreckt von Mörderhand, [524] ein Lebendig-Toter! Er, dem noch so viel vorbehalten gewesen im Leben, der Entwürfe und Schöpfungen vor sich gesehen hatte noch auf viele Jahre hinaus, mitten im rüstigsten Mannesalter gebrochen!

Der junge Whitemore war kein Weichling, aber der jammervolle Anblick da vor ihm erschütterte ihn sehr. Und während Alix mit leiser, gepreßter Stimme – als ob der unglückliche Mann sie hätte hören können – ihrem Vetter sagte, wie alles gekommen sei, welche Maßregeln man getroffen habe und welche weiteren man noch zu treffen gedenke, hob und senkte sich immer noch gleichmäßig die Brust des hilflos Daliegenden unter dem schneeweißen Linnen.


6.

Noch ein Abend dunkelte herein, eine Nacht sank nieder, ein Morgen stieg herauf, die bleiche Wintersonne stand auf ihrer Höhe …. da endlich kam für den bejammernswerten Mann und für seine gemarterte Umgebung der erlösende Tod, der große Befreier! So rasch, so jäh beendete er nach langem Zögern dies ihm längst verfallene Dasein, daß die Umgebung kaum etwas davon gewahr wurde. Kein Aufstöhnen oder Röcheln mehr – es war mit einem Mal zu Ende! Alix hatte sich gegen die Mittagsstunde über ihren Vater gebeugt, und da hatte sie das Heben und Senken der Brust unter dem Leinen nicht mehr bemerkt. Sie hatte erst an eine Sinnestäuschung geglaubt, dann aber, von einem unheimlichen Angstgefühl erfaßt, Cecil herbeigerufen. Von diesem war rasch nach dem Arzt geschickt worden, welcher nur noch den unmerklich eingetretenen Tod feststellen konnte!

Als jeder Zweifel beseitigt war, entfaltete sich im Josephsthaler Schloß jenes düstere, geschäftige Treiben, das der Tod in seinem Gefolge hat. Doktor Petri hatte auf baldigster Beerdigung bestanden – so wurde beschlossen, die feierliche Beisetzung und Ueberführung der Leiche nach der Kapelle schon am zweitnächsten Tage zu bewerkstelligen. Es gab unendlich viel bis dahin zu ordnen und zu thun. Telegraph und Telephon spielten beinahe unablässig, ein reitender Bote über den andern wurde fortgeschickt. Cecil Whitemore kam kaum vom Schreibtisch des Verstorbenen fort, erbat aber seiner Cousine Bestimmung und Rat bei jedem Schritt, den er unternahm. Schon kamen Josephsthaler Arbeiter, um unter Leitung eines Sachverständigen den großen Saal im Schloß zur Trauerfeierlichkeit herzurichten. Die Direktoren, Ingenieure und Buchhalter erschienen, um der Tochter ihres Chefs ihr Beileid auszusprechen und sich von dem Neffen des Verstorbenen Instruktionen wegen der zu treffenden Anstalten zu holen.

Alix benahm sich, nach Aussage aller, die sie zu sehen bekamen und mit ihr zu thun hatten, bewunderungswürdig. Wie eine Marmorstatue anzusehen, trockenen Auges, ging sie zwischen den Wehklagenden, Fragenden, Geschäftigen einher, gab jedem Auskunft, bestimmte alles bis ins Detail, gab Depeschen auf, konferierte mit Cecil, ohne Ungeduld oder Uebermüdung zu zeigen.

Françoise jammerte, daß „mignonne“ nicht weinen könne, und in der That, so schwer es Alix ums Herz war, die befreienden, schmerzlindernden Thränen wollten sich nicht einstellen. Gegen Abend, als die notwendigsten Anordnungen getroffen waren und alle Besucher, auch die Gerichtskommission, unter deren Aufsicht die Sektion stattgefunden, sich entfernt hatten, ergriff Alix ein unabweisbarer Drang, draußen in der frischen Winterluft zu sein, allein mit ihren schmerzlichen Gedanken und Gefühlen. Rasch entschlossen, befahl sie anzuspannen, und bald saß sie zurückgelehnt in den elastischen Polstern des offenen Schlittens und ließ die eigentümlich weiche und doch frische Winterluft um Wangen und Schläfen hauchen.

Hier draußen war es noch nicht dunkel. Es war viel Sonnenschein am Tage gewesen, jetzt schwammen am westlichen Himmel phantastische Wolkengebilde in rötlicher Glut. Doch bald verwandelten sie sich in bleiernes Grau; gleich einem fahlen Leichentuch breitete sich’s aus über all den farbigen Zauber, dunkle Schatten huschten empor und deckten sich über den letzten schwachen Rosenschimmer – ein einziger langgezogener orangegelber Streifen dehnte sich noch unter dem grauen Flor, aber er hatte nichts Freudiges mehr; ein unheimliches, gespenstisches Leuchten ging von ihm aus.

Alix richtete sich ein wenig in ihrer Ecke empor:

„Ich möchte die Schneidemühle sehen! Fahren Sie mich an den Fluß!“

Gehorsam lenkte der Kutscher seine Pferde links um und bog in den abschüssigen Weg ein, der hinab ans Stromufer führte.

Der Fluß lag offen, scheinbar ohne Bewegung, zwischen seinen Ufern. Wie ein schwarzes, glasig schillerndes Riesenband wand er sich durch seine leuchtend weiße Umgebung. Die Ufer waren hier ziemlich hoch – – im Frühling und Sommer war es wunderhübsch an dieser Stelle, Alix hatte als Kind ihre schönsten Blumen da gefunden.

In jener Zeit hatte den Fluß idyllische Einsamkeit umgeben, jetzt standen Häuser und Häuschen zu beiden Seiten, und aus denen, die am entgegengesetzten Ufer standen, blinkten Lichter wie freundliche, tröstende Augen. Es war inzwischen ganz dunkel geworden, und der Riesenwürfel der Schneidemühle leuchtete mit beinahe stechendem Glanz durch die Finsternis. Dasselbe Stampfen, Dröhnen und Fauchen schallte zu Alix herüber, das sie am Abend ihrer Ankunft gehört hatte, es war, als ob der Boden unter ihr erbebe, wie ihr Schlitten näher kam. Hier gingen keine Menschen an den Seitenwegen entlang wie drüben. Die größeren Häuser, in denen nach Ueberwegs Aussage die Beamten wohnten, waren alle hell erleuchtet. Der Schlitten fuhr an dem ungeheuren Fabrikgebäude vorüber und ließ es weit hinter sich.

Alix empfand eine peinigende Unruhe; sie ertrug das Stillsitzen nicht länger.

„Halten Sie hier still, ich will eine kleine Weile auf und nieder gehen. Sie dürfen sich keine Sorge machen, ich bleibe ganz in der Nähe!“

„Wie gnädiges Fräulein befehlen!“

Sie hatte Mühe, aus den Pelz- und Fußdecken, die Vetter Cecil sorglich um sie gebreitet und gewickelt hatte, heraus und auf die Erde zu kommen. Die vielen Hüllen waren ihr zu heiß gewesen bei dem weichen Wetter, ihre geöffneten Lippen tranken durstig die feuchte Luft, während sie rasch zuschritt. Ihr war es seltsam zu Mut: als habe sie ihres Vaters schweres Krankenlager und seinen Tod nur geträumt, als müsse sie in Frankfurt in ihrem schönen, behaglichen Mädchenhelm erwachen und ihre Maria um sich haben, und alles, alles sei, wie es zuvor gewesen.

Da kam etwas durch die dunkle, stille Luft – wieder …. wieder! Ein Ton – ein Klang – woher denn?

Alix schritt hastig voran, dem Klange entgegen, und der Weg, den sie eingeschlagen, um den leise herüberklingenden Tönen näherzukommen, war der rechte gewesen – hier aus dem zierlich gebauten Häuschen, das vereinzelt dastand, wenn auch die ganze Umgebung darauf hindeutete, daß es in kurzer Zeit Nachbarschaft bekommen würde, drangen die Klänge, und das junge Mädchen, dessen Atem von dem eiligen Gang auszusetzen drohte, stand still und horchte. Es wurde Klavier gespielt, und das Pianoforte stand offenbar nahe den rechtsgelegenen Parterrefenstern des im Schweizerstil aufgeführten Gebäudes; nur diese zwei Fenster waren hell. Durchsichtige Gardinen hingen vor den Scheiben, der Schatten eines Mannes zeichnete sich an einer derselben ab. Und nun konnte sie auch die Melodie hören, die drinnen gespielt wurde:

„Am stillen Herd – in Winterszeit!“ Das Werbelied Walther von Stolzings aus den „Meistersingern“!

Die schöne, reizvolle Melodie, aus der es wie Blumenatem quillt und wie treue, liebe Menschenaugen uns ansieht, wurde innig und einfach gespielt, und soweit ein guter und warm empfindender Spieler es fertig bringen kann, einem Pianoforte Töne zu entlocken, daß es ähnlich der menschlichen Stimme klingt, geschah es hier; ihr war, als hörte sie die Worte:

„Am stillen Herd, in Winterszeit,
Wenn Burg und Hof mir eingeschneit,
Wie einst der Lenz so lieblich lacht’,
Und wie er bald wohl neu erwacht – –“

Das Lied ergriff Alix im Innersten, die holden Klänge lösten mit mildem Trost die Spannung in ihrem Herzen, und da – da konnte sie endlich weinen!

[525]
Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0525.jpg

Nach einer Photographie von Fiorillo in Paris.
Ländliche Kunstbetrachtung.
Nach dem Gemälde von C. Pattein.

[526] Der da drinnen aber im Zimmer, als könnte er sich nicht genug thun in der Wiedergabe der Melodie, begann sie von neuem, und nach einer kleinen Pause wieder von vorn.

Und seine Zuhörerin da draußen weinte, als sollte ihre Seele sich auflösen in heißen Thränen.

Zuletzt wurde es still im Zimmer.

Der Spieler klappte den Deckel am Piano zu und saß noch eine kleine Weile, wie in Gedanken eingesponnen; dann erhob er sich, und in demselben Augenblick wandte sich die dunkle Frauengestalt vom Hause fort und ging hastig ihren Weg zurück.

Markwart, der eifrig nach seiner Herrin Umschau gehalten hatte, war sehr froh, als er sie endlich langsam auf sich zuschreiten sah. Eine Zeit lang hatte er sie aus den Augen verloren gehabt, und da war ihm bange geworden. Was das auch für eine Idee gewesen war, hier neben den halbfertigen Bauplätzen in völliger Dunkelheit auszusteigen und eine einsame Promenade zu machen – eine vornehme junge Dame, der man vor kaum vier Tagen ohne weiteres am hellen lichten Tag den Vater niedergeschossen hatte! Furcht mußte die nicht kennen, und das imponierte Markwart, ebenso ihr freundlicher, aber fester Gebieterton, der das Befehlen gewöhnt war. Sie nahm jetzt den Schleier herunter, stieg ein und sagte mit gedämpfter Stimme: „Sie können nach Hause fahren!“

7.

Wer nach einem Todesfall nahestehender Menschen das Bedürfnis nach Ruhe und innerer Einkehr fühlt, der darf dieselbe in den ersten Tagen, die dem Verlust folgen, nicht erwarten.

Die Welt ist nun einmal so! Es ist Sitte, den Leidtragenden Teilnahme zu erzeigen, gleichviel, ob man sie empfindet oder nicht; sie tritt auf, sie drängt sich herzu in jeder denkbaren Form, und Leute, die oft innerlich todeswund sind, die ihren Jammer kaum zu ertragen vermögen, werden gezwungen, zahllose Besuche entgegenzunehmen, Beileidsworte anzuhören, Briefe zu lesen, Blumenspenden zu empfangen, kurz, den ganzen üblichen, weitschichtigen Apparat der „Trauerfeierlichkeiten“ um sich herum arbeiten zu sehen.

Alix hätte kaum gewußt, wie dies alles überstehen, ohne Vetter Cecils umsichtigen Beistand, zumal ihr Onkel aus Metz durch Krankheit am Kommen verhindert war. Cecil konnte ihr nicht alles ersparen, sie nicht immer schonen; aber wo es irgend anging, da that er es gewiß. Zahlreiche Leute, welche nichts als die gewöhnlichste Neugier, die so lange unsichtbar gewesene Tochter des Ermordeten, die Erbin des reichen Herrn von Hofmann zu sehen, nach Josephsthal getrieben hatte, mußten sich mit dem Anblick des englischen jungen Verwandten begnügen, der sie mit tadelloser Höflichkeit empfing und im Namen seiner Cousine alle Beileidsäußerungen und herrlichen Blumengaben in Empfang nahm: „Alexandra wird so sehr bedauern! Sie läßt durch mich bestens danken und sich vielmals entschuldigen, ist aber wirklich viel zu angegriffen, als daß ich ihr persönliches Erscheinen gestatten dürfte!“

Im übrigen zeigte er sich nicht besonders mitteilsam, dieser junge englische Herr. Ueber die Mordthat behauptete er, gar nichts Näheres zu wissen, Vermutungen sprach er nicht aus, über seine Cousine, ihre Persönlichkeit, ihre ferneren Absichten beobachtete er die äußerste Zurückhaltung, und die etwaigen Pläne und Bestimmungen seines verstorbenen Oheims versicherte er, nicht zu kennen. Die im großen Festsaal aufgebahrte Leiche bekam niemand zu sehen; wer eine Andeutung dieser Absicht wagte, erhielt die Antwort, es sei ein zu erschütternder Anblick, und die Tochter des Verstorbenen wünsche nicht, daß jemand zur Besichtigung zugelassen werde.

Am dreiundzwanzigsten Februar ein Uhr mittags läuteten die Josephsthaler Kirchenglocken und die der umliegenden Ortschaften zur Totenfeier für den Mann, der in seinem Distrikt und weit über denselben hinaus das Ansehen eines Herrschers genossen hatte.

Seit der Nacht war leichter Frost eingefallen, die Sonne lachte am lichtblauen Himmel, die Bäume standen im Rauhreif. Zahllose Schlitten lenkten ihren Lauf zum Josephsthaler Schloß, von dessen Zinne die Trauerflagge, auf Halbmast gehißt, im leichten Winde wehte. Schwarz verhüllt die lichten Marmorstufen im Innern des Schlosses, schwarz bezogen die Treppengeländer, mit Krepp umwickelt sämtliche Griffe und Thürdrücker. Von den Waffentrophäen in der Halle wallten lange schwarze Florschleier nieder. Bewegungslos, die langen Goldstäbe mit mächtigen schwarzen Schleifen und Bändern umwickelt, standen zwei Bediente des Hofmannschen Hauses in ihren Trauerlivreen neben dem Portal, während andere geräuschlos vor den Ankommenden herhuschten und sie in den Trauersaal geleiteten, in dessen Mitte unter einer Flut von Blumen und Palmen der hohe Katafalk aufgestellt war. An der linken Langseite desselben hatten die zahlreichen Oberbeamten der Josephsthaler Werke Aufstellung genommen, während den Gästen die rechte Hälfte des Saales sowie dessen Hintergrund angewiesen wurde.

Als alle, die gekommen waren, dem Toten die letzte Ehre zu erweisen, sich versammelt hatten, thaten die hohen Flügelthüren sich auf, und unter Vorantritt des Josephsthaler Geistlichen kam Alexandra von Hofmann am Arm ihres Vetters Cecil Whitemore langsam näher.

Die vielen Augen, die auf sie geheftet waren und erwartet hatten, eine Schönheit zu sehen, wurden nicht enttäuscht. Schön war Alix in diesen langschleppenden tiefschwarzen Gewändern mit ihrem blütenweißen jungen Gesicht, dem feinen, stolzen Profil und dem rotbraunen Haar. Gesenkten Hauptes schritt sie an ihren Platz. Die Trauerfeierlichkeit begann.

Der Josephsthaler Prediger sprach von dem Toten als von dem genialen Gründer der Josephsthaler Kolonie, dessen Wirksamkeit für die Gegend eine neue Aera bedeute, er sprach von ihm als von einem unermüdlich hilfreichen und gütigen Wohlthäter, der voll Humanität gewesen sei im edelsten Sinn des Wortes. Von der Verwaisung redete er, die über all die Hunderte, die diesem einziggearteten Mann unterstellt gewesen seien, fortan gekommen sein müsse, von der Verwaisung, die vor allen seine einzige Tochter betroffen.

Alix stand mit gesenktem Blick, gesenktem Haupte da und ließ den unaufhaltsamen Strom der feurigen Beredsamkeit ohne Bewegung über sich ergehen. Die Thränen blieben ihr auch jetzt wieder versagt. – Und nun setzte sich der Trauerzug nach der Schloßkapelle in Bewegung. Der Weg dahin führte ein gutes Stück durch den Park, an dessen westlicher Seite die Kapelle lag. Vor dem Schloß waren sämtliche Arbeiter, die zur Kolonie Josephsthal gehörten, aufgestellt, eine schwarze, mehrhundertköpfige Menge, welche die Häupter entblößte, als der blumenbedeckte Sarg inmitten des Portals sichtbar wurde.

Acht Leute der Schneidemühle hoben den Sarg auf ihre Schultern – die Glocken läuteten ununterbrochen und die aus Greifswald verschriebene Militärmusik stimmte einen Trauermarsch an. Langsam setzte das ungeheure Leichengefolge sich in Bewegung.

Noch einmal vor der geöffneten Thür der mit Blumen reichgeschmückten Kapelle wurde der Sarg niedergesetzt, noch einmal sprach der Geistliche, diesmal im Freien, mit lautschallender Stimme zu der versammelten Arbeiterbevölkerung.

Dann war der Sarg in die Gruft hinabgelassen worden, und Freiherr von Hofmann war der Erde wiedergegeben, von der er genommen war.

Für Alix folgte noch eine peinvolle halbe Stunde, da viele Leute aus der Nachbarschaft ihr vorgestellt zu werden wünschten, die behaupteten, gute Freunde ihres Vaters gewesen zu sein, sich ihrer, der kleinen Alix vor zehn Jahren, noch deutlich zu entsinnen, und beanspruchten, daß auch sie sich ihrer deutlich entsänne.

Aber endlich waren sie alle miteinander fort, und Alix zog sich in ihre Zimmer zurück, sprach ein paar beruhigende Worte zu der sie beständig umsorgenden Françoise und begann für sich allein den Brief ihrer Maria zu lesen, der heute früh in Begleitung eines schönen Arrangements von Palmzweigen und weißen Rosen bei ihr eingetroffen war. Der Brief lautete:

„Ich will haben, daß Du diese Worte am dreiundzwanzigsten Februar lesen sollst, mein geliebtes Herz, und, wie ich meine Alix kenne, wirst Du sie dann erst lesen, wenn der schwere und traurige Akt, der Dir heute bevorsteht, überwunden ist. Du sollst es empfinden, daß ich mit meiner ganzen Seele bei [527] Dir bin, daß ich mich, in Freude wie in Leid, getreulich zu Dir rechne, daß nichts auf der weiten Welt geschehen kann, was meine Liebe und Freundschaft zu Dir zu erschüttern imstande wäre …. ebenso, wie ich mich dessen jederzeit von Dir versichert halte! – Ach, mein armer Liebling, schwere Zeiten sind über Dich hereingebrochen, noch schwerere vielleicht stehen Dir bevor! Hab’ ich Dich stark genug gemacht, alles zu ertragen, was Dir auferlegt ist, hab’ ich das? Unaufhörlich klingt mir diese bange Frage im Herzen wieder! Es war keine Kleinigkeit für mich, ein ‚Kind des Glücks‘, wie die Menschen Dich so gern nannten, zu erziehen, Dich das heitere, schöne, sorglose Dasein, welches das Schicksal Dir bereitet, genießen zu lassen und Dir doch wieder und wieder, beständig fast, zu wiederholen: ‚Es ist keiner im Leben immer ein Kind des Glücks! Schau’ um Dich und schau’ in Dich! Glänzende äußere Gaben befähigen zu vielem, erleichtern manches, sie können aber die Schicksalsschläge nicht abwenden, die niemand erspart bleiben!‘

Und nun ist das Schicksal gekommen und hat Dich so früh, so unerwartet früh vor eine große, schwere, verantwortliche Aufgabe gestellt! –

Was soll ich es Dir verhehlen, meine Alix, ich habe oft mit Angst und Zittern an diese Deine Zukunftsaufgabe gedacht. Denn Herr sein über so viele – das ist schon für einen intelligenten Mann, der von Jugend auf dazu geschult ist, ein schweres Amt! Nun aber ein junges, verwöhntes Mädchen gar, das nicht den Schatten einer Vorbereitung zu solchem Amt gekannt hat! – – –

Wenn mich diese Furcht nun überkam, so war es mir ein Trost, Deines Vaters kräftige, lebensvolle Gestalt, seine eisenfeste Gesundheit, sein in sich geschlossenes Wesen, seine regelmäßige Lebensweise und stete Arbeitsfreudigkeit mir in Erinnerung zu bringen. ‚Er wird noch lange, lange leben! Er wird sehr alt werden – meiner Alix wird es viele Jahre hindurch erspart sein, diese ungeheure Verantwortung auf sich zu nehmen; sie wird Zeit haben, innerlich auszureifen, und wenn das Schwere an sie herantritt, so wird es sie einigermaßen gerüstet finden!‘

Und jetzt ist mein armes, süßes Kind eben einundzwanzig Jahre alt geworden!!

Mich haben einige Bekannte, die ich auf der Straße traf und die den Mut besaßen, sich an mich heranzuwagen – den Sinn dieser Worte erkläre ich Dir später – schon gefragt, ob Du nicht sehr bald hierher zurückkehren und demnächst auf längere Zeit verreisen würdest? Nicht wahr, Kind, ich that recht daran, ihnen zu sagen, daß Du daheim bleiben und versuchen wolltest, Dich in Deine neuen Pflichten einzuleben? Du gehörst jetzt nach Josephsthal und nirgend anderswo hin! Deine Pflichten halten Dich dort fest. Und noch einen zweiten stichhaltigen Grund, außer diesen neuen Pflichten, giebt es, weshalb meine Alix um keinen Preis fahnenflüchtig werden darf! Sie haben Dir Deinen Vater heimtückisch gemordet, Du armes Herz; seinem Wirken und Schaffen ist ein vorzeitiges Ziel gesteckt worden. Deine Pflicht als Tochter gebietet es Dir, am Ort der That zu bleiben, jeden Schritt, den man zur Entdeckung des Thäters unternimmt, zu verfolgen, bis, hoffentlich bald, Licht in dieses traurige Dunkel gebracht wird. Schwer und lastend genug liegt auch diese zweite Aufgabe auf Dir – aber ich habe immer gefunden, daß mein Liebling ein starkes Herz hat und eine elastische, gesunde Natur .…. beides im Bunde miteinander wird Dir auch jetzt helfen, da der bittere Ernst des Lebens so gebieterisch an Dich herantritt. – Für Deine kurzen, aber so sachgemäßen und häufigen Nachrichten sage ich Dir tausend Dank. Es war sehr liebevoll und zart von Dir, mir in dieser für Dich so schweren Zeit täglich zu schreiben, aber Du weißt es ja, mußt es ja fühlen, wie mein Herz jede Stunde um Dich bangt und sorgt!

Ach, daß ich nicht bei Dir sein kann, nicht zu Dir eilen darf!

Du fragst nach den Kindern – mitten in Deinem eigenen Kummer und Deiner Aufregung hast Du an unsere Kleinen gedacht und uns dadurch unbeschreiblich wohlgethan. Ich muß nun wohl von uns erzählen; Liebste, leider kann ich nichts Gutes berichten! – – Am Tage Deiner Abreise steigerte sich bei unserem Werner das Fieber aufs neue bis zu bedenklicher Höhe, der Arzt konstatierte einen Rückfall, und während ich in Angst und Schrecken um das Kind bemüht bin, bekomme ich die Nachricht, daß meine kleine Else im Pensionat unter beängstigenden Symptomen erkrankt ist, und daß man auch bei ihr Diphtheritis fürchte.

Ich habe mich sofort in einen Wagen gesetzt und mir das Kind, in Kissen gepackt, hergeholt – wie sollte ich den Damen dort so viel Sorge und Unbequemlichkeit aufbürden – und dann – wer könnte ein Kind besser pflegen als seine eigene Mutter? – –

Das kleine Leben war zwei Tage hindurch sehr in Gefahr, meine Alix, so sehr, daß wir versuchten, uns aufs schlimmste gefaßt zu machen. Ach, versuchten! Wäre es gekommen – ich weiß nicht, wie wir’s hätten tragen sollen!

Fürs erste ist die unmittelbare Lebensgefahr vorüber, aber beide Kinder sind unsagbar schwach und mitgenommen, namentlich Else, die sich in den wenigen Tagen fast bis zur Unkenntlichkeit verändert hat.

Ich schreibe diesen langen Brief mitten in der Nacht; mein Tisch steht zwischen den beiden Kinderbetten. Hebe ich die Augen, so kann ich die kleinen Schläfer sehen. Werner ist recht mager und blaß, sein liebes Gesicht aber doch zu erkennen. Mein Elschen – immer noch kommen mir die Thränen, wenn ich das Kind ansehe! Werde ich es wirklich behalten dürfen?

Die Fenster stehen offen, es soll beständig frische Luft im Zimmer sein; ich sitze im dicken Mantel, ein warmes Tuch um Hals und Kopf genommen, aber die Hände sind mir doch steif und kalt! – – Dies die traurigen Gründe, die mich jetzt von Dir fernhalten!

Ich habe mich nun gemüht, soweit mir dies ohne persönliches Eingreifen möglich war – denn die Menschen scheuen doch mit Recht die Ansteckung so sehr! – eine Art von Ersatz für meine Person ausfindig zu machen, denn allein kannst Du nicht bleiben, Du brauchst notwendig eine Gesellschafterin, Françoise genügt dafür in keinem Fall. Da hat mir nun meine Kollegin, die Professorin Behr, die sich richtig zu mir wagte – wie Du weißt, hat sie keine Kinder, und Furcht vor Ansteckung kennt sie nicht – eine einstige Jugendfreundin, die in Berlin lebt und immer noch mit ihr im Briefwechsel steht, warm empfohlen.

Es ist die Wittwe eines Majors von Sperber, kinderlos, überhaupt ohne jeden Anhang, eine rüstige ältere Dame, liebenswürdig, gescheit, mit guten, feinen Manieren. Sie hat zu leben, wie man so sagt, hat aber des öfteren geäußert, wie wenig dies thatenlose Dasein sie befriedige, wie sie sich nach irgend welcher Thätigkeit sehne und am liebsten bei einer verwaisten jungen Dame Mutterstelle vertreten und die Repräsentationspflichten übernehmen möchte. Frau Professor Behr sandte mir ein paar Briefe ihrer Freundin, und sie gefielen mir gut. Meine Kollegin selbst kennst Du ja als eine kluge und sympathische Frau, deren Urteil man wohl trauen darf. – – Was also meinst Du? Soll ich der Majorin v. Sperber in Deinem Namen schreiben? Oder willst Du dies selbst thun? Ihre Adresse füge ich bei. Es ist ein Griff in die Glückslotterie, diese Wahl einer Gesellschaftsdame für Dich, aber selbst bei Menschen, die man zu kennen glaubt, stellen sich im steten Zusammenleben oft genug unliebsame Überraschungen ein! – – Daß Du in dieser wichtigen Angelegenheit einen raschen Entschluß fassen mußt, liegt auf der Hand. –

Mein Mann läßt grüßen und denkt, gleich mir, in Liebe und Sorge an seine Pflegetochter. Werner hat schon nach Dir gefragt und schickt gleichfalls seinen Gruß. Meine kleine Else liegt noch ganz abgespannt und teilnahmlos da.

Gott mit Dir, mein Kind, mein Liebling, meine beste treueste Freundin! Schreib’ mir, sobald Du irgend kannst, und übersteh’ tapfer den heutigen schweren Tag und die ebenso schweren Zeiten, die ihm folgen werden!

Immer die Deine und immer bei Dir!  

Maria.“ 

(Fortsetzung folgt.)




[528]

Die Vierlande.

Von O. Schwindrazheim.     Mit Illustrationen von H. Haase.

Der Fremde, der Hamburg einen Besuch abstattet, pflegt wohl dem berühmtesten Punkte der näheren Umgegend, Blankenese, einige Stunden zu schenken, im übrigen aber hegt man keine allzu optimistische Ansicht von den Reizen, die Hamburgs Umgegend etwa aufweisen könnte.

„Flaches Land, teils fruchtbar, teils nicht, mit Feldern, Bauernhäusern, Bauern – worin sollte das wohl von dem Durchschnittstypus einer norddeutschen Dorflandschaft abweichen? Blankenese – da ist doch ein Berg mit Aussicht, da ist malerische Abwechslung – aber da hinten, wo’s flach ist wie ein glattgehobelter Tisch – ja, was sollte da wohl los sein!“ So sprach zu mir ein Freund aus Süddeutschland, der in Hamburg auf Besuch war.

„Meinen Sie?“ erwiderte ich. „Schade, ich wollte Sie eigentlich gern zu einer kleinen Fahrt gerade in Blankenese entgegengesetzter Richtung bereden!“

„Schöne Rosen, meine Herren!“ redet uns plötzlich eine merkwürdige Frauensperson an, die auf der Treppenrampe eines vornehmen Hotels am Jungfernstieg dasitzt. Ein breitrandiger Strohhut mit steifen schwarzen Rückenschleifen bedeckt ihr Haupt, ein mit Goldstickerei und Silberschmuck geziertes Mieder umschließt ihre Brust, ihr dunkler Rock hat auffallende steife Glockenform. – „Eine Vierländerin,“ antworte ich auf die Frage, wer das sei. – Wir schlendern zum Hopfenmarkt, Hamburgs größtem Gemüsemarkt, am Fuße der Nikolaikirche. „Die Frauen dort,“ erkläre ich, „die ganz vergraben sind unter einer Unzahl von Körben voll lockender Gemüse und Früchte, sind auch Vierländerinnen. Jener Bauer in Kniehosen, dunklem Wams mit Silberknöpfen und stattlichem Cylinder gehört dazu. Prachtvolles Obst, nicht wahr? Diese Erdbeeren und Kirschen, diese Johannis- und Stachelbeeren – sehen Sie, auch Pfirsiche sind da. Ja, Vierlanden! In dem gesegneten Landstrich soll’s wohl gedeihen, das ist das reine Paradies! Wohl gemerkt, auch ein künstlerisch hochinteressantes Land, prachtvolle Kirchen, volkstümliche Kunst, malerische Architekturen und Landschaften!“ –

Ob es weit dahin sei, fragt mein Gast. „O nein, mit der Bahn eine halbe Stunde oder mit einem Dampfer zwei und eine halbe.“ – Ob wir nicht einmal dorthin könnten? „Ei gewiß, haben Sie denn Lust? Ja? Das ist ja herrlich, dann habe ich Sie nun auf dem Punkte, wo ich Sie haben wollte! Auf der Eisenbahnfahrt und unterwegs auf dem Marsche von der Station Bergedorf nach Kurslak erzähle ich Ihnen ein wenig im voraus von den Vierlanden.“ …

Zur Zeit Heinrichs des Löwen war’s, da kamen aus den Niederlanden, wo der Mensch gelernt hatte, dem Wasser zum Trotz aus überfluteten Sümpfen fruchtbares Land zu machen, Ansiedler in die Gegend, die wir heute Vierlanden oder die Vierlande nennen. Wo sich jetzt fruchtbare Aecker, Gemüse-, Obst- und Blumenfelder ausdehnen, sah’s dazumal bös aus. Aus dem in der Urzeit riesenbreiten Strombette der Elbe hatten sich allmählich, gebildet durch niedersinkende Schwemmstoffe des Stromes, niedere, sumpfige Inseln erhoben, die, weil sie der Flut stetig ausgesetzt blieben, unbewohnbar waren. Das war ein Terrain, das den Ankömmlingen paßte, aus dem sie durch Deichbauten, durch Entwässerung und emsigen Fleiß bei der Bebauung des Bodens das gemacht haben, was heute die Vierlande sind: ein überaus üppiges Gemüse-, Obst- und Blumenland, eine der anmutigsten Gegenden Norddeutschlands!

Stolz sagen wir Hamburger: es ist Hamburgisches Land – unsere Vorfahren haben’s, wie auch Ritzebüttel, mit den Waffen in der Hand gewonnen. 1420 hat’s Herzog Erich IV von Sachsen-Lauenburg im Frieden von Perleberg an Lübeck und Hamburg, nachdem sie seine festen Schlösser Bergedorf und Ripenburg genommen, abgetreten. Bis 1868 waren die Vierlande „beiderstädtisch“, dann kamen sie durch Kauf in Hamburgs Alleinbesitz.

– Nun flink noch etwas rein Geographisches, denn gleich sind wir da! … Das Ländchen wird im Süden und Osten von der Elbe begrenzt, im Norden stößt es an das holsteinische Geestland, im Westen an die Hamburgischen Landschaften Bill- und Ochsenwärder. Zwei im 15. Jahrhundert am oberen Ende abgedämmte Elbarme, die Dove- und Gose-Elbe, welche eine bequeme Beförderung der Landeserzeugnisse zu Schiff nach der Stadt ermöglichen, zerlegen es in drei Streifen Ein hoher Elbdeich schließt es gegen die Elbe, niederere Deiche dämmen es gegen die toten Elbarme ab. Die Deiche sind zugleich, abgesehen von ein paar Querstraßen, die einzigen fahrbaren Wege. Vier Orte enthält das Ländchen, wie sein Name sagt: Kurslak, Alten- und Neuengamme und Kirchwärder. – So, und nun kann unser Streifzug beginnen!

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Beim Sortieren der Maiblumenkeime.

Merkwürdige Straßen sind es, auf denen wir einherwandeln. Hoch erheben sich die aufgeworfenen Dämme über das Land, bald, wie z. B. große Teile des Elbdeiches, nackt, baumlos, bald an der einen Seite durch hochragende Bäume gefestigt, bald durch schattige Alleen geziert. Der stärkste Deich ist natürlich der Elbdeich, der, mit großen Steinen gepanzert, namentlich im Winter durch den Anprall des oberländischen Eises, sowie im [529] Sommer durch starke Fluten den heftigsten Angriffen ausgesetzt ist. Hinter dem Deiche liegen die Häuser, die älteren unten, so daß man bequem in die Fenster hinabgucken kann, die neueren in Deichhöhe. Ein mehr oder weniger breites Vorland trennt den Fuß des Deiches vom Flusse, je nach den Windungen des letzteren.

Weit schweift der Blick vom Deich aus über das gesegnete Land hin. Was, abgesehen von der überall zu Tage tretenden Ueppigkeit des Wachstums, den Vierlanden den Charakter der Eigenart giebt, ist die stark hervortretende Gemüse-, Obst- und Blumenzucht, ganz insbesondere die letztere. Die Vierländer sind Hamburgs Hauptblumenlieferanten. Wahre Blumenfelder giebt’s hier, auf denen alle beliebten Blumen, Rosen, Maiglöckchen, Nelken, Narzissen, Levkojen, Veilchen, auch hochmoderne, wie Chrysanthemen, Gladiolen etc., gezogen werden – ja, der Ausdruck „Blumenmeer“ ist bisweilen für dieses Gartenland am Platze, ein Vergleich, der um so besser paßt, als wir in dem köstlichen Duft, den dieses Meer aushaucht, ein Gegenstück zu der kräftigen Seeluft haben.

Rose und Maiglöckchen („Maibloom“) sind die Königinnen unter den Vierländer Blumen. Außer durch den Verkauf derselben an Hamburger Blumenläden und Blumenhändler weiß der kluge Vierländer aber auch noch auf andere lohnende Weise Gewinn aus ihnen zu ziehen: die Rose präpariert er für die Zwecke des Konditors und des Rosenölfabrikanten, die jungen Schößlinge der Maiblumen im Herbste versendet er ins Ausland, nach Rußland, England, ja nach Amerika und womöglich noch weiter, damit sie dort, künstlich schnell zum Aufblühen gebracht, die Liebhaber des reizenden Blümleins erfreuen können. „Maiblume“ hat er in Anerkennung dieser Bedeutung des Blümchens auch den Dampfer getauft, der Hamburg direkt mit dem Herzen seines Ländchens verbindet. Jeder Vierländer hat zum mindesten ein paar Beete mit Maiblumen bepflanzt; auf unserem unteren Bilde S. 528 sehen wir eine Familie mit dem Sortieren der Keime beschäftigt.

Unter den Früchten nimmt die Vierländer Erdbeere den ersten Platz ein. Vierländer Erdbeeren mit Milch – mit der Verheißung dieses Genusses kann man auf einem Hamburger Kindergesicht den Ausdruck der höchsten Seligkeit hervorrufen! – Aber die Johannis-, Stachel- und Himbeeren, die Kirschen, Pflaumen, Aepfel und Birnen, Pfirsiche, Aprikosen etc. zeichnen sich nicht minder aus. Ein Ausflug in die Vierlande zur Obstblüte ist ein köstlicher Genuß – nun aber erst einer zur Obstzeit selbst, wenn Bäume und Sträucher sich unter der Last ihrer Früchte beugen! Das ist ein Vorhaben, welches der Hamburger Jugend die Aussicht auf Freuden eröffnet, die sich nur durch das Wort „Paradies“ einigermaßen andeuten lassen!

Erfreut sich das Kinderherz am Obstsegen, so bewundert die Hausfrau die weiten Gemüsefelder mit ihren Schätzen über und unter der Erde – nein, wie das alles hier steht, es ist ein wahrer Staat! Hier diese türkischen Erbsen, dort die saftigen Gurken; da ein mächtiger Kürbis, dort ein weites, mit rotem Kohl bestandenes Feld!

Ein besonderer, aber nicht häufig vorkommender Zweig der Vierländer Gärtnerei ist die Zucht medizinisch wichtiger Pflanzen für Apotheken und Droguerien. Die Viehzucht ist im Lande verhältnismäßig gering; ein Tier allerdings war in früheren Zeiten auch ein besonderer Handelsartikel der Vierländer – der Blutegel. –

Aber wir sind ja wohl blind! Da laufen wir nun schon eine ganze Weile durchs Land und reden nur von dem, was gut schmeckt oder für die wackeren Bewohner recht einträglich ist – was für Materialisten sind wir doch! Als ob das alles wäre, was unser Interesse fesselt!

Haus – Garten, Haus – Garten –, wie in einem Gedicht lange und kurze Silben abwechseln, so wechseln überall in den Vierlanden jene beiden ab. Wir wandeln, wenn wir uns immer auf dem Deiche halten, stetig durch eine gleichmäßig bewohnte Straße. Von einer Breiteausdehnung der Vierländer Dörfer ist gar keine Rede. Eine einzige lange Straße, das ist der Typus des Vierländer, wie ja jedes Marschdorfes. Nur an wenigen Stellen, z. B. bei den Kirchen, findet sich eine Häusergruppe, die an ein Dorf in landläufigem Sinne erinnert, hier giebt es auch kleine Verkaufsläden und Wirtshäuser.

Da steht so ein stattliches Vierländer Bauernhaus vor uns! Ist es nicht ein prächtiger Anblick, dieses im allgemeinen den Typus eines echt niedersächsischen Bauernhauses wiedergebende, so behäbig und ehrwürdig dreinschauende alte Haus mit dem mächtigen Strohdache und den Pferdeköpfen als Giebelschmuck?

Es sind alte Burschen unter diesen Häusern, bemooste Häupter in des Wortes verwegenster Bedeutung. Die ältesten datierten Häuser besitzt Neuengamme, das älteste von ihnen trägt die Jahreszahl 1559 in dem Hauptbalken eingeschnitzt.

Entsprechend der Eigenart des Landes, wonach das zum Hause gehörige Land hinter dem Hause liegt, kehrt das Vierländer Bauernhaus seine „Grotdör“, die große Einfahrtsthür, dem Felde zu. Die der Straße zugewandte Seite besitzt überhaupt keine Thür, wohl aber befindet sich an den beiden mächtigen Langseiten je eine aus einzeln zu öffnendem Ober- und Unterflügel bestehende „Blankendör“, s. v. w. by-langs-dör, gleichbedeutend mit Seitenthür.

Prächtige Fachwerkbauten sind’s, diese alten Häuser (vgl. die obere Abbildung S. 528). Namentlich die der Straße zugewandte Seite ist reich geschmückt. Die Querbalken sind bisweilen schön geziert mit einfachen Ornamenten, das Werk altgeübter volkstümlicher Techniken, des Kerbschnitzens und der Ausgründung, nach [530] Motiven der deutschen Renaissance, mit frommen Sprüchen plattdeutscher Mundart etc. versehen. Die aus Ziegelsteinen gemauerten Flächen sind durch Anwendung roter Steine mit weißen Fugen in verschiedenen Mustern zusammengestellt, bisweilen sind die Figuren eines Hexenbesens oder einer Windmühle darin eingefügt. Das obere Stockwerk ist gegen das untere vorgekragt, hübsch geschnitzte Konsolen stützen es. Die Fenster der alten Häuser sind sämtlich klein; wo sich größere finden, sind sie nachträglich vergrößert worden.

Bisweilen liegt zwischen Straße und Haus ein kleiner Blumenvorgarten, der auch andere als die zu Handelszwecken angebauten Blumen aufweist, darunter mehrere uralte Lieblingsblumen des Landvolks, die sog. Bauernrose, die Strohblume etc. Immer aber befindet sich neben dem Hause ein durch eine dichte, niedere Hecke abgeschlossener Gemüse- und Blumengarten, dessen Beete säuberlich mit Buchsbaum umsäumt sind. Neben der Blankendör steht gar oft auch ein Aufwaschapparat mit einem originell geformten Geschirrtrockenständer (vgl. die obere Abbildung S. 529).

Es ist ein Jammer, wenn man sieht, wie auch hier immer mehr städtische Einflüsse den alten Bauernhaustypus verdrängen und an die Stelle seiner zur Umgebung so prächtig stimmenden ernsten Schönheit die Reizlosigkeit weißgestrichener, schiefergedeckter „moderner“ Häuser tritt, die mit unverstandenen, antik oder schweizerisch sein sollenden Schnörkeleien verunziert sind!

Noch andere merkwürdige Bauten giebt’s in „Veerlann“. Da sind zunächst ein paar eigentümliche, turmartige Kornspeicher aus dem 17. Jahrhundert erhalten, sodann treffen wir merkwürdige, in ihren Umrissen an siamesische Pagoden erinnernde Heuberge mit hoch oder niedrig zu stellendem Dache – endlich sind auch die vier alten Kirchen schon äußerlich ganz interessant. Der aus Holz erbaute Glockenturm, der nur niedrig ist, steht für sich neben dem eigentlichen, aus Natursteinen erbauten, mit hohem Ziegeldach gedeckten Gotteshause; stets umgiebt den Bau ein schön gehaltener Friedhof, auf den in Kurslak ein schmuckes, eigenartiges Eingangsthor führt.

Noch eines besonderen Hauses muß gedacht werden, des „Zollenspieker“, eines alten, ziegelgedeckten, festen Hauses an der Elbe, das, unter hohen alten Bäumen gelegen, einen beliebten Ausflugspunkt der Hamburger bildet. Es ist historisch von Interesse, einmal, weil hier, wo auch die alte Straße Lüneburg–Hamburg die Elbe überschritt, von Hamburg und Lübeck der sog. Eßlinger Elbzoll erhoben wurde, zweitens, weil hier 1620 Herzog Georg von Braunschweig-Lüneburg einen Einfall ins Land machte, aus dem er erst nach vier Wochen durch Hamburgische Truppen vertrieben werden konnte. –

Und nun wollen wir einmal ein Vierländer Haus besuchen!

Wir treten durch die Blankendör ein – „Vadder Claas“ giebt gern seine Erlaubnis, und „Mudder“ auch. Zu unserer Rechten liegen die „grote Deel“ und die Ställe. Zu unserer Linken steht im Hintergrund an der die Wohnräume verbindenden Wand der große deutsche Herd. Verschließbar ist er durch eine mit ausgesägtem Zierwerk schön verzierte Thür, an deren Innenseite allerlei Küchengeräte hängen. Links und rechts von ihm befindet sich je eine in die Wohnräume führende Thür.

Die „Diele“, von der ein Teil auf der unteren Abbildung S. 529 dargestellt ist, zeigt noch allerlei Bemerkenswertes: mächtige Schränke aus der Renaissance- und Rokokozeit, die jedem Museum zur Zierde gereichen würden, alte Truhen, Geschirrschränke mit altem Steinzeug und Messinggeschirr, einen Tisch mit Kugelfüßen, bunte Scheiben im Fenster – ein Vorgeschmack dessen, was unser im Staatszimmer harrt. Nebenbei bemerkt, ist die anderweitige Ausstattung der Diele mit aufgehäuften Körben voller Früchte, mit Speckseiten, Schinken und Würsten, die von der Decke herabhängen, auch nicht ohne Reiz.

Nun aber – „Vadder Claas“ hat uns schon so lange genötigt – treten wir in „de Stuv“ ein, „Mudder“ nennt sie noch mit dem älteren Worte „Döns“. – „Ah!“ entringt es sich dem Munde des Fremden – „das eine Bauernstube?!“

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[H. Haase]
Inneres der Kirche in Altengamme.

Die Wände (vgl. obenstehende Abbildung) sind teils mit blaubemalten Kacheln belegt, zum größeren Teil aber, wie auch die Thür, getäfelt und zwar in Holzintarsia, wozu noch schöne Profilierungen, Gesimse, Holzschnitzereien u. dgl. kommen. Sterne, Blumen und Vögel bilden die Motive der in die blitzenden dunklen Holzflächen eingelegten Ornamente. Auch die Decke ist bisweilen holzgetäfelt oder aber mit Rokokostuck geschmückt. Neben der Thür ist ein Glasschrank mit altem Porzellan angebracht, daneben steht eine hohe, intarsiageschmückte Standuhr; weiterhin blicken wir in einen Alkoven, der saubere, mit schön gestickten Kissenüberzügen geschmückte Betten sehen läßt. Ein mächtiger, schöngeformter, von der Diele aus heizbarer blaubemalter Kachelofen, auf dem allerlei biblische Motive dargestellt sind, steht an der Herdwand. An der Fensterwand zieht sich eine Bank mit originellen Seitenlehnen hin; davor steht ein schöner Tisch mit Kugelfüßen. Die Fenster selbst [531] zieren schöne weiße Gardinen und blühende Pflanzen. Neben dem Ofen und hier und da in der Stube stehen außerordentlich schöne, mit Drechslerarbeit und schönen Blumenintarsien reich und doch äußerst vornehm gezierte Stühle, zu den schönsten gehörig, die es überhaupt giebt! Jene beiden besonders schönen Stühle mit Armlehnen und in schwungvoller Rokokoschreibschrift eingelegten Namenszügen sind die sogenannten „Brautstühle“, mit denen sich die Brautleute beschenken. Ebenso schön ist die über und über mit Intarsien geschmückte große Truhe, in der man die Kleider und Schmucksachen des Hauses verwahrt. Auch die Kissen auf Stuhl und Bank verdienen Beachtung; „Mudder“ holt noch ein paar Staatskissen hervor; einige sind aus bunten Tuchflecken in schönen geometrischen Mustern zusammengesetzt, andere weisen prächtige Blumenstickereien auf. – Eine „Bauernstube“ ist es, deren sich der reichste Hamburger Handelsfürst schier nicht zu schämen brauchte, wie denn in der That in vornehmen Hamburger Häusern bisweilen eine solche alte Vierländer Stube nachgebildet ist und als gemütliche Prunkstube dient!

Das Allerbeste aber ist, daß außer Ofen und Uhrwerk (ersterer entstammt der hochentwickelten Ofentöpferei Hamburgs im 18. Jahrhundert) alles im Lande selbst von bäuerlichen Künstlern hergestellt ist! Ist es nicht erstaunlich, welch feiner Geschmack und welche Eigenart insbesondere sich in all diesen Bauernkunsterzeugnissen ausprägt? Ist es nicht bedauerlich, daß all diese Kunstfertigkeit sang- und klanglos ausstirbt?

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Vierländerinnen im Sonn- und Festtagsgewand.

Auch die Kirchen Vierlandens zeigen einen wahren Ueberfluß eigenartiger Bauernkunstwerke. Altar und Kanzel sind zwar städtische Erzeugnisse der Barock- und Empirezeit, die Kronleuchter solche der Renaissance, die Taufbecken der Gotik – alles andere aber ist echt Vierländer Eigenkunst. Die Seiten der Sitzbänke zeigen in bunter Abwechslung prächtig geschnitzte Renaissanceornamente, Intarsien im Blumengeschmack der Vierlande, Kerbschnitzereien, derbe Blumenmalereien etc. Schöne Kissen, aus Flicken zusammengesetzt oder bestickt, liegen auf den Bänken, kleine Intarsiakästchen enthalten das Gesangbuch. Auf den Rücklehnen oder Seitenwänden der Bänke erheben sich sodann ganz eigenartige, den Vierlanden, wie’s scheint, ureigene Huthalter. Sie sind aus Eisen geschmiedet, zum Teil in den Formen der Renaissance oder des Rokoko, auch des Empire, zum Teil aber zeigen sie eigenartige, auf Grundlage der Vierländer Blumen entwickelte Ornamente. Fast ausnahmslos sind sie derb bunt bemalt. Für die Emporensitze sind einfachere Huthalter an der bisweilen blau mit goldenen Sternen bemalten Decke angebracht. Besonders wenn zur Erntezeit die Kirche mit Blumen reich geschmückt ist, vereinigen sich die hohen, barocken Altäre, die biblischen Bilder an den Brüstungen der Emporen, die Kanzel, die Kronleuchter, die bunten Bänke, die originellen Huthalter zu einem höchst malerischen, farbenreichen Gesamtbilde – und dazu denke man sich die Kirche gefüllt mit Vierländern in ihrer eigenartigen Tracht. Unser unteres Bild S. 530 zeigt das prächtige Innere der Kirche in Altengamme.

Auch die Vierländer Tracht zeugt von der Kunstbegabung des Völkchens. Der Volksschlag ist mehr stämmig untersetzt als groß; markante Züge weisen die Gesichter der Männer auf, während unter den Mädchen oft feinere Züge zu beobachten sind. Die Sprache ist ein etwas eigen gefärbtes Plattdeutsch – man sagt sogar, die Bewohner der einzelnen Kirchspiele vermöchten sich an einzelnen Besonderheiten der Sprache zu erkennen. Die Namen erinnern vielfach an holländisch-friesische: Gesche, Wöbke, Becke, Ancke, Etsche, Mette, Barber sind Mädchenvornamen, Ties, Marten, Theis, Harmen, Hencke, Heien Männervornamen.

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Bauern im Alltags- und im Sonntagsgewand.

Die Landschaften unterscheiden sich auch etwas in der Tracht, und zwar durch Farbennuancen der Strümpfe bei den Mädchen, der Wämser bei den Männern. Namentlich die Frauentracht (s. nebenstehende Abbildung) ist jedem, der Hamburg besucht hat, bekannt: der charakteristische Strohhut mit den Windmühlenflügeln ähnelnden, schwarzen steifen Schleifen, der prächtige Miederschmuck, die kurzen, gefältelten Glockenröcke u. s. w. setzen eine der eigenartigsten deutschen Volkstrachten zusammen. Wenn man in den Vierlanden einmal Gelegenheit hat, den gesamten Schmuck und die Staatsgewänder einer alten Bäuerin zu betrachten, so muß man billig staunen über die Kostbarkeit und Schönheit der Halsketten, des Brustschmucks, der Hemdspangen, der Ringe, der Schnallen u. s. f., Arbeiten von Goldschmieden im Städtchen Bergedorf oder im Lande selbst, zumeist Silberfiligran in reizvollster Ausführung. Auch die von den Bäuerinnen selbst gefertigten Gold- oder Silberstickereien des Mieders, die Buntstickerei der Schürzen zeugen von bewunderungswürdiger Kunstfertigkeit und kräftig eigenem Geschmack des Völkchens.

Die Vierländer Männertracht (s. nebenstehende Abbildung) weist außer silbernen Knöpfen an Wams und Weste, zu denen ehedem noch silberne Hutschnallen traten, keinen Schmuck auf, sieht indes trotzdem oder gerade dadurch sehr stattlich aus.

Beachtenswert ist, daß die Vierländer, obschon sie heute mit vollen Segeln in das Fahrwasser der Nachahmung städtischen Wesens steuern, äußerst stolz auf ihre heimische Kunst sind; mit großem Behagen lauschen sie dem Lobe, das man derselben zollt.

Ich glaube kaum, daß ein Fremder, der unter sachkundiger Führung einmal einen Streifzug durch unsere Vierlande macht, es bereut, seine Zeit dem eigenartigen, schönen Ländchen gewidmet zu haben – im Gegenteil, die Erinnerung an die Schönheiten der Landschaft, an die Eigenart der künstlerischen Erzeugnisse der Bevölkerung wird eine der angenehmsten Erinnerungen an Hamburg überhaupt ausmachen! – Er wird’s dann verstehen, weshalb jeder Hamburger auf die Vierlande stolz ist!



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Flügellahm.

Erzählung von Hans Arnold.

Das Tischgespräch an unserer Junggesellentafel hatte heute einen ungewöhnlich erregten Verlauf genommen. Ein uns allen bekannter und mehr oder weniger nahestehender junger Mann aus bester Familie und von vielverheißenden Anlagen hatte sich das Leben genommen; es hieß: eine unerwiderte Leidenschaft habe ihn zu der Verzweiflungsthat getrieben. Der Vorfall fand die verschiedenste Beurteilung; es fehlte nicht an Stimmen, welche die That einer strengen Kritik unterwarfen; andere wollten es nicht begreifen, wie ein vernünftiger Mann unserer Tage durch unglückliche Liebe dazu gebracht werden könnte, sich das Lehen zu nehmen, oder auch nur, einer solchen Leidenschaft überhaupt eine Gewalt einzuräumen, durch die bestehende Verhältnisse verändert oder gar umgestoßen würden. Am wärmsten hatte sich des Unglücklichen mein Freund Doktor Rütgers angenommen, ja, er war darüber in eine Erregtheit geraten, die ich sonst an dem ruhigen besonnenen Arzt nicht kannte. Doch als er wahrnahm, daß der Streit eine persönliche Wendung zu nehmen drohte, war er in Stillschweigen verfallen. Auch nach unserem Aufbruch schritt er eine ganze Weile schweigsam neben mir her. Erst als wir seine Wohnung erreichten, wandte er sich mir zu, während er mit den Augen gegen die Wolken deutete, aus denen eben vereinzelte große Regentropfen niederzufallen begannen.

„Wir werden heute wohl kaum zu unserem Abendspaziergang kommen,“ sagte er im Ton des Bedauerns. „Und doch drängt es mich, das Gespräch von heute mittag in Ruhe mit einem Freunde fortzusetzen. Jetzt ruft mich die Sprechstunde. Wie wär’ es aber, wenn Sie heute abend auf ein Glas Wein bei mir vorsprächen. Ich bin ganz allein, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir gerade heute Gesellschaft leisteten – es giebt Tage, wo man an seinen Gedanken keinen gemütlichen Verkehr hat!“

Ich sagte zu, und der Abend fand mich bei ihm in seinem Landhaus, das er allein bewohnte und mit feinem Geschmack und behaglichem Sinne eingerichtet hatte.

Wir saßen in einem großen Zimmer, durch dessen weit geöffnete Thür man in einen stillen, altmodischen Garten sah, der sich in leicht aufsteigendem Herbstnebel in unermeßliche Weite zu verlieren schien, obwohl er nur eng begrenzt war. Die Luft war still und warm, das Windlicht auf unserm Tisch flackerte nur eben so viel, um ab und zu zitternde Lichter in unsere Rotweingläser zu streuen. Die Einrichtung des Zimmers war einfach und behaglich – auffallend darin nur das fein ausgeführte Pastellbild eines jugendschönen Mannes in Reiteruniform, das uns gerade gegenüber hing. Ich konnte mich von dem Gesicht nicht los machen – die schwermütigen Augen standen in einem so seltsamen Gegensatz zu der strahlenden Fröhlichkeit, welche das ganze Gesicht übersonnte. Mit der Zeit wurde ich zerstreut und wortkarg; mein Freund folgte der Richtung meiner Augen und lächelte trübe vor sich hin.

„Das Bild da thut es Ihnen wohl an?“ frug er. „Das glaube ich gern. Und wenn Sie ihn erst selber damals gekannt hätten, dann hätten Sie den Zauber noch viel mehr empfunden, den er auf seine Umgebung ausübte. An ihn habe ich heute mittag denken müssen, als ich mich des unglücklichen Selbstmörders annahm, den die andern verurteilten. Er hat sich zwar nicht wie jener das Leben genommen, Gott sei Dank, nein; aber sein Schicksal lehrte mich die Macht der Leidenschaft kennen, als deren Opfer mir der Verstorbene erscheint.

Er ließ seine Augen mit fast zärtlicher Trauer auf dem kleinen Bilde ruhen und schwieg eine lange Zeit.

„Ja, so sah er aus, und so war er,“ begann er dann. „Als ich ihn kennenlernte, hatte er als junger Kavallerielieutnant seine Garnison in der Universitätsstadt, in der ich vorübergehend thätig war. Ich arbeitete dort als Assistent an einer Klinik, schon mit der festen Absicht, sehr bald die Praxis eines Freundes in einem kleinen Nordseebade zu übernehmen.

Wir wohnten in einem Hause, ohne uns zunächst persönlich zu kennen; ich hatte bloß immer mein Vergnügen an seiner feurigen, ritterlichen Erscheinung und seinem schönen Gesicht; oft bin ich auf meinem Wege stehen geblieben und habe ihm zugesehen, wie er davonritt und wieder zurückkam – es war ein Anblick zum Freuen. Wir kamen mit der Zeit auf stummen Grüßfuß, und dann wurde ich eines Nachts herausgeklingelt und zu ihm gerufen – er war sehr rasch an einer Lungenentzündung erkrankt, und sein Bursche lief in Angst die Treppe zu mir hinauf, um mich zu holen.

Die vierzehn Tage, die er da krank lag, führten mich täglich – oft mehrmals – zu ihm, nicht so sehr, weil er meiner ärztlichen Hilfe so viel bedurft hätte, als weil er mich so interessierte und anzog und weil er mich dauerte! Er stand ganz allein in der Welt, ohne Eltern und Geschwister.

Ich gewöhnte mir bald an, die Abende bei ihm zu bleiben, die er in seiner Rekonvalescenz noch zu Hause verleben mußte, und wie es so geht, ein paar Wochen täglichen Zusammenseins thun unter Umständen mehr als Jahre – wir waren rasch bekannt und befreundet, und die Freundschaft hat Farbe gehalten.

Eines Abends hatte er mich wieder zu sich bitten lassen – wir saßen am Kaminfeuer bei einer Flasche Wein zusammen, er kam mir ungewöhnlich still und nachdenklich vor.

Ich frug ihn nach dem Grund.

‚Ich bin heute dreiundzwanzig Jahr,‘ sagte er, schenkte mir ein frisches Glas ein und ließ das seine dagegen klingen, ‚wie kommt es nur, daß man an solchen Tagen plötzlich so ernsthaft werden kann – daß sie einem vielmal vergehn wie jeder andere Tag und dann auf einmal vor den Augen als Meilensteine in die Höhe ragen, auf denen allerhand unbequeme, rätselhafte Geschichten stehen?‘

,Das sind Rekonvalescenten-Stimmungen,‘ sagte ich, ‚weiter nichts!‘

Er lächelte gedankenvoll und traurig.

,Bei mir ist es doch ein bißchen mehr,‘ erwiderte er, ,ich bin in einer ganz infamen Situation, Doktor, und ich möchte Ihnen heute mal davon erzählen. Ganz kurz – fürchten Sie keine lange Geschichte! Ich bin, wie Sie wissen, der Besitzer eines großen Majorats, außerdem durch das Vermögen meiner Mutter sorgenfrei gestellt, kurz, in Bezug auf äußere Verhältnisse verzogen und verwöhnt. Da findet plötzlich ein Rechtsanwalt in alten Papieren einen Anhalt, daß ich, weil meine Mutter eine Engländerin ist, für das Majorat nicht erbberechtigt bin, ein anderer Anwärter tritt auf, strengt einen Prozeß gegen mich an – und die Sache geht in letzter Zeit fieberhaft vorwärts – es kann wohl sein, daß sie in diesem Jahr zur Entscheidung kommt.‘

Er schwieg einen Augenblick und starrte ins Feuer. ,Und seitdem bin ich aus allem Behagen gehetzt, ich sehe die ungewisse Zukunft immer wie ein heimtückisches Irrlicht vor mir hertanzen, und ich muß nach – es ist, als wenn ich keinen freien Willen mehr hätte. Bei allem, was ich thue, treibe und anfange, im Beruf, in der Fürsorge für den Besitz, immer murmelt mir eine höhnische Stimme ins Ohr: Wer weiß, ob es sich lohnt, – es ist wie eine Begleitmelodie, und ich muß darauf hören!’

Ich sah ihn aufmerksam an, während er so sprach, es war ein seltsamer Zug von Unruhe und Abgespanntheit in sein Gesicht gekommen, den ich früher nicht darin bemerkt hatte.

,Ich wollte manchmal,’ fuhr er nach einer Weile fort, ‚ich hätte den elenden Prozeß schon verloren – dann wüßte ich, woran ich wäre; aber so – begreifen Sie das, Rütgers? Mir ist immer wie dem Sindbad aus dem alten Märchen, der sein Haus auf den Kraken gebaut hat und sich da ganz häuslich niederläßt – besinnen Sie sich auf die Geschichte? Wie plötzlich der schwammige Boden unter ihm zu leben anfängt, und das Meertier taucht unter, und er schwimmt im grundlosen Wasser? Und der Sindbad war ein energischer Kerl, der kam durch; ich aber – passen Sie mal auf – ich schwimme nicht weit.‘

Er stützte den Kopf in die Hand und verstummte – er that mir so leid.

,Aber Senden,‘ sagte ich, ‚nehmen Sie es doch nicht so schwer. Selbst wenn Sie den Prozeß verlören, bleibt Ihnen,

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An dem „Thore des verlorenen Sohnes“ der Kathedrale in Toledo.
Nach dem Gemälde von R. de Madrazo.

[534] wenn ich Sie recht verstand, noch genug zu sorgenfreiem Leben – und Sie sind ja nicht materiell!’

Er blickte auf. ,Nein,‘ entgegnete er, ,aber ich bin an so vieles gewöhnt. An einen Stall voll guter Pferde – an meinen Park – an die Zugehörigkeit meiner Leute – lassen Sie sich das alles mal unter den Händen zergehen wie eine schöne bunte Seifenblase – das ist gar nicht hübsch, Rütgers, das können Sie mir glauben! Und wenn ich das so kommen sehe, dann packt mich manchmal eine unsinnige Furcht – nicht davor, aber vor mir selber – ich denke dann, ich werfe der ganzen Sache die Zügel auf den Hals und lasse sie hinrasen – und wenn ich mir mal durchgehe, dann hole ich mich nie mehr ein – ich kenne mich leider in dem Punkt ganz genau. Ich habe keine Energie, Rütgers – und solche Menschen wären besser gar nicht auf der Welt!‘

Ich ließ ihn ruhig ausreden – dann sprach ich ihm zu mit aller Wärme, die ich für ihn empfand und die sich vielleicht dadurch noch steigerte, daß mir ein unheimliches Gefühl sagte, er habe nicht unrecht in seinem Urteil über sich selbst.

Von diesem Abend an waren wir, so lange ich noch in der Stadt blieb, eigentlich unzertrennlich geworden; er ging fast nie an meiner Thür vorüber, ohne anzuklopfen oder hereinzukommen, und als ich einige Monate später meine Uebersiedlung nach Roswyk ins Werk setzte, schieden wir als Duzbrüder und treueste Freunde. Er hatte sich körperlich sehr erholt, obwohl ich ihn nie für sehr widerstandsfähig hielt – und als ich ihm Lebewohl sagte, nahm ich ihm das Versprechen ab, mich, wenn irgend möglich, im Laufe des Jahres zu besuchen und jedenfalls von sich hören zu lassen.

In Roswyk angekommen, fand ich mich durch meine Verhältnisse und meine Arbeit so in Anspruch genommen, daß ich zunächst nicht dazu kam, viel an Allan Senden zu denken. Das kleine Fischerdorf, welches ich nun als Heimat zu betrachten hatte, gefiel mir sehr wohl. Es kauerte sich wie furchtsam im Schutz der dicht bewachsenen Dünen zusammen, auf die es nur ein paar Ausläufer in Gestalt von Villen und Häusern gesandt hatte, die während des Sommers von Fremden bewohnt wurden.

Eines dieser Häuser hatte mir mein Kollege, fertig eingerichtet, überlassen, und ich fühlte mich darin unter dem Scepter meiner alten sauberen Haushälterin bald sehr behaglich.

Von den Villen auf der Düne war eine bereits für den Sommer vermietet, die andere immer in festen Händen. Diese letztere, das sogenannte Seeschloß, lag weiter vom Meere ab; es war im Stil eines alten herrschaftlichen Landhauses gebaut, mit breiter, ringsumlaufender Steinterrasse, dicken Mauern und hohen, hellen Zimmern. Es gehörte, wie ich erfuhr, einer verwitweten Frau von Redebusch, die mit ihrer einzigen Tochter Annie jeden Sommer hier zu verbringen pflegte und auch demnächst erwartet wurde.

Ein drittes Haus, die Villa Bella, an Zierlichkeit und Eleganz den andern Fremdenwohnungen weit überlegen, mit bedeckter Glasveranda, die durch Topfpflanzen und Palmen wie ein kleines Treibhaus erschien, mit hellen, schönen Räumen, wurde von einem alten pensionierten General von Eichenkron bewohnt, der zunächst fast der einzige Badegast in Roswyk war und bei dem ich, wenn seine Nervenschmerzen ihm gerade Ruhe und Stimmung dazu ließen, hin und wieder eine Stunde beim Schachspiel verbrachte. Er war ein hübscher alter Herr, mit dem Gesicht eines Marquis aus dem ancien régime, und ein Zug kühler, leichter Frivolität, der auf diesem Gesichte lag, paßte ganz gut dazu; aber er hatte Verstand, und es ließ sich mit ihm plaudern.

An einem Abend, als ich eben im Begriff war, mich zu diesem Bekannten und Patienten zu begeben, traf ich den Briefboten auf dem Wege nach der Villa Bella; er übergab mir einen Brief von Allan Senden, der mich in Ueberraschung und auch etwas in Sorge versetzte.

Mein Freund teilte mir in kurzen Worten mit, daß er sich verlobt habe, und zwar – wie sonderbar der Zufall es manchmal fügt! – mit eben dem Fräulein von Redebusch, deren Mutter Eigentümerin des Seeschlosses sei. Er schrieb sehr glücklich über diese neueste Wendung seines Lebensschicksals, in so ruhigem, herzlichem Ton, daß ich den guten Einfluß dieser Verlobung mit großer Befriedigung zwischen den Zeilen las, und legte ein Bild seiner Braut bei. Dieses Bild zeigte ganz das, was ich für Allan gewünscht und gewählt hätte – ein stilles, liebliches Gesicht mit einem klaren, reinen Ausdruck, den ich nicht besser zu schildern weiß, als wenn ich sage, daß mir beim Anblick des Bildes das Bibelwort in den Sinn kam: ,So sie etwas Tödliches trinken, wird es ihnen nichts schaden!‘ – ein Gesicht ohne Arg und ohne Falsch! Ich vertiefte mich eine ganze Weile in die Betrachtung der Photographie, ehe ich den Brief zu Ende las, der immerhin noch Wichtiges enthielt. Allan schrieb weiter, er sei vor kurzem mit dem Pferde gestürzt, habe sich ein paar Rippen geknickt und infolgedessen einen ganz leichten und ungefährlichen Husten davongetragen, aus dem aber der Arzt unnötig viel mache, weshalb er ihn einige Wochen lang an die Nordsee schicken wolle. Selbstverständlich kämen sie nun alle zu mir nach Roswyk, wo ja Frau von Redebusch ihr eigenes Haus habe und wo ich ihn unter meine Aufsicht nehmen könne – ,aber nicht als Arzt!‘ wie er gleich hinzusetzte. ,Ich bin ja ganz gesund,‘ hieß es in dem Briefe weiter, ‚aber ich kenne Dich und kenne mich! Du würdest Dein altes, ehrliches Doktorgesicht vielleicht nicht ganz verstellen können, wenn Du Dir einbildetest, irgend etwas an mir erhorcht oder erklopft zu haben, und ich weiß, daß ich die Sonnenuhr meiner Stimmung nach jedem Schatten auf Deinem Gesicht stellen würde. Ich gehe in jeder Weise gern hier fort,‘ schloß der Brief, ,denn mein Prozeß steht vor einer Entscheidung in erster Instanz, und ich kann nichts anderes, als täglich zu meinem Rechtsverdreher gehen und mir die Segel voll Hoffnung oder voll Schwermut blasen lassen – je nachdem!‘

Ich kam infolge dieses Briefes etwas verspätet zum General, der mich in ziemlich schlechter Laune empfing.

‚Jch bin wieder mal auf Wartegeld gesetzt,‘ brummte er, ‚meine Enkelin, die sich seit vier Wochen täglich an- und abmeldet, schreibt mir, daß sie wegen eines Sommerballes oder ähnlicher, welterschütternder Ereignisse noch nicht kommen kann. Und wenn sie kommt, wird sie mir das Leben schwer genug machen – vielleicht freilich auch angenehmer – das versteht sie beides vortrefflich! Was sie überhaupt hier anfangen wird, ist mir vorläufig ganz unklar. Natur ist ihr absolut gleichgültig, sofern sie ihr nicht durch irgend einen Lichteffekt zu Gesicht steht, und Menschen giebt es ja hier nicht – die Anwesenden ausgenommen!‘ setzte der General mit einem glücklichen Nachgedanken hinzu.

‚Danke!‘ sagte ich mit flüchtigem Lächeln.

,Ja, das dürfen Sie nicht übelnehmen,‘ fuhr er fort, Menschen sind für meine kleine Sinaide nur Leute, die ihr den Hof machen und sich von ihr den Kopf verdrehen lassen, und das werden wir beide wohl nicht thun.‘

‚Ich glaube kaum,‘ sagte ich lachend, ,und ich kann Ihrer Enkelin auch wenig Hoffnung auf Ersatz geben; es kommt zwar ein junger Freund von mir in nächster Zeit her, aber der ist seit kurzem glücklicher Bräutigam!‘

,Fatal!‘ meinte der alte Herr im vollsten Ernst, ,wer ist er denn?‘

Ich erzählte von Allan, und der General sah lebhaft in die Höhe: ,Allan Senden – den kenne ich ja, habe ihn als Fähnrich bei meiner Brigade gehabt – schicken Sie mir den Jungen nur bald mal her! Ich war ohnehin in letzter Zeit öfter in Gedanken mit ihm beschäftigt. Wir haben denselben Rechtsanwalt, und der berichtet mir immer von seinem Prozeß. Sehen Sie, wenn man selbst nichts mehr zu thun hat, steckt man die Nase in anderer Leute Affairen, und solch juristisches Hazardspiel ist nicht ohne Interesse.‘


Am Tage nach dieser Unterredung waren die Besitzerinnen des Seeschlosses angekommen. Allan sollte ihnen erst in einigen Tagen folgen – ich hatte beschlossen, ihn bei mir im Hause wohnen zu lassen, und er sollte alles in vollster Behaglichkeit und Ordnung vorfinden, wenn er kam.

Ich machte die Bekanntschaft der beiden Damen sehr bald, oder besser, ich schloß rasch Freundschaft mit ihnen – ob es das gemeinsame Empfinden für Allan war, ob das ungreifbare, unschätzbare, undefinierbare Fluidum, das man Sympathie nennt, ich weiß es nicht zu sagen. Ich weiß nur, daß ich nach zwei, drei Abenden, die ich in den nun so behaglichen Räumen [535] des Seeschlosses verbrachte, mit dem Gefühle davonging, bei alten, guten Freunden gewesen zu sein und ihnen dasselbe Gefühl hinterlassen zu haben.

Man hat für das rasche Verstehen, das manchmal zwischen Menschen sich findet, den sehr bezeichnenden Ausdruck: ‚Wir sprechen dieselbe Sprache‘ – aber das hält nicht immer Stich! Auch diese innerliche Sprache, und gerade sie hat ihre Dialekte, und erst, wenn man sich auch dabei und darin so ganz versteht, ist die richtige Freundschaft da, und so war es hier.

Mutter und Tochter waren äußerlich und innerlich sehr verschieden – die Mutter klein, schmächtig, blaß, mit einem Gesicht, auf das Krankheit und Zeit ihre unverwischbaren Linien gezeichnet hatten; sie machte einen unsicheren, scheuen Eindruck, und ihr fehlte bei aller Herzensgüte und feinen Liebenswürdigkeit jede Fähigkeit, einen Entschluß zu fassen. Sie hatte sich augenscheinlich daran gewöhnt, alle Verantwortung und Entscheidung ihrer Tochter zuzuschieben, und diese trug die Last solcher Verantwortung mit einer ruhigen Anmut, wie sie eigentlich erst späteren Jahren eigen zu sein pflegt. – Die Tochter, Annie, war groß, schlank und blond, mit feinen Zügen – man findet solche stille Gesichter manchmal unter der weißen Haube der Diakonissinnen – eine gewisse stolze Verschlossenheit, die sie kennzeichnete, wich erst bei näherem Kennenlernen, und man war dann überrascht, welch ein Schatz von Gefühlswärme und Gefühlstiefe in ihr lag. Sie nahm alles ein wenig ernsthaft und hatte eine einfache, verständige Art, mit dem Leben umzugehen, von der ich sehr wohl begriff, daß sie meinen unruhigen Liebling Allan gefesselt habe; es war in diesem Mädchen etwas wie frische Bergluft, kein Nebel, keine verschwommenen Linien – alles klar, scharf umrissen und sonnenbeleuchtet.

Mir kam sie, ebenso wie die Mutter, mit großem Vertrauen entgegen. ‚Wir wollen einander doch auf Treu und Glauben nehmen,‘ sagte sie zu mir, ,weil wir denselben Menschen so sehr lieb haben!‘

Das war ziemlich das einzige, was ich über ihr Verhältnis zu Allan hörte, bis ich sie zusammen sah, und wenn ich mir bisweilen Gedanken darüber gemacht hatte, ob sie wirklich warm empfinden könne, so waren diese Gedanken in dem Moment verschwunden, da ich sie am Abend seiner Ankunft miteinander beobachtet hatte.

Ich holte ihn selbst von der Bahnstation, und als ich auf die Plattform trat, brauste eben der Zug in die Halle.

Er stieg aus – langsam, wie mir schien – und ich nahm ihn gleich mit mir zu einem offenen Wägelchen, das bald mit uns durch den Abend hinrollte. Ich blickte in der Dämmerung ein paarmal nach ihm hin – er sah schmal und scharf aus und hatte einen sonderbaren Glanz in den Augen.

Als er mich einmal bei einem solchen Blick ertappte, sah er mich verwundert an. ‚Was hast du denn immerfort an mir zu studieren?‘ frug er ein wenig ungeduldig.

Ich lachte, nicht ganz unbefangen. ‚Nimm einmal an, ich freute mich wieder, was du für ein hübscher Kerl bist!‘ sagte ich scherzend.

,Ach dummes Zeug!‘ gab er zurück und zuckte die Achseln. Nach einer Weile fügte er hinzu: ,Ich bin müde, Rütgers – merkwürdig müde!‘

,So!‘ sagte ich nur, mir war ungemütlich zu Sinn.

Es schien aber, als wenn ich keinen Grund zu ernster Sorge haben sollte – er erholte sich fast von Stunde zu Stunde in der klaren, staubfreien Luft und bei der ruhigen liebevollen Sorgfalt, mit der seine Braut ihn unmerklich zu umgeben verstand und die etwas Wohlthuendes haben mußte. Ich hätte ihn gern ärztlich untersucht – er blieb aber mit Hartnäckigkeit dabei, es für unnötig und sich für ganz gesund zu erklären. Er warf den geschlossenen Brief, den ihm sein Arzt für mich mitgegeben hatte, vor meinen Augen ins Meer und wies jeden Gedanken an Krankheit und Mißstimmung weit von sich. Ich ließ ihn zunächst dabei, weil ich ihn nach keiner Richtung hin aufregen wollte.

Ich war mir nicht darüber klar, ob Annie seinen Zustand für ernst hielt; wenn ich sie mit Allan zusammen sah, war sie heiter und guter Stimmung und mit allem zufrieden, was ihm eben lieb und erwünscht schien.

Eines Abends traf es sich aber zufällig, daß ich ihr allein begegnete. Ich kam von der Praxis und sah ihre schlanke Gestalt von der Ferne her mir entgegenkommen. Sie trug ein Sträußchen in der Hand und bückte sich von Zeit zu Zeit, um noch ein Stengelchen dazu zu pflücken.

Als wir uns nahe genug waren, um uns genau zu sehen, bemerkte ich, daß sie blaß und ernsthaft war. Wir gingen schweigend nebeneinander her.

,Nun?‘ frug ich endlich statt aller andern Begrüßung und sah sie fragend an.

Sie blieb plötzlich stehen und starrte eine ganze Weile vor sich hin; dann sagte sie mit gepreßter Stimme: ,Ich habe Angst!‘

‚Wovor?‘ frug ich ausweichend.

,Vor nichts! aber um jemand! um Allan! ich glaube, er ist kränker, als wir denken. Er sieht so anders aus – und er wird so leicht müde – was kann denn das sein, Herr Doktor – was kann denn das sein?‘

Sie legte in einer ihr sonst fremden Erregtheit die Hand auf meinen Arm und sah mir flehend und fragend ins Gesicht.

,Vor allen Dingen ruhig Blut!‘ sagte ich in möglichst leichtem Ton, ,er ist doch hierher gegangen, nicht weil er gesund ist, sondern weil er gesund werden will – das dürfen wir nicht vergessen! Und mein Eindruck ist – ich kann ja eben nur von Eindrücken sprechen! – daß er sich bei fortgesetzter innerer und äußerer Ruhe, bei diesem Leben ohne Emotionen – fast hätte ich gesagt, ohne Gedanken – völlig erholen kann und wird, aber dabei müssen wir alle auf dem Posten sein. Also halten Sie den Kopf hoch und jagen Sie die schwarzen Gedanken fort, Fräulein Annie, lassen Sie sie mit den hübschen, silberweißen Möwen dort übers Meer fliegen; das ist das beste für Sie und für Allan.‘

Sie sah mich halb getröstet an.

,Das will ich auch!‘ sagte sie dann. ,Ich bin für mich selber nie ängstlich gewesen; nur wenn es sich um ihn handelt, dann bin ich so merkwürdig feige. Aber das muß aufhören. Sie sollen einmal sehen, was ich für Courage habe, wenn ich will!‘

‚Hoffentlich brauchst du sie nicht, du liebes Mädchen!‘ dachte ich bei mir, als ich nach Hause ging – so ganz leicht war mir nicht ums Herz.


Wir hatten in dieser Zeit so für uns gelebt, als ob wir allein in Roswyk wären, mit den übrigen Badegästen bestand gar kein Zusammenhang und der General hatte sich bisher noch gar nicht um Allan bekümmert und ihn nur flüchtig begrüßt.

Eines Morgens aber wurde ich an das Paar in der Villa Bella erinnert.

Ich kam mit Allan vom Baden zurück und wir gingen eben auf den Dünen entlang nach Hause. Da fuhr in raschem Trabe ein offener Wagen an uns vorbei; der General saß darin und neben ihm ein junges Mädchen. Der alte Herr grüßte und wir grüßten wieder; seine Begleiterin bog sich hastig aus dem Wagen und sah uns an.

Sie hatte dunkle Haare und sehr merkwürdig damit kontrastierende düsterblaue Augen – ein feuriges, lebhaftes, sonderbares Gesicht, in dem bei dem Lächeln, mit dem sie unsern Gruß erwiderte, ein wunderschöner, kleiner Mund mit sehr kurzer Oberlippe und blitzenden, weißen Zähnen auffiel. Das Ganze hatte etwas so Frappierendes, daß mir diese Details sogar in dem flüchtigen Augenblick zum Bewußtsein kamen.

,Das ist wohl die Enkelin!‘ sagte ich nach einer Weile zu Allan, der stehen geblieben war und dem Wagen nachsah.

Er nickte zerstreut und sprach dann nicht mehr viel – ich glaubte, er wäre vom Baden ermüdet, und ließ ihn still neben mir hergehn.

Als wir ans Haus kamen, sagte er mitten aus einem andern Gespräch heraus: ,Ein gefährliches Gesicht!‘

Ich lachte.

‚Bist du noch immer dabei?‘ frug ich.

Er lachte auch. ,Weißt du, so ein Stück Maler steckt doch nun einmal in mir – und das müßte eine hübsche Studie geben.‘

Am nächsten Morgen traf ich das Brautpaar unten am Strande. Die Soane brannte so glühend und erbarmungslos auf den weißen, weichen Sand, wie sie es nur an der Nordsee fertig bekommt – es war träge Ebbezeit. Die See lag wie ein ungeheuerer, blendender, glitzernder Schild da und schien kaum zu atmen. Ich kam gerade von einem schwer Kranken [536] und war ziemlich müde, aber ich machte doch einen kleinen Umweg, um die beiden zu sehen und mich wieder einmal zu freuen, wie sich Allan erholte.

,Und wie geht es hier?‘ frug ich und streckte mich neben ihm im Sande aus.

Er sah in den stahlblauen Himmel hinauf und antwortete nicht.

,Wunderschön geht’s!‘ erwiderte Annie für ihn, ,es ist fast zu herrlich hier – gar nicht wie auf der Erde.‘

Er lächelte flüchtig nach ihr hinüber.

,Und dabei bin ich ein so undankbarer Grübler,‘ sagte er langsam, ,daß ich mich heute immerfort frage: ist das nun eigentlich das Glück? Ich habe mir stets solche unbestimmte, goldflimmernde, blendende Vorstellung davon gemacht, und ich denke, nun habe ich es, und dabei muß ich mich das seit heute morgen immer fragen – ist das nicht sehr thöricht?‘

‚Sehr!‘ erwiderte ich; ,mit solchen phantastischen Dingen mußt du einem alten, nüchternen Landdoktor gar nicht kommen, dafür habe ich kein Verständnis.‘

,Und den ganzen Tag,‘ fuhr er fort, ohne meine Einrede zu beachten, ‚habe ich an ein Märchen denken müssen – es quält mich förmlich! Von einem uralten Brunnen, an dem die Leute vorübergehen mußten, ohne ein Wort zu sprechen, und wenn man sie frug, weshalb? dann sagten sie: ,Das Schicksal schläft!‘ und dies eine Wort läuft heute hinter mir her und jagt mich aus allem Behagen, aus aller Ruhe – was ist das nur?‘

Er richtete sich auf, stützte den Kopf in die Hand und sah mir unruhig ins Gesicht.

,Das ist die Gewitterluft!‘ erwiderte ich, ‚siehst du dort drüben die weißgraue Wand? Aus der kommen solche Geschichten und Gedanken. Klappe dein Zeichenbuch zu und gehe ins Haus, es ist hier zu heiß für dich!‘

Er stand gehorsam auf – ich habe nie einen Menschen gesehen, der leichter zu lenken war – und Annie hob Tuch und Bücher vom Boden auf und folgte ihm.

,Verwöhnung,‘ sagte ich lachend und nahm sie ihr ab.

,Ach, lassen Sie doch – das macht mich ja so glücklich!‘ erwiderte sie und hatte plötzlich Thränen in den Augen.

Am Nachmittag dieses Tages ließ der General uns beide – Allan und mich – zu sich bescheiden. Ich entsinne mich noch mit größter Deutlichkeit an jede Minute.

Das Gewitter, das schon Vormittag aufgezogen war, drohte und murrte noch immer entschlußlos am Himmel hin und her, die Luft hing wie ein glühheißer Mantel herunter.

Wir gingen nach der Villa Bella, und Allan wurde von einem Diener sofort zu dem alten Herrn hinaufgeführt. Mich wies man zunächst in den offenen Vorsaal, der in die Glasveranda ausmündete.

Als ich dort eintrat, sah ich die Enkelin des Generals träge in einem Strandstuhl liegen, unter einer Gruppe großer Palmen, die einen tiefen Schatten über ihr Gesicht warfen. Sie hatte rote Schuhe an den Füßen und belustigte sich damit, einen großen, gelben Leonberger Hund zu necken, der vor ihr auf dem Teppich lag. Das prachtvolle Tier war mir schon am Morgen aufgefallen – sie hatte es sich wohl mitgebracht.

Ihre Schönheit wirkte in der Nähe und beim Sprechen noch viel lebhafter – ich habe eigentlich nie wieder ein solches Gesicht gesehen, vorher nicht, und auch nachher nicht – zum Glück!

Mir ging es so sonderbar; ich hatte ihr gegenüber immerfort ein Gefühl zornigen Unbehagens, wie man es wohl angesichts einer herannahenden Gefahr empfindet, die die Larve noch nicht vom Gesicht genommen hat.

Ich machte mich ihr als Arzt ihres Großvaters bekannt. Sie begrüßte mich ziemlich obenhin und sah mich so unbefangen an, wie man sonst nur ein Tier oder ein Bild in Augenschein nimmt. Daß mich das gar nicht verlegen machte oder irgend welchen Eindruck auf mich hervorzubringen schien, war ihr ersichtlich auffallend – sie nahm einen fragenden, erstaunten Ausdruck an, in dem deutlich zu lesen war: Was bist du denn für eine Art Mensch?

Nach ein paar Augenblicken oberflächlichster Unterhaltung lehnte sie sich wieder sehr bequem in ihren Strandstuhl zurück und frug nachlässig:

,Wer war denn der Herr, mit dem ich Sie gestern morgen sah? und wo haben Sie ihn hingethan?‘

‚Ich ‚thue‘ meine Freunde für gewöhnlich nirgends hin,‘ erwiderte ich, ,das besorgen sie selbst – er ist bei Ihrem Herrn Großvater!‘

,Und was will er da?‘ fuhr sie fort, immer in demselben indolenten Ton.

,Das fragen Sie ihn doch selbst!‘ sagte ich ungeduldig, ‚die Herren haben militärische Beziehungen von früher her!‘

Sie öffnete ihre sonderbaren Augen weit.

,Ach – er ist Reiteroffizier – das ist ja sehr hübsch; dann können wir ja bisweilen zusammen ausreiten – ich erwarte morgen meine Pferde. Spielt er auch Tennis?‘

Ich zuckte die Achseln. Ich konnte mich ihr gegenüber kaum zur nötigsten Höflichkeit zwingen – wie gesagt, ohne den tiefsten Grund dieser Empfindung zu verstehen, und das war mir eben so sehr unangenehm, weil ich gewöhnt war, mir stets klare Rechenschaft über das zu geben, was in mir vorging. Aber ich überwand mich – ich mußte um Allans willen ihren Vergnügungsplänen einen Riegel vorschieben, und ich glaubte, es mit einem Worte zu können.

,Darf ich Sie bitten,‘ begann ich steifer – noch steifer als ich es von Natur war, ,meinem Freunde mit Reit- und Tennisplänen gar nicht zu kommen? Er ist krank gewesen und zu seiner Erholung hier, zu der in erster Linie die vollkommenste Ruhe gehört. Sie finden gewiß andere Begleiter auf Ihren Spazierritten.‘

,Zum Beispiel Sie?‘ frug sie mit einer plötzlichen Liebenswürdigkeit, die, wie ich selbst gestehen muß, hinreißend war.

,Ich habe keine Zeit für dergleichen,‘ erwiderte ich kurz.

Sie schloß die Augen halb und sah mich von oben herab an.

,Nun, dann müssen Sie mir eben erlauben, mir anderswo einen Kavalier zu suchen,‘ sagte sie kühl; ,was eine junge Dame aushält, wird ja wohl ein Kavallerist auch vertragen – die Herren Doktoren stellen den Zustand ihrer Patienten ja immer schlimmer dar, als er’s ist – es wird nicht so gefährlich sein!‘

,Das muß ich Ihrem Urteil überlassen,‘ erwiderte ich, ,in jedem Fall werde ich Allan bitten, sich Anstrengungen nicht auszusetzen.‘

Sie unterbrach mich.

,Allan heißt er?‘ frug sie lebhaft, ,das ist ein hübscher Name – er sah so aus, als könnte er keinen Alltagsnamen haben.‘

Ich schwieg, und sie war auch verstummt, obwohl sie immer noch mit ihren merkwürdig sprechenden Augen an mir herumrätselte – es machte mich ganz nervös.

Ich war froh, als Allan erschien und ich, nachdem ich ihn dem Mädchen flüchtig vorgestellt hatte, zu dem alten Herrn beschieden wurde.

Der lag in ziemlich übler Stimmung auf dem Sofa und winkte mich neben sich.

Als unsere ärztliche Rücksprache beendet war, bat er mich, ihm ein Buch vom Fenster herzureichen. ,Der Tag wird mir lang,‘ sagte er, ,ich habe fast immerfort allein gelegen.‘

,Ich dachte, Ihre Enkelin pflegte Sie,‘ erwiderte ich.

Er lachte ironisch.

,Jawohl – sie pflegt mich,‘ erwiderte er, ,wie man das so macht. Sie pflegt mich, indem sie früh bis zehn Uhr schläft und sich nachher wie ein schönes, faules Kätzchen im Strandstuhl dehnt – und dann setzt sie ihr Samariterwerk fort und singt wallonische Volkslieder durchs Haus, wo ich Mittagsruhe halte – und von morgen an wird sie mich pflegen, indem sie ausgeritten sein wird, wenn ich sie haben will. Aber sagen Sie ihr das, und sie wird ein sehr reizendes, überraschtes Gesichtchen dazu machen, denn sie ist überzeugt, ganz Diakonissin zu sein! Allein das schadet gar nichts!‘ fuhr er lebhaft fort, als er mein Kopfschütteln bemerkte, ,sie hat eine unschätzbare Eigenschaft – sie amüsiert mich immer! Auch was andere Leute an ihr unangenehm finden könnten, macht mir Spaß: ein so unbefangener, ausgebildeter Egoismus ist mir interessant wie jede Specialität – ich habe früher selbst in dem Fach gearbeitet. So ein kleines Mädchen, das zu der [537] Ueberzeugung gekommen ist, daß sie ihr hübsches Gesicht einzig und allein zu dem Zweck bekommen hat, die ganze Welt damit zum Narren zu halten und zum Spielzeug zu machen, ist etwas sehr Belustigendes für mich – ich habe immer daran zu studieren. Ja, wenn sie kein anderes Publikum hat, dann nimmt sie auch mit mir vorlieb – aber Publikum muß sie haben!‘

Ich lächelte zu seiner Schilderung und erhob mich, um zu gehen.

Als ich im Begriff war, mich zu verabschieden, rief er mir in der Thür noch nach: ‚Apropos – Ihr junger Freund hat Pech gehabt – sein Prozeß ist in erster Instanz verloren – er muß nun auf die zweite hoffen.‘

Ich erschrak.

‚Mein Gott, was wird ihm das für Eindruck machen!‘ sagte ich vor mich hin.

Der General zuckte die Achseln.

‚Er sah ziemlich blaß aus, als ich es ihm sagte, worum mich sein Anwalt gebeten hatte, aber die Sache schleppt ja weiter – er wird die Büchse noch nicht ins Korn werfen! Wie finden Sie übrigens meine kleine Sinaide,‘ warf er dann, wie beiläufig, hin, ,ich bin ein eitler Großvater, müssen Sie wissen!‘

,Ich kann mir noch kein Urteil erlauben,‘ erwiderte ich kalt.

,Nun, ob sie Ihnen schön oder häßlich erscheint, dazu brauchen Sie doch kein halbes Jahr Bedenkzeit,‘ sagte der alte Herr ärgerlich lachend, ,Sie sind ein sonderbarer Heiliger!‘

Ich ging und holte Allan aus dem Gartensaal ab – ich hörte drin schon lebhaft sprechen, als ich eintrat.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0537.jpg

Photographie im Verlg der Photographischen Union in München.
Phyllis.
Nach dem Gemälde von Heinr. Lossow.

Er stand dem Mädchen gegenüber, die Hand auf den Tisch gestützt – sie hatte ihre bequeme Stellung nicht aufgegeben und lachte zu ihm hinauf; – widerwillig mußte ich mir zugestehen, daß der Großvater recht hatte und man nicht lange brauchte, um sich klar zu werden, ob sie schön oder häßlich, gefährlich oder ungefährlich sei.

Allan zog die Augenbrauen zusammen, als ich ihn frug, ob er mitkäme, und sah nach Sinaide hin, als erwartete er, sie werde ihn zum Bleiben auffordern – aber sie that nicht dergleichen; sie nickte nur uns beiden nachlässig zu, und wir gingen davon.

Das Wetter kam inzwischen herauf; eine gelbliche, fahle Dunkelheit lag über See und Strand, in der Ferne zuckten unaufhörlich blasse, unruhige Blitze wie kreuzende Schwerter.

Allan ging stumm neben mir, er sah erregt und finster aus – ich fand das begreiflich genug, nachdem er diese Nachricht über den Prozeß bekommen hatte, und blickte ein paarmal besorgt nach ihm hin – er bemerkte es nicht.

Plötzlich wandte er sich nach mir um, der ich in Gedanken die ganze Kette der Sorgen und Bedenken hinter uns her klirren fühlte, die ihm die Nachricht geschaffen haben mußte.

,Sie hat eine so merkwürdig sanfte Stimme!‘ sagte er ohne jede Verbindung.

Ich war so überrascht, daß ich stehen blieb.

,Wer?‘ frug ich ganz laut.

,Sinaide!‘ erwiderte er mir.

,Und das ist alles, was du mir sagst?‘ frug ich kopfschüttelnd, ,hast du denn den General gar nicht verstanden?‘

Er sah mich gedankenlos an und erwiderte nichts.

‚Dein Prozeß!‘ rief ich ungeduldig, und mit dem Gefühl, als müßte ich ihn, wie einen Nachtwandler, aus dem Schlaf rütteln, ‚hast du mir denn darüber gar nichts zu sagen? Junge, wach doch auf! – was ist denn mit dir?‘

Er öffnete die Augen weit und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. ‚Ach ja – der Prozeß!‘ sagte er dann, wieder zu sich kommend, ,das hatt’ ich ganz vergessen.‘

Ich schüttelte den Kopf. Mir war so unheimlich zu Sinn, als wenn das schwere Wetter, das jetzt schon mit krachenden Donnerschlägen und einzelnen schweren Regenschauern um uns her zu toben anfing, mir auf dem Herzen läge; ,wir müssen uns eilen, unter Dach zu kommen,‘ sagte ich.

Wir gingen rascher. Als wir am Seeschloß anlangten, sah ich Annie am Fenster stehen und uns, wohl schon mit Sorge, erwarten.

Allan schritt immer im selben Tempo vorwärts – die Dünen entlang; er wäre am Hause vorbeigegangen, wenn ich ihn nicht am Arm gefaßt hätte.

‚Gehst du denn heute nicht zu deiner Braut?‘ frug ich scharf, es klang ärgerlicher, als ich selbst wußte.

Er fuhr wieder zusammen, wie im Schlafwandeln angerufen.

‚Ach so!‘ sagte er, während eine Blutwelle ihm ins Gesicht schoß, und machte kehrt.

Ich höre noch, wie Annie ihm von der Thürschwelle zurief: ,Nun, du hattest dich wohl heute verirrt?‘ – ich sehe noch, wie gerade ein blauer Blitz die beiden beleuchtete, und glaube noch das abwesende Lächeln auf seinem – den zärtlich frohen Ausdruck auf ihrem Gesicht zu sehen; dann gingen sie ins Haus, und ich drehte um und begab mich nach meiner Wohnung.

Ich riß alle Fenster auf und hakte sie fest – der Sturm brach mit furchtbarer Gewalt herein, und das Meer tobte und schrie die ganze Nacht. Mir war der Kopf so wüst!

Als das Gewitter vorbeigezogen war, lehnte ich mich zum offenen Fenster hinaus und sah Allan auf dem Wege daherkommen. Sein Schritt hallte auf den Klinkern wieder – er sah strahlend fröhlich aus und nickte mir schon von weitem zu.

,Wie schade, daß du heute nicht mit herein kamst,‘ sagte er im Eintreten, ‚wir sind so vergnügt gewesen, unglaublich vergnügt! es ist hier doch herrlich! Die Luft wirkt auf mich, als wenn ich Sekt getrunken hätte. Wollen wir noch ein bißchen vor der Hausthür bleiben?‘

[538] ‚Nein!‘ sagte ich, etwas rauh, ,es ist zu feucht für dich.‘

Er machte eine ungeduldige Bewegung.

‚Behandle mich doch nicht immer als Kranken,‘ erwiderte er ärgerlich, ,ich bin ja ganz gesund – heute so gesund wie nie zuvor. Wie ich hier zurück ging,‘ fuhr er träumerisch fort, ‚war noch Licht in den einzelnen Häusern – oder doch in einem – das sah so hübsch aus – ich hätte es gern noch einmal gesehen.‘

,In welchem Hause?‘ frug ich unwillkürlich.

,Beim General!‘ erwiderte er kurz, ‚Gute Nacht!‘


Von diesem Tage an war unser Zusammenleben, das ganze, friedliche Bild der ersten Zeit, wie mit einem Schlage verschoben und verändert – wie eine Landschaft, die man bisher im lachenden Sonnenglanz gesehen hat und die plötzlich im Schatten finsterer Wolken liegt – so blaßfarbig, so unheimlich, so anders, daß man sich immerfort fragt, ob das denn noch dieselbe Gegend ist, durch die man so fröhlich gewandert war.

Der Zufall schob die Menschen in dieser Zeit auch so sonderbar hin und her. Frau v. Redebusch erkrankte an einem nicht ganz ungefährlichen Fieber und Annie konnte sie den ganzen Tag nicht verlassen – nur spät abends kam sie vor die Thür und saß mit mir und Allan draußen. So hatte sie auch die beiden – Allan und das gefährliche Mädchen – noch nicht zusammen gesehen, und er sprach nie von Sinaide, das war mir das Allerunheimlichste.

Er hatte damals noch so viel Willenskraft, daß er sie fast gar nicht sah, so wenig als es möglich war – aber es ließ sich bei der Kleinheit des Ortes und den nun einmal vorhandenen Beziehungen natürlich nicht ganz vermeiden. Und waren es täglich nur wenige Minuten oder halbe Stunden, so war es nur zu ersichtlich, daß er eben von diesen kurzen Augenblicken lebte! Er war vorher von einer Rastlosigkeit und Aufgeregtheit, die uns andere förmlich mit ergriff – er sprach, debattierte, lachte und erzählte ohne Aufhören, und dazwischen zog er alle zwei, drei Minuten verstohlen die Uhr, bis der Augenblick gekommen war, wo er sich losmachen konnte. Ich sah dann Annies klare Augen oft mit einem Ausdruck so leidenschaftlicher Sorge auf seinem Gesicht ruhen, daß es mir das Herz zusammenpreßte. Sie wußte gar nicht, was sie denken sollte – irgend einen unbestimmten Verdacht zu schöpfen, das lag ihrer reinen Natur viel zu fern, sie schob alles auf sein Befinden, das sich wirklich verschlimmerte. Sein kurzer, nervös klingender Husten, den wir überwunden geglaubt, kam jetzt öfter und öfter. – ,Er ist krank!‘ sagte Annie bisweilen zu mir, als wollte sie sich mit diesem traurigen Grunde beruhigen.

An einem Nachmittag kam ich zu Frau v. Redebusch, sie lag auf dem Sofa und war allein im Zimmer.

‚Meine Jugend ist draußen auf der Terrasse,‘ sagte sie auf einen fragenden Blick, ,dies junge Mädchen aus der Villa Bella ist bei Annie – sie kommt jetzt öfter her. Was ist das für ein schönes Geschöpf!‘

‚Wie gefällt sie denn Ihrem Fräulein Tochter?‘ frug ich möglichst unbefangen.

‚Ich glaube, gut. Annie ist ja nicht sehr leicht enthusiasmiert und hat eigentlich, wie natürlich, nur Augen für Allan. Aber sie scheinen doch gut miteinander auszukommen – sie gingen gestern zusammen spazieren, und heut’ ist sie schon den ganzen Nachmittag hier.‘

Ich trat auf die Terrasse hinaus. Annie und Sinaide saßen an der einen Seite und schienen beschäftigt, eine Handarbeit anzufertigen – Annie lehrte, und die andere saß mit dem ernsthaftesten Gesicht von der Welt dabei und hörte zu. Sie begrüßte mich auch nur sehr flüchtig.

‚Ich muß aufpassen,‘ sagte sie, ,meine faulen Hände sollen hier fleißig und geschickt werden.‘

Allan saß auf der steinernen Brüstung der Terrasse, er sprach kein Wort und sah finster und verdrossen aus – seine Augen hingen beständig an der Gruppe. Annie hob von Zeit zu Zeit den Kopf, sah ihn liebevoll an und nickte ihm zu. Für Sinaide schien er nicht zu existieren. Sie sprach über ihn hin, als wenn er Luft wäre – und gab ganz kurze, gleichgültige Antworten, wenn er sie etwas fragte – sie sah ihn kaum an, und ich merkte wohl, daß er vor verzweifelter Ungeduld und nervöser Erregung kaum mehr er selbst war. – Bisweilen, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, flog es wie ein arglistiges Lächeln um ihren Mund – ich sah es wohl.

Als die Dämmerung hereinbrach, erhob sie sich. ,Ich muß jetzt nach Hause gehen, Großpapa braucht mich,‘ sagte sie mit ihrer gesetztesten Miene und warf mir einen flüchtigen, schalkhaften Blick zu, ,bin ich nicht sehr pflichtgetreu, Herr Doktor? Fräulein v. Redebusch wird noch ein Mustermädchen aus mir machen.‘

‚Das könnte nichts schaden,‘ erwiderte ich halb lächelnd – ich verstand ihre neueste Rolle noch nicht.

Annie war ins Zimmer gegangen, um nach der Mutter zu sehen.

Sinaide legte ihre Arbeit zusammen und setzte den großen schattigen Strandhut auf – als sie an Allan vorbeiging, sah sie plötzlich zu ihm in die Höhe und ich hörte sie halblaut sagen: ‚Ich gehe jetzt noch an den Strand – haben Sie heute den ganzen Abend ‚Dienst‘?‘

Er sah mit einem förmlich aufleuchtenden Blick empor und schüttelte den Kopf. Sie nahm flüchtig Abschied, und in dem Augenblick, als sie in der Balkonthür stand, knickte eine der Blumen ab, die sie im Gürtel trug, und fiel zur Erde. Ich sah, wie Allan sich hastig danach bückte und sie aufhob – dann war Sinaide fort. –

Ich fühlte eine so tiefe, innerliche Empörung über dies Doppelspiel, daß ich zuerst nicht sprechen konnte – ich beschloß aber doch, wenigstens das meine zu thun, um der Sache entgegenzuarbeiten.

‚Ich bleibe heut’ abend hier,‘ sagte ich, als Annie eben wieder zu uns trat, ‚Allan wollte uns ja aus ‚Childe Harold‘ vorlesen!‘

Er erwiderte nichts und ging die Stufen hinunter – vor dem Hause blieb er unschlüssig stehen. Ich überlegte einen Augenblick, dann sprach ich zu Annie.

‚Nehmen Sie ihn ein bißchen in acht!‘ sagte ich ernst, ‚dieses Fräulein amüsiert sich mit ihm und über ihn! Das ist nichts für ihn – und nichts für Sie!‘

Sie sah mich ruhig an und schüttelte mit einem zuversichtlichen Lächeln den Kopf.

‚Nein, nein – da thun Sie ihr unrecht!‘ sagte sie entschieden, ‚sie hat sich ja den ganzen Nachmittag nicht um ihn bekümmert – sie spricht kaum ein Wort mit ihm! Das hat ihn vielleicht etwas verstimmt; er ist es so gar nicht gewöhnt, daß er den Leuten unwichtig ist.‘

Sie lachte mich unbefangen an, und während wir noch sprachen, sah ich Allan langsam die Strandtreppe hinuntergehen und dann weiter unten Sinaidens weißes Kleid durch die Dämmerung leuchten und neben ihm auftauchen.

Sie war meinen Augen gefolgt und sah eine Weile starr nach der angegebenen Richtung.

‚Mein Gott, das ist ja doch aber gar nicht möglich!‘ sagte sie, ‚das ist doch gar nicht möglich!‘


Von diesem Tage an nahm die Sache eine andere Gestalt an: es war über unseren armen Jungen gekommen wie eine Krankheit, die Leidenschaft zu dem bethörenden Geschöpf hatte ihn gepackt und hielt ihn wie mit Krallen fest. Mir ging, wenn ich ihn so sah, oft ein altes Volkslied durch den Sinn, das die friesischen Bauernfrauen sangen: ‚Wenn das Stroh in Flammen steht und der Wind dazwischen weht‘ – dies Verzehrende, Rastlose, Rasche, das lag auch in seiner Art – und es verzehrte auch ihn!

Annie ließ sich nach jenem ersten Abend nie mehr etwas anmerken. Sie ging tapfer und blaß neben ihm her, immer bemüht, ihm alles fern zu halten, was ihn verletzen konnte, und ertrug seine jetzt oft sehr gereizten und bitteren Stimmungen mit einer stillen Geduld, die mich aufs tiefste rührte.

Wie weit Frau v. Redebusch in der Sache klar sah, das weiß ich nicht. Sie war, wie viele Kranke, zu sehr mit [539] sich beschäftigt, um in ihrer Umgebung dem sehr viel Aufmerksamkeit zu schenken, was sich nicht in Thatsachen, sondern in Stimmungen offenbarte, und sie hatte sich seit Jahren so daran gewöhnt, Annie sicher und unbeirrt ihren Weg gehen zu sehen, daß sie gar nicht den Wunsch fühlte, gleich einzugreifen, wo dieser Weg einmal eine unerwartete Biegung zu machen schien.

Und es ging auch äußerlich alles so einfach her, die Tage flossen scheinbar wie ein ruhiger Strom dahin, nur wer näher und schärfer sah, entdeckte unter dieser glatten Oberfläche den unheimlichen Wirbel einer Leidenschaft, die nur darauf lauerte, hervorzubrechen und alles mit sich in die Tiefe zu reißen. Sinaide spann ihre Fäden wie eine schöne Spinne – so ganz fein, so ganz unmerklich und so ohne jedes Erbarmen – sie zog ihn sachte immer mehr an sich. Sie spielte mit ihm Tennis – trotz meines Abratens – er hielt sich während des Spiels mit eiserner Energie aufrecht, brach dann zusammen und lag stundenlang erschöpft und regungslos. Dann ritten sie miteinander aus – kein Tag verging, wo sie ihn nicht stundenlang gesehen hätte – die Zeit für Annie wurde immer kürzer, immer knapper, immer unruhiger.

An dem einen Morgen, wo sich ein solcher Spazierritt ungewöhnlich lang ausdehnte, stand ich vor meinem Hause, um Allan zu erwarten, als Annie plötzlich neben mir war – ich erschrak, ich hatte sie gar nicht kommen hören.

,Ist er noch nicht zurück?‘ frug sie mit gepreßter Stimme.

Ich wies statt der Antwort nach dem Strande, wo die beiden Reiter eben auftauchten.

,Und in der brennenden Sonne!‘ sagte sie leise vor sich hin.

Ich schwieg.

Sie faßte sich plötzlich ein Herz.

,Herr Doktor, – lieber, guter Freund,‘ sagte sie, mit einer Leidenschaftlichkeit, die ich ihr kaum zugetraut hätte, ,ich kann es nicht mehr mit ansehen! Sprechen Sie einmal mit ihm – sagen Sie ihm, daß er nicht so viel reiten soll! Er mag ja sonst gern mit ihr zusammen sein – ich habe gewiß kein Mißtrauen, nicht wahr, das glauben Sie ganz fest? aber er hält es ja nicht aus!‘

Sie nahm meine Hand einen Augenblick zwischen ihre beiden und drückte sie heftig, dann war sie so rasch fort wie sie gekommen.

Allan und Sinaide waren indes abgestiegen und kamen, ihre Pferde führend, die Düne entlang auf mich zu – ich konnte in der stillen zitternden Mittagsluft jedes Wort verstehen, das sie sprachen – sie achteten auch gar nicht auf mich und sahen mich wohl kaum. Sie hielt einen Strauß brennendroter Mohnblumen in der Hand und sah mit einem Ausdruck darauf hin, als wenn sie den liebsten Menschen vor sich hätte. Allan biß sich auf die Lippen und schlug mit der Reitgerte gegen seine Hand – plötzlich nahm er ihr die Blumen weg und warf sie auf die Erde und trat mit dem Absatz darauf, bis sie wie ein gestaltloser Blutstropfen aus dem weißen Sande leuchteten.

‚Was machen Sie denn da mit meinen Blumen?‘ frug sie und sah mit einem trotzigen Lächeln zu ihm auf.

,Ich hasse Mohn!‘ sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.

,Der arme Mohn, und warum das?‘ frug sie gleichgültig.

Er antwortete ihr erst gar nicht, sondern sah sie nur drohend und fest an: ,Weil Sie ihn lieben,‘ sagte er dann.

Sie blieb stehen und hielt ihm mit einem leichten Achselzucken die Hand hin. ,Adieu, bis morgen,‘ sagte sie nachlässig, ‚vergessen Sie mich nicht!‘ und dabei lachte sie.

Er behielt ihre Hand einen Augenblick.

,Was sagen Sie?‘ frug er dumpf, ,ich soll Sie nicht vergessen? Wissen Sie mir nichts Besseres zu wünschen? Das beste, das einzigste, was Sie mir wünschen sollten, wäre doch ‚Vergessen Sie mich!‘ Warum sagen Sie denn das nicht?‘

,Das können Sie ja von selbst thun,‘ erwiderte sie und lachte wieder hell auf, ,und nun Adieu – aber heute nachmittag kommen Sie nicht – ich kann Sie gar nicht brauchen – wir erwarten Besuch!‘

,Ich weiß!‘ gab er düster zurück und wandte sich zum Gehen – dann blieb er plötzlich stehen.

,Sehe ich Sie heute gar nicht mehr?‘ frug er, wie hingeworfen.

,Vielleicht doch – ich will mit Großpapa nach dem Thee noch auf die Düne gehen – so gegen acht Uhr – vielleicht kommen Sie mit Ihrer Braut dann auch dahin – das wäre ja sehr hübsch – acht Uhr – hören Sie wohl?‘

Sie nickte ihm zu und verließ ihn – er machte keinen Versuch mehr, sie zurückzuhalten, sondern ging an mir vorbei, ohne mich zu beachten, ins Haus. Ich folgte ihm auf sein Zimmer, wo er sich mit geschlossenen Augen aufs Sofa geworfen hatte, und stand eine ganze Weile neben ihm.

,Allan!‘ sagte ich endlich.

,Was willst du?‘ fragte er ungeduldig, ohne die Augen zu öffnen, ,ich bin müde!‘

,Das sehe ich, mein Junge,‘ erwiderte ich, ,und darum bitte ich dich, laß jetzt einmal das unsinnige Reiten und Tennisspielen – laß es mal ein paar Tage, und du sollst sehen, wie gut es dir thut! Du warst ja doch die erste Zeit hier so frisch und wohl bei dem ruhigen Leben!‘

Er sah mich mit weitgeöffneten Augen an und richtete sich ein wenig in die Höhe.

‚Leben!‘ sagte er dann, ,ja – wenn du das leben nennst – das war ja gar kein Leben – das war nur ein Hindämmern – ein Scheindasein – gelebt habe ich überhaupt erst seit vierzehn Tagen! Sieh’ mal, Rütgers,‘ fuhr er fort, ,ich bin wie ein Schlafwandler durch die Welt gegangen – immer auf so einfachen, glatten Wegen – und es hat der düsteren Flammenbeleuchtung dieser Tage bedurft, um mir zu zeigen, was für Abgründe rechts und links von uns liegen! Sage mir nur nicht, daß ich ein Schwächling, ein erbärmlicher Mensch ohne Energie sei – du brauchst es mir nicht zu sagen, denn ich weiß es selbst ganz – ganz genau! Alles, was du mir sagen kannst, das sage ich mir auch – die langen schlaflosen Nächte hindurch – und jetzt und immerfort – bloß dann nicht, wenn ich mit ihr zusammen bin – dann ist es aus – dann weiß ich überhaupt nichts mehr – gar nichts! Du kannst dir nicht denken, wie dankbar ich bin, wenn mich einmal nichts an sie erinnert!‘

Ich strich ihm sanft die Haare von der glühenden Stirn und sprach gar nicht – mir war der Hals wie zusammengeschnürt.

In dem Augenblick wurde die Thür aufgestoßen und Sinaidens großer Hund kam herein und auf Allan zu, den er ungestüm ansprang. Mich faßte in dem Augenblick eine unsinnige Wut gegen alles, was mit ihr zusammenhing, und ich gab dem Tiere einen Stoß, daß es mit einem lauten Aufheulen weit weg flog – ich konnte nicht anders.

Allan sah mich sonderbar an.

‚Laß doch das Tier,‘ sagte er, ,das arme Tier – das ist ja viel besser als ich, das ist doch wenigstens treu!‘

Ich stand eine ganze Weile stumm am Fenster.

Ich war so ratlos ihm gegenüber – ich kam mir vor wie einer, dem die Hochflut entgegenkommt und der sie mit seinen beiden Händen zurückhalten soll.

Als ich mich nach ihm umwandte, war er eingeschlafen; aber der Schlaf hatte den unruhigen Zug nicht aus seinem Gesicht fortzuwischen vermocht – er warf sich hin und her und atmete kurz – mir fiel wieder auf, wie krank er jetzt aussah.

An diesem Tage kam, wie Sinaide ja schon gesagt hatte, ein auswärtiger Gast zum General, ein junger, eleganter Mann mit blondem Scheitel und sehr hübschem, nichtssagendem Gesicht – er blieb bis gegen Abend da. Sinaide war ohne Aufhören mit ihm zusammen, immer da, wo man sie von den Dünenhäusern aus beobachten konnte – sie spielte mit ihm Tennis, und nachmittags ließ sie sich ihren Strandstuhl hinunterbringen, was sie sonst nie that, und saß stundenlang mit dem Fremden am Meer. Er lag auf einer Decke zu ihren Füßen, und sie schien sich vortrefflich mit ihm zu unterhalten, so daß sie für nichts und niemand anders Augen hatte.

Allan bestand darauf, auch an den Strand zu gehen – Annie und ich begleiteten ihn, ich hatte gerade freie Zeit.

Als wir an den beiden vorbeikamen, grüßten wir. Sinaide nickte, wie zerstreut, flüchtig nach uns hin und wandte dann gleich wieder den Kopf nach dem Fremden, der ihr allerlei Schnurren zu erzählen schien, über die sie ausgelassen lachte.

Allan zog Annie so rasch mit sich, daß sie ihm kaum zu folgen vermochte.

[540] ,Wo willst du denn hin?‘ frug sie bange.

‚Fort!‘ sagte er, ,nur ganz weit fort!‘ Ich ließ sie beide gehn – ich dachte so halb und halb, er würde am Ende jetzt den richtigen Weg zu ihr zurückfinden, und ich hatte außerdem beschlossen, keinen Tag mehr vorbeizulassen, ohne etwas in der Sache zu thun.

Es dämmerte schon, als Allan und Annie zurückkamen – ich hatte vor, den Abend mit ins Seeschloß zu kommen, und wir saßen auf der Terrasse zusammen.

‚Bleiben wir heut’ einmal hier oben!‘ sagte ich zu Annie, ,gehn wir nicht mehr ans Meer!‘

Sie verstand mich und sah mich dankbar an. ,Nicht wahr, Allan, wir bleiben heute bei Mama?‘ sagte sie und legte schüchtern die Hand in seinen Arm.

Er nickte zerstreut. ,Ja, ich mag gar nicht mehr hinaus!‘ sagte er.

Aber als die Dämmerung tiefer wurde, begann er unruhig zu werden – ich sah, wie er mehrmals unter einem Vorwand aufstand und den Weg hinunterblickte. ,Ich glaube beinahe, ich habe Fräulein Sinaide versprochen, daß du noch mit mir auf den Dünenweg kommen willst, Annie,‘ sagte er dann mit scheinbarer Gleichgültigkeit, ‚ob es nicht unfreundlich aussieht, wenn wir nicht kommen?‘

Sie sah ihm fest und traurig in die Augen – er wandte den Kopf unruhig ab.

‚Ich glaube nicht,‘ sagte sie, ‚und selbst wenn es so wäre – laß es doch unfreundlich aussehen – brauchen wir denn immer fremde Menschen?‘

Er schien sich zu fügen – ich setzte mich zu Frau v. Redebusch ins Zimmer und wir spielten eine Partie Halma – das Brautpaar stand auf der Terrasse und sprach leise.

Plötzlich fuhr ein pfeifender Windstoß durchs Zimmer, der die Lampe fast verlöscht hätte, die Thür war aufgesprungen, ich wollte sie schließen und sah Annie allein auf der Terrasse stehn.

,Wo ist Allan?‘ frug ich.

Sie wies nach der Düne hinunter – er ging mit raschen Schritten immer auf und ab, wir konnten in der tiefen, feuchten Dunkelheit seine Gestalt nur eben noch erkennen – das rote Fünkchen seiner Cigarre glimmte durch die Nacht.

In der Ferne gluckte und schluchzte das Meer im Zurückebben, auf der Höhe des Wassers standen finster und schattenhaft die Boote der Heringsfischer wie Gespensterschiffe, der Leuchtturm warf ab und zu einen zuckenden Feuerschein auf die dunkle Wasserfläche.

Annie stand regungslos, die Hände beide fest auf die steinerne Einfassung des Balkons gepreßt; ich sah auf ihr feines, schmales Gesicht, in das ein strenger Schmerzenszug gekommen war, und fühlte einmal wieder so recht, wie ohnmächtig der Mensch auch dem Liebsten und Nächsten gegenüber ist, wie er ihm nichts abnehmen und nichts geben kann, und wie jeder doch seine Schlacht allein schlagen – siegen oder zu Grunde gehen muß.

Plötzlich wandte sie sich nach mir um – ihr Mund zitterte, wie von mühsam bekämpftem Weinen.

,Es ist mir ja gar nicht so um mich!‘ sagte sie mit erstickter Stimme, ‚aber es ist so furchtbar schade um ihn!‘

Ich wandte mich kurz um und sagte drinnen Gute Nacht – als ich noch einmal zurückblickte, sah ich, wie Annie neben dem Sofa der Mutter hingekniet war und ihren Kopf auf die Kissen gelegt hatte. Die Mutter strich ihr sanft über das Haar, ich ging langsam nach Hause.

Es war mittlerweile spät geworden – Allan war draußen nicht zu sehen. Als ich in mein Zimmer trat, saß er am Tisch, den Kopf in die Hände vergraben, und sprach nicht.

Ich berührte ihn sanft an der Schulter.

Er fuhr erschreckt empor.

‚Wo warst du denn so lange?‘ frug ich.

‚Am Strande – mit Sinaide!‘ sagte er mit einem sonderbaren Lachen, ‚sie hat mich erst bis halb zehn Uhr warten lassen – dann ist sie endlich doch gekommen. Und dann schwärmte sie mir die ganze Zeit von dem Besuch vor, den sie gehabt hätte, wie lustig, wie unterhaltend und hübsch er wäre! Und wie ich zornig wurde und weggehen wollte, lachte sie mich aus und sagte: ‚Es ist ja alles nur Scherz – ich habe mich ja ganz abscheulich mit ihm gelangweilt!‘ ,Aber wozu dieser Scherz?‘ frug ich sie. Und weißt du, was sie da sagte? ‚Ich wollte einmal sehen, was Sie für ein Gesicht dazu machten – Sie ziehen die Augenbrauen immer so zusammen, wenn Sie sich ärgern – das steht Ihnen sehr gut – bitte, machen Sie das auch jetzt noch einmal!‘ Und wie ich sagte: ‚Sie quälen mich, wie ein grausames Kind ein hilfloses Tier quält,‘ da erwiderte sie mir: ‚Aber das braucht Sie doch nicht zu quälen – das geht Sie ja gar nichts an – Sie sind ja verlobt!‘

‚Und was sagtest du darauf?‘ frug ich ernsthaft.

‚Ich? Du wirst empört sein, Rütgers – aber ich sagte – oder besser, etwas sagte aus mir heraus: ,Und wenn ich’s nicht wäre?‘ Da antwortete sie nur ganz kaltblütig: ,Dann würde ich Sie sehr beglückwünschen – ich halte Heiraten für einen Unsinn!‘ – Gute Nacht, Rütgers – ich bin so froh, daß ich dir das alles erzählen kann – da ist mir manchmal, als wenn mein Herz nicht mehr so bleischwer wäre!‘

Er gab mir seine fieberheiße Hand und ging nach der Thür, dort blieb er noch einen Augenblick stehen. ‚Ich glaube, die Wellen verschlingen am Ende Schiffer und Kahn,‘ sagte er traurig und ging hinaus.

Ich blieb die halbe Nacht wach und schritt in schweren Gedanken in meinem Zimmer auf und ab – so ging es nicht weiter, das war mir klar!

(Schluß folgt.)


Nachdruck verboten.      
Alle Rechte vorbehalten.     

Oberschlesische Zustände im Jahre 1848.

Ein Erinnerungsblatt von Max Ring.

Seit dem Jahre 1840 lebte ich als praktischer Arzt in Gleiwitz, dem Mittelpunkt des oberschlesischen Bergbaus und Hüttenwesens, wo ich hinlängliche Zeit und Gelegenheit fand, Land und Leute genauer kennenzulernen. Auf meinen häufigen Berufsreisen und Ausflügen in der Umgegend von Gleiwitz führte mich mein Weg durch öde Sandflächen, vorüber an schlecht oder nachlässig bestellten Feldern, an verdorrten Kartoffeläckern und düsteren, einförmigen Kiefernwäldern, durch schmutzige Dörfer, mit jämmerlichen Strohdächern auf den verfallenen Häusern, in denen der in Armut verkommene Landmann ein erbärmliches Leben führte, in beständigem Kampf mit Not und Sorge. Plötzlich aber überraschte mich das hohe Schloß eines reichen Gutsherrn oder das großartige Hüttenwerk eines angesehenen Industriellen, reizende Villen, von geschmackvollen Gärten und Anlagen umgeben. Denn in der Tiefe, unter dem dürren, unfruchtbaren Boden verborgen, ruhten die unermeßlichen Schätze der Erde, die schwarzen Diamanten der unerschöpflichen Kohlenschichten, die mächtigen Erzlager, Eisen und Zink, die den glücklichen Besitzern ein fürstliches Einkommen sicherten. Zahlreiche Bergleute in schwarzen Leinwandkitteln, mit dem Schurzfell auf dem Rücken und der Grubenlampe am Gürtel, zogen schon am frühen Morgen an mir vorüber, tauchten gleich nächtigen, bleichen Schatten auf und nieder und verschwanden wieder in der unheimlichen Tiefe, welche neben ihren Schätzen die tückischen Geister der schlagenden Wetter, die erstickenden Gase und die wilden Gewässer barg.

Nicht selten wurde meine ärztliche Hilfe für die Verunglückten in Anspruch genommen, die durch eine verderbliche Explosion, durch Einsturz des Gesteins oder den Durchbruch des Wassers zu Schaden an Leib und Leben gekommen waren. Aus dem finstern Schacht wurden die Leichen oder die mit zerschmetterten Gliedern noch lebenden Arbeiter emporgewunden, erwartet von jammernden Frauen, entsetzten Kindern, von den bleichen Genossen und Freunden, die früher oder später ein ähnliches Schicksal ereilen konnte.

Neben den niedrigen Gebäuden der Bergleute ragten die mächtigen Hüttenwerke mit ihren riesigen Schornsteinen empor. Der

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Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0541.jpg

Auf der Terrasse der Ebernburg.
Nach dem Gemälde von E. Geibel.

[542] wunderbare Eindruck wurde noch gesteigert, wenn am Abend zahllose Flammen und Flämmchen den Horizont meilenweit beleuchteten und in der Dunkelheit das blendende Schauspiel einer glänzenden Illumination hervorzauberten. Hier schlug die rote Lohe der kolossalen Hochöfen zum nächtlichen Himmel auf, gleich dem feuerspeienden Krater eines mächtigen Vulkans, aus dessen Innern das geschmolzene Eisen wie ein glühender Lavastrom hervorschoß; dort blitzten die grünen und bläulichen Lichter des kochenden Zinks wie ein buntes Feuerwerk auf, während die angezündeten Kohlenmeiler, die in Coaks verwandelt werden sollten, weithin wie brennende Dörfer und Städte in düstrer Glut dem überraschten Wanderer erschienen. Rauschende Wasserkräfte, sausende Windgebläse und riesige Dampfmaschinen arbeiteten unablässig, fachten die lodernden Flammen an, schwangen die centnerschweren Eisenhämmer, drehten die ungeheuren Walzen und Räder, welche das spröde Metall, die zähen Eisenblöcke zu dünnen Platten preßten oder zu starken Schienen streckten und schweißten, auf denen die Lokomotiven im Fluge dahinsausen.

Zwischen diesen Gruben, Hütten und Lagerplätzen bewegten sich in unabsehbaren Reihen die Karren und primitiven Fuhrwerke der sogenannten „Vekturanten“, die das Erz, die Kohlen und die gewonnenen Erzeugnisse fortschaffen und verfahren. Elende Wagen von höchster Einfachheit, mit kleinen, zottigen Pferden bespannt, schleppten sich mühsam auf den vernachlässigten Landwegen oder ausgefahrenen Chausseen fort. Ausgestreckt auf den schwerbelasteten Wagen leitete der Landmann das magere, halbverhungerte Gespann, schlafend oder halbberauscht, da das leicht verdiente Geld ebenso schnell in den überall an der Straße liegenden Schenken vertrunken und verjubelt wurde, während der Acker unbestellt oder den Frauen und Kindern zu notdürftiger Bestellung überlassen blieb und die vernachlässigte Wirtschaft notwendig zu Grunde ging.

Ueberall fand ich auf meinen Reisen reges Leben und Treiben neben Trägheit und Verkommenheit, unermeßlichen Reichtum und furchtbare Armut, glänzenden Luxus und unsägliches Elend, raffinierte Kultur und rohe Barbarei. Dieselben Gegensätze, die das ganze Land mir zeigte, spiegelten sich auch in dem Charakter der Bewohner. Wie dies so oft bei Grenzbevölkerungen zu beobachten ist, hatte die oberschlesische die Fehler und Schwächen der beiden in ihr vereinigten Rassen; die Berührung des deutschen mit dem slavischen Element hatte auf beide schädlich gewirkt und ihre Entwicklung aufgehalten.

Von Natur gutmütig und begabt, war das arme Volk jener Gegend durch Jahrhunderte dauernde Sklaverei, Unterdrückung und Vernachlässigung demoralisiert und erniedrigt. Seine Hauptfehler waren eine fast unüberwindliche Trägheit, Unwissenheit, Sorglosigkeit und grenzenloser Leichtsinn. Unter dem Druck der auf ihm lastenden Leibeigenschaft und Erbunterthänigkeit, die erst die neuere Gesetzgebung aufgehoben hatte, mußten mit der Zeit alle besseren Keime verkümmern und zu Grunde gehen.

Selbst der Segen der ihm geschenkten Freiheit, die Folgen der durch das Gesetz aufgehobenen Erbunterthänigkeit vermochten nicht, das traurige Geschick des Landmanns wesentlich zu verbessern, ja sie verschlimmerten anfänglich seine erbärmliche Lage. Bis dahin war der Gutsbesitzer wenigstens verpflichtet und interessiert, für ihn Sorge zu tragen. Er mußte ihn zur Not ernähren, ihn mit dem unentbehrlichsten Viehstand und Ackergeräten versehen und die über seinem Kopf zusammenstürzende Hütte ihm wieder aufbauen lassen.

Das Gesetz hatte den Bauer frei gemacht und auf seine eigene Kunst verwiesen. Aber unter dem vorausgegangenen langen Druck hatte er den Gebrauch derselben verloren, wie der gebrochene und eingeschnürte Fuß das Gehen verlernt, selbst wenn er wieder geheilt wird. Da der Gutsherr nach wie vor die Polizei verwaltete und durch den von ihm angestellten Justitiar die Patrimonialgerichtsbarkeit ausübte, herrschte auf dem Lande noch immer eine aller Beschreibung spottende Willkür und Rechtsunsicherheit. Die Fälle, daß Leute zu Tode geprügelt wurden, zählten damals keineswegs zu den Seltenheiten, und diese Verbrechen kamen nur ausnahmsweise zur Anzeige und führten noch seltener zur Bestrafung der Schuldigen, da die Furcht zu groß und die Herren zu mächtig waren. Ebenso stand der Bauer in den vielfachen Civilprocessen und Verhandlungen wegen der Ablösung der Zinsen und der Robot dem Grundbesitzer hilf- und ratlos gegenüber.

So erschien mir zu der Zeit, als ich noch in Oberschlesien lebte, das Volk im gewissen Sinne noch immer der weiße Sklave des Gutsbesitzers, obgleich die Leibeigenschaft und Erbunterthänigkeit schon längst aufgehoben und geschwunden war. Unter diesen Verhältnissen rückte das Jahr 1847 heran und mit ihm jene traurige Katastrophe, die berüchtigte oberschlesische Hungersnot und der damit verbundene Flecktyphus.

Die eigentümliche Lage des Landes und der Bevölkerung, die ungünstigen klimatischen Einflüsse, wiederholte Mißernten, schlechte und mangelhafte Ernährung und verkehrte oder unzureichende Maßregeln trugen dazu bei, einen Notstand hervorzurufen, wie er schrecklicher nicht gedacht werden konnte. Die Hauptschuld jedoch wurde nicht mit Unrecht dem alten Regierungssystem zugeschrieben, das alle Warnungen und Mahnungen der besser Unterrichteten nur als Zeichen des „beschränkten Unterthanenverstandes“ und liberaler Unzufriedenheit ansah und die laut um Hilfe rufende Stimme der Presse durch die bestehende Censur erstickte. Schon in den letzten Monaten des Jahres 1847 sah man die Vorboten des drohenden Unheils. Scharen von entlassenen und brotlosen Arbeitern suchten vergebens eine Beschäftigung, während Frauen und Kinder mit hohlen Wangen, in Lumpen, fast nackt, bettelnd von Dorf zu Dorf zogen und sich um den Abfall der Küchen, selbst um rohe Kartoffelschalen stritten, um ihren Hunger zu stillen. Hier und da fand man am Wege, im Walde oder auf freiem Felde die Leiche eines der Not erlegenen Unglücklichen. Infolge des Mangels und der schlechten Ernährung traten zahlreiche gastrische Fieber und Ruhren auf, aus denen sich allmählich der Typhus entwickelte, der nun schnell um sich griff. Bald lagen Tausende danieder, in einzelnen Dörfern mehr als die Hälfte der Einwohner.

So erkrankten im Kreise Pleß im Jahre 1847 nach amtlichen Berichten 19539 Personen, von denen 2292 starben, im Rybniker Kreise gab es Ortschaften, wo nur zwei oder drei Häuser von der Seuche verschont blieben; ganze Familien verfielen dem Tode, Hunderte verwaister, nackter, brotloser Kinder irrten von Dorf zu Dorf, weil sie, der Eltern beraubt, kein Obdach, keine Heimat, keine Nahrung finden konnten. Nicht selten mangelte es an Brettern zu Särgen für die Leichen, die in Lumpen gehüllt oder nackt zum Kirchhof auf Handschlitten oder Schubkarren geschleift wurden. Dabei fehlte es an menschlicher Hilfe. Schwarze Tafeln vor den Thüren der durchseuchten Hütten scheuchten das Mitleid von der Schwelle fort und verbreiteten Schrecken und Entsetzen. Die Zahl der heimischen Aerzte reichte nicht mehr hin, und viele von ihnen verfielen der Ansteckung, erkrankten und starben, während die furchtsamen Behörden sich fern hielten und ihre Pflicht versäumten. Vater und Mutter, Kinder und Säuglinge, eine ganze Generation rang ungesehen und ungehört mit dem erbarmungslosen Tode, in dumpfer Verzweiflung oder stumpfer Resignation. Nach und nach verstummten die Klagen, schwieg das Röcheln der Sterbenden, bis alles still war. Ich selbst fand bei meinem Besuche eines Dorfes in einer Hütte auf dem bloßen Fußboden, ohne Decken, zwischen fünf Kranken zwei bereits Verstorbene, die der kaum vom Typhus genesene Vater zu schwach war fortzuschaffen, während fremder Beistand nicht zu erlangen war.

Endlich erwachte die apathische Regierung aus ihrer bisherigen Unthätigkeit; zugleich weckte die furchtbare Not die schlummernde Menschenliebe, Mitleid und Erbarmen. Aus allen Teilen der Monarchie strömten Aerzte, Krankenpfleger, barmherzige Brüder und Schwestern herbei. Die wohlhabenden Gutsbesitzer der heimgesuchten Kreise eröffneten Volksküchen für die Hungernden; Geld, Nahrungsmittel und Kleidungsstücke wurden gesammelt und verteilt, für die Kranken Lazarette eingerichtet, wozu meist die nicht mehr besuchten und leerstehenden Schulstuben benutzt wurden. Die Privatwohlthätigkeit brachte die größten Opfer, und Männer wie der junge Rudolf Virchow und der Prinz Biron scheuten nicht die Gefahr der Ansteckung und selbst nicht den Tod, dem der letztere leider erlag.

Während dieser Vorgänge war in Paris jene Revolution gegen Louis Philipp ausgebrochen, deren Rückwirkung auf [543] Deutschland sich mit der Schnelligkeit des Blitzes verbreitete und bis zu unserem verlorenen Winkel erstreckte. In Wien wurde Metternich und sein schändliches System gestürzt, in Berlin auf den Barrikaden gegen das absolute Regiment, den Polizeistaat, die Unterdrückung der Volksrechte, für die Freiheit und die Einheit Deutschlands erfolgreich gekämpft. Die Nachricht von dem Siege über die damals herrschende Reaktion erfüllte alle Herzen mit einem Freudenrausch, einem Wonnetaumel. Ein Völkerfrühling schien gekommen, ein Ostermorgen der Freiheit, ein Erwachen des ganzen Volkes zu einem neuen, schöneren Leben. Auch das so schwer heimgesuchte und in der politischen Bildung zurückgebliebene Oberschlesien vernahm die frohe Botschaft mit einem jeder Beschreibung spottenden Jubel. Ich selbst war tief ergriffen und fortgerissen von der allgemeinen Bewegung.

Mit einigen gleichgesinnten Freunden eilte ich am 20. März nach dem Gleiwitzer Bahnhof, wo eine wogende Menschenmenge voll banger Erwartung stand, um Näheres über die Gerüchte von einem blutigen Straßenkampf in Berlin zu erfahren. In höchster Aufregung stürzten wir dem von Breslau kommenden Morgenzug entgegen. Hier bot sich unseren Augen ein überraschendes Schauspiel: von der dampfenden Lokomotive und sämtlichen Waggons wehten die verpönten schwarz-rot-goldnen Fahnen, alle Passagiere und selbst die Schaffner waren mit der bisher verbotenen deutschen Kokarde geschmückt. „Sieg, Sieg!“ schallte es von hundert Lippen aus allen Fenstern der Wagen, und „Sieg, Sieg!“ jauchzte die begeisterte Menge. Man ließ kaum den Passagieren so viel Zeit, um auszusteigen und in die Restauration zu treten. Hier mußten sie erzählen, und atemlos lauschten wir den Berichten von den Thaten des Volks in Berlin, wie es durch seinen Widerstand, seine Aufopferung und Tapferkeit den Absolutismus bezwungen und das verhaßte Regierungssystem gestürzt.

Diese Mitteilungen, eine Mischung von Dichtung und Wahrheit, wurden mit unbeschreiblichem Enthusiasmus aufgenommen und erhöhten noch die freudige Aufregung. Wir stimmten das bisher verbotene Lied vom Deutschen Vaterlande an und zogen dann Arm in Arm, singend, nach der Stadt zurück, wo sich die Nachricht von der siegreichen Revolution wie ein Lauffeuer von Haus zu Haus verbreitete. Bald bestätigten die ausführlichen Berichte der Zeitungen, die man sich aus den Händen riß, die immer noch von einzelnen bezweifelte Kunde. Doch die Mehrzahl war von der Wahrheit überzeugt und überließ sich der maßlosesten Freude, voll Hoffnung, daß die neue Freiheit aller Not und allen Beschwerden, die man erlitten, ein Ende machen würde. Die bedrückten Herzen schlugen leichter, die Augen strahlten heller, und die Geister träumten von einer schöneren und besseren Zukunft.

Selbst die Natur schien den allgemeinen Jubel zu teilen und sich mit den glücklichen Menschen zu freuen. Nie war der Monat März so schön und warm in unserem rauhen nordischen Klima erschienen als im Jahre 1848. Die Sonne leuchtete klar und mild an dem blauen, wolkenlosen Himmel, die Erde schmückte sich mit frischem Grün wie zu einem Fest, die Obstbäume blühten, die Veilchen dufteten und die Vögel sangen um die Wette mit den frohen Menschen. Ueberall ein Keimen und Drängen, ein Knospen und Blühen, ein Leben und Schaffen in den Wäldern, auf den Feldern, in den Herzen und in den Geistern! Die ganze Welt schien über Nacht verwandelt, das Leben veredelt, alle Schranken und Hindernisse geschwunden, eine goldene Zeit gekommen. Das schwere Leid war vergessen, die böse Krankheit gewichen, und selbst der arme, bedrückte Landmann freute sich beim Anblick der jungen, hoffnungsvollen Saaten. Ein Bruderband umschlang die Herzen; Adel und Bürger, Besitzer und Proletarier reichten sich die Hände! Der Unterschied der Stände, der Rassen und Religionen schien gefallen, und jedes derartige Vorurteil erregte nur noch Spott oder Mitleid.

Doch nur zu schnell sollten diese ersten schönen Tage der jungen Freiheit schwinden, und dem beglückenden Rausche sollte ein trauriges Erwachen folgen. Bald entbrannte von neuem der Kampf der Parteien und Interessen, der Nationalitäten und Konfessionen, nur noch heftiger und leidenschaftlicher als zuvor. Obgleich die politische Bildung des Kreises nur gering war, fehlte es in der Stadt nicht an Volksversammlungen, an Rednern und Agitatoren, an konservativen und freisinnigen Elementen, die sich feindlich gegenüberstanden. Die dadurch hervorgerufene Aufregung wurde noch durch die von dem neuen Ministerium ausgeschriebenen Wahlen zu dem konstituierenden Landtag in Berlin und zu dem Deutschen Parlament in Frankfurt a. M. gesteigert. Die Parteien bildeten sich; auf der einen Seite die adligen Grundbesitzer, die reichen Industriellen, das Militär, ein großer Teil der Beamten, die katholische Geistlichkeit und die Lehrer des Gymnasiums; auf der anderen Seite der nur schwach vertretene höhere Bürgerstand, freisinnige Rechtsanwälte, Aerzte, Kaufleute, Hüttenmänner und Handwerker, die von der Revolution eine Verbesserung ihrer Lage forderten und erwarteten.

Da Urwahlen angeordnet waren, lag die Entscheidung hauptsächlich in den Stimmen des durch seine überwiegende Zahl den Ausschlag gebenden Landvolks, das sich vorläufig noch ganz passiv zu verhalten und sich um die künftige Verfassung wenig oder gar nicht zu kümmern schien. Was ging auch den oberschlesischen Bauern die Freiheit der Presse, die Abschaffung der Censur und das Versammlungsrecht an? Er dachte nur an die Befreiung von seinen Lasten, an die Verminderung seiner Abgaben, an die Aufhebung der dem Grundherrn schuldigen Ablösung, an seinen Vorteil und seine Interessen.

In der Stadt wurden Beratungen veranstaltet, Reden gehalten, Kandidaten aufgestellt und angehört. Die konservative Partei entschied sich für den Landrat des Kreises und rechnete dabei mit Sicherheit auf die Majorität des unterthänigen, der Obrigkeit bisher gehorchenden Landvolks; wogegen die Freisinnigen sich über die Kandidatur eines angesehenen und beliebten Rechtsanwalts einigten, der auch auf den Dörfern eine bedeutende Praxis besaß und die Rechte der Gemeinden wahrgenommen und mit Erfolg vertreten hatte. Beide Parteien suchten für sich die Gunst und die Stimmen der jetzt so wichtigen Bauern durch alle ihnen zu Gebote stehenden Mittel zu sichern, stießen aber auf ein unter scheinbarer Ergebenheit verhülltes Mißtrauen.

Auch die so gleichgültig und indifferent sich stellenden Bauern beschäftigten sich im stillen mit den Wahlen, saßen abends bei der Branntweinflasche im „Kretscham“, ihrer Schenke, steckten die Köpfe zusammen und besprachen sich heimlich über die geeigneten Kandidaten. Das stand bei allen fest, daß sie keinen Herrn, selbst nicht den Landrat, haben wollten, sondern einen aus ihrer Mitte, der ihre Klagen und Beschwerden, ihre Wünsche und Forderungen teilte und von dem sie glaubten, daß er ihre Sache vertreten, ihre Rechte und Vorteile wahrnehmen werde. Vor allem mußte er ein geriebener Schlaukopf sein und den vornehmen Herren gewachsen.

Als ein solcher Mann erschien ihnen der Häusler Kiolbassa, ein kleiner, aber verschmitzter Bauer, der in seiner Gemeinde das große Wort führte, in allen verwickelten Angelegenheiten guten Rat wußte, verschiedene Prozesse mit der Gutsherrschaft geführt und gewonnen hatte, mit den Gesetzen und Advokatenkniffen gut Bescheid wußte und, sozusagen, mit allen Hunden gehetzt war. Außerdem war Kiolbassa im ganzen Kreise bekannt, zählte viele Freunde und Anhänger, bei denen er in hohem Ansehen wegen seiner Klugheit stand und denen er allen jetzt die größten Versprechungen machte. – In einer zu diesem Zweck veranstalteten Versammlung der Wahlmänner verpflichtete sich Kiolbassa feierlich, nur für die Interessen seiner Wähler zu stimmen, ihnen jeden möglichen Vorteil zuzuwenden, sie von allen drückenden Abgaben zu befreien und die Ansprüche der Herren mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu bekämpfen; worauf er fast einstimmig zum alleinigen Kandidaten für den konstituierenden Landtag ernannt wurde, während man für das Parlament in Frankfurt sich für den Premierlieutenant v. Bodien erklärte, der als Regierungskommissar während der Typhusperiode die Verteilung von Lebensmitteln und Saatkartoffeln geleitet und sich dadurch dem Landvolk vorteilhaft empfohlen hatte.

Groß war daher die Ueberraschung und Enttäuschung, als am Wahltage weder der konservative Landrat, noch der freisinnige Rechtsanwalt die Mehrheit der Stimmen erhielt, sondern der des Lesens und Schreibens unkundige Bauer Kiolbassa und der Premierlieutenant v. Bodien, letzterer ein geistreicher Lebemann, der sich weniger durch parlamentarische Tüchtigkeit als durch sein Talent, Karikaturen zu malen, auszeichnete, wodurch er die Aufmerksamkeit des Königs auf sich zog [544] und von dem witzliebenden Friedrich Wilhelm IV zum Flügeladjutanten ernannt wurde. Kiolbassa aber wanderte in seinem besten Sonntagsstaat, dem langen blauen Rock mit großen Metallknöpfen und der dicken Pelzmütze, beladen mit einem Leinwandsack, in dem er vorsichtig einige große Brote, einen fetten Schinken, Würste, Käse und Buttertöpfe schleppte, nach Berlin, um als Abgeordneter an dem Verfassungswerk fleißig mitzuarbeiten. Bescheiden und bedürfnislos, mietete er in der Hauptstadt ein billiges Kämmerlein und lebte von seinen mitgebrachten Vorräten, seine Diäten als Abgeordneter sparend, da er, wie wenigstens damals vielfach behauptet wurde, seinen Wahlmännern versprochen hatte, das so zurückgelegte Geld mit ihnen brüderlich zu teilen.

Sein Umgang beschränkte sich auf einige ebenfalls auf dem Lande gewählte Kollegen von gleicher Bildung und Fähigkeit. Die Sitzungen des Landtags besuchte er mit der größten Pünktlichkeit und bemühte sich eifrig, den Verhandlungen zu folgen, was ihm bei seiner mangelhaften Kenntnis der deutschen Sprache doppelt schwer fallen mußte. Zum Glück fand er einen polnisch sprechenden Abgeordneten der linken Seite, der sich seiner freundlich annahm, ihm das gewünschte Verständnis für alle ihm dunklen Fragen beibrachte und ihn mit der freisinnigen Partei auch stimmen ließ. So geschah es, daß der würdige Kiolbassa bis zu der gewaltsamen Auflösung des konstituierenden Landtags, ohne zu wissen, was er that, seinen Sitz auf der Linken einnahm, mit ihr stimmte und für einen entschiedenen Liberalen galt. Mit dem ersparten Geld in der Tasche kehrte der würdige Abgeordnete in die Heimat zurück, wo er in einer zu diesem Zweck berufenen Versammlung seinen Rechenschaftsbericht ablegte, aber statt des erwarteten Beifalls und Triumphs nur bittere Vorwürfe, grobe Redensarten, böse Schimpfworte und sogar, wie die Fama berichtete, eine Tracht derber Schläge fand, weil er die von ihm versprochene und geforderte Teilung seiner zurückgelegten Diäten den alten Freunden und Wahlmännern des Kreises hartnäckig verweigerte. Unter solchen Verhältnissen verzichtete Kiolbassa auf jede fernere parlamentarische Thätigkeit und zog sich in die Dunkelheit des Privatlebens zurück.

So sah es im Jahre 1848 in Oberschlesien aus; die viel geschmähte und verrufene Revolution hatte jedoch trotz aller Verirrungen manche wohlthätige Veränderung herbeigeführt, gleich einem stürmischen Gewitter, das die erstickende Luft reinigt und die bösen Dünste verjagt. Die aus ihrem Schlummer aufgeschreckte Regierung bemühte sich, ihre begangenen Unterlassungssünden wieder gut zu machen; sie sorgte durch Vermehrung und Verbesserung des Schulunterrichts für die Bildung und Erziehung der Jugend und suchte durch zweckmäßige Maßregeln der Verwaltung das Volk vor fernerer Hungersnot und ihrem Gefolge von Krankheiten zu bewahren, durch eine unparteiische Rechtsprechung es vor jeder Bedrückung und Willkürherrschaft zu schützen und den Schwachen gegen die Starken beizustehen, sie suchte durch Förderung der Landeskultur und der Verkehrsmittel den Wohlstand zu heben und auch den verarmten Bauern ein besseres Los zu bereiten. Wenn auch nicht alle Wünsche erfüllt, nicht alle Forderungen befriedigt worden sind, so muß man doch den großen Fortschritt freudig anerkennen und auch für Oberschlesien eine segensreiche Zukunft erhoffen, vor allem aber darf man überzeugt sein, daß die früheren verrotteten Zustände nicht wiederkehren werden.


Blätter und Blüten.

Eine Erinnerung an Emil Rittershaus. Schon in dem Nachruf, welchen die „Gartenlaube“ Emil Rittershaus gewidmet hat (Jahrgang 1897, S. 206[WS 1], ist hervorgehoben worden, wie er nicht nur als Dichter die Freundschaft und das häusliche Glück innig zu preisen gewußt, sondern auch als Mensch in seltenem Maße Freundschaft und häusliches Glück zu pflegen verstanden hat. Gerade daher stammte die Wärme jener Gedichte, daß sie aus dem eigenen Erleben erblühten. Seine warmherzige, liebenswürdige Natur strömte ein echt rheinisches Lebensbehagen aus, das sich allen mitteilte, mit denen er sich gesellig vereinte. Seine offene Art, sich zu geben, der frische Humor, der seine Unterhaltung durchwürzte, der ideale Schwung, mit dem er für seine Gesinnungen eintrat, schufen ihm überall Freunde. Auf seinen Vortragsreisen, die ihn allwinterlich in die verschiedensten deutschen Städte führten, erschloß sich ihm gar manches Haus, dessen Schwelle er als verehrter, doch noch fremder Gast betrat, um als vertrauter Freund daraus zu scheiden. So manches poetische Albumblatt hält heute die Erinnerung an solche Stunden lebendig. Eine besonders charakteristische Probe dieser herzentsprossenen Gelegenheitspoesie wird gewiß vielen willkommen sein, denen der Dichter lieb und wert ist. Wir verdanken dieselbe einem treuen Leser der „Gartenlaube“, Herrn Albrecht Schulze in Crimmitschau, der uns die Verse mit den folgenden ansprechenden Erläuterungen übersandte: –

Genau zwei Jahre vor seinem Todestage, am 8. März 1895, hielt, auf einer Vortragsreise begriffen, Emil Rittershaus auch im Kaufmännischen Verein zu Crimmitschau einen seiner beliebten Vortrüge, und zwar den über Geibel und Freiligrath. Schon längere Zeit stand ich mit dem Dichter des Rheins und des Weins im brieflichen Verkehr. Zu Neujahr hatte er mir, mit eigenhändiger Widmung versehen, sein wohlgetroffenes Bildnis, nach der Aufnahme, wie es die „Gartenlaube“ gebracht, verehrt, und mein ganzes Haus konnte nunmehr die Zeit kaum erwarten, den Dichter bald in Person begrüßen zu können. Ich hatte vor, den berühmten Gast auch in unsern Mauern ehrenvoll zu feiern: mit Hilfe des tüchtigen Männeturngesangvereins war ein solenner Kommers in Vorbereitung, aber der Dichter erklärte mir auf meine bezügliche Andeutung brieflich, daß er in der ängstlichsten Weise Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand nehmen müsse. „Seit einigen Jahren bin ich ein herzleidender Mann, muß alljährlich für längere Zeit Bad Nauheim aufsuchen …. Nach den Vortrügen konnte ich früher Abendessen mitmachen und im fröhlichen Kreise den Becher schwingen. Jetzt bin ich genötigt, wenn ich meine Rede beendet habe, mein Schlafgemach aufzusuchen, mich ganz still zu verhalten und alles zu vermeiden, was mir die Nachtruhe stören könnte … Wollen Sie mich am Samstag, den 9. März, im Familienkreise zu einem einfachen bürgerlichen Mittagsmahl zu Gast haben, so wird es mir eine Ehre und Freude sein, in Ihrem Heim Einkehr zu halten. Einem Kommers am Abend beizuwohnen, bin ich um so weniger imstande, da ich für Oelsnitz am 10. März gleichfalls einen Vortrag zugesagt habe . . . .“ – Die Einladung, in meinem Hause Wohnung zu nehmen, lehnte Rittershaus ab. – Pünktlich, wie versprochen, stellte er sich am Tage nach dem Vortrag mittags 12 Uhr bei uns ein. Was waren das doch für köstliche unvergessene Stunden, die uns da fesselten! Das tiefe Gemüt des Poeten, das aus all seinen Dichtungen so erwärmend uns in das Herz redet, hier sprach es im Menschen, im Freund! Er wurde nicht müde des Wortes, und auch manch lustige Anekdote mengte sich in seine Erzählungen. Wie gern hätten wir jedes einzelne seiner lieben, freundlichen Worte festgehalten! – Um 5 Uhr traf aus Barmen ein Telegramm ein, das mir und meiner Familie einen herzlichen Gruß übermittelte und das mit „Möhrlein“ unterzeichnet war. „Möhrlein“? wer war das? Der Dichter klärte uns lächelnd auf. Als seine Kinder noch klein, war einstmals die Mutter infolge eines Trauerfalles in Schwarz gegangen, und das hatte eines von den Kleinen dem plötzlichen Ausruf veranlaßt: „Ach, die Mama sieht ja aus wie ein Möhrlein!“ – Die Jahre waren verrauscht, die Kinder standen längst vor eigenen Lebensaufgaben, jene Bezeichnung aber war geblieben bis zur Stunde. – Aus allen Worten leuchtete das glückliche Familienleben heraus, und wie glänzten seine Augen, als er erzählte, daß ihn jeden Tag sein geliebtes „Möhrlein“, seine Hedwig, mit einem Briefchen erfreue! – Allzu schnell war der herrliche Nachmittag vergangen, die siebente Abendstunde hatte geschlagen und Emil Rittershaus schickte sich zum Scheiden an. Da ging mir ein Wunsch durchs Herz: neben der Erinnerung an diesen köstlichen Familientag wollte ich gern auch ein geschriebenes Wort des Dichters für mein Haus behalten. Ich gab diesem Wunsche Ausdruck, und in liebenswürdiger Weise wurde er sofort erfüllt. Der Dichter bat, in meinem Arbeitszimmer ein Viertelstündchen allein und ungestört sein zu dürfen, und da schrieb er in das „Fremdenbuch“ meines Hauses die folgenden Verse:

 
„Die Welt ist groß, die Welt ist schön –
Bald prangt sie stolz mit Alpenhöhn:
Bald blitzt und schäumt des Meeres Flut,
Darauf der Sonne Flamme ruht;
Hier Eichendom, dort Palmenzelt –
Groß ist die Welt, schön ist die Welt!
Und doch – die Welt am schönsten bleibt,
Wo Liebe ihre Blüten treibt,
Wo treue Freundschaft uns begrüßt
Und manche Stunde uns versüßt,
Wo still man pflegt des Edlen Keim,
Und wo die Kunst hat ein Daheim!
So fand ich’s hier und segnend spricht
Mein Herz: des Frohsinns Sonnenlicht,
Des Glückes Glanz, des Friedens Wehn,
O mög’s hier niemals untergehn!
Stets blüh’ der Liebe Blumenstrauß! –
Gott geb’ es!
 Emil Rittershaus.“

Daß dieses Blatt für mich und meine Familie ein heiliges Andenken bleiben wird, bedarf wohl nicht der Versicherung. Noch einmal, am andern Vormittag, einem Sonntag, beehrte Rittershaus uns mit

[545]

Urwaldspuk.
Nach einer Originalzeichnung von A. Schmidhammer.

[546] seinem Besuch, um Abschied zu nehmen. Wie weh ward uns da ums Herz – – aber es mußte ja sein, wollte er doch am Abend schon wieder als Vortragender seiner Pflicht genügen. Aus einem Wiedersehn in Aßmannshausen, das für den kommenden Sommer geplant war, wurde nichts. Nun ist der gemütvolle Dichter seinem „Möhrlein“, der „Sonne seines Lebens“, in die ewige Ruhe gefolgt!

Das Jubiläum des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Die diesjährige, in Nürnberg vom 11. bis 13. August stattfindende Generalversammlung des „Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins“ bedeutet einen denkwürdigen Abschnitt in der Geschichte dieser hochverdienten Vereinigung, welche nunmehr 25 Jahre besteht. Allen Freunden der Alpenwelt wird aus diesem Anlaß ein kurzer Rückblick auf die großartige Entwicklung willkommen sein, welche der Alpenverein in diesem Zeitraum aus kleinen Anfängen genommen hat.

Die Besteigung der höheren Alpenberge um ihrer landschaftlichen Schönheit willen ist erst um die Mitte unseres Jahrhunderts eine Angelegenheit allgemeineren Interesses geworden. Nur wenige kühne, meist im Dienst der Wissenschaft stehende Männer hatten vordem denkwürdige Expeditionen auf einzelne hervorragende Gipfel gewagt; erst in den fünfziger Jahren wurden die großen Hanptgipfel der Schweizer Alpen von Bergsteigern erobert, die aus Freude am Bergsteigen in die Alpen reisten. Die Pioniere dieser neu entstandenen Bethätigung der Freude an der Natur fühlten bald das Bedürfnis nach einem Zusammenschluß; der 1857 in London gegründete „Alpine Club“ war der erste alpine Verein. Aber auch in den deutschen Alpen regte sich bald der Trieb, die grandiose Hochalpennatur aus eigner Anschauung kennen zu lernen, und auch da machte sich naturgemäß sehr bald das Bedürfnis nach einer Vereinigung der Gleichgesinnten geltend, das im Jahre 1862 zur Gründung des „Oesterreichischen Alpenvereins“ führte. Paul Grohmann, Dr. E. v. Mojsisovics und G. v. Sommaruga gaben in Gemeinschaft mit Prof. Dr. Ed. Sueß und A. Melingo die erste Anregung, und bei der ersten Hauptversammlung am 19. November 1862 trat der neue Verein gleich mir 627 Mitgliedern ins Leben. Von den zwei Hauptaufgaben, die er sich gestellt hatte, der wissenschaftlichen Erforschung der Alpen und der Erleichterung des Bereisens derselben, insbesondere der österreichischen Alpenwelt, wurde die erstere mit ganzer Kraft von berufenen Männern in Angriff genommen. Die Erbauung von Wegen und Schutzhütten ward noch nicht als eigene Angelegenheit des Vereins aufgefaßt, man beschränkte sich darauf, die Alpenbevölkerung zu solchen Unternehmungen anzuregen und anzuleiten. So kam es, daß der Oesterreichische Alpenverein auch nur ein Schutzhaus, die heute in ein Alpengasthaus umgewandelte Rainerhütte im Kaprunerthale, selbst erbaute. Die Hauptkraft und der größte Teil der Vereinsmittel wurde auf die Vereinsschriften verwendet, und diese sind es denn auch gewesen, welche dem jungen Verein sehr rasch ein hohes Ansehen erwarben, ihm anderseits aber auch den Charakter einer vorzugsweise litterarisch-wissenschaftlichen Vereinigung gaben. Doch fehlte es nicht an Mitgliedern, welche den praktischen Aufgaben ihr Hauptinteresse zuwandten und die darauf ausgingen, auch die Thätigkeit des Vereins mehr als bisher auf diese hinzulenken. Als ein Haupterfordernis dazu erschien ihnen allen, daß der Verein in den Alpenländern selbst mehr Wurzel fassen müsse. Es wurde daher angestrebt, die bis dahin streng centralistische Organisation des Vereins in der Weise umzuwandeln, daß derselbe in einzelne, über das ganze deutsche Alpenland und das Flachland verteilte Sektionen sich gliedere und die Leitung an einen alljährlich aus einer anderen Sektion zu wählenden Centralausschuß übergehe.

Während im Oesterreichischen Verein diese Bestrebungen auf Widerstand stießen, nahm eine Anzahl deutscher Alpenfreunde die Gründung eines „Deutschen Alpenvereins“ in die Hand. Joh. Stüdl, der hochverdienstvolle spätere Vorstand der Sektion Prag, Paul Grohmann, Carl Hofmann, der später bei Sedan gefallene, kühne Erschließer der Glocknergruppe, Lampart, Trautwein u. v. a., vor allem jedoch der unermüdliche und unvergeßliche Kurat Franz Senn aus dem Oetzthale, brachten es dahin, daß am 9. Mai 1869 in München die erste Sektion des „Deutschen Alpenvereins“ ins Leben trat. Schon im Juni folgte die Gründung einer Sektion Wien (offiziell erst am 20. August), während bereits im Mai der in Leipzig bestehende „Leipziger Alpenklub“ sich in eine „Sektion Leipzig“ verwandelte und dann in rascher Folge an verschiedenen Orten weitere Sektionen entstanden, so daß der neue Verein am Ende des ersten Jahres bereits 16 Sektionen mit 702 Mitgliedern zählte. Erster Centralpräsident war v. Bezold in München. Auch der „Deutsche Alpenverein“ hatte, eingedenk der hohen Wichtigkeit guter Vereinsschriften, diesen zunächst das Schwergewicht seiner Thätigkeit zugewandt, so daß bereits das erste, unter Th. Trautweins Leitung herausgegebene „Jahrbuch“ eine hervorragende Erscheinung bildete. Aber das eifrige Bestreben, auch eine möglichst weitgehende praktische Thätigkeit zu entwickeln, machte sich daneben sofort geltend. Für 1870/71 wurde Wien, mit Dr. F. v. Hochstetter an der Spitze, Vorort. In dieser Zeit – es war diejenige des gewaltigen Ringens zwischen Deutschland und Frankreich – geschahen die ersten Schritte behufs Anbahnung einer Vereinigung des Deutschen mit dem Oesterreichischen Alpenverein. Trotz vielfacher Schwierigkeiten und erst nach jahrelangen Verhandlungen wurde dies Ziel erreicht. Im Jahre 1873, und zwar am 23. August zu Bludenz in Vorarlberg, ward die vollständige Vereinigung beider Vereine besiegelt, dergestalt, daß, im Fall der Österreichische Alpenverein dem Gesamtvereine als eigene Sektion beitreten würde, dieser den Namen „Deutscher und Oesterreichischer Alpenverein“ annehmen sollte, und am 19. November 1873 erfolgte dies auch. Seitdem hat der so entstandene Verein einen ununterbrochenen Siegeszug vollzogen, dessen einzelne Etappen ebensoviele segensreiche Schöpfungen zum Wohle der die Alpen bereisenden Naturfreunde, mehr aber noch zum Wohle der gesamten Alpenbevölkerung bedeuten. Ein klares Bild der glänzenden Entwicklung, die der Verein genommen, giebt die Steigerung seines Mitgliederstandes. Dieser betrug Ende 1873: 2394, 1876: 5901, 1879: 8192, 1882: 11091, 1885: 15870, 1888: 21992, 1891: 25136, 1894: 32163, 1897: 40828 und gegenwärtig 42000 in 251 Sektionen. Der Verein nennt 183 Unterkunftshütten sein eigen! Was dieser mächtige Verein im Verlauf eines Vierteljahrhunderts Segenreiches geschaffen, das bildet ein ruhmvolles Denkmal opferwilliger Schaffensfreude im Dienst des Gemeinwohls. Nur in Kürze sei angeführt, daß er bis Ende 1897 für Weg- und Hüttenbauten in den Alpen die Summe von 1600925 Mark 46 Pf., insgesamt aber für seine Bestrebungen die Riesensumme von 3093837 Mark verausgabt hat, und daß er im Begriffe steht, das Regierungsjubiläum des greisen Monarchen Oesterreichs, auf dessen Gebiet er seine Hauptthätigkeit entfaltet hat, mit einer neuen großen Unternehmung, der Schaffung eines großen Unterstütznngsfonds für durch Elementarereignisse verunglückte Gebirgsbewohner zu begehen. Möge der Alpenverein, in welchem sich die innere Zusammengehörigkeit der Deutschen Oesterreichs und ihrer Brüder im Reich aufs schönste verkörpert, unter dem guten Stern, der ihm bisher geleuchtet hat, auch weiterhin blühen, wachsen und gedeihen! Heinrich Heß.     

Das Stauffacherin-Denkmal für Steinen. (Mit Bild S. 517.) Als einen Kampf für die Unverletzlichkeit des häuslichen Herds, für das Heiligtum der Familie hat Schiller im „Tell“ den Aufstand der schweizer Urkantone wider die Tyrannei der kaiserlichen Landvögte geschildert, und die erste Mahnung zur gemeinsamen Erhebung läßt er erklingen von den Lippen einer schlichten Hausfrau. In Gertrud Stauffachers Seele ersteht der Plan zu jenem Bunde der Waldstätte, welches dann durch den Schwur auf dem Rütli feierlich besiegelt wird. Ihr tapferer Anruf: „Sieh vorwärts, Werner!“ entreißt den zögernden Gatten seinen zaghaften Bedenken, so daß er sich mutvoll zu entschlossenem Handeln aufrafft. Wie längst dem Tell, soll nun auch der Stauffacherin in der Schweiz ein Denkmal erstehen. Ein Komitee von schweizer Frauen, das sich 1892 im Interesse der philanthropischen Frauenthätigkeit in Bern gebildet hat, das „Frauenkomitee Bern“, hat dazu den Plan gefaßt, nachdem 1896 auf dem Frauenkongresse zu Genf ein entsprechender Vorschlag zur Annahme gelangte. Der Bildhauer Max Leu begeisterte sich für den Plan und schuf aus freien Stücken den Entwurf für das Denkmal, welchen wir zur Abbildung bringen. Leu überwies das Modell dem „Frauenkomitee Bern“; dieses setzte sich in Verbindung mit dem Frauenverein und dem Gemeinderat von Steinen im Kanton Schwyz, denn hier am Wohnort Stauffachers soll das Denkmal seinen Standplatz erhalten. Bei der Ausstellung des Entwurfs im Berner Kunstmuseum hat die lebensvolle Gruppe allgemeinen Beifall gefunden. Max Leu zeigt die Stauffacherin, wie sie mit heroischer Gebärde den grübelnden Gatten zum Kampf aufruft, den Blick prophetisch in die Ferne gerichtet. Schon durchzuckt den Mann der Entschluß, und er schließt energisch die Faust. In freier Gestaltung hat der Künstler neben die begeisterte Frau den kleinen Sohn gestellt, dem ihre Linke segnend das Haupt berührt. Der Kleine blickt voll Zutrauen zu ihr auf. Als Inschrift hat der Künstler dem Sockel Gertruds Mahnruf eingefügt: „Sieh vorwärts, Werner!“

Karl der Kühne in der Schlacht bei Nancy. (Zu dem Bilde S. 520 und 521.) Neben den siegreichen Welteroberern giebt es andere geschichtliche Gestalten, in denen der gleiche Trieb und Drang mächtig war, die es aber zu großen Siegen und Eroberungen nicht brachten, weil die Weltlage eine ungünstige war oder weil ihnen die Kraft fehlte, die Verhältnisse zu beherrschen. Zu diesen gehört Karl der Kühne, Herzog von Burgund, 1433 zu Dijon als Sohn Philipps des Gütigen aus dem Hause Valois geboren. Im Jahre 1467 übernahm er nach dem Tode des Vaters die Zügel der Regierung, erfüllt von dem Plane, das alte Königreich Burgund wiederherzustellen. Bei dem Versuche, ihn auszuführen, verwickelte er sich in langwierige Kämpfe mit König Ludwig XI von Frankreich, dem Herzog von Lothringen und den Schweizern. Ueber die beiden zuerst genannten Gegner gelang es ihm, Vorteile zu erringen. Er eroberte Nancy, das er zur Hauptstadt des geplanten großen Burgunderreiches bestimmte. Im Kampfe mit den Schweizern unterlag er aber in den blutigen Schlachten von Granson und Murten. Nun konnte auch der Herzog Renatus II von Lothringen an die Wiedereroberung seiner Lande gehen; er zog vor Nancy und nahm es nach einer Belagerung ein. Karl kam mit seinem Heere zu spät, um die Stadt zu entsetzen. Er unternahm im Oktober 1476 von neuem die Belagerung, trotz der eintretenden strengen Kälte, und wandte sich gegen den Herzog von Lothringen, als dieser mit 20000 Mann frischer Truppen zum Entsatz heranrückte. Der neapolitanische Graf von Campobasso, auf welchen Karl das größte Vertrauen setzte, hatte sich aber als Verräter erwiesen und war zum Feinde übergegangen. In dieser letzten Schlacht des kühnen Karl (5. Januar 1477), deren Schlußakt uns die Zeichnung von Cloß lebendig vergegenwärtigt, unterlagen die durch Strapazen jeder Art geschwächten Truppen des burgundischen Herzogs, und er selbst konnte sich nach tapferster Gegenwehr nur mit wenigen Begleitern aus dem Getümmel retten, versank aber auf der Flucht in einem Sumpf und wurde hier von den Feinden oder, wie einige Geschichtschreiber berichten, von Verrätern aus dem eigenen Lager erschlagen. †      

Ländliche Kunstbetrachtung. (Zu dem Bilde S. 525.) Nach mehrstündiger Arbeit ist der Maler zum Mittagsessen gegangen und hat die Bewachung seiner Staffelet den beiden Kindern, die er als Modelle benutzt hat, übertragen. In seiner Abwesenheit haben sich noch zwei andere Mädchen eingefunden, die nun das ziemlich fertige Gemälde einer genauen Prüfung unterziehen. Für sie ist natürlich die Hauptsache und das einzig Interessante an dem Bilde, daß hier der Michel [547] und die Grete wirklich und leibhaftig zu sehen sind, gerade so wie sie der Herr Maler heute morgen da vorn hinstellte und durch die königliche Belohnung von fünfzig Pfennig zwei Stunden lang zum unverdrossenen Ausbarren bewog! Daß diese beiden sich infolgedessen auch bereits mit zur Kunst rechnen, zeigt Gretens koloristischer Verschönerungsversuch an Michels roten Backen und dessen andachtsvolles Stillehalten unter ihrem Pinselstrich. Der Herr Maler wird beim Zurückkommen wohl froh sein, daß die kleine Naturkünstlerin nicht seine Leinwand zum Feld der Thätigkeit erwählte! Bn.     

Deutschlands merkwürdige Bäume: die Zwerg- oder Krüppelbuche bei Königslutter. (Mit Abbildung.) Ungefähr 100 m seitwärts von der Straße, welche die beiden braunschweigischen Städte Königslutter und Schöppenstedt miteinander verbindet, findet man in dem Forstorte „Huckethalskopf“ des Forstbezirks Königslutter eine Zwerg- oder Krüppelbuche. Dieselbe steht inmitten eines jüngeren Bestandes, und Fachmänner schätzen ihr Alter auf 150 bis 160 Jahre. Die Höhe des Baumes beträgt etwa 9 m, der Umfang des Stammes 2,30 in und die Länge desselben 2,20 m. Der Durchmesser der Krone mißt 13 bis 14 m. Das Wachstum der Buche ist verhältnismäßig gut und kräftig. Schon der Stamm zeigt Verkrüppelung, besonders aber haben die jüngeren und die jüngsten Zweige und Aeste die Neigung, miteinander zu verwachsen oder zu verkrüppeln. Bode.     

Deutschlands merkwürdige Bäume: die Zwerg- oder Krüppelbuche bei Königslutter.
Nach einer Aufnahme von Max Burchard in Braunschweig.

An dem „Thore des verlorenen Sohnes“ der Kathedrale in Toledo. (Zu dem Bilde S. 533.) Die „Puerta del Niño Perdido“ ist eines der acht Thore, welche in die Kathedrale von Toledo führen. Diese Pforte stammt aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts und bildet einen prächtigen Rahmen zu unserem Bilde. Bis ins einzelne sorgfältig und naturgetreu hat der Maler den mächtigen Thorflügel mit den kunstvoll gearbeiteten Eisennägeln, die steinerne, reichverzierte Umrahmung der inneren Thüre und den mit dem Osterpalmzweig geschmückten Balkon dargestellt.

Gleichgültig schreitet das junge Mädchen an den Bettlern vorbei; es giebt ihrer ja so viele in Toledo, daß es unmöglich wäre, auf alle zu achten. Zudem blicken die dunklen Augen so traumverloren in die Ferne, als weilten die Gedanken der von der Andacht Kommenden weit von hier. Daß wir eine echte Tochter Spaniens vor uns haben, zeigt die schwarze Spitzenmantilla, die glücklicherweise nur in Madrid von dem modernen Hut verdrängt wird. Das reiche Haar beinahe bedeckend, fällt sie in schönen Falten auf Schultern und Rücken herab. Charakteristisch ist die Vereinigung von Rosenkranz, Fächer und Gebetbuch in der linken Hand des jungen Mädchens. Ohne Fächer würde keine Spanierin je das Haus verlassen. Sie bedient sich seiner auf die anmutigste Weise und verwendet ihn sowohl zum Gruß, wie zu einer fein ausgebildeten Zeichensprache, welche der Glückliche, dem sie gilt, wohl zu deuten weiß.

Die Alte, vermutlich die Dienerin, trägt die Mantilla weniger kokett auf dem ergrauten Haar. Von dem großen bunten Shawl wird sie sich auch im Sommer nicht trennen. Wie das schwarze Seidenkleid bei den Damen, ist bei den Frauen der arbeitenden Klasse der wollene Shawl beliebt und gebräuchlich. Das Mütterchen hält einen Feldstuhl im Arm. Die müden Beine erlauben ihm nicht mehr das lange Stehen und Knieen, und Bänke oder Stühle giebt es in den spanischen Kirchen nicht. Mitleidig reicht es der anscheinend blinden Bettlerin ein Geldstück, vielleicht weiß es aus eigener Erfahrung, wie weh der Hunger thut.

In ganz Spanien giebt es wohl keine Kirchenthür, an welcher nicht mehrere Bettler, Blinde, Lahme und Krüppel die Hand ausstrecken. Da heißt’s, Kleingeld und besonders Geduld haben.

Madrazo zeigt uns auf seinem Bilde nicht die Aermsten der Armen, und zeichnet sich hierin vorteilhaft vor vielen seiner Kollegen aus, die mit besonderer Vorliebe das Abstoßende und Schreckliche darstellen. C. v. R.      

Phyllis. (Zu dem Bilde S. 537.) In den Hirtengedichten der griechischen und römischen Dichter, die, wie Theokrit und Vergil, das Landleben besangen, ist Phyllis ein beliebter Name für zartempfindende Schäferinnen, welche ihre Lämmer im Pinienschatten zwischen Myrtenbüschen weiden. Als später die Nachahmung der griechischen und römischen Kunst in Frankreich und Deutschland zur Wiederbelebung der Hirtenpoesie führte, da wurde auch der Name Phyllis wieder oft gebraucht und manch ein Dichter feierte in seinen Liedern die eigene Geliebte als griechische Schäferin und nannte sie Phyllis. In besonderer Blüte stand diese Vorliebe in der Rokokozeit: zur Mode von Versailles gehörten Schäferspiele und Maskenfeste, zu denen sich die Damen vom Hof als Hirtinnen kostümierten. Den größten Vorteil hat von dieser Mode die Malerei gehabt, und auch heute noch benutzt sie diese anmutigen Motive. Heinrich Lossow führt uns eine solche Rokokoschäferin vor; sie ist auf dem Wege zu einer Begegnung mit dem Geliebten, sei es zu einem einsamen Stelldichein oder zu einem fröhlichen Feste, wo sie ihn treffen wird; sie hat sich festlich angethan, Blumen in den Zopf geflochten, und so schreitet sie des Wegs einher, von ihrem kleinen Liebling begleitet, dem sie zärtliche Blicke zuwirft.

Auf der Terrasse der Ebernburg. (Zu dem Bilde S. 541.) Zu den Nebenflüssen des Rheins, die an romantischem Reiz ihrer Ufer mit dem Hauptstrom wetteifern, gehört die Nahe, welche bei Bingen ihre frische Flut mit der des Rheines vereinigt. Dies gilt vor allem von der Umgebung der beiden benachbarten Badeorte Kreuznach und Münster am Stein, deren vorzügliche Solquellen alljährlich von zahlreichen Kurgästen aufgesucht werden. Die landschaftliche Schönheit des Nahethales zeigt sich hier in ihrer reichsten Entfaltung; besonders ruhmreiche historische Erinnerungen knüpfen sich an die Burgtrümmer, welche hier, auf steilen Porphyrfelsen thronend, einander gegenüber liegen. Von ihnen gewiß die berühmteste ist die Ebernburg, deren Ruine sich westlich vom Rheingrafenstein über Münster und dem Einfluß der kleinen Alsenz in die Nahe erhebt. Als Franz von Sickingens festes Schloß gewährte sie in den Stürmen der Reformationszeit so manchem kühnen Vorkämpfer der evangelischen Lehre gastliche Aufnahme und kräftigen Schutz gegen seine Widersacher. Als Gast seines mächtigen Freundes Franz von Sickingen schrieb hier Ulrich von Hutten seine Klagschriften an Karl V und an die Deutschen aller Stände. Auf der Ebernburg schmiedete er in Gemeinschaft mit dem tapferen Burgherrn jene kühnen Pläne, die auf eine Wiedergeburt des Deutschen Reiches im Geiste der nationalen Unabhängigkeit und der „christlichen Wahrheit“ abzielten. Seit 1889 steht auf halber Höhe des Berges das schöne Cauersche Denkmal, welches das heldenhafte Freundespaar in lebensvoller Gestaltung verkörpert. Die „Herberge der Gerechtigkeit“, wie Hutten dankbaren Sinnes die Ebernburg nannte, ist unter den Kartaunenschüssen späterer Belagerer längst verfallen; aber ihr Ruhm blieb haften an ihren Trümmern, und über diesen Trümmern erhob sich dann ein neuer zinnengeschmückter Bau, der jetzt als Herberge denjenigen dient, welche der Ruhm der schöngelegenen Stätte hinauflockt. Pietätvoll wird in dem Gasthaus das Andenken an jene große Zeit gepflegt; man findet in seinem Innern die Bildnisse Sickingens, seiner Frau Hedwig, Ulrichs von Hutten, sowie allerlei Reliquien. Aber nicht nur zu historischem Rückblick, nicht minder zum Ausblick auf das herrliche Landschaftsbild, das rings um den Berg sich ausbreitet, ladet der Aufenthalt ein. Eine Aussichtsterrasse mit schattigen Ruhesitzen bietet Gelegenheit, diesen Genuß mit behaglicher Rast bei erquickendem Trunk zu verbinden. Aus nah und fern strömen daher an schönen Sommer- und Herbsttagen die Besucher herbei, um sich des entzückenden Aufenthalts zu erfreuen, und oft wird der Kurgast aus Münster oder Kreuznach, der bald auf der Ebernburg heimisch wird, Zeuge, wie sich unter den Bäumen der Aussichtsterrasse fröhliche, echt rheinische Geselligkeit in ähnlicher Weise entfaltet, wie es unser Bild darstellt. Die Landschaft im Hintergrund desselben zeigt uns das Alsenzthal, links überragt von den Trümmern der Feste Altenbaumburg, die einst als Stammsitz des alten Raugrafengeschlechts berühmt war.

[548] Das Friedrich Hofmann-Denkmal in Ilmenau. (Mit Abbildung.) Zehn Jahre sind dahingegangen, seit man in Ilmenau einen der alten Kämpen aus der Burschenschaftszeit, den Dichter Friedrich Hofmann, der unserem Blatt so nahe gestanden hat, zu Grabe trug. Der Thüringer Frühling hat jedes Jahr dies Grab mit Blumen geschmückt, und unvergessen lebt in vieler Menschen Herzen fort, der hier in der geliebten Waldesheimat die ewige Ruhe fand. Daß aber nicht nur die Erinnerung an das Gute und Schöne, an all die Liebe, die er gab, weiterlebt, daß auch die „alten, treuen Züge“ des Dichterkopfes unvergessen bleiben, dafür haben Dankbarkeit, Liebe und Freundschaft gesorgt.

„Er gab so viel!0 Mit seinen Herzensgaben 0
Verstand er es, zum deutschen Volk zu reden!“

Und das deutsche Volk schuf mit der Liebe Gaben ein Denkmal, so ganz nach dem Herzen des Dichters: an der Landstraße gelegen, wo der Wanderer vorüberpilgert, in idyllischer Einsamkeit, am Saum des dunklen Nadelwaldes, schlicht, dem Müden Ruhe und Labung spendend…

Wenn man durch das freundliche, an klassischen Erinnerungen so reiche Ilmenau wandert und den Weg nach dem Gabelbach einschlägt, liegt rechter Hand, wo der Tannenwald sich aufthut, gegenüber einem kleinen, in Wiesengrün gebetteten Teich, das Friedrich Hofmann-Denkmal.

Das Friedrich Hofmann-Denkmal in Ilmenau.

In einer hohen Sandsteinnische steht die wohlgetroffene von L. Weise in Ilmenau modellierte Büste des Dichters in Bronze, darunter in goldenen Lettern der Name. Schlanke Säulen steigen zu beiden Seiten auf. Unter der Platte, welche den Namen trägt, befindet sich ein Löwenkopf, aus dessen Rachen sich klares Bergwasser in ein Becken von Muschelform ergießt. Bänke stehen zu beiden Seiten des Denkmals, im Vordergrund zwei Linden, von denen einst die Kinder des verstorbenen Dichters ihrem geliebten Toten Zweige in die gefalteten Hände legten. Den Hintergrund des Denkmals bildet graues Felsgestein, auf dem sich höher hinauf der Nadelwald aufbaut.

Wenige Schritte oberhalb dieser dem „Gartenlauben-Hofmann“ geweihten Stätte liegt noch ein anderes Erinnerungsplätzchen. Es gehört dem Sohn, dem früh verstorbenen, des „Gartenlaube“-Begründers, und die schlichte Widmung auf der Marmortafel des Denksteins lautet: „Unserm heimgegangenen Alfred – die Armen von Ilmenau“. Der dunkle Tannenwald flüstert von Sterben und Vergehen, aber auch von Menschenliebe und Nimmervergessen derer, die zu den Guten, Besten ihrer Zeit gezählt.


Urwaldspuk. (Zu dem Bilde S. 545.) Wie mancher, der sich frei von Aberglauben weiß und ein mutiges Herz in der Brust hat, wird nicht auch heute noch von unheimlichem Schauer ergriffen, wenn er sich in einem pfadlosen dichten Walde verirrt hat und in dessen Finsternis, über Baumwurzeln stolpernd, von den geheimnisvollen Stimmen des Waldes geneckt und gehöhnt, von täuschenden Lichteffekten irregeführt, den Ausweg sucht. Kein Wunder, daß in der Vorzeit, als noch weite Gebiete deutschen Bodens von Urwald bedeckt waren und finsterer Aberglaube die Gemüter in Bann hielt, die Phantasie unserer Vorfahren den Wald mit unheimlichen Wesen, Gnomen, Zwergen, Alräunchen und Schrateln bevölkert hat, die darauf ausgingen, die Menschen irre zu führen, zu Fall zu bringen und zu verhöhnen. Unsere Sagenwelt ist reich an Ueberlieferungen dieser Art, und noch in unseren Tagen ist so manche besonders unheimliche Waldgegend verrufen, weil ein ganz bestimmter Kobold darin sein bedrohliches Wesen treibt. Durch Scheffels „Trompeter von Säkkingen“ ist als solch boshafter Waldgeist neuerdings zu besonderer Berühmtheit der „Meisenhart Joggi“ gelangt, der in den entlegenen Revieren des Hauensteiner Schwarzwalds nach dem Glauben der Anwohner der Urheber alles Unheils ist, das ihnen im Wald widerfährt. Mit vielem Humor hat Scheffel in seinen Reisebildern aus dem Hauensteiner Schwarzwald über diesen Kumpan geplaudert, „dessen amtliche Stellung im Geisterreich darin besteht, heimkehrende Biedermänner irre zu führen oder sonst durch mannigfachen Schabernack auf die Verwirrung ihrer Begriffe hinzuarbeiten.“ Hebel aber, als aufgeklärter Rationalist und genauer Kenner der vom Meisenhart Joggi heimgesuchten Bauernschädel, bat für den Ursprung dieser Art Gespensterseherei in seinem „Geisterbesuch auf dem Feldberg“ die rechte Erklärung gegeben: aus dem Weine stamme der irreführende Kobold. Ohne solche rationalistische Skepsis, vielmehr mit echt Scheffelschem Humor hat sich A. Schmidhammer in seinem Bilde „Urwaldspuk“ des Themas bemächtigt. Nichts Böses ahnend ist da ein harmloser Spielmann des Weges gekommen, und die über den Pfad sich schlängelnden Baumwurzeln haben ihn nicht gehindert, sich im Wandern mit sinnigem Flötenspiel die Zeit zu vertreiben. Dieses süße Getön ist offenbar gar nicht nach dem Geschmack des dort ansässigen Waldgnoms gewesen. Behend hat er sich auf einen starken Eichenast geschwungen, unter welchem der Weg des Spielmannes hinführt. Und gerade als der in schönen Weisen schwelgende Flötenbläser unter ihm angelangt ist, schlägt der Kobold ein schauriges Hohngelächter auf, so daß der Wanderer erschrocken innehält und entsetzt zu dem Ast emporblickt, von wo ihm das schadenfrohe Gesicht des Gnomen höhnisch entgegengrinst.


Petrarca und Laura. (Zu unserer Kunstbeilage.) Auch wer nicht die empfindungsvollen und formvollendeten Gedichte kennt, in denen Petrarca die Königin seines Herzens gefeiert hat, verbindet mit den Namen Petrarca und Laura die Vorstellung von einem idealen Liebesbund, den die Poesie für alle Zeiten verklärt hat. Von dieser Verklärung hat die mit Eifer betriebene Forschung nach den wirklichen Beziehungen des berühmten Liebespaars nichts zu rauben vermocht; so reich die Quellen fließen, die uns über den Lebensgang des großen Humanisten und Patrioten Francesco Petrarca, der zu Ostern 1341 auf dem Kapitol zu Rom feierlich mit dem Dichterlorbeer gekrönt ward, Auskunft geben, so spärlich sind die beglaubigten Nachrichten, welche die historische Persönlichkeit seiner Laura betreffen. Ob die von Petrarca Besungene wirklich eine Tochter des alten provençalischen Rittergeschlechtes de Noves war und der Dichter sie in Avignon kennen lernte, als sie bereits den edlen Hugo de Sade geheiratet hatte, darüber streiten sich noch heute die Gelehrten, nachdem beinahe sechs Jahrhunderte seit der Geburt jener Dame verflossen sind. Von Petrarca selber beglaubigt ist, daß er bald nach Beendigung seiner Studien und nachdem er am päpstlichen Hofe zu Avignon mächtige Gönner gefunden hatte, die ihn zum Eintritt in den geistlichen Stand bestimmten, in einer Kirche der damaligen Residenz des Papstes jene Dame zuerst erblickte, an die er sein Herz verlor und welche die Laura seiner Lieder wurde. Das Bild, das von ihr im Bewußtsein der Nachwelt lebt, stammt aus den Gedichten, in denen er die von ihm Geliebte, die ihm nur Freundschaft bot, besungen hat, in allen Tönen, welche innige Sehnsucht dem Herzen zu entlocken vermag, und in der Sprache des Volkes, deren Gebrauch er in seinen übrigen Dichtungen zu gunsten des Lateinischen verschmähte. Auch nach Lauras 1348 plötzlich erfolgtem Tod besang er sie. Fast alle diese Gedichte entstanden auf dem Landsitz, den Petrarca bald nach seiner Niederlassung in Avignon in dessen Nähe erwarb. Das Häuschen lag in Vaucluse zwischen herrlichen Gärten, dicht bei der von hohen Felsen malerisch umrahmten Quelle der Sorgue, die in kurzem stürmischen Lauf, schnell anschwellend, von hier der Rhone zueilt. Hier in Vaucluse verbrachte der Dichter seine fruchtbarsten Jahre. Hier entstand sein lateinisches Heldengedicht auf Scipio Africanus. Hier kämpfte er in der Einsamkeit gegen die Leidenschaft an, die ihn für die schöne tugendhafte Frau in der nahen Stadt erfüllte. Im Schattenthal von Vaucluse suchte er nach Lauras Tode Trost in dem poetischen Kultus, den er dem abgeschiedenen Geist der Geliebten als dem Inbegriff aller weiblichen Tugend widmete; aus der krystallklaren Quelle der Sorgue sah er ihr Bild aufsteigen, sah er sie leibhaftig sich ihm nähern in der jugendschönen Anmut, durch die sie ihn bei der ersten Begegnung entzückte, jetzt einen Lorbeerzweig in der Hand, als Symbol des Ruhmes, mit welchem sein Lied ihr irdisches Sein verklärte. Eine solche Vision ist der Gegenstand unseres Bildes.



Kleiner Briefkasten.

Der tiefen Trauer, in welche die gesamte Nation durch den Tod Bismarcks versetzt ward, haben wir gleich nach Empfang der erschütternden Kunde in einer außerordentlichen Beilage Ausdruck verlieben, die noch mit diesem Halbheft zur Versendung gelangen konnte. In dem nächsten Halbheft werden wir nun die Veröffentlichung einer eingehenden Schilderung von Bismarcks Lebensgang mit zahlreichen Bildnissen und anderen Abbildungen beginnen.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Allerlei Winke für jung und alt.


Kleine Deckchen in Blumenform. Als Unterlage für Blumenvasen und Nippsachen auf polierte Möbel, Tischdecken etc. empfehlen sich die kleinen Deckchen in Blumenform ganz besonders. Ihrer geringen Größe wegen kann man geeignete Reste von Seidenstoffen, Stickereileinen etc. sehr gut dazu verwenden. Man zeichnet sich die natürliche Form zum Beispiel einer Sonnenblume, eines Stiefmütterchens, einer Margaretenblume, eines Weinblattes oder dergleichen auf den Stoff auf, ebenso die Adern oder Staubfäden.

Die Konturen werden nun mit farbiger Seide in Languettenstichen derart ausgeschmückt, daß die Breite derselben nach den inneren Spitzen oder Eckwinkeln abnimmt, wodurch die Stickerei gefälliger aussieht. Die Staubfäden etc. werden ebenfalls mit Seide in Stielstichen gearbeitet, allenfalls kann man auch im Rahmen mit einigen Federstichen eine Abschattierung hervorbringen oder eine ganze Nadelmalerei ausführen. Das teilweise Anbringen von Gold erhöht die Wirkung oft ungemein, ebenso kann man die Arbeit mit Malerei verbinden, zumal es jetzt waschbare Farben giebt. Zuletzt schneidet man den Stoff den Konturen entlang vorsichtig mit einer guten Schere aus und plättet das Deckchen auf der Rückseite glatt. Unsere Abbildungen geben einige Formen von Blumendeckchen, welche sich durch Aneinandersetzen auch als Abschluß zu sehr wirkungsvollen Serviertischdecken, Tischläufern, Büffettdecken etc. verwenden lassen. Für solche Zwecke nimmt man am besten feines altdeutsches Leinen als Grundstoff und paßt auch wohl die Farben denen des Porzellans an.

Reinigung weißer Stiefel. Neben den seit Jahren beliebten braunen Damen- und Kinderschuhen sind in neuerer Zeit grüne und weiße Lederstiefel modern geworden, und in Modebädern sieht man auch schon indigoblaues und rotes Schuhwerk! Weiße Stiefel, die zu sommerlichen Kleidern elegant und chic ausschauen, sind für ihre Besitzerin nur insofern oft ein Gegenstand der Sorge, als ihre Reinigung große Achtsamkeit erfordert. Wer sich jetzt erst weiße Schuhe bestellt, der sollte darauf achten, daß sie aus eigenartig präpariertem Lammleder hergestellt werden, dessen Reinigung am einfachsten ist, da man es mit neutraler Seife, mit Bürste und lauem Wasser nur abzuseifen und nachher trocken zu reiben braucht, um das Leder stets sauber zu erhalten. Hat man diese Art weißer Schuhe nicht, so soll man stets nach jedem Tragen die Stiefel lose abstäuben und, wenn sich keine Flecke zeigen, die Staub oder Schmutz hervorgerufen haben, danach abbürsten und mit einem in Kartoffelmehl getauchten Watteflausch nachreiben. Wo sich Flecke zeigen, muß man diese durch weiße Deckfarbe verbergen. Man nimmt pulverisiertes Kremserweiß, feuchtet ein wenig davon mit einigen Tropfen reinem Spiritus an und taucht ein feines Bürstchen in die Masse, worauf man mit diesem leicht über die Flecke hinfährt. Wenn die Farbe nach kürzester Zeit getrocknet ist, sind die Flecken verschwunden und die Stiefel tadellos sauber. Le.     

Zerlegbarer Hutständer. Der kleine Ständer, den unsere Abbildung zeigt, dürfte noch nicht allgemein bekannt sein, und doch ist er so einfach und gerade deshalb so praktisch. Er eignet sich besonders gut dazu, um auf die Reise mitgenommen zu werden. Zerlegt zeigen ihn unsere unteren Abbildungen in zwei gleich großen Teilen, bei denen die Einschnitte verschieden sind, das heißt sich ergänzen.

Jeder Schreiner kann aus dünnen Brettchen, am besten aus Ahornbolz, den Ständer sägen. Sollte aber eine Laubsäge zur Hand sein, so sind die beiden Teile mit wenig Mühe aus sogenannten „Laubsägebrettern“ bald geschnitten. Die Maße sind bei der Abbildung angegeben. Am leichtesten läßt sich der Hutständer mit farbig ausgemaltem Holzbrand verzieren. Es darf nicht befremden, daß sich auf einem Teil des Ständers je ein halbes Muster befindet; das muß so sein, da ja die andere Hälfte mit dem zweiten Brettchen eingeschoben wird. Nach der kleinen Zeichnung kann eine einigermaßen geübte Hand leicht das Muster vergrößern. Die ergänzende Hälfte gewinnt man durch Umschlagen des Musters nach der anderen Seite.

Praktischr Kleiderraffer für Ausflüge. Wie häßlich verstaubte oder nasse Kleiderränder aussehen, das hat schon jede Leserin an sich oder doch – an den lieben Nächsten erfahren, und sie kennt auch die Last und Arbeit, welche die Reinigung solcher Ränder am folgenden Tage macht. Das häßliche Aussehen wie die Mühe des Säuberns vermeidet man, wenn man sich den folgenden praktischen Kleiderraffer anfertigt, dessen Herstellung leicht und einfach ist. Man nimmt etwa 4 bis 5 cm breites Atlasband in beliebiger Farbe und fertigt aus ihm einen einfachen Gürtel, der entweder mit einer Schnalle oder einer Bandschleife geschlossen wird. Von etwas schmälerem Atlasband gleicher Farbe schneidet man nun vier Bandenden, die etwa 18 bis 25 cm lang sind, befestigt sie vorn, hinten und an beiden Seiten des Gürtels und näht unten an jedes Ende eine gute Sicherheitsnadel. Mit dieser wird der Rock an vier Stellen aufgerafft, er ist dann ganz gleichmäßig aufgenommen und wird absolut nicht zerknittert. Man kann den Kleiderraffer in einem kleinen Ledertäschchen verpackt stets in der Tasche bei sich tragen, damit man ihn immer zur Hand hat. L.     


–– Hauswirtschaftliches. ––

„Immerfrisch“ nennt sich eine von Frau Anna Helberger erfundene, patentierte Verschlußglocke, deren sinnreiche Konstruktion ein längeres Konservieren des Inhalts (Butter, Käse, Aufschnitt, Obst etc.) gestattet. An Stelle des Knopfes sitzt ein Ventil und in dem Glasteller befindet sich eine Rinne, in welche etwa Wasser gegossen wird. Das Innere der Glocke ist dadurch nicht nur luftdicht abgeschlossen, sondern der Feuchtigkeitsgehalt des Innenraumes wird so vergrößert, daß dem Austrocknen des Inhalts vorgebeugt wird. Angestellte Proben mit geriebenem Käse, Aufschnitt, Sandwiches und geschnittenem Pumpernickel haben ein vortreffliches Resultat ergeben, so daß wir diese auf verschiedenen Ausstellungen mit der Goldenen Medaille ausgezeichnete Glocke unseren Hausfrauen bestens empfehlen können. Sie ist zu beziehen aus der Fabrik elektrischer Heizapparate von Ingenieur Helberger, Thalkirchen-München.

Sättigende Speise nach einem Ausflug. Bei der Heimkehr abends nach einem Sommerausflug pflegt der Appetit der Familie meist größer zu sein als die Lust der ermüdeten Hausfrau, noch etwas Besonderes zum Abendbrot zu bereiten, zumal die Essensstunde bei solchen Gelegenheiten meist viel später fällt als sonst. Für solche Fälle sind die rasch herzustellenden Setzeier nach folgender Zubereitung sehr zu empfehlen; sie sind kräftig, sättigend und zugleich bekömmlich. Man läßt in einer größeren Pfanne Butter zergehen, rührt einen Theelöffel Liebigs Fleischextrakt hinein, salzt etwas und schlägt die Eier behutsam in die Sauce. Man stellt sie auf ganz langsames Feuer und begießt sie hin und wieder mit der Butter, bis das Weiße fest ist. Indes reibt man 100 g Schweizerkäse, streut ihn und ganz wenig Pfeffer beim Anrichten über die Eier und hält so lange eine heiße Schaufel darüber, bis der Käseüberzug anfängt zu zerschmelzen, worauf die Eierspeise sofort möglichst heiß zur Tafel gebracht wird. H.     

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0548 a 4.jpg

Verschlußglocke „Immerfrisch“.

Einfache Reinigung der Gußsteine. Eine besondere Aufmerksamkeit muß die Hausfrau in den heißen Sommermonaten den Gußsteinen, wie jeglichen Abflußröhren schenken, um in ihnen das Entstehen schädlicher Bakterien zu verhüten und den dadurch entstehenden üblen Geruch, der so oft in den Küchen herrscht, völlig zu unterdrücken. Eine umständliche Säuberung, auch die Anwendung desinfizierender Flüssigkeiten ist nicht nötig, wenn es peinlich durchgeführt wird, daß Gußstein wie Abflußröhren dreimal wöchentlich auf folgende einfache Weise gereinigt werden.

Man nimmt 1 kg gewöhnliche Soda, löst sie in kochendem Wasser auf, giebt eine Handvoll Salz und einen Theelöffel voll übermangansaures Kali in die Lösung und gießt diese nun langsam durch den Gußstein. Sie löst alles Fett oder andere angesetzte Schmutzteilchen in den Röhren völlig auf, so daß diese tadellos sauber erhalten werden und eine Ausdünstung nicht stattfinden kann. H.     

Schinken mit Tomaten. Zur Tomatenzeit ist das nachfolgende Gericht allen Hausfrauen, welche eine aparte Frühstücks- oder Abendschüssel wünschen, sehr zu empfehlen. Man bereitet einen einfachen Kartoffelsalat einige Stunden vor dem Gebrauch, damit er durchzieht, während man Tomaten und Schinkenscheiben erst kurz vor dem Anrichten fertigstellt. Die Tomaten müssen frisch und fest sein, sie werden gewaschen, in Scheiben geschnitten und mit Pfeffer und Salz bestreut. Man zerläßt etwas Butter, verrührt in ihr eine große Messerspitze Liebigs Fleischextrakt und brät die Tomaten darin auf beiden Seiten bis sie breiig werden. Zu gleicher Zeit hat man dünne Schnitten von rohem Schinken, die einige Stunden in Milch gelegen haben, geröstet. Jetzt richtet man alles an. Der Kartoffelsalat wird bergförmig in die Mitte einer flachen, erwärmten Schüssel gefüllt, die Schinkenscheiben legt man kranzförmig herum und bedeckt sie dicht mit Tomatenscheiben. Statt des Schinkens kann man, wenn man die Speise fetter wünscht, auch englischen Frühstücksspeck, der nicht gewässert zu werden braucht, nehmen; das Einlegen in Milch ist auch nicht nötig, wenn man Braunschweiger Kern- oder westfälischen Lachsschinken nimmt, es ist aber auf alle Fälle bei sogenannten Bauern- oder Landschinken anzuraten. L.     

[548 b]
[Allerlei Kurzweil.]


Bilderrätsel.

Damespielaufgabe.
Von A. Stabenow in Berlin.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und gewinnt.

Verschiebungsaufgabe.
Die nachfolgenden 13 Operntitel sind in der hier gegebenen Reihenfolge untereinander zu schreiben und alsdann so lange seitlich zu verschieben, bis zwei in gleichen Abständen voneinander befindliche senkrechte Reihen wiederum die Titel zweier beliebter Opern nennen.

Tristan und Isolde, Orpheus und Euridike, Die Afrikanerin, Die lustigen Weiber von Windsor, Heinrich der Löwe, Johann von Paris, Die Entführung aus dem Serail, Abu Hassan, Margarethe, Der Widerspenstigen Zähmung, Violetta, 2ar und Zimmermann, Der Liebestrank. Oscar Leede.     

Scherzrätsel.

Wie sind drei volle Viertel
Vom Namen einer Stadt?
So kann man staunend fragen,
Bis man’s geraten hat.   E. S.

Silbenrätsel.

1, 2 regiert in holdem Reich,
An Schönheit kommt ihr keine gleich;
3, 4 und 5 herrscht unbedingt
Dort, wo Neptun den Dreizack schwingt,
Nun streiche nur von jedem Wort
Das allerletzte Zeichen fort,
Und eine Pflanze giebt alsdann
1, 2, 3, 4 und 5 dir an.


Auflösung der Dominoaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 16.


Im Talon lagen:


C behielt:

Der Gang der Partie war: I. A 6/6, B –, C 6/1; II. A 1/5, B 5/0, C 0/4; III. A 4/6, B –, C –; IV. 6/0, B 0/1, C 1/4; V. A 4/2, B 2/1, C 1/3; VI. A 3/5, B –, C 5/5; VII. A 5/2, B 2/0, C 0/0; VIII. A 0/3 (= 99)


Auflösung des Homogramms auf dem Umschlag von Halbheft 16.

Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 16. 0 Schneidemühl, Schneidemühle.


Auflösung des Bilderrätsels auf dem Umschlag von Halbbeft 16. 0

Ausübend lehre,
nachahmend lerne!




[ Verlags- und Produkt-Werbung, hier nicht dargestellt. ]



Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Seitenangabe für die Halbheftausgabe.