Die Gartenlaube (1898)/Heft 21
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Die Lederätzarbeit. Bekanntlich ist die Verzierung von Ledergegenständen durch Brandmalerei eine schwierige Sache, weil das Material infolge seiner großen Weichheit dem glühenden Brennstift einen viel geringeren Widerstand leistet als Holz. Anderseits sehen mit Brandmalerei verzierte Ledergegenstände so eigenartig und wirksam aus, daß eine Art Imitation derselben durch Aetzarbeit in immer größere Aufnahme kommen dürfte. Die Lederätzarbelt macht vollständig den Eindruck einer von sehr geschickter Hand herrührenden, kunstvollen Lederbrandmalerei mit all ihren hellbraunen bis tiefschwarzen Linien und Flächenabtönungen, ohne jedoch im entferntesten einer besonderen Kunstfertigkeit, Uebung und Vorsicht zu bedürfen. Die Geschäftsstelle des „Hausfleiß“ in Leipzig-Oetzsch führt vollständige Arbeitskästen für die neue Arbeit, welche alle benötigten Materialien enthalten, zum Beispiel chemisch reine Lauge, Federn, Filzpinsel, Mattlack, Proben etc. etc. Als Muster eignet sich jede Brandmalerei- oder Lederschnittvorlage. Man überträgt dieselbe in üblicher Weise auf das Leder und macht sich dann mit Hilfe eines den Arbeitskästen beiliegenden Meßglases drei verschiedene Verdünnungen der Aetzlauge zurecht. Nun zieht man die Konturen mit einer Feder nach, die jeweilig in eine stärkere oder schwächere Laugenmischung getaucht wird, so daß die Linien mehr oder weniger dunkel ausfallen. Flächentönungen arbeitet man sodann mit dem Filzpinsel aus und setzt alle Schattierungen in dünnen Linien ein. Während des Trocknens, das ein bis zwei Tage beansprucht, werden die dunkleren Stellen grau, man überwäscht deshalb die ganze Arbeit zuletzt mit einem in Leimessig getauchten Schwämmchen, wonach die Aetzlinien einen schönen, ins Rötliche spielenden Ton annehmen. Aus der kurzen Beschreibung erhellt zur Genüge, wie einfach die Arbeit ist.
Opernglasbehälter. Ein pompadourartiger Behälter für das Opernglas ist nicht nur elegant, sondern auch bequem und leicht selbst herzustellen. Gute Seide, Sammet oder auch feines Leder dienen als Oberstoff, Atlas oder Seide ergeben das abstechende Futter; eine Zwischenlage aus Mull erweist sich praktisch. Ist der Oberstoff nicht gemustert, so sieht ein Plein aus Flittern oder Pailletten sehr hübsch aus. Ein an den Ecken abgerundeter Kartonteil von 12 cm Länge und 4 cm Breite bildet die feste Grundform des Bodens; der weiche Beutelteil mißt etwa 18 cm Höhe, seine untere Weite entspricht dem Umfang des Bodens, die obere beträgt 42 cm. 5 cm vom oberen Beutelrande entfernt steppt man einen Zugsaum ab, durch den ein schmales, aber kräftiges Band mit Gegenzug zu leiten ist; Rosetten schmücken die Enden.
Hausschuh mit gestrickter oder gehäkelter Stulpe. Von älteren Leuten hört man bisweilen die Klage, daß ihre Pantoffel oder Hausschuhe, diese wichtigen Requisiten häuslicher Bequemlichkeit, den Fuß zwar weich und warm halten, die Knöchel und Fußgelenke aber, zumal im Winter, keineswegs vor dem Frieren schützen. Diesem Mangel ist leicht abzuhelfen, indem man aus Baumwolle oder leichter Wolle in der zu den Schuhen passenden Farbe Streifen von etwa 9 cm Breite und 25 cm Länge häkelt (oder strickt), welche als Stulpen von innen an die Einfassung der Schuhe angenäht werden. Mit drei hübschen Knöpfen oder Bandschleifen geschlossen, vervollständigen diese Stulpen eine behagliche und gut aussehende Fußbekleidung.
Das Befestigen der Ringe an Zuggardinen kann auf eine sehr einfache Art geschehen. Viele nähen die Ringe an, müssen sie bei jeder Wäsche lostrennen und dann stets von neuem annähen, wodurch viel Zeitverlust entsteht. Außerordentlich praktisch ist eine kleine Vorrichtung, die eine nur einmalige Arbeit erfordert. Man heftet nämlich in oder an den oberen Saum der Zuggardinen eine haltbare Schnur und legt diese in gewünschten Abständen zu Schlingen. Danach zieht man die Ringe durch diese Schlingen hindurch, was im Augenblick geschehen ist. Vor der Wäsche werden die Ringe fast ebenso schnell wieder herausgezogen und die angenähte Schnur natürlich mit gewaschen. Uebrigens wird für vorliegenden Zweck bestimmte, bereits mit Schlingen versehene Schnur auch fabrikmäßig hergestellt und dürfte wohl in jedem größeren Posamentengeschäfte käuflich sein.
Lackiertes und bemaltes Zahnbürstengestell. Da sich Zahnbürsten erfahrungsgemäß länger halten, wenn man sie behufs gründlichen Abtropfens nach dem Gebrauche aufrecht stellt oder hängt, so ist ein kleines über dem Waschtisch angebrachtes Blechgestell mit Löchern zum Hineinstecken der Bürsten sehr praktisch. Man kann ein solches ganz billig beim Spengler (Klempner) kaufen oder anfertigen lassen und es dadurch elegant machen, daß man es mit Lackfarbe – passend zum Waschgeschirr – anstreicht, worauf man es mit einem leichten Muster in Oelfarbe bemalt.
Italienische Stiftvergoldung. Diese schöne Technik bezweckt die Verzierung von allerhand Gegenständen, die aus Holz, Leder, Seide, Pergament etc. hergestellt sind, mit goldenen oder silbernen Linien, Figuren etc. Das Verfahren besteht darin, daß man in besonderer Weise aufgetragenes Blattmetall an allen Stellen einer darübergelegten Zeichnung dauernd festhaftend und hochglänzend einbrennt. Im Gewerbe der Buchbinder finden dergleichen Arbeiten bei allen hervorragenden Gegenständen Anwendung, die nicht in größerer Anzahl hergestellt werden müssen, wie Diplommappen, Prachteinbände etc. Auch die Liebhaberkünstler können die Italienische Stiftvergoldung für viele Zwecke benutzen und entweder für sich oder in Verbindung mit anderen Techniken, wie Ledermalerei, Ledermosaik, Lederschnitt etc., zur Anwendung bringen. An Utensilien gebraucht man gutes Blattgold, zwei Messingbrennstifte, spitz und breit, Spirituslampe zum Heißmachen dieser Stifte, ein Schwämmchen und je nach dem Grundmaterial Eiweiß, französischen Firnis oder weiße Gelatine. Bei Rindleder und Pergament grundiere man zunächst die ganze Fläche, welche zur Verzierung bestimmt ist, mit Eiweiß, das zur Hälfte mit Wasser verdünnt und tüchtig gequirlt sein muß. Das Grundieren hat gleichmäßig mit dem Schwamm zu geschehen und ist nach dem Trocknen des ersten Auftrages zu wiederholen. Bei Holzflächen verwendet man zu dem Grundieren französischen Firnis, bei Kalbleder und Seidenstoffen weiße, in heißem Wasser gelöste Gelatine. Seidenstoffe dürfen jedoch nicht in ihrer ganzen Fläche grundiert werden, sondern nur auf den später zu verzierenden Stellen. Man muß also hierbei zunächst das Muster auf den Stoff auszeichnen und nur diese Linien mittels eines Pinsels mit der Gelatinelösung sauber nachmalen. Sobald die Grundierung vollständig trocken ist, wird das Blattmetall aufgelegt. Dies geschieht, indem man ein breites Messer (sogenanntes Vergoldemesser) vorsichtig unter das Blattgold schiebt, dann langsam aufhebt und auf die grundierten Stellen überträgt. Selbstverständlich kann man, um Material zu sparen, das Blattmetall erst in schmale, der Zeichnung entsprechende Streifen schneiden. Es ist erforderlich, das aufgetragene Metall mit Glacépapier zu überdecken und dann etwas anzudrücken. Nun kann das Einbrennen des Musters beginnen. Hierbei wird die auf nicht zu starkem Papier befindliche Vorlage genau auf dem Gegenstand angelegt, beschwert oder mit Heftzwecken, Oblaten etc. befestigt und nun sämtliche Linien des Musters mit den inzwischen auf der Spirituslampe heiß gemachten Messingstiften nachgezogen. Schließlich hebt man die Vorlage ab, bürstet das überschüssige Blattmetall weg und wischt dann auch das zuviel aufgetragene Grundiermittel mit Wasser oder Terpentinöl fort, so daß nun nur noch die von dem heißen Stift berührten Linien und Flächen, Punkte, Perlen etc. schön goldig oder silbern stehen bleiben. Hiernach bringt man noch etwa gewünschte Malereien an, natürlich ohne dabei die Goldlinien zu überdecken.
Versengte Wäsche wieder herzustellen. Unachtsame Dienstboten können der Hausfrau viel Kümmernis bereiten, und beim Plätten versengte Wäsche gehört dabei nicht zu den kleinsten und seltensten Aergernissen. Je früher das Ungemach entdeckt wird, desto leichter läßt es sich noch heben. Vor allem muß man, wenn die Sengflecke auf gestärkter Wäsche sind, aus dieser zuerst die Stärke entfernen, indem man die Stücke in heißem Wasser leicht durchwäscht. Indes bereitet man sich aus 900 g heißem Wasser und 100 g Chlorkalk eine Lösung, die man vor dem Gebrauche gut klärt.
Man taucht ein leinenes Läppchen in die Lösung, daß es ganz damit durchzogen ist, und fährt dann mit dem Läppchen leicht und lose wiederholt über die versengten Stellen. Bei ganz frischen Flecken genügt ein ein- bis zweimaliges leichtes Ueberstreichen, bei älteren Flecken wird man das lose Abreiben öfter wiederholen müssen.Montblanc.
Vorwärts – vorwärts! Unter den Hufen gleitet der Boden mit seinem zischelnden Zwergpalmengestrüpp und den weißblumigen Dornenhecken im Fluge dahin, vor den Augen tanzen Turbane und Flintenläufe, flatternde Mäntel und bezopfte Kabylenschädel, um die Ohren brandet in Sturmstößen der Höhenwind Marokkos, wie er von den wildgezackten, wolkenumzogenen Bergklippen des Kleinen Atlas hernieder in die Thäler fährt.
Vorwärts im grauen Abenddämmern auf schaukelndem Sattel, unter sich die unermüdlich galoppierende weiße Berberstute, hinter sich die kleine Karawane mit ihrem Rossegetrampel und Maultiergeschnarch und dem stöhnenden „Aerra – ärra! rrrrschât!“ der treibenden Knechte, und da vorne die weite Welt …
„Aerra! – ärra!“ Hinten klatscht es von Peitschenhieben. Die Galoppsprünge werden länger, schneidender pfeift der Abendhauch um die Ohren. Unter den Hufen fliegt der Boden, am Himmel fliegen die Wolken, rechts und links zieht einsam, gestrüppbewachsen, nebelumsponnen die Bergwüste wie ein Wandelbild dahin.
„Achtung, Herr!“ schrie von hinten mit gellender Stimme der maurische Diener und riß, sich im Sattel zurückwerfend, sein Pferd in die Höhe. Die Berberknechte thaten ebenso. Aufgeregt prustend, mit gespitzten Ohren drehten sich die Gäule in einem Wirbel umeinander und starrten aus ihren großen, feurigen Augen auf die schwarze Masse, die, schwerfällig den Berg niedertrollend, sich der Wildnis der Agavenhecken und des Zwergpalmengebüschs entwand.
Der Stier, der da zum Vorschein kam, war nicht weniger erschrocken. Er hatte friedlich gegen Abend zur Tränke ziehen wollen, jenem Abhang zu, an dessen Rand der Reitpfad sich hinzog, und sah sich nun unvermutet einem ganzen Schwarm von Feinden gegenüber. Fliehen war die Sache des stämmigen Gesellen nicht. War er, der nirgends Händel suchte, nun einmal in das Abenteuer geraten, so mußte es auch ausgefochten werden. So stand der Bulle denn kampflustig da. Aus dem tiefgesenkten Haupte glühten, mißtrauisch hin und her rollend, die Augen, der linke Vorderhuf scharrte den Boden und ein langes Zorngebrüll stieg aus seiner Brust.
Die Berber und der Maure waren zur Seite geritten. Sie riefen und winkten ihrem Herrn zu. Man müsse umkehren! Ein paar hundert Schritte zurück, dann über den Fluß und auf der andern Seite weiter. Hier gehe es nicht! Wenn einer der sonst friedlichen Stiere einmal erschrocken sei, lasse er niemand vorbei!
„Unsinn!“ sagte der Fremde auf arabisch kurz und ohne sich nach seinem Diener umzudrehen. „Ich gehe nicht zurück! Ich muß nach Tetuan!“
Jussuf, der Maure, machte eine Gebärde der Ratlosigkeit zu den halbnackt auf ihren Pferden und Maultieren kauernden Berberknechten. Seit fünf Tagen – seit sie von Fez aufgebrochen – begleitete er den Herrn und hatte schon lange bemerkt, daß das keiner der üblichen englischen Gentlemen war, die, die Stummelpfeife im Mund, ein wenig in Marokko kreuz und quer zu reiten lieben. Nein, das war kein Brite, sondern ein ‚Pruß‘, ein Deutscher. Und er kam nicht, wie alle Welt, von Tanger her, mit dem Dampfboot aus Gibraltar, sondern aus dem Süden, weit, weit aus entlegenen Ländern jenseit des großen Sandes, hinter dem in Wäldern das schwarze Volk wohnt, das keine Pferde reitet und nichts von Allah weiß. Dieser Gentleman war etwas Besonderes. Es war nicht möglich, ihn, wie andere Reisende, zu beeinflussen. Wenn er sich im Sattel aufrichtete und über die Ohren seines Pferdes hinweg in die Ferne schaute, als ob er da allerhand unsichtbare Wunder entdecken wollte – dann war gegen sein gleichgültiges und kurzes „Vorwärts!“ ebensoviel auszurichten als mit Koransprüchen gegen den Stier, der zornmütig des Angriffs harrend am Wege stand.
Der Stier war dumm. Der Fremde aber hatte das Fieber, und das war beinahe noch schlimmer! Sonst wäre er wohl der unvernünftigen Kreatur ausgewichen. Jetzt aber siedete das Blut in seinen Adern und zudem hatte er – Jussuf wußte es wohl – um sich im Sattel zu halten und um jeden Preis heute noch nach Tetuan zu kommen, seine halbe Flasche voll Feuerwasser – Allah schütze jeden Rechtgläubigen vor diesem Teufelstrank! – im Laufe des Tages ausgetrunken.
Jussuf zuckte die Achseln. Schon die Marokkaner, mit denen der Preuße von Süden her, aus Marrakesch, gezogen war, hatten ihm berichtet, daß jener dort schwer krank angekommen und vorher, in dem großen Sande, fast dem Fieber erlegen sei. Denn dort drüben – jenseit der Sahara, wo die Wälder sind und das schwarze Volk wohnt, dort stieg ja aus dem Sumpfe das Fieber und warf die weißen Männer nieder, die da Elfenbein suchten, und die braunen Moslem, die Sklaven jagten, und die seltsamen Menschen nicht minder, die keines von beiden thaten, sondern ohne Ziel und Zweck, mit allerhand Zauberinstrumenten versehen, durch die Wildnis reisten und nicht müde wurden, zu fragen, wo dieser Fluß hinfließe und wie hoch jener Berg sei und was der unnützen Dinge mehr waren.
Jussuf machte noch einen Versuch. „Wir müssen umkehren, Herr!“ sagte er in schmeichelndem Tone auf arabisch und um seine Lippen spielte ein unterwürfiges Lächeln.
Der Fremde sah ihn an und lächelte ebenfalls unter dem dunklen, langen Schnurrbart. Aber in seinen Augen war etwas, wovor Jussuf Angst bekam: etwas Stählernes, Unzähmbares, wogegen es gar keinen Widerspruch gab.
„Umkehren?“ frug, ebenfalls auf arabisch, der Forschungsreisende verwundert und brannte sich, die Zügel mit der Linken lüftend, eine Cigarette an. „Du weißt doch, Jussuf: ich muß auf dem nächsten Weg nach Tetuan!“
„Aber wie sollen wir an dem Stier vorbei?“
„So!“
Der Fremde gab seiner Berberstute die Sporen und drängte sie, im Schritt, um den Bullen nicht zu erschrecken, nach vorn. Hinter sich hörte er die Rufe seiner Begleiter.
„Gehe zurück, Herr!“ schrie der Maure. „Gehe zurück! Du wirst umkommen!“
„Da müßte ich schon lange beim Teufel sein!“ sagte der Reisende trocken und klemmte die Cigarette zwischen die Zähne. „Sieh doch, das Vieh ist ja viel zu verblüfft, um etwas zu unternehmen!“
In der That – der Stier stand unschlüssig da. Dicht vor dem Fuß des Vorbeireitenden pendelte sein mächtiges, horngekröntes Haupt brüllend hin und her, der Fuß scharrte und in den Augen leuchtete immer tückischer der böse Glanz.
Und plötzlich schien es, als werfe eine Gewalt von außen diese ganze schwere Masse mit einem Ruck nach vorn. In der Eingebung des Augenblicks hatte sich der Bulle zum Angriff entschlossen. Viel rascher als die ungeschlachte Gestalt ahnen ließ, schoß er, mit dem Kopfe fast den Boden streifend, auf den Feind los und hob, von unten her ausholend, Roß und Reiter mit aller Kraft seiner zottigen Wamme auf die Hörner.
Roß und Reiter überschlugen sich in dem furchtbaren und unvermuteten Anprall. Der Fremde hatte eben noch, als der Zusammenstoß erfolgte, sein Bein über den Sattel zurückgeschwungen, bereit, sich an der andern Seite niederfallen zu lassen. Aber es war zu spät. Das Pferd, das einen Augenblick vollständig frei auf dem Nacken des Stieres schwebte, glitt gleichzeitig von den Hörnern herab, überschlug sich und begrub seinen lang hinstürzenden Herrn unter seiner Last.
Nur eine Sekunde lag es über seiner Brust, dann sprang es, wie von einer Feder geschnellt, mit allen vier Beinen in die Höhe und blieb mit gespitzten Ohren, und am ganzen Leibe zitternd, sonst aber reglos stehen. Aus einer klaffenden Wunde im rechten Schulterblatt strömte das Blut und mit ihm das Leben. Als das edle Geschöpf zum zweitenmal umfiel, war es tot.
Der Stier hatte sich das mißtrauisch angesehen. Hörner, Stirne und Wamme dampften ihm in der kühlen Abendluft und bei seinem stoßweisen Gebrüll rauchte der heiße Atem vor den [647] Nüstern. Nun war der Feind tot – das vierbeinige, weiße Wesen da, das sich ihm sicherlich in böser Absicht genähert hatte! Um den Menschen, der darauf gesessen und nun reglos zwischen den Steinen lag, kümmerte sich der Bulle nicht. Für ihn war das Abenteuer erledigt. Wie von einer plötzlichen Angst ergriffen, setzte er sich in Trab, den Hang abwärts. Das Gebüsch krachte unter seinem schweren Trott, in den fleischigen Agavenstauden tauchte noch einmal der schwarze, hornüberwölbte Schädel empor, ein langgezogenes Abschiedsgebrüll, dann wurde es still.
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Alles still bis auf das Wehen des Bergwindes und das leise Rauschen des Gestrüpps. Auf den klassisch schönen, düstergeschnittenen Gesichtern der Mauren und Berber lag sprachloser Schrecken und ihre großen sanften Augen spähten angstvoll nach der Stelle, wo der Fremde lag. War der jetzt tot, so ging der ganze Lohn für den Ritt von Fez bis zur Küste mit Ausnahme des Vorschusses verloren.
Aber da bewegte sich der Verunglückte schon. Jussuf kniete neben ihm nieder und stützte ihn.
„Hast du Schmerzen, Herr?“
Es schien, als ob der andere nicht antworten könne. Er biß die Zähne zusammen und lag still.
„Verflucht!“ sagte er dann plötzlich, sich aufrichtend. „Ich hatte eben solch ein Stechen in der Herzgegend. Der Gaul ist mir gerade darauf gefallen. Ein Stechen, das mir ganz den Atem benommen hat. Ich konnt’ gar nicht sprechen!“
Jussuf knöpfte ihn auf und entblößte die linke Brustseite. Aber da war nichts zu sehen.
„Um so besser!“ Der Forscher hatte seine gewöhnliche Stimme wiedergewonnen und begann, der Reihe nach jedes Glied zu befühlen und zu bewegen. „Gebrochen ist nichts! Bloß dies verwünschte Stechen. Sieh’ nach, Jussuf, ob du nirgends Blut findest!“
„Nein, Herr! du bist nicht verwundet. Kannst du aufstehen?“
„Ja, soll ich hier übernachten?“ Er hob sich, auf Jussufs Arm gestützt, elastisch empor. Einen Augenblick verfärbte sich, als er stand, sein Gesicht und er preßte die Hand an die Herzgegend. Aber das ging rasch vorüber.
„Wieviel kostet so ein Pferd?“ frug er.
„Zweihundert maurische Dollars, Herr!“
„Hundert zahle ich! Nicht mehr!“
„Zweihundert, Herr!“
„Hundert! das ist ganz genug! So ein Stier ist doch ein blitzdummes Vieh. Was hat er nun davon?“
Die Berber waren abgestiegen, um dem toten Gaul Sattel und Zaumzeug abzunehmen. Der Maure berührte den Arm seines Gebieters.
„Vorwärts, Herr!“
„Zu Fuß? Wohin denn?“
„Wir sind dicht bei der Karawanserai El-Fondak.“ Der Diener deutete auf ein graues, niedriges Mauerviereck, das düster wie ein Bergkastell auf einem Vorsprung des wüsten, rings von kahlen Gebirgen umrahmten, von grauen Abendwolken überflogenen Höhenkessels lag. „Dort müssen wir jetzt die Nacht bleiben!“
„Die Nacht? Ich will nach Tetuanl“
Der Maure schaute seinen Herrn an. Er bekam immermehr Angst vor dieser unheimlichen Zähigkeit des Wollens, die jetzt auch in dem durch das Abenteuer blaß gewordenen Gesicht des Weltwanderers deutlich hervortrat. Der sah matt und erschöpft aus, wenn nicht ein abenteuerliches Lächeln zuweilen erhellend über sein Antlitz hinglitt, aber doch wie ein Mann, der unter keinen Umständen umkehrt.
„Wie willst du denn ohne Pferd nach Tetuan kommen, Herr?“ frug der Diener halblaut, in dem gedämpften Ton, in dem man zu einem Kranken spricht.
„Sehr einfach! Einer der Berber ist ja gut beritten! Er giebt mir seinen Gaul und bleibt in dem Schweinestall da zurück.“ Dabei wies er auf die Karawanserai hinauf, an der eben eine Kamelkarawane langsam den geschlängelten Weg zur Höhe des Bergpasses vorbeizog.
„Es wird aber zu spät, Herr!“
„Die Karawane dort geht doch auch nach Tetuanl“
„Sie muß aber die Nacht draußen bleiben. Es sind noch vier Stunden mindestens. Der Weg ist sehr schlecht. Im Dunklen finden wir ihn nicht und …“
„Still!“ sagte der Reisende gelassen und watete, auf seinen Stock gestützt, durch den Schlamm zu der Karawanserai empor.
Muley Hassan, der weißbärtige Marokkaner, der dort oben an der Spitze seiner Karawane ritt, schüttelte unwillig das braune, vom weißen Turban gekrönte Haupt, indem er auf drei am Wege sitzende Damen herniederblickte. Die barbeinig neben seinem Pferde trabenden Frauen ließen neugierig über dem, Mund und Nase verhüllenden, Schleier die schwarzen Augen funkeln, und über die Affenfratzen der mit langen Stecken die Saumtiere und Esel antreibenden Negersklaven lief ein verstörtes Grinsen.
Drei Europäerinnen mit unverschleiertem Angesicht, dessen Züge jeder Mann nach Belieben betrachten konnte – jawohl, in Tanger drüben am Meer war man solche Schamlosigkeit gewohnt! Da ritten die Damen der Gesandtschaften frank und frei, von den Kawassen begleitet, bei lichtem Tage über den Markt oder ließen sich gar nach Sonnenuntergang von maurischen Trägern in einer Sänfte aus dem Hause schleppen, um – es klang unglaublich, aber, bei Allah! viele Rechtgläubige hatten es gesehen! – um in einer fremden Wohnung mit fremden Männern die Nacht durch zu plaudern, zu speisen und zu tanzen! Aber Tanger war weit! Eine kleine Tagereise von dem einsamen El–Fondak entfernt, unter dessen Mauern die Damen ihr Zelt aufgeschlagen hatten.
Was hatten Europäerinnen hier zu schaffen? Noch dazu ohne männlichen Schutz, nur in Begleitung eines braunen Hotelkuriers aus Tanger und zweier alten, höchst zweifelhaft ausschauenden Regierungssoldaten?
Muley Hassan warf – seitlings, um seiner Würde nichts zu vergeben – im Vorbeireiten einen Blick auf die dicht am Wege sitzende Lady und sah mit Schrecken, daß die ihn unverwandt anstarrte – eine Frau einen fremden Mann! Bei Allah, es gab viel Sünden auf der Welt! Dann senkte sie ihren hübschen Blondkopf über eine Art Mappe, die sie mit der Linken auf den Knieen festhielt, schrieb oder kritzelte irgend etwas darin und richtete wieder forschend ihren ruhigen Blick auf die malerische, ganz in weiß gehüllte Gestalt des greisen Wüstenpatriarchen, die sich mit dem gebauschten Turban und der lang darüber ragenden Flinte wie ein schneeiger Schattenriß von dem bleigrauen, regendrohenden Himmel abhob.
Das verdroß den Alten. Er rückte sich im Sattel zurecht, schob die in gelben Pantoffeln steckenden Füße tief in die schuhähnlichen Steigbügel und setzte mit einem Stich des an die bloße Ferse angeschnallten Sporns sein Roß in Galopp. Die Karawane folgte. Eilfertig wanderten mit schaukelndem Halse die Kamele, wie ein Schwarm grauer Mäuse huschten und trippelten die Märtyrer des Morgenlands, die schwerbepackten Eselein, hinter den lehmfarbenen Ungetümen her, die Maultiere spitzten die Ohren und rannten mit, neben ihnen trabten die verschleierten Araberinnen, ihre Kinder auf dem Rücken, die buntgestickten Pantöffelchen in der Hand, hochgeschürzt, mit ihren braunen, sehnigen Beinen durch den Kot, und hinten scheuchten die blauschwarzen keuchenden Negersklaven alle Nachzügler der Karawane vor sich her, dem Höhenpaß entgegen, von dem der Pfad nach dem Thal des Habesch und nach Tetuan führte.
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„Schade!“ sagte Klara lachend. „Ich hab’ ihn nur zur Hälfte!“ Dabei wies sie Hilda, dem nußäugigen Nesthäkchen der Gesellschaft, ihr Skizzenbuch. Auf dem Blatte war das ehrwürdige Haupt des Scheichs und der Kopf seines Vollbluthengstes mit sicheren Strichen umrissen, alles andere aber lag noch als eine weiße unberührte Papierfläche da.
„Schade,“ meinte auch die Kleine beklommen und schaute der davonpilgernden Karawane nach. Im Grund ihres Herzens war sie froh, daß sich die Marokkaner so rasch verzogen hatten. Sie fürchtete sich vor den wilden Gestalten im Turban und Burnus, sie fürchtete sich vor dem braunen, weltmännisch lächelnden Hotelkurier, sie fürchtete sich vor ihrem Maultier, das heute beinahe einmal scheu geworden wäre, sie fürchtete sich vor ganz Afrika.
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[649] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [650] So mit einem Sprung aus Dresden in das Innere Marokkos … ja, wer so viel gesehen und erlebt hatte wie ihre älteste Schwester dort hinten im Zelt, dem mochte das alltäglich vorkommen. Wenn man wie Martha seit zwanzig Jahren Erzieherin in allen Ecken der Welt gewesen war – bei einer deutschen Familie in Shanghai, bei Engländern in Melbourne, bei Deutsch-Amerikanern in San Francisko, wenn man durch so viele Lebenslagen gegangen und dabei halb zum Manne geworden war, da fand man es beinahe selbstverständlich, nachts bei drohendem Regen ein kleines Leinwandzelt als einzigen Schutz auf der Welt zu besitzen.
Und Klara, die zweite Schwester, – du lieber Gott: sie war nun einmal Malerin! Sie hatte ihren Beruf! Dem mußte sie folgen und Geld für all die drei Geschwister verdienen. Wenn es nicht anders ging, eben auch in Marokko! Aber sie, Hilda, kam sich dabei so unendlich nutzlos und so verlassen zugleich vor, mit all den Kenntnissen des eben glücklich bestandenen Lehrerinnenexamens, die ihren Kopf erfüllten, und all den Hoffnungen auf eine glänzende Zukunft, die ihr doch beschert sein mußte, sowie sie sich nächsten Monat als Gouvernante in Genf auf eigene Füße gestellt hatte.
„Na hör’ mal, Kleine!“ sagte Klara neben ihr lachend und packte, gleichmütig heiter, wie sie immer war, ihr Malgerät zusammen, „was machst du denn wieder für ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter?“
Und Martha, die älteste des Kleeblatts, die herzutrat und mit ihrer tiefen Stimme und dem strengen Schulmeistergesicht wirklich mehr den Eindruck eines alten Junggesellen als den eines noch nicht vierzigjährigen weiblichen Wesens machte, Martha meinte ebenfalls: „Es ist wirklich ein Elend. Nun macht man ihr die Freude und nimmt sie mit auf die schöne Reise …“
„Es ist ja auch wunderschön!“ sagte die Kleine fügsam und suchte die wieder einmal aufsteigenden Thränen gewaltsam zu verschlucken. „Nur … wenn jetzt noch Regen kommt …“ Sie wies zu den Bergkämmen empor, wo die immer dichter geballten Wolken sich in strömenden Schleiern herniederzusenken begannen. Ein kalter Wind fuhr vor der heranrauschenden Regenwand zu Thal. Die weißbesternten Hecken und niederen Palmbüschel bogen sich unter seinem Hauch. Die Riedgräser zitterten und ehe man sich’s versah, stürzte das eben aufgerichtete Leinenzelt nach kurzem unschlüssigen Hin- und Herschwanken mit einem matten Krach in sich zusammen. Und zugleich fielen schon die ersten, schweren klatschenden Tropfen. Sie kamen rasch dichter und dichter, sie lösten sich zu einem rastlos niederstäubenden Wasserfall auf, der gefürchtete afrikanische Küstenregen war da.
Während Klara in Eile Pinsel, Tuben und Palette im Wachstuchbeutel unterbrachte, spannte ihre Schwester mit der düsteren Ruhe eines vielgeprüften Weltumseglers ihren Schirm auf. „Frage den Führer, was nun werden soll!“ gebot sie der Kleinen mit ihrer tiefen, männlichen Stimme.
Hilda, der als eben geprüfter Erzieherin der englische Verkehr mit dem Kurier zufiel, übersetzte stockend wie ein Schulkind die Frage. Sie hatte Angst vor dem schönen, sanft lächelnden Mauren, der sie um zwei Kopfeslängen überragte.
„Er sagt, wir müßten in die Karawanserai,“ berichtete sie, „und die Nacht dort zubringen!“
„El-Fondak!“ bestätigte der Kurier und nickte.
„Giebt’s dort Betten?“ forschte Marthas Baßstimme.
„Nein, Betten sind nicht!“
„Sind noch andere Menschen dort?“
„Viele,“ bestätigte der freundliche Mann. „Kameltreiber, Pferdeknechte und anderes Mohrenvolk!“
„Ja, wie soll denn das die Nacht werden?“
„Die Ladies werden auf drei Stühlen sitzen und ein brennendes Licht steht am Boden, bis es Morgen wird. O, El-Fondak ist kein guter Platz für Ladies. El-Fondak ist ein schlechter Platz.“
Hilda klapperten die Zähne. „Da geh’ ich nicht hinein,“ sagte sie flehend. „Das wird eine schreckliche Nacht.“
Der Kurier drängte mit einem Blick nach dem Regenhimmel zur Eile. „Es giebt dicke Tage und schmale Tage. Heute ist ein schmaler Tag. Bald ist’s Nacht. Wir müssen in das Haus hinein!“
Aber selbst Martha, die Vielerfahrene, zögerte. „Rauchen die Kerle da drin?“ frug sie streng.
Ja, die Leute rauchten alle. Sie hatten aus Tanger Tabak mitgenommen.
„Sind vielleicht auch Maultiere da, die nachts schreien?“
„Ja, viel Maultiere!“
„Und was giebt es dort zu essen?“
„Zu essen giebt es nichts.“
„Und zu trinken?“
„Wasser! Aus der großen Cisterne!“
„Das sind wirklich traurige Aussichten!“ sagte die Schwarzgekleidete düster. Aber jetzt verlor die blonde Malerin die Geduld. „Kinders!“ sagte sie und lachte hellauf wie ein sorgloser Junge. „Thut mir den einzigen Gefallen und seid nicht so zimperlich! Was sein muß, muß sein! Wir sind nun einmal hier und von dem Gejammer wird’s um kein Haar besser! Was wollt ihr denn überhaupt? Wir sind doch nicht zum Vergnügen in Marokko!“
„Nein!“ bestätigte die Aelteste knapp und die Kleine wiederholte mit einem tiefen Seufzer der Ueberzeugung: „Nein. Zum Vergnügen sind wir nicht in Marokko.“
„Vorwärts denn, in die Karawanserai!“ entschied Martha. „Hilda, nimm das Insektenpulver! Gieb acht, daß es nicht naß wird. Wir brauchen’s. Klara trägt ihren Malkasten, ich das Huhn und die Orangen, der Führer das Zelt. Los!“
Sie stapfte, sich nach Kräften schürzend, durch den unergründlichen Schmutz dem Hofraum zu. Die andern in trübseligem Gänsemarsch hinterher durch Regen und Wind den Flöhen von El-Fondak entgegen. –
Um das Innere des Karawanenhofes lief eine Art offene Holzgalerie, die Schutz vor dem Regen und frische Luft bot. Hier ließ sich der Einzug in das gefürchtete, den Oberstock eines turmartigen Vorbaues bildende Nachtquartier noch am längsten hinausschieben. Es dämmerte bereits. Müde, frierend und schläfrig saßen die drei Schwestern, dicht aneinandergekauert wie die Vögel im Nest, auf ihren Holzschemeln, Hühnerknochen und Apfelsinenschalen auf dem Zeitungspapier im Schoß, und schauten in den Hof hinaus.
Viel war da nicht zu sehen. Kein Mensch und Tier auf der weiten Fläche von Urschlamm, in dem der unablässig niederströmende Regen allmählich die hundertfachen Spuren von Menschensohlen, Roßhufen, Kamelballen und Hundepfoten verwischte. Es wurde unangenehm kalt. Fern über dem grünen Buschwerk der Berghänge brauten Streifen von dampfendem Nachtnebel.
„… Wer jetzt in Dresden wäre …“ sagte plötzlich Hilda sehnsüchtig und verschlafen.
Die andern erwiderten nichts. Freilich … Dresden mit ihrem trauten, traulich eingerichteten Nest, mit Klaras Atelier darüber, mit allem Freundlichen und Gewohnten, während hier … Es war zu trostlos! In Tanger hatte man doch noch ein Hotel gehabt, Europäer, mit denen man sprechen konnte, ein Schiff, das in wenigen Stunden nach Europa fuhr …
„… wenn wir morgen wieder nach Tanger zurückritten?“ Die Kleine sagte das halblaut wie vor sich hin, hielt die Augen halb geschlossen und wartete mit klopfendem Herzen die Wirkung ihrer Worte ab.
Zu ihrem Erstaunen erwiderte Martha gar nichts. Aber zu gleicher Zeit fühlte sie von der anderen Seite her einen derben Klaps auf der Wange und sah das hübsche Gesicht der blonden Schwester ihr halb belustigt, halb ärgerlich zugewendet.
„Au!“ sagte sie weinerlich. „Du bist recht häßlich, Klara!“
„Ach was – au!“ Die junge Malerin stand auf und nahm lachend ihre beiden Hände. „… Sag’ mal, Hilda, .. weißt du nicht, daß wir Waisen sind und kein Geld haben?“
„Ja, Klara.“
„… und daß ich also für uns alle drei Geld verdienen muß?“
„Ja, Klara!“
„Warum machst du mir dann das unnütz schwer mit deinem Gequengel? Ich wäre auch lieber in Dresden. Aber ich red’ nicht davon, denn es hilft ja nichts.“
„Ja, Klara!“ Die Kleine küßte sie und trocknete sich die Thränen. „Ich bin eben so ein Schaf. Ich wollt’, ich wäre wie du!“
„Lieber Gott!“ Die Malerin lachte. „Ich bin kein Wundertier! Ich sag’ mir einfach: das und das muß geschehen! Also will ich es thun und thu’s!“
„Das ist das erste vernünftige Wort, das ich seit längerer [651] Zeit höre!“ sagte hinter ihr eine Männerstimme. „Der erste Gruß der Kultur! Und noch dazu gleich in deutscher Muttersprache! Guten Abend, meine Damen!“
Klara drehte sich um. Es dämmerte schon so stark, daß sie nur noch die Umrisse des Fremden erkennen konnte, einer mittelgroßen Gestalt in fremdartigem, halb arabischem Reitanzug.
„Guten Abend!“ versetzte sie etwas beklommen. „Woher kommen Sie denn auf einmal? Ich hab’ Sie gar nicht in den Hof reiten hören.“
„Meine Leute sind auch draußen geblieben. Ich lasse bloß umsatteln. Ich hatte ein kleines Malheur mit meinem eigenen Pferd. Nun nehme ich das eines Berbers, der mit mir ist.“
„Und dann wollen Sie heute noch weiter?“
„Sowie mein englischer Sattel auf dem Gaul liegt. Nach Tetuan.“
„Da kommen Sie aber spät in der Nacht an!“
„Ich habe einen Regierungsaraber mit! Man muß mir öffnen!“
„Ach so . . ja!“ sagte die Malerin. Sie fand sich allmählich in die seltsame Lage, im Dämmern mit einem ganz unbekannten Mann zu sprechen. „Sie finden übrigens dort Gesellschaft.“
„Das ist’s ja eben!“ Der Fremde trat einen Schritt näher. „Deswegen erlaubte ich mir ja, Sie anzusprechen! Ich brach nämlich vor fünf Tagen von Fez nach Tanger auf ...“
„Aber dies hier ist doch nicht der Weg von Fez nach Tanger ..“
„Nein. Ich wollte in Tanger die Jacht ‚Liberty‘ treffen. Haben Sie sie vielleicht gesehen?“
„Das schöne, schneeweiße Dampfschiff, das dem russischen Petroleumkönig gehört? Ja gewiß, das liegt dort.“
„Nun hörte ich heute morgen von ein paar Arabern, die Herrschaften von der ‚Liberty‘ seien nach Tetuan geritten! Da schlug ich den Haken und jagte von dem Fezweg herüber nach El-Fondak.“
„Ja … das heißt, der Besitzer der ‚Liberty‘, der kleine, glattrasierte Herr, ist nicht mit! Der ist in Tanger geblieben. Aber seine Tochter mit zwei Freunden ist allerdings nach Tetuan unterwegs.“
„Haben Sie sie selbst gesehen?“
„Sie haben uns schon mittags überholt mit ihren guten Pferden. Wenn es nämlich die ist, die Sie meinen. So eine – ich bin Malerin und hab’ sie darum näher angesehen – so eine Art Madonnengesicht mit langen Locken.“
„Na ja,“ die dunkle Gestalt vor ihr lachte, „das ist sie schon. Ich danke bestens für die Auskunft. Darf ich Ihnen mit irgend etwas dienen?“
„Danke, nein. Wir müssen uns schon die Nacht hier so behelfen. Morgen kommen wir auch nach Tetuan, zu Studienzwecken.“
„Ach ja … Sie sagten … die Damen sind Malerinnen?“
„Ich habe es für einen Leipziger Verleger übernommen, die aus dem Englischen übersetzte Reisebeschreibung einer Dame zu illustrieren. Unglücklicherweise mußte die Dame gerade durch Marokko reiten. Also muß ich dasselbe thun. Meine älteste Schwester begleitet mich als Reisemarschall und unser Jüngstes haben wir diesmal auch mitgenommen, damit sie etwas von der Welt sieht.“ Sie wies auf das Nesthäkchen, das, völlig erschöpft, mit offenem Munde schlafend dasaß, den Kopf vornüber gesunken und mit der Rechten krampfhaft die Schachtel mit persischem Insektenpulver umklammernd.
Die beiden sahen sie an und lachten. „Also auf Wiedersehen in Tetuan!“ Der Fremde lüftete den Hut.
„Wenn Sie gegen Mittag da sind, werden wir ja …“ Er stockte plötzlich und fuhr mit der Hand nach der Herzgegend. Es war, als ob er nach Atem ringe.
Klara trat erschrocken auf ihn zu. „Was haben Sie?“
„O nichts!“ sagte er schon wieder mit seiner gewöhnlichen Stimme. „Es vergeht sofort. Eine kleine Quetschung von einem Sturz vorhin. Also nochmals, gute Nacht!“
Seine Gestalt verschwand in der Dämmerung, die schon schwer über dem Hofraum lag. Gleich darauf hörte man draußen in arabischen Worten seine befehlende Stimme und das Klappen der Hufe auf dem Steingeröll.
Die blonde Malerin stützte den Kopf auf die Hand.
„Ich möchte wissen, wer das war!“ sagte sie nachdenklich. „Nichts Gewöhnliches gewiß. Er spricht arabisch und kommt aus dem Innern. Vielleicht ist es ein berühmter Forscher …“
„… und wenn du ihn dir morgen bei Licht besiehst, ist es ein Reisender in Matjesheringen und baumwollenen Phantasiestoffen,“ murmelte mit ihrer tiefen Stimme die skeptisch angelegte Aelteste, die lang und düster wie ein schwarzer Schatten neben ihr stand.
Klara lächelte nur und erwiderte nichts. Hoch oben verlor sich das Klappern der Hufe und rastlos rauschte der Regen über Marokko.
Der Regen rauscht, die Wolken fliegen – weiter, immer weiter durch das dämmernde Land. Stunde um Stunde verstreicht im Zwielicht zwischen Tag und Nacht, unter den Hufen fliegt der Boden, Gebüsch und Bäume gleiten rechts und links vorbei – so fließt die Welt dahin, so rollt das Leben in das Meer der über den Berggipfeln aufflutenden Nacht …
Wozu lebst du? Was treibt dich ruhelos vorwärts – zu immer neuem Begehren, neuer Erfüllung, neuen Wünschen, wo nur das eine sicher ist, das Ende, das all unser vielfach verschlungenes Hasten und Mühen auslöscht, wie das Kind ein Rechenexempel mit feuchtem Schwamme von der Schiefertafel wischt? Von Tag zu Tag zerrinnt das Dasein unter deinen Händen, unaufhaltsam, unwiederbringlich. Nutze es, ehe es zu spät ist.
„Aerra . . ärra . . rrrrschât!“ Die Berberknechte treiben die Tiere an. In langen Galoppsprüngen geht es weiter und weiter in das dunkle Land hinaus. Was dahinter liegt, versinkt im Schatten, was vorne ist, ruht in geheimnisvollem Grauen, im Dämmern liegt rechts und links die weite Welt.
Die weite, in abenteuerlichen Querfahrten so oft durchmessene Welt! Bunte Bilder weben im Kopf des einsamen Reiters, der da, fiebergeschüttelt, im schaukelnden Sattel nach vorn gebogen, wie im Traum den Nachtwind um die Ohren brausen fühlt.
„Tetuan, Herr!“ Der maurische Diener war mit zwei Galoppsprüngen an der Seite des Reisenden und wies in die Ferne. Ein schneeig weißer Streifen zog sich dort langgestreckt über einen Bergkamm hin, wie eine Märchenstadt durch das Abendgrauen grüßend.
Aus seinem Träumen erwachend, fuhr der Fremde im Sattel empor und blickte um sich. Längst hatten sie den Höhenpaß und den von ihm niederführenden Bergpfad hinter sich gelassen. Um sie dehnte sich in unbestimmten Umrissen eine weite, von wildzerrissenen Gebirgen umrahmte Ebene, von nichts anderem belebt als den rasch weiterwandernden fernen Schatten der Kamelkarawane. Da und dort, an den Flanken der Berge, ein einsam flackerndes Nachtfeuer, aus den Gestrüpphalden hoch von oben her das Geschrei sich balgender Hirtenjungen, fernes Kuhgebrüll und Eselgejammer, Windesraunen und pfeilschneller Wolkenflug um die Zacken des Atlasgebirges am Himmel.
Schon auf der Wetterscheide des Höhenpasses hatte der Regen aufgehört. Der Mond lugte ab und zu aus den im Sturm treibenden Wolkenfetzen und erhellte das weite Flachland, das Schlängelband des Habesch, der träge durch die Steppe seine Silberfluten dem Mittelmeer zurollte, und die weißgetünchte hohe Brücke darüber, die einzige ganze Brücke in dem verrotteten Land.
„Aerra! Aerra!“ Die Pferde schnauben, im Silberlicht der aufsteigenden Mondsichel blitzen die Gewehrläufe der voraufjagenden Berber, die Hufe klappern funkensprühend über den Boden. – Weiter, immer weiter, im Galopp über Stock und Stein, durch plätschernde Rinnsale, über aufgeweichtes Ackerland, quer durch grünwogende junge Saat dem weißdämmernden Höhenstreifen in der Ferne zu, der allmählich in den Fluten der Nacht versinkt.
Da tauchten die Schatten der Kamelkarawane aus dem Dunkel auf, der weißgekleidete Marokkaner an der Spitze, das Gewimmel eilfertig trabender Esel, der verschleierten Weiber und wollhaarigen Negersklaven rings um die schwerfällig wandelnden, dummstolz die abscheulichen Köpfe wiegenden Trampeltiere.
Vorbei! Vorbei! Ohne Gruß – fast ohne Blick, in gegenseitiger Verachtung! Der Europäer sieht hochmütig auf den halbwilden Nomaden herab, und dem wieder ist der Christ ein halb gefährliches und angstgebietendes, halb unreines und lächerliches Geschöpf. Die Kamelkarawane blieb in der Nacht zurück. [652] Wieder war rings die Einsamkeit der Steppe. Aber da und dort lohten aus ihr die Wachtfeuer der Hirten, blitzten, fast aus den Wolken heraus, die Lichtpunkte hochgelegener Bergdörfer und huschten Schattengestalten lautlos durch die Nacht dahin. Die Nähe der großen Maurenstadt machte sich bemerklich.
In einer halben Stunde war man am Ziel! Bei dem Gedanken daran pochte das Herz des nächtlichen Reiters und eine Art Krampf zog plötzlich einschnürend seine Brust zusammen. Zu dumm … dies Abenteuer mit dem Stier! Nun, bis morgen war das gut! Sein Blick wurde finster, und als trage ihn das erschöpfte Pferd noch nicht rasch genug dem Schicksal entgegen, stieß er ihm ungeduldig die Sporen in die Flanken.
Das Schicksal! Das spielt nicht mit uns, wie die gemeine Weisheit lautet, ach nein: wir selbst sind ja unser Schicksal. Wie wir sind, so bleiben wir ein langes Leben lang, was wir thun, das müssen wir thun! Was wir leiden, das müssen wir leiden!
Was hilft das Klagen, wo der Lebenslauf so fest, so unabänderlich mit seinem Maß von Glück und Unglück einem jeden vorgeschrieben ist? Und ist der Lebenslauf kraus und wild, führt er durch alle Länder und Meere, durch alle Höhen und Tiefen in rastlos suchender Abenteurerlust, was hilft das Klagen? Es ist eben etwas mehr Leiden darin, Not, Mühsal und Entbehrung, und etwas mehr jener Freuden, die trotziges Siegerbewußtsein verleiht – schließlich gleicht sich doch alles wieder aus und wird zur großen Null auf dem Grabstein. Und wenn auf ihm die Worte des Dichters stehen:
„Dies Herze sehnt’ sich oft
ach nirgends hin und überall doch hin!“
so ist ihm nun die Ruhe …
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In vollem Glanz schien jetzt der Mond, nur ab und zu von vorüberflutenden Wolkentrümmern verfinstert. Dann herrschte plötzlich tiefes Dunkel und ebenso rasch stieg, wenn die Sichel wieder aus dem Dunst hervorschwamm, von ihrem bläulichen Schein umschleiert und erhellt, das blendendweiße Häusermeer von Tetuan am Abhang des Berges empor. Ein Gewimmel platter Dächer, von schlanken Minarets überragt, die zerfallene Burg hoch darüber und alles von einem finsteren, altersgrauen Mauerring umschlossen – so träumte die orientalische Stadt im Mondschein. In weitem Halbkreis standen die zerrissenen Berge, ganz in der Ferne mit Schnee- und Firnglanz übergossen, und auf der anderen Seite, wo die Ebene sich öffnete, strahlte, ein silberner Streifen, das Mittelmeer herüber.
Sie mußten langsam reiten. Der Boden war mit spitzem Steingeröll bedeckt, und überall sprudelte es zwischen den Felsblöcken, den Aloëstauden und stacheligen Agavenhecken von unsichtbaren Wassern. Kaum merklich kamen die Reiter der reglos schlummernden, totenstillen weißen Stadt näher und bogen endlich in den Mondscheinschatten ihrer Außenmauer ein.
Die wilden Hunde kläfften auf, während der Trupp an dem alten bröckligen Gestein entlang trabte. Die Stadt dahinter war wie ausgestorben. Kein Laut, kein Lebenszeichen klang heraus.
Aber als sie um einen Winkelturm der Umwallung bogen, fuhr ihnen jäh ein starker Windstoß entgegen und auf seinen Schwingen ein Tollhaus von Tönen, ein Geschrei, Gemecker, Gewieher und Geplärr in wildem Durcheinander.
Vor dem fest verrammelten und verschlossenen Stadtthor staute sich allerhand Volk, das erst nach Sonnenuntergang gekommen und nicht mehr eingelassen worden war, Hirten, Händler und Käufer, wie sie der Donnerstag, der allwöchentliche große Markttag, rings vom Lande her nach Tetuan trieb. Sie alle kampierten da zähneklappernd im Freien, eng mit Kindern, Gesinde und Haustieren zusammengeduckt, ein Durcheinander von Negerwollschädeln und kahlen Kabylenköpfen, von flintenüberragten Hammelherden, von buntfarbigen Turbanen zwischen langen Esel- und Maultierohren, breitkrämpigen Frauenhüten, Pferdehäuptern, Ziegenbärten, Körben voll kleiner Kinder an den Flanken kauernder Kamele, die ganze Arche Noah von hellem Mondschein übergossen, in Lärm und Gezänk den Tag erwartend, trotzdem man sich doch schon längst heiser gebrüllt hatte und wußte, daß die innen schnarchenden Thorwächter gegen alles Schreien und Rufen taub blieben. Es fiel keinem von ihnen ein, auch nur den Kopf herauszustrecken. Nur zwei Kanonen gähnten rechts und links von dem Stadtthor mit schwarzen Schlünden in die Nacht hinaus, und dazwischen verschlangen sich über der Wölbung die eingemeißelten Schnörkel eines Koranspruches.
„Da oben zwischen den Kanonen steht’s geschrieben!“ sagte plötzlich jemand aus der grollenden schwarz verschwommenen Masse heraus mit deutschen Worten: „… ,Es ist kein Schutz und Hilfe außer bei Allah!‘ Ich werde nächstens auch Mohammedaner!“
„Ja, wenn’s was hülfe!“ brummte eine andere tiefe Stimme. „Die ganze Menagerie hier glaubt an Allah und muß doch im Freien übernachten wie wir!“
„Und Sie sind allein dran schuld … mit Ihrem Bärentrotz wie gewöhnlich! Erklären: wir brauchen keine Soldaten zur Begleitung! Was uns an Räubern anfällt, das nehme ich allein auf mich! Und nun sitzen wir da und Frau Angela hat allen Grund, daß sie seit einer Stunde kein Wort mit uns spricht!“
Statt aller Antwort tönte von irgendwoher aus dem Dunkel ein silberhelles Kinderlachen. Der heranreitende Fremde fuhr bei dem unerwarteten, fast unheimlichen Klang im Sattel empor und lenkte mit jähem Ruck sein Roß der Stelle zu. Aber im selben Moment feuerte der Araber neben ihm seine Flinte, die er aufrecht vor sich auf den Pferdehals gestellt hatte, zum Himmel los, als einfachstes Mittel, den schlafenden Wächtern drinnen das Nahen eines Regierungssoldaten zu verkünden.
Im Augenblick, wo das altmodische Feuerrohr sich mit scharfem Knall entlud, war alles ringsumher lebendig. Die Eselein, die sorgenbeladen mit gesenkten Ohren dastanden, stießen ein durchdringendes sägendes Jammergeschrei aus, die Pferde stiegen aufgeregt in die Höhe, die Maultiere schlugen rechts und links nach der aufspringenden Menschheit, Hammel und Ziegen flohen mit Angstgemecker, und neben den Körben mit schreienden Kindern richteten sich dunkle Klumpen, die bisher still wie Felsblöcke dagelegen, mit drei seltsamen Rucken auf, wurden zu Kamelen und stierten feierlich und blödsinnig über das vom Mond beschienene Gewühl.
Wenigstens hatte der Schuß gewirkt. Oben auf dem Mauerkranz erschienen die Umrisse von Turbanen und Flinten und ein wildkrächzendes Gespräch flog hin und her. In dem allgemeinen Tumult, dem Meckern, Blöken, Wiehern, Hundegekläff und Yageschrei war es kaum möglich, sich zu verstehen, obwohl die braunen Gesellen oben und unten mit Aufgebot ihrer ganzen Lungenkraft brüllten. Und zum Ueberfluß verschwand jetzt eben der Mond auf Nimmerwiedersehen hinter einer dicken Wolkenwand. Tiefe Dunkelheit trat ein und vermehrte das Chaos.
„So halten Sie doch Ihr Pferd!“ rief die helle Silberstimme aus der Finsternis. „Sie drängen mich ja in die Kamele hinein! Das Vieh schreit gerade über meinem Kopf. Ich habe keine Lust, umgetrampelt zu werden!“
Ein hünenhafter Mensch kam daraufhin, schwer mit seinem Roß kämpfend, als eine Schattengestalt nach vorn. „Ich weiß nicht, was das ist!“ fluchte er. „Es sticht jemand gegen den Gaul und meine Beine. Wart’, du verdammter Kerl!“ Er führte, sich im Sattel biegend, mit der Reitpeitsche einen wütenden Hieb nach unten. Dort blökte es unter dem Klatsche kläglich auf und ein verirrter Hammel, dessen langgedrehte Hörner das Unheil angerichtet, suchte eiligst das Weite.
„Wo seid Ihr denn?“ schrie der Begleiter des Recken aus der Ferne. „Ich schwimme hier zwischen lauter Eseln und Ziegen, und halte mich an einem Kuhhorn fest. Gott weiß, wohin die Reise geht!“
„Hierher, Franklin!“ rief es hell dagegen. „Wo die Kamele sind ...“
„Ja … Da gehören wir weiß Gott hin!“ tönte es von drüben. „Lieber doch eine Klubhütte als solche Abenteuer. Was machen wir denn nun?“
„Wir warten, bis die Bande ruhig ist!“
„Ach, die schreien bis zum jüngsten Tag!“ knurrte der andere. Aber schon schien inmitten des heillosen Lärms die Verständigung gelungen. „Der Pascha schläft,“ meldete irgendwo aus dem Dunkel her die Stimme eines Mauren in greulichem Englisch. „Man geht und holt bei ihm den Schlüssel! Mit dem Schlüssel wird man das Thor aufsperren.“
In Erwartung des großen Ereignisses war eine verhältnismäßige Ruhe eingetreten.
[653]
[654] Nun konnte man also auf den Schlüssel warten! In schneidenden Stößen pfiff der Wind um Mauer und Türme; vom Himmel, an dem nur noch vereinzelt Sterne zwischen den Wolkenwänden blinkten, spritzte ein feiner Sprühregen mit eiskalten Nadelstichen hernieder.
„Es ist schauderhaft!“ sagte die helle Stimme wieder. „So etwas kann einem das Reisen verleiden! Lieber Lebensgefahr als Schmutz und Langeweile!“
Ihre Begleiter erwiderten nichts. Sie schienen im Gedränge wieder etwas abseits geraten. Aber neben ihr lüftete die dunkle Gestalt des Fremden den Hut.
„Guten Abend, Frau Angela!“ sagte er gleichmütigen Tons, als hätten sie sich gestern erst im Ballsaal getrennt und sei ihr Zusammentreffen die selbstverständlichste Sache von der Welt.
Die Gestalt im Sattel bog sich vor. „Sind Sie das, Prinz?“ frug sie halblaut und betroffen. „Was haben Sie denn auf einmal für eine sonderbare Stimme?“
„Ich bin kein Prinz … Gott sei gelobt!“
„Ja, Franklin Moore sind Sie doch auch nicht?“
„Ich habe keine Ahnung, wer Franklin Moore ist!“
„Ja … wer sind Sie denn dann?“
„Kennen Sie Ihre alten Freunde nicht mehr? Wir haben uns doch schon oft genug auf dieser Lehmkugel getroffen, Frau Aventiure? Wissen Sie nicht mehr, wer Sie zum Scherze so getauft hat … hoch oben auf dem Gipfel des Montblanc … bei unserer allerersten Begegnung …?“
„Sind Sie es?“ Es fuhr wie ein Ton des Schreckens aus ihrem Munde.
„Nun … natürlich bin ich es! Wo haben Sie denn nur im Dunkel Ihre Hand? Ich möchte Ihnen doch Guten Tag sagen!“
Aber die Schattengestalt vor ihm drängte verstört ihr Pferd hinweg, in ein Gewühl von Ziegen und Hammeln hinein. „Sie sind doch tot!“ sagte sie halblaut und beklommen. „Sie sind doch längst tot!“
Er folgte ihr und stieß mit spornbewehrtem Fuß die um die Beine des Rosses strudelnden wolligen Pelze zur Seite.
„Halten Sie mich für ein Gespenst?“ frug er lachend. „Woher wissen Sie denn, daß ich tot bin?“
„Alle Welt weiß es doch. Seit einem halben Jahr. Ich habe doch selbst Ihre Nachrufe in den Zeitungen gelesen!“
„Es giebt Leute, die sind nicht umzubringen, dazu gehöre auch ich!“
„Aber woher kommen Sie denn?“
„Von Timbuktu her! Dort hatte ich das Abenteuer mit den Schwarzen, aus dem dann wohl das Gerücht von meinem Tod entstanden ist. Aber meine Freunde, die Araber, haben mich gerettet. Mit denen bin ich nordwärts gezogen durch die Sahara. Bis Marrákesch. Von da nach Fez. Und jetzt bin ich ja schon wieder mitten in der Kultur!“
Er warf einen befriedigten Blick auf die Arche Noah ringsumher, die windumpfiffenen Stadtmauern mit ihren rechts und links von den arabischen Runenschnörkeln in die Nacht hinausglotzenden Kanonenschlünden und den vom Mond in gelblichen Zackenrändern bestrahlten Wolkenflug am Himmel.
„Aber wie kommen Sie denn von Fez nach Tetuan?“ sagte Angela, immer noch unsicher und beklommen im Tone. Es schien, als ob sie mehr Schrecken als Freude bei der unerwarteten Begegnung empfand.
„Das hat man mich heute schon einmal gefragt und es ist doch sehr einfach: Ich reite wieder einmal hinter Ihnen her.“
Oben auf den Zinnen erschienen die Turbane und Flintenläufe wieder. Ein betäubender Lärm erhob sich in der ganzen Menagerie und alles drängte den Thorflügeln zu.
Der Schlüssel war glücklich gekommen. Man hörte sein Knarren und Knacken von innen, während sich von außen die geschlossene Phalanx von Mann und Roß, Hammeln, Negern, Kamelen, Kindern, Eseln, Kabylinnen und wilden Hunden hart an die Pforte preßte, kampfbereit, um sich sofort beim Oeffnen mit Gewalt den Eintritt in die Stadt zu erzwingen.
Allein die Thorwächter innen waren auf ihrer Hut. Kaum klaffte der erste Spalt in der Thüre, so gingen sie ihrerseits unvermutet zum Angriff vor und schlugen mit rücksichtslosen Hieben den Vorstoß der Arche Noah zurück. Unter greulichem Geschrei flutete die Masse seitwärts, die Eselchen jammerten, die wilden Hunde kläfften sich heiser, reglos wie Felsen in hoher See ragten die verschwommenen Klumpen der Kamele aus dem Gewühl, durch das die berittenen Araber sich und ihren Reisenden eine Gasse bis zu dem Stadtthor bahnten.
„Halten Sie Bakschisch bereit!“ mahnten dazwischen die Mauren. „Bakschisch für die Thorwachen. Maurisches Geld! Einen halben Dollar!“
Einen halben Dollar? Die bewaffneten Gestalten am Eingang schüttelten schreiend ihre turbanumhüllten Köpfe. Das war zu wenig Bakschisch! Mehr! Mehr! Jeder Reisende einen halben Mohren-Dollar! Gurgelnd und schreiend mit aufgeregtem Gebärdenspiel drängten sie sich heran und hielten ohne weiteres die Zügel der Pferde fest. Das verdroß den einen der beiden Begleiter Angelas, den hünenhaften, langen Menschen, der wild und kampflustig wie ein alter Raubritter vorgebeugt auf seinem viel zu kleinen Berberrosse hing. „Hören Sie mal, Dragoman,“ sagte er gelassen auf englisch mit seiner rauhen Stimme, „ich habe die verwünschte Gewohnheit, unbekannten Kerlen, die um Mitternacht in Afrika meinem Pferd in die Zügel fallen, mit diesem Totschläger hier über den Kopf zu tippen, ob nun ein Turban drauf sitzt oder nicht. Erzählen Sie das mal dem braunen Gentleman da zu meiner Linken!“
Er ließ den mit Blei ausgegossenen Totschläger durch die Luft pfeifen, und noch ehe der Maure seinem Stammesgenossen die Drohung des Prinzen übersetzt hatte, fielen die Zügel nieder und war der Weg frei.
Der Hüne gähnte. „Was krabbeln Sie denn da noch in Ihrer Tasche, Franklin?“ schrie er.
„Ich will dem Volk noch eine Kleinigkeit geben,“ erwiderte sein Genosse, ein kleiner, schmächtiger Mensch, in englisch gefärbtem Deutsch.
„Unsinn! Nichts kriegen die Kerle! Sie glauben wohl, Sie sind noch in Transvaal und spielen mit Ihren Millionen Federball? Nichts! Höchstens eins über den Schädel, wenn sie noch mal mucken. Vorwärts! Aus dem Weg, ihr Schwefelbande!“
Er strich sich seinen mächtigen Schnurrbart und trieb sein Pferd rücksichtslos mitten durch den Haufen der Thorwächter. Der glattrasierte Kleine sagte nur lächelnd „Well!“ und folgte seinem Beispiel. So ritten die beiden nach Tetuan hinein, die andern hinterher, und knarrend schlossen sich hinter ihnen die Thorflügel. Von der Arche Noah war niemand hereingekommen als ein versprengtes Eselchen, das jetzt allein und ratlos mitten auf der Straße dastand und mit seinem jammernden Ya das Grollen der Menge draußen und das Murren der Wächter drinnen verschlang.
Dann verstummte auch das. Ringsum war wieder tiefes Schweigen. Nur die Hufe klapperten, während die Reisenden langsam durch das Dunkel dahinzogen. Sie hätten glauben können, sich in einer Totenstadt zu befinden. Soweit das Auge auch durch die Schatten spähte und das Ohr sich lauschend mühte – nirgends eine Spur, ein Laut, der darauf hinwies, daß im Umkreis dieser zerbröckelt zu ihrer Rechten sich dehnenden Mauern mehr als zwanzigtausend Menschen schliefen. Niedere fensterlose Häuser, gestrüppüberwucherte Trümmerflächen dazwischen, schachtähnlich enge, stockdunkle Gassen, ein unergründlicher Schlamm am Boden – so ging es weiter und weiter durch die unheimliche weißgetünchte Stadt, in der selbst das Gebell der wilden Hunde verstummt zu sein schien. Endlich kamen sie aus dem Gassengewirr heraus. Ein wüster, mit Kot und Pfützen bedeckter Platz breitete sich scheinbar endlos rings im Dunkel um sie aus. Angelas Begleiter hielten da, auf die anderen wartend. Ihr Dragoman schwatzte ihnen etwas von einem „Hotel“ vor.
„Jawohl, ‚Hotel‘!“ brummte der wüste Prinz. „Zwei spanische Herbergen giebt’s in diesem Nest. Den Flohcirkus kann ich mir schon vorstellen!“
„Sind das Ihre neuesten Freunde, Frau Angela?“ frug der Forschungsreisende im Heranreiten.
Sie lachte. „Seit vorigem Jahr! Wir haben uns in Norwegen kennengelernt. Sie fuhren dann als Gäste auf unserer Jacht mit nach Island. Und seitdem werde ich sie nicht los. Es sind zwei unglaubliche Menschen!“
„Wer ist’s denn eigentlich?“
„Der lange Hüne mit dem fuchsroten Schnurrbart, der [655] wie ein zu spät auf die Welt gekommener Raubritter aussieht, ist ein Prinz aus einer Seitenlinie von irgend einem vorsündflutlichen mediatisierten Geschlecht. Der andere, der Kleine, ist der Sohn eines millionenreichen Deutsch-Amerikaners. Er kann sich mit seinem Vater nicht vertragen. Das muß auch ein ganz sonderbarer Heiliger sein. Nun ging er vor einigen Jahren auf eigene Faust nach Johannisburg, hat da eine Unmasse Geld verdient, und seitdem treibt er sich müßig in der Welt herum. Das Komische dabei ist, daß sich die beiden, Franklin und der Prinz, eigentlich nicht ausstehen können. Ich muß immer lachen, wenn ich den Großen und den Kleinen so freundschaftlich nebeneinander sehe.“
„Vorwärts, Frau Angela!“ schrie der Prinz herüber. „Gleich um die Ecke ist das Grand Hotel Balmoral–Palace mit Lift, Wintergarten und elektrischer Beleuchtung. Die Table d’hote hat schon begonnen!“
Sie lachte. „Kommen Sie mit!“ sagte sie zu ihrem Begleiter. „Ich muß Sie doch mit meinen Freunden bekannt machen!“
Er schüttelte den Kopf. „Heute, bitte, nicht, ich habe Fieber und ganz dumme Stiche im Herzen. Ich hab’ ja erreicht, was ich wollte, und Sie getroffen. Nun will ich mich schlafen legen! Ihre Expedition füllt die eine Herberge jedenfalls reichlich. Also gehe ich in die andere!“ Er rief seinen Diener und wechselte mit ihm ein paar arabische Worte. „In der Fonda d’España ist, wie ich eben höre, noch ein Bett frei!“
„Nun, dann auf morgen!“ sagte sie mit ihrer hellen Stimme und reichte ihm von Pferd zu Pferd kameradschaftlich die Hand.
Der Tod der Kaiserin von Oesterreich.
Die Stelle, an welcher die Rhone mit raschen Fluten dem Genfersee enteilt, ist mit einer herrlichen, 260 Meter langen und 16 Meter breiten Brücke, dem Pont du Montblanc, überspannt. Sie bildet sozusagen den Mittelpunkt des Fremdenverkehrs der Stadt Genf. Links von ihr erstreckt sich der schöne „Englische Garten“, rechts aber liegt der Quai du Montblanc. Weit und breit ist er seit langer Zeit berühmt, denn von ihm bietet sich über die blaue Fläche des Sees ein prachtvoller Ausblick auf die mit Schnee und Eis bedeckte, hoch zum Himmel emporragende Montblanc-Kette. Am Ende dieses Quais erhebt sich das großartige „Monument Brunswick“. Die Stadt Genf hat dieses Denkmal dem Herzog Karl II von Braunschweig errichtet, aus Dank, daß er sie zur Erbin von etwa zwanzig Millionen Franken eingesetzt hatte. Zwei riesige Löwen aus gelbem Marmor bewachen den Aufgang zu der gewaltigen Plattform, auf der das Denkmal in drei Stockwerken sich emportürmt.
Jenseit desselben erstreckt sich als Fortsetzung des Quai du Montblanc der Quai des Pâquis, an dem der Kursaal liegt. Hier springt das Ufer in den See vor und der Vorsprung ist mit schönen Anlagen und Alleen geschmückt; längs dieses prächtigen Ufers befinden sich die Landungsstellen der Dampfer. Tagaus tagein flutet hier ein bunter Verkehr und entfalten sich Bilder frohen Lebens. So ist die Stätte beschaffen, an welcher am 10. September dieses Jahres die schauerliche Mordthat vollbracht wurde, welche in der gesamten Welt Entsetzen und tiefste Wehmut hervorrief.
Kaiserin Elisabeth von Oesterreich hatte von Caux aus, wo sie seit Ende August dieses Jahres zur Kur weilte, einen Ausflug nach Genf gemacht und war im Hotel Beaurivage abgestiegen. Das schmucke Haus, aus dessen Fenstern sich ein prächtiger Blick über den See und die am Berge aufsteigende Stadt darbietet, liegt, wie unser Situationsplan zeigt, an der Ecke des Quai des Pâquis und der Rue A. Fabri, dem Braunschweig-Denkmal gegenüber. Am 10. September gegen 1/22 Uhr nachmittags verließ die Kaiserin das Hotel, um nach Caux zurückzukehren. Sie begab sich zu Fuß nach der Landungsstelle des Dampfers am Quai du Montblanc (A). Sie ging, wie die punktierte Linie auf unserem Kärtchen es andeutet, in Begleitung der Gräfin Sztaray bis zum Denkmal des Herzogs Karl II von Braunschweig, überschritt hier den Fahrweg und betrat die Allee, die vom Seeufer durch ein Eisengittcr getrennt ist. Gegenüber dem Hotel de la Paix lauerte, an einen Baum gelehnt, der Mordbube Luccheni auf sein Opfer. An der Stelle, die auf unserer Skizze mit B bezeichnet ist, überfiel er die Kaiserin und führte den tödlichen Stoß gegen ihr Herz. Die Schwerverwundete konnte noch den Dampfer erreichen. Derselbe kehrte nach kurzer Fahrt um und landete am Quai des Pâquis (vgl. C auf unserer Skizze), von wo die Kaiserin auf einer Tragbahre in das Hotel gebracht wurde. Der elende Mörder floh, wie die andere punktierte Linie unseres Situationsplanes zeigt, in die Rue des Alpes, in der er von zwei Kutschern festgenommen wurde. Auf unserer Abbildung „Ansicht von Genf mit dem Braunschweig-Denkmal“ (siehe S. 656), ist das Haus, das rechts noch zum Teil sichtbar ist, das Hotel de la Paix.
Am 17. September, acht Tage nach der Schreckensthat in Genf, fand das Begräbnis der Kaiserin statt. Alle Fürstenhöfe Europas waren bei dieser Trauerfeier vertreten. Der Deutsche Kaiser stand in dieser schweren Stunde seinem Freunde und Bundesgenossen zur Seite; auch König Albert von Sachsen und Prinz-Regent Luitpold von Bayern waren persönlich erschienen. Die Teilnahme von seiten der Bevölkerung war so allgemein, daß Wien noch niemals solche Menschenmassen versammelt gesehen hat. Aus allen Kronländern waren Abordnungen erschienen, und all die Gruppen, die vor der Kapuzinerkirche Aufstellung nahmen, boten ein geradezu überwältigendes Schauspiel. In den Straßen, welche der Trauerkondukt passieren sollte, bildete das Militär Spalier. Die Häuser waren mit Trauerschmuck versehen, die Straßenlaternen umflort, und auf diese düstere Pracht warf eine milde
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Septembersonne ihr goldenes Licht. – Diesmal folgten die Leidtragenden nicht dem Sarge, sondern erwarteten ihn in der Kapuzinerkirche, in der sich die Gruft der Habsburger befindet. Gegen 3/4 4 Uhr verließen die ersten Wagen mit den fürstlichen Leidtragenden die Hofburg; in einem der letzten saß Kaiser Franz Joseph zur Linken des Deutschen Kaisers. Still grüßte sie die Volksmenge. – Um 4 Uhr erklangen die Glocken von St. Michael. Sie gaben dem Volke kund, daß in der Hofburgpfarrkirche die Leiche der Kaiserin eingesegnet würde. Kammerdiener und Leiblakaien hoben hierauf den Sarg und trugen ihn zu dem im Schweizerhofe harrenden Leichenwagen. Nun setzte sich unter dem Geläute aller Kirchenglocken Wiens der Trauerkondukt in Bewegung. – Ein Zug Husaren zu vier Mann eröffnete ihn. Ihnen folgten die Wagen der Kämmerer, der Hofbeamten und der Palastdamen der Kaiserin, dann Abteilungen der Leibgardeinfanterie und der Leibgardereiter. Darauf erschien der Leichenwagen. Acht Rappen zogen ihn. Er war vollkommen schwarz und trug die Kaiserkrone auf seiner Kuppel, während an der Bedachung ringsum Reichsadler schwarze Schnüre im Schnabel hielten. Der Sarg ruhte darunter frei, nach allen Seiten sichtbar, ohne jeden Blumenschmuck, nur mit einem Kreuze versehen. An jeder Seite des Leichenwagens schritten vier Edelknaben und vier Leiblakaien mit brennenden Wachskerzen. Als Nebenbegleitung marschierten rechts sechs Arcieren- und acht Leibtrabanten und links sechs ungarische Leibgarden und acht Leibgardereiter. Hinter dem Wagen ritt je eine Abteilung der Arcieren- und der königlich ungarischen Leibgarde. Den Schluß bildete eine Compagnie Infanterie und eine Eskadron Kavallerie.
Unsere untenstehende Abbildung zeigt den Leichenwagen kurz nachdem er die Hofburg verlassen hatte. In tiefem Ernst, zwischen stillschweigenden Volksmassen bewegt sich der Zug langsam über den Albrechtsplatz, die Rampe entlang, welche der schöne Monumentalbrunnen schmückt, nach dem Neuen Markte. Als der Leichenwagen vor der Kapuzinerkirche angelangt war, schmetterte ein Hornist der Leibgarde der toten Herrscherin den letzten Gruß. Leise verklangen die Töne des Generalmarsches, dann vernahm man gedämpfte Trommelwirbel. Die Lakaien hoben den Sarg und bald verschwand er in der Pforte des Gotteshauses. – Wien hatte von seiner Kaiserin den letzten Abschied genommen; aber in der düster geschmückten Kirche vollzog sich die schmerzlichste Trennung. In der Fürstengruft überwältigte den so hart geprüften Kaiser Franz Joseph der Schmerz, er brach in lautes Wehklagen aus und mit Küssen, die er auf den Sarg drückte, nahm er für immer Abschied von dem Teuersten und Liebsten, das er auf Erden besaß.
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Kaiserin Elisabeth von Oesterreich.
Der Lenz hatte seinen Einzug in die Lande gehalten. Um das blaue Band der Donau hatte er grüne Matten gezaubert und die Bäume auf den Uferhügeln und in den Thälern mit weißem Blütenschmuck überschüttet; unter dem klaren blauen Himmel tönte der Lerche Jubelsang und freudiges Treiben herrschte auch unter den Menschen längs des Donaustromes von Wien bis in das Bayernland hinein. Ehrenpforten wurden errichtet, mit Laubgewinden, Tannengrün und Fahnen die Häuser geschmückt und mitten in dieser frohen Arbeit erklang gar oft die Weise:
„Rose aus Bayernland,
Lieblich und traut,
Nun grüßt dich ganz Oest’reich
Als hehre Braut.“
Das geschah in den Apriltagen des Jahres 1854, da Prinzessin Elisabeth von München Abschied nahm und von Passau an zu Schiff ihre Brautfahrt nach Wien antrat. Der schmucke Dampfer, der die jugendliche Fürstin der Kaiserstadt zuführte, glich einem Märchenschiff. Mit Rosengewinden, die bis an den Wasserspiegel reichten, waren seine Wände geschmückt, in einen Blumengarten war das Verdeck verwandelt worden und in seiner Mitte erhob sich, von einem prächtigen Zelt eingeschlossen, eine duftige Rosenlaube, und dazwischen Purpursammet und darüber Wimpel und Flaggen in bunten Farben! Mit lautem Jubel wurde überall das Schiff begrüßt. Tausendstimmige Hochrufe, Fanfaren und Glockengeläute hießen auf Oesterreichs Boden die Braut des jungen Kaisers Franz Joseph willkommen. Einem Triumphzug glich diese Brautfahrt; wo die künftige Kaiserin erschien, dort siegte sie, gewann alle Herzen durch die Lieblichkeit und Anmut ihrer Erscheinung.
Die Töchter des Herzogspaares Max und Ludowika in Bayern standen weit und breit im Rufe großer Schönheit. Herzog Max führte ein offenes Haus, Künstler und Litteraten waren bei ihm häufige Gäste; viele gingen aus und ein in dem herrlichen Schloß Possenhofen am Starnberger See und hatten Gelegenheit, die jungen Prinzessinnen zu beobachten, und alle hielten Prinzessin Elisabeth für die schönste; man nannte sie die „Rose von Possenhofen“. Hoch und schlank war sie gebaut, leicht und anmutig in ihren Bewegungen, die schönen Züge umrahmte ein dichtes kastanienbraunes Haar, von rosigem Hauch war das zarte Antlitz belebt, und aus ihm schaute ein Paar tiefblauer Augen voll schwärmerischen Glanzes. Herzog Max hatte seinen Töchtern eine freiere Erziehung gegeben als sie sonst an Fürstenhöfen üblich war. Die Prinzessinnen konnten rudern und schwimmen, und da ihr Vater ein passionierter Reiter war, so saßen auch sie frühzeitig fest im Sattel; aber diese Uebungen erhöhten nur die Anmut Elisabeths, und was an ihrer Erscheinung bestrickte, das war der Zauber der echten Weiblichkeit.
Herzogin Ludowika in Bayern war eine Schwester der Erzherzogin Sophie, der Mutter Kaiser Franz Josephs, und so mögen wohl die beiden Mütter den Heiratsplan zuerst angeregt haben. Immerhin blieb die Wahl und Entscheidung dem jungen Kaiser überlassen. Im August des Jahres 1853 traf er in Ischl mit seiner Cousine zusammen und wurde von dem Liebreiz Elisabeths derart gefangen genommen, daß er sofort um ihre Hand warb und daß am 18. August, seinem 23. Geburtstag, die Verlobung stattfand. Elisabeth, die am 24. Dezember 1837 das Licht der Welt erblickt hatte, war damals noch nicht sechzehn Jahre alt. Daß der Bund, den das junge Paar miteinander schließen sollte, ein wahrer Herzensbund war, daran konnte niemand zweifeln, der es näher beobachten durfte. Im Winter 1853/54 reiste der Kaiser, so oft seine Regentenpflichten es erlaubten, nach München, um seine Braut zu besuchen. Doch der Brautstand dauerte nicht lange, denn schon für den 24. April 1854 war die Trauung festgesetzt.
Ein herrlicher Lenzabend war es, als das Rosenschiff mit der kaiserlichen Braut unter Kanonendonner, Glockengeläute und klingendem Spiel in Nußdorf anlangte, wo der Kaiser Elisabeth empfing, um sie in die Hauptstadt zu geleiten. So brausend war der Jubel, mit dem das Volk die junge Fürstin begrüßte, daß sie beim ersten Betreten Wiens an der Seite des Monarchen stehen blieb und mit Thränen in den Augen dem nimmer endenden Ruf „Hoch Elisabeth, die Kaiserbraut!“ lauschte. Das waren Thränen der Freude, die eine glückliche Braut vergoß.
Noch großartiger gestalteten sich die Kundgebungen des Volkes, als Elisabeth am anderen Morgen, einer alten Sitte zufolge, vom Theresianum den Einzug in die alte Burg der Habsburger hielt. Hunderte weißgekleideter Jungfrauen streuten ihr Rosen auf den Weg und glückstrahlend saß die anmutige Braut in dem sechsspännigen Wagen, in der dunklen Haarkrone ein funkelndes Diamantdiadem und einen Kranz von weißen und roten Rosen. Und von ferne hallte der Donner der Kanonen herüber und von Straße zu Straße brauste der Jubelruf „Hoch Elisabeth, die Kaiserbraut!“
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Feierlich war die Trauung in der altberühmten Hofkirche zu St. Augustin vollzogen worden, rauschende Feste füllten die folgende Woche aus, dann zog sich das junge Ehepaar in die Stille von Laxenburg zurück. Nun war Elisabeth Kaiserin von Oesterreich und sogleich zeigten sich die schönen Züge ihres Charakters. Die reiche Morgengabe, die der kaiserliche Gemahl ihr verehrt hatte, überwies sie Wohlthätigkeitsanstalten des Landes. Im stillen hatte sie diese erste edle That als Landesmutter verrichtet und erst spät erfuhren die Beschenkten, wer die Geberin war. In derselben stillen Art hat sie auch in späteren Jahren unermüdlich für die Armen und Bedrängten gesorgt.
Es war ein Herzenswunsch der jungen Kaiserin, die Länder der habsburgischen Monarchie kennenzulernen. Der Kaiser führte sie zunächst nach Böhmen und Mähren, dann folgte eine Reise in die Alpen, an die sich köstliche Erinnerungen knüpften; in der Hochgebirgsnatur erlebte man reine Freuden, auf dem Großglockner hatte damals der Kaiser das erste Edelweiß gepflückt. Wunderschön gestaltete sich die Reise nach Triest und Venedig; in feenhaftem Glänze zeigte sich die Lagunenstadt den kaiserlichen Gästen und märchenhaft war das große zu ihren Ehren abgehaltene Maskenfest.
Das waren glückliche Jahre im Leben der Fürstin, der es nun auch vergönnt war, das Mutterglück zu empfinden. Im März des Jahres 1855 durfte sie ihr erstgeborenes Kind, die Erzherzogin Sophie, an ihr Herz drücken; im darauffolgenden Jahre schenkte sie der Erzherzogin Gisela das Leben und alle ihre Wünsche schienen erfüllt, als am 21. August 1858 hundertundein Kanonenschüsse den Wienern verkündeten, daß dem Lande Oesterreich ein Thronfolger geboren war. Damals erschien Elisabeth der Welt mit dem Füllhorn des Glückes überschüttet. Ihre Schönheit und Anmut waren sprichwörtlich geworden, das Volk rühmte ihre Liebenswürdigkeit und Güte; sie genoß die Freuden der Frau am häuslichen Herde, hatte einen liebenden Gatten zur Seite und [658] war von blühenden Kindern umringt. Als Fürstin durfte sie mit Stolz auf die Macht ihres Hauses blicken. Oesterreich stand festgefügt da unter dem Scepter von Habsburg und allmählich vernarbten die Wunden, die der Bürgerkrieg dem Lande geschlagen hatte. Wie beneidenswert erschien Elisabeth damals Tausenden und Millionen von Frauenherzen – die mächtige Kaiserin und glückliche Mutter!
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Leicht gezimmert ist das Menschenglück, denn zuzeiten ist das Schicksal hart und unbarmherzig. Anmut und Unschuld halten es nicht auf in seinem Einherschreiten, und mit seinem wuchtigen Hammer trifft es gleich zerschmetternd die Hütten der Armen wie die kaiserlichen Burgen. Auch über Kaiserin Elisabeth verhängte es Prüfungen über Prüfungen.
Schon im Jahre 1857 war es ihr beschieden, den ersten tiefen Schmerz zu empfinden, da sie am Sterbebette ihres ältesten Töchterchens den letzten Atemzügen des Kindes lauschen mußte. Trübes brachte das Jahr 1859 mit sich. Das Auftreten Napoleons III machte den Krieg mit Frankreich und Piemont unvermeidlich; der Kaiser stand im Felde, aber das Glück war seinen Waffen nicht treu; die Schlachten bei Magenta und Solferino gingen verloren, und in dem Frieden von Villafranca mußte Oesterreich die Lombardei abtreten. Treu stand die Kaiserin in dieser herben Zeit ihrem Gemahl zur Seite, aber ihre Gesundheit war frühzeitig erschüttert. Ein schweres Lungenleiden hatte sich bei ihr eingestellt, die frischen Farben waren verschwunden und traurig schauten die blauen Augen aus dem bleichen Gesicht. Gebieterisch verlangten nun die Aerzte die Trennung von Wien und dem Gemahl, denn nur im warmen Süden winkte der Todkranken Rettung.
Nach langem Zögern trat die Kaiserin im November 1860 die Reise nach Madeira an. Das milde Klima des fernen Eilandes wirkte Wunder. Bereits im Mai des folgenden Jahres kehrte Elisabeth nach Wien zurück, scheinbar völlig genesen und neu aufgeblüht, aber plötzlich trat ein Rückfall des heimtückischen Leidens ein, und die Kranke mußte nach kaum einem Monat wieder den Süden aufsuchen. Diesmal begab sie sich nach Miramare und Korfu. Erst im August 1862 konnten die Wiener mit herzlicher Freude ihre heimkehrende genesene Kaiserin begrüßen.
In ihrem Wesen trat aber allmählich eine Aenderung ein. Niemals war sie eine Freundin lauter Festlichkeiten gewesen; jetzt begann sie mehr und mehr die Oeffentlichkeit zu meiden. Nur bei wichtigsten Anlässen trat sie mit ihrer Person hervor; so eilte sie nach Budapest, als es galt, nach den Ereignissen von 1866 die Magyaren mit der Krone zu versöhnen. Es gelang ihr auch leicht, die Sympathien der Ungarn zu gewinnen, die von nun an ihre Königin mit stürmischen Eljenrufen empfingen. Die Politik war jedoch nicht nach ihrem Sinn; sie gehörte zu jenen Fürstinnen, die in die Geschicke der Völker nicht eingreifen und ihre in der Welt bevorzugte Stellung nur zur Förderung gemeinnütziger Ziele benutzen. So floß ihr Leben still dahin; im Jahre 1868 schenkte sie noch ihrer jüngsten Tochter, der Erzherzogin Marie Valerie, das Leben, und als weitere freudige Ereignisse begrüßte sie die Vermählung des Kronprinzen Rudolf sowie ihre Silberne Hochzeit, die sie im Jahre 1879 feierte. So lange ihre Gesundheit es gestattete, fand sie am Reiten große Freude; die Neigung zu diesem Sport hatte sie von ihrem Vater geerbt, und aus dem Vaterhause nahm sie auf den Lebensweg auch das lebhafte Interesse für die Kunst. Namentlich die Dichtung zog sie an; sie hatte griechisch gelernt und trug sich mit der Absicht, die Werke Shakespeares ins Griechische zu übersetzen. Sie war in der magyarischen Sprache und Litteratur bewandert und eine Verehrerin Heines. So führte sie in der selbstgewählten Einsamkeit, auf den Schlössern Miramare bei Triest und Achilleion auf Korfu, auf ihren Reisen in die Alpen ein an geistigen Anregungen reiches Leben und wurde von Jahr zu Jahr mehr und mehr eine stille Schwärmerin. Aber der innere Frieden, die Ruhe, nach denen sie sich sehnte, sollten ihr nicht beschieden werden.
Rauh und gewaltsam griff das Schicksal in ihr Herz ein, als sie im Jahre 1889 das tragische Ende ihres einzigen Sohnes erleben mußte. Seit jenen düsteren Tagen war sie eine gebrochene Frau; sie hatte noch die Kraft gehabt, ihrem Manne in den schwersten Stunden über den Gram hinwegzuhelfen, doch die Trauer wich nicht mehr aus ihrer Seele. Sie ist noch bis in ihr spätes Alter schön geblieben, aber Schmerz und Leid hatten sich nun tief in ihr Antlitz eingegraben. Die Welt kennt aus den Bildern, die von ihr vorhanden sind, nur die frühere Kaiserin; aus den letzten Jahren hat man kein Bildnis von ihr, nur eine Büste der Kaiserin Elisabeth von Viktor Tilgner wird die gramdurchfurchten Züge der trauernden Mutter der Nachwelt überliefern.
Seit der furchtbaren Katastrophe im Schlosse Meyerling trug die Kaiserin stets schwarze Kleider; keine Festlichkeit konnte sie bewegen, die Trauerfarbe abzulegen, nur an einem Tage des Jahres, am 18. August, dem Geburtstag Kaiser Franz Josephs, vertauschte sie das düstere Gewand mit einem freundlicheren schwarz-weißen Kostüm. Mehr und mehr wurde die Kaiserin zu einem Schatten, der dahinwandelte und in die Einsamkeit des Hochgebirges sich flüchtete, um dort seinem Schmerz zu leben. Aber der so tief Gebeugten sollte noch eine weitere Prüfung auferlegt werden: sie mußte noch die Kunde von dem schauerlichen Flammentode ihrer Schwester, der Herzogin von Alençon, bei dem Bazarbrande in Paris erfahren. Nun war die Kraft der Kaiserin völlig gebrochen; ein Herzleiden stellte sich ein und die Kunst der Aerzte mußte alles aufbieten, um das Schlimmste zu verhüten. Die Ernährung ließ viel zu wünschen übrig, da die Kranke sich seit langer Zeit mit einer äußerst schmalen Kost begnügte, die gar nicht im Einklang stand mit den Anstrengungen, welche die von der Kaiserin mit Vorliebe ausgeführten weiten Fußtouren im Gebirge mit sich brachten. So trat zu der Herzerweiterung noch Blutarmut hinzu. Als die Kaiserin in diesem Frühjahr im Schlosse Lainz sich aufhielt, wurde der Schwächezustand so bedenklich, daß eine Badekur dringend nötig erschien. Auf deutschem Boden, in Bad Nauheim, fand die Leidende zuletzt eine Linderung, und gestärkt ging sie in die Schweiz, um an den Ufern des Genfersees im Angesicht der schneegekrönten Alpen eine Nachkur zu gebrauchen.
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Oesterreich-Ungarn steht im Zeichen des Jubeljahres. Vor fünfzig Jahren hat Franz Joseph den Kaiserthron bestiegen. Die Völker huldigen ihm und frohe Feste lösten sich in der Kaiserstadt an der blauen Donau ab … Doch wie jäh und schrill wird der Jubel durch die Klage übertönt!
Der herrliche Sommer naht seinem Ende; noch prangt das Grün in Wald und Flur; goldene Lichter webt die Septembersonne über dem österreichischen Alpenland, aber von den hohen Zinnen der Berge wehen Trauerflaggen; von Buchs her über Feldkirch fährt ein düsterer Zug nach dem Osten, nach der Kaiserstadt Wien, und bei seiner Ankunft klagen die Glocken von den Kirchen der Dörfer und Städte und Scharen des Volkes schauen ihm mit thränenerfülltem Auge nach. Eine Missethat ist geschehen, wie sie das Jahrhundert nicht kannte! Ein entmenschter Bube hat gegen das wunde Herz der Dulderin den Mordstahl gezückt … nun kehrt die tote Kaiserin in ihr Land zurück.
Tiefe Trauer senkt sich über Oesterreich nieder, aber unbeschreiblich ist der Schmerz, mit dem der Kaiser der Toten harrt an der Stätte ihres einstigen Glückes.
Fürwahr, im Tiefinnersten erschüttert die Herzen dieses unheilvolle Schicksal; weit über Oesterreichs Grenzen dringt die Klage, und lange, lange noch wird die Welt mit Wehmut gedenken der stillen Dulderin, Kaiserin Elisabeth.
Nachdem ich die arme Kaiserin Elisabeth im Hotel Beaurivage
in Genf aufgebahrt gesehen hatte, ein Anblick, der jedem
Fühlenden das Herz zusammenpreßte, nachdem ich tieferschüttert
meine Pflicht als Berichterstatter erfüllt, fuhr ich über die blaue
Flut des Genfersees wieder der Heimat zu.
Es war mir ein Bedürfnis, vor meiner Rückkehr nach Wien auch jenen Stätten am glücklichen waadtländischen Ufer, an denen unsere Kaiserin so gerne geweilt, einen Abschiedsbesuch abzustatten.
Ueber den stillschönen Genfersee trug mich der Dampfer in die östliche Bucht, an das Gestade der vielgerühmten Landschaft Montreux. Man glaubt sich hier in den herrlichsten Garten versetzt, in dem, wie der Dichter singt, „die Rosen mit den schönsten Veilchen sich vermählen“; an die zwanzig Dörfer liegen auf Hügeln und Bergen zerstreut und zwischen ihnen ragen die Türme zweier mittelalterlichen Burgen empor; frischgrüne Weiden und dunkle Wälder schmücken in der Höhe die Berge, und näher dem Ufer grünen neben Nußbäumen und Kastanien die Myrte, Granate und der Lorbeer. Dazwischen liegen übereinander prächtige Weinberge, aus denen die köstlichsten Weine der Schweiz hervorgehen. Hier ist die Rebe wohlgeborgen, denn der weite Spiegel des Sees, der die Luft mildert, schützt sie vor Winter- und Frühlingsfrösten, und die Bergzüge, die sich hinter dem Gestade auftürmen, lassen die kalten Nord- und Ostwinde nicht aufkommen. Mit Recht hat Vuillemin, der Geschichtschreiber des Waadtlandes, von Montreux gerühmt, daß es im Besitz einer „privilegierten Natur“ sei. Und in dieser herrlichen, an malerischen Ausblicken so überaus reichen Landschaft wohnt und gedeiht ein prächtiger Volksschlag; hochgewachsen und sehnig sind die Männer, schlank und anmutig die Frauen. Kein Wunder, daß dieser von Gott gesegnete Landstrich schon in früheren Zeiten von Touristen gern aufgesucht wurde; bald lernte man aber auch die Vorzüge dieses Klimas für Kranke würdigen. Hier ist der Winter so mild, daß schon im Februar Levkojen und Krokus blühen, und darum ist Montreux seit lange eine vielbesuchte Winterstation für Brustkranke. Herrlich sind in dieser Gegend die Herbsttage und im September strömen Tausende herbei, um an den Gestaden des blauen Sees die Traubenkur durchzumachen. So sind im Laufe der von Jahre in der Gegend von Montreux, in Vevey, Clarens, Montreux-Vernex, Territet und Veytaux am Ufer des Sees und höher hinauf in Glion und Caux zahlreiche Hotels und Pensionen entstanden, von denen aus die Kurgäste die herrlichsten Fahrten auf dem See oder Ausflüge in die prächtige Bergwelt unternehmen können.
Wie unendlich schön ich Territet gefunden, als ich vor Jahren zum erstenmal mit dem Kaiser und der Kaiserin von Oesterreich [660] dorthin kam, so traurig berührte es mich an diesem 14. September, als ich seinen blumengeschmückten Boden wieder betrat. Von Ferne winkte das katholische Kirchlein von Montreux, in dem Kaiserin Elisabeth, wenn sie hier weilte, an keinem Feiertag fehlte.
Immer schwarzgekleidet, seit das Schicksal ihr grausam den hoffnungsvollen Sohn entrissen hatte, stieg sie mit Schleier und Fächer die Stufen zu dem freundlichen Gotteshause empor. Und von Territet mich abwendend, das wohl auch der Kaiserin in den letzten Jahren zu geräuschvoll, zu unruhig geworden war, lenkte ich meine Schritte nach dem sagenumsponnenen, poesieumwobenen Schloß Chillon, das auf mich diesmal einen besonders tiefen Eindruck machte, nach dem Grauenhaften, das ich in Genf erlebt hatte.
Bis an den Wasserspiegel reicht der Felsen, auf dem das mächtige Schloß steht. Ueber seine doppelte Zinnenmauer ragen drei Rundtürme und der starke viereckige Hauptturm hervor. Als die Herzöge von Savoyen an den Ufern des Genfersees noch herrschten, diente das Schloß als Staatsgefängnis, und in seinen tiefen Verließen mußten viele Genfer ihre Freiheitsträume büßen. Hier wurde auch der Verfechter der guten Rechte der Stadt Genf, der Prior Bonivard, gefangen gehalten. Im Jahre 1530 ließ ihn der Herzog in den tiefsten Kerker von Chillon werfen. In der gewölbten Halle, die tiefer als der See liegt, hatte er nach seinem eigenen Ausspruche Zeit genug gehabt, hin und her zu gehen, um auf dem Stein die Spuren seiner Schritte zu hinterlassen, als hätte dieselben ein Hammer ausgeschlagen. Erst im Jahre 1536 kam für den Gefangenen die Stunde der Befreiung, als die vereinigten Streitkräfte der Berner und der Genfer die Zwingburg stürmten. Noch heute ist das Gefängnis erhalten; man sieht noch den eisernen Ring, mit dem Bonivard an den Pfeiler geschmiedet wurde, und kann die abgetretenen Stellen auf den Steinplatten erkennen. Nur durch schmale Oeffnungen dringt hier das Licht ein und nur bei ihrem Untergang wirft die Sonne schmale Lichtstrahlen in die tiefen düsteren Gewölbehallen. Das ergreifende Los Bonivards hat Byron Anregung zu seinem „Gefangenen von Chillon“ gegeben, den er im Jahre 1817 im „Anker“ zu Ouchy bei Lausanne gedichtet hat.
„Mein Haupt ist grau – doch nicht die Jahre,
Nicht eine Nacht,
In Angst durchwacht,
Hat weiß gefärbt die dunklen Haare“
– was Byron seinen Gefangenen von Chillon sagen läßt, wie verstand ich es nun in seiner vollen Schmerzlichkeit! Oft war Kaiserin Elisabeth nach Schloß Chillon gewandelt, sie, die Freundin der Romantik, die Heinrich Heine in ihrem Schlosse Achilleion auf Korfu das schöne Denkmal setzen ließ.
Und oberhalb von Territet, diese lauschigen weithin ausschauenden Plätzchen alle, die die Kaiserin so sehr liebte, Montfleury zumal mit seinen duftigen, urwüchsigen Blumenteppichen, dann weiter oben Les Avants, so rüstigen und unermüdlichen Bergsteigerinnen, wie Kaiserin Elisabeth eine war, leicht erreichbar, dann Glion, zu dem man auch mit der Drahtseilbahn hinauffahren kann, und Caux, in mehr als 1000 m Höhe, wo die von Glion bis Rochers de Naye reichende Zahnradbahn vorbeikommt, diese von Kaiserin Elisabeth mit solcher Sehnsucht aufgesuchten Plätze und Plätzchen, wie wirkten sie nun auf mich ein! Ich hatte die Fassung nicht, da oder dort länger zu verweilen. Nur im Grand Hôtel von Caux hielt ich mich auf, wo die unglückliche Kaiserin zuletzt gewohnt hatte, von dem aus sie Freitag am 9. September die Fahrt nach Genf angetreten hatte, zum Besuche der Baronin Julie Rothschild in Pregny. Als die Kaiserin im vorigen Frühling den herrlichen Besitz besichtigte, versprach sie, wiederzukommen. Aus Caux kam wenige Tage vor dem kritischen Samstag die Nachricht, die Kaiserin werde Freitag in Pregny erscheinen und daselbst gerne das Frühstück nehmen. Hocherfreut trug Baronin Rothschild der Kaiserin ihre Jacht an, die von Territet direkt nach Bellevue gefahren wäre, ohne daß die Kaiserin Genf hätte berühren müssen. Die Kaiserin lehnte ab. Freitag kam sie mit der Hofdame Gräfin Sztaray in einer Mietdroschke nach Pregny. Sie war in bester Laune. Nach dem Frühstück wurde ein Rundgang durch den prachtvollen Park angetreten. Auf dem Wege bewunderte die Kaiserin die Kaskaden und das idyllische Bauernhäuschen. Von Bellevue kehrte sie nach Genf zurück. Dieselben prächtigen Orchideen, die sie in Pregny besichtigt hatte und derentwegen sie den Gärtner belobt hatte, sollten wenige Tage später die Bahre der toten Kaiserin schmücken.
Caux mit der entzückenden Bergherrlichkeit im Hintergrunde, dem einzigartigen Anblick des in der Ferne sanft verschwimmenden Seespiegels, hat ein großes (auf der untenstehenden Abbildung links sichtbares) Hotel, in dessen erstem Stocke für Kaiserin und Gefolge eine Flucht von 16 Zimmern eingeräumt war. Wie auch sonst auf Reisen, bewohnte die Kaiserin drei Gemächer. Vom Gang aus trat man in einen mit vornehmer Einfachheit ausgestatteten Salon, an diesen schloß sich einerseits ein Toilettezimmer mit Badewanne, anderseits das Schlafzimmer mit einem großen englischen Bett, in welchem die Kaiserin der Nachtruhe pflegte. Vom Salon und Schlafzimmer öffnen sich auch Thüren auf die breite, gegen die Sonne durch zeltartige Ueberdachung geschützte Terrasse, auf der Kaiserin Elisabeth so unendlich gerne saß und sann. Die freundlichen Augen waren auf den Genfersee mit dem ihm umgebenden Bergkranz gerichtet, auf das rebenbesetzte Waadtland mit seinen Villen und Hotelpalästen, auf die schimmernde Gletscherwelt Savoyens. Die Kaiserin sah den Dampfern und Seglern nach, die, Schwänen gleich, den See durchfurchten, und freute sich der wunderbaren Schöpfung ringsum …
Es ist ein tragisches Zusammentreffen, daß das Schicksal der Fürstin, die gut und menschlich war bis ins Innerste ihres Herzens, die niemand was zuleide gethan und sich in die Politik nie eingemengt hat, sich an dem herrlichen See erfüllte, an dem sie so gern zur Erholung weilte. Dr. M. Kronfeld.
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Schon im vorigen Jahrhundert berichteten die Reisenden, daß die Naturvölker eine außerordentliche Sehschärfe besitzen. So erzählte Pallas im Jahre 1776, daß ein gemeiner Kalmück in einer später auf 30 Werst (d. h. über 30 Kilometer) geschätzten Entfernung den Staub einer nahenden Heerschar erblickte und auch anderen minder geübten Augen zeigte, während der beim Heer befindliche Oberst Kischinskoi mit einem guten Fernglase nicht das Geringste zu sehen vermochte. Bergmann berichtete 1802 folgendes: Ein Kalmück rief seinen mit ihm verirrten Genossen zu, daß er jemand auf einem Schecken einen Hügel hinanreiten sehe. Die übrigen, die sich hierdurch verleiten ließen, der angezeigten Spur nachzureiten, fingen schon an, über den Irrtum ihres Gefährten und ihre eigene Leichtgläubigkeit zu spotten, als sie nach einem Ritt von 20 Werst (über 20 km) neben einem Hügel anlangten, auf welchem ein betrunkener Kalmück eingeschlafen war, während sein scheckiges Pferd mit zusammengeschnürten Füßen unbeweglich neben ihm stand.
Ganz Erstaunliches berichtet Alexander von Humboldt im dritten Bande des „Kosmos“. Er befand sich eines Tages in der Villa des Marquis de Selvalegre in Chillo bei Quito; sein Freund Bonpland hatte allein eine Expedition nach dem 85 000 Fuß, d. h. 3,7 geographische Meilen von der Villa entfernten Vulkan Pichincha unternommen. Die Indianer in Chillo sahen nun Bonpland als einen weißen Punkt, der sich vor den schwarzen Basaltfelswänden des Vulkans bewegte, mit bloßem Auge eher, als ihn Humboldt mit dem Fernrohr fand.
Stanley erzählt, daß die Waganda am Victoria-Njansa mit ihren Augen die Leistungen eines guten, 125 Mark kostenden Fernrohres übertrafen. Auch der Afrikareisende Dr. Fischer aus Sansibar teilte Herrn Dr. Kotelmann in Hamburg mündlich mit, daß die eingeborenen Elefantenjäger des äquatorialen Ostafrika öfters Antilopen mit bloßem Auge wahrnahmen, die er mit seinem Opernglase nicht zu erkennen vermochte.
Zweifellos war das Sehvermögen der genannten Naturvölker also schärfer als das der kultivierten Reisenden. Allein wirkliche Messungen der Sehleistung der Naturvölker waren niemals vorgenommen worden.
Als aber im Jahre 1879 eine Karawane von Nubiern im Zoologischen Garten in Breslau vorgeführt wurde, benutzte ich die so günstige Gelegenheit, um die erste Messung ihrer Sehschärfe vorzunehmen; später wurden ähnliche Untersuchungen von anderen Forschern an Naturvölkern, welche in anderen Zoologischen Gärten gezeigt wurden, angestellt. –
Wie kann man die Sehschärfe prüfen? Zum Verständnis der Beantwortung dieser Frage muß ich den geneigten Leser bitten, einige Minuten mir in das Gebiet der Anatomie des Auges und der elementaren Optik zu folgen.
Der Augapfel ist sehr ähnlich der photographischen Camera gebaut. Die vorderen Teile, die Hornhaut (Figur 1 h) und die Krystalllinse (l) entsprechen dem Objektiv der Camera, dem vorderen Glase; sie lassen die Lichtstrahlen in das Auge eintreten und brechen sie so zusammen, daß sie auf der Netzhaut oder Sehhaut (n), welche an der hintern Wand des Auges ausgebreitet ist und welche der matten Scheibe in der Camera entspricht, sich zu einem sehr kleinen umgekehrten Bilde vereinigen. An dem hinteren Pole (p) des Auges befindet sich nun in der Netzhaut eine eigentümliche Stelle, eine kraterartige Vertiefung, die Netzhautgrube. Das ist die Stelle der Netzhaut, mit welcher wir am schärfsten sehen. Wenn wir einen Gegenstand genau sehen wollen, so stellen wir das Auge so, daß das Bild desselben genau auf diese Grube fällt. Wir sagen dann, wir „fixieren“ einen Gegenstand. Wenn die Netzhautgrube durch Krankheiten zerstört wird, hört jedes scharfe Sehen für immer auf.
Unter dem Mikroskop zeigen sich nun in der Netzhautgrube Tausende dicht aneinander stoßender Zellen, sogenannte Sehzapfen (Figur 3). Sie erscheinen als schmalste, flaschenartige Gebilde, die aus einem etwas mehr bauchigen Zapfenkörper und einem äußerst schlanken Zapfenstäbchen bestehen. Das sind die lichtempfindenden Elemente, von denen jedes kaum 1/1000 Durchmesser hat. Auf diesen Zapfen werden die Bilder der Außenwelt am schärfsten wahrgenommen. –
Man beurteilt nun die Sehschärfe nach der Fähigkeit, zwei nahe aneinander gelegene Punkte in großer Ferne noch als zwei zu unterscheiden. Die Prüfung der Sehschärfe hat also Aehnlichkeit mit der Prüfung des Tastsinnes. Jedermann kann leicht folgenden einfachen Versuch machen. Schließt man die Augen und bringt einen Zirkel so auf seine Zungenspitze, daß die Zirkelspitzen nur noch 1 mm auseinander stehen, so empfindet man trotz der geringen Entfernung der Zirkelspitzen dennoch, daß es 2 Spitzen sind. Macht man denselben Versuch an der Fingerkuppe, so empfindet man beide Spitzen nur als eine einzige; man muß hier die Zirkelspitzen schon auf 2 mm voneinander entfernen, um sie auf der Fingerkuppe noch als zwei zu unterscheiden. Auf dem Handrücken nehmen wir sie erst wahr, wenn sie 20 mm, und auf dem Oberarm erst, wenn sie 60 mm voneinander abstehen. Die Feinheit des Tastsinnes mißt man also nach der Thätigkeit, zwei Zirkelspitzen noch als gesondert auf der Haut wahrzunehmen. So ist auch beim scharfen Sehen das Unterscheiden zweier wenig voneinander entfernter Punkte maßgebend.
Wovon hängt diese Unterscheidung im Auge ab?
Jede Lupe hat in ihrem Innern einen Punkt, den optischen Mittelpunkt, durch welchen alle in sie eintretenden Lichtstrahlen ungebrochen hindurchgehen. Auch das Auge hat im Innern der Krystalllinse einen solchen Punkt (Figur 1 k), den man Knotenpunkt nennt. Wenn also von einem leuchtenden Punkte A Lichtstrahlen in das Auge fallen, so geht der Lichtstrahl ungebrochen weiter bis zur Netzhaut, bis zu a; sein Bild muß also in a liegen; ebenso geht der von B durch den Knotenpunkt gezeichnete Lichtstrahl Bk ungebrochen weiter bis zur Netzhaut, und sein Bild muß in b liegen.
Die beiden Lichtstrahlen, die von den leuchtenden Punkten A und B kommen und den Knotenpunkt k passieren, schließen nun offenbar einen Winkel ein, den Winkel AkB und dieser Winkel heißt der Gesichtswinkel.
Sind die beiden leuchtenden Punkte sehr nahe am Auge oder sehr weit voneinander entfernt, so ist dieser Winkel natürlich sehr groß (siehe in Figur 2); je weiter aber die beiden Leuchtpunkte vom Auge fortrücken, oder je näher sie aneinander stehen, um so kleiner wird der Winkel, wie man beim Winkel in Figur 1 sehen kann; aber immer noch werden die beiden leuchtenden Punkte als zwei wahrgenommen werden. Wenn aber der Winkel äußerst klein wird, so werden die Punkte nicht mehr als zwei, sondern als ein einziger empfunden werden.
Nun teilt man bekanntlich einen rechten Winkel (ACB, Figur 4) in 90 Grade ein; Winkel ACD hat 10 Grade, ebenso ECB; Winkel FCB ist 1 Grad. Jeder dieser 90 Winkelgrade hat wieder 60 Winkelminuten; eine Winkelminute ist also der 5400te Teil eines rechten Winkels. Man hat nun nach theoretischen Berechnungen und nach Sehprüfungen in Zimmern diesen Winkel von einer Minute als kleinsten Gesichtswinkel angenommen, unter welchem noch zwei Punkte als 2 unterschieden werden. –
Man hat daher Punkte, Zeichen und Buchstaben konstruiert von solcher Größe, daß sie in einer gewissen Entfernung unter einem Winkel von einer Minute dem Auge erscheinen, und man [662] bezeichnet als normale Sehleistung diejenige, bei welcher solche Zeichen unter dem Winkel von einer Minute, also in der bestimmten Entfernung, noch erkannt werden.
Buchstaben werden freilich leichter erraten; jeder, der einmal einen Druckbogen korrigiert hat, weiß, daß es fast nie gelingt, alle Druckfehler auszumerzen, weil man eben nicht jeden Buchstaben liest, sondern viel errät und in Gedanken ergänzt. Helmholtz meinte, daß auch die Bewegung der Augen mithilft, so daß das Bild eines Buchstabens sich nacheinander auf verschiedenen Gruppen von Sehzapfen abbilden kann. Auch kommt sehr viel auf die Form der Buchstaben an. Die Lücke im lateinischen O wird in der Ferne viel leichter als die Lücke im C von der Lücke im G unterschieden; das B wird schwerer entziffert als das L.
Gruppen von Punkten sind besser. Sie wurden schon vor 35 Jahren von Professor Snellen in Utrecht empfohlen. Aber auch hier ist eine Gruppe von 5 Punkten ⚄ nicht gut zu vergleichen mit der Zusammenstellung von nur zwei Punkten: Snellen zeichnete eine solche Tafel mit Punkten von 5 mm Durchmesser, welche in einer Entfernung von 16 m dem Auge unter einem Gesichtswinkel von einer Minute erschienen, also auf 16 m vom gesunden Auge getrennt gesehen werden müssen.
Aber noch besser sind für die Bestimmung namentlich der Sehschärfe bei Naturvölkern und ungebildeten Menschen die hakenartigen Zeichen, welche Snellen vor drei Jahrzehnten konstruiert hat, Figuren, ähnlich einem E und die nach verschiedenen Seiten offen sind, also z. B. M, W, ∃ , E (Figur 5). Diese Haken sind so gezeichnet, daß jeder Strich der Figur genau in 6 m Entfernung dem Auge unter einem Gesichtswinkel von einer Minute erscheint.
Ich habe schon im Jahre 1886 eine kleine „Tafel zur Prüfung der Sehschärfe der Schulkinder, Soldaten, Seeleute und Bahnbeamten“ herausgegeben, welche 36 solcher Figuren in 6 Reihen enthält (Verlag von Priebatsch in Breslau). Diese Haken müssen also vom gesunden Auge bis 6 m erkannt werden. Der Leser versuche es einmal bei Figur 5 selbst, ob er sie bis 6 m erkennt.
Bei Massenuntersuchungen kommt es darauf an, daß die Zuschauenden die Tafel nicht auswendig lernen und dann bei der eigenen Prüfung die Zeichen raten. Das ist hier ganz unmöglich, denn niemand kann selbst beim besten Gedächtnis sich diese 36 Zeichen von oben nach unten, von rechts nach links, von vorn nach hinten und umgekehrt auswendig merken, und die Variationen sind darum so mannigfach, da man sie durch Drehung der Tafel noch viermal ändern kann. Als kleiner Uebelstand machte sich bei den Untersuchungen, die ich seitdem vornahm, doch geltend, daß die weniger intelligenten Personen oft nicht verstanden, ob sie einen Haken über oder unter oder neben dem Stabe, mit welchem man zeigte, lesen sollten; auch zeigten die Gehilfen zuweilen mit dem Stabe zu dicht unter den Haken oder gar direkt darauf, so daß es in der That schwer wurde, in der Ferne zu unterscheiden, über welchen Haken man Auskunft wünschte.
Damit solche Prüfungen nun noch leichter und schneller möglich werden, hatte ich die Tafel in der fünften Auflage verbessert. Nur 8 solche Haken sind, wie in Figur 6, in einem Kreise auf weißen Karton gedruckt. Ueber dieser kleinen handlichen Scheibe von nur 9 cm Durchmesser befindet sich, um denselben Mittelpunkt drehbar, ein Stück blauen Kartons, welches eine runde Oeffnung (a b c d) von 2,5 cm besitzt und immer nur einen der 8 E Haken sehen läßt. Ein Gehilfe – selbst ein ganz kleines Kind kann dazu gebraucht werden – dreht die obere Scheibe nach jeder Probe beliebig weiter nach rechts oder links, bis ein anderer Haken zum Vorschein kommt. Es kann hier kein Mißverständnis dabei entstehen, welcher Haken erkannt werden soll. Auch diese Tafel kann an allen 4 Seiten an Oesen aufgehängt werden; es fehlt also nicht an Variationen.
Außerdem wurde dem neuen Täfelchen eine kleine, aus Karton ausgeschnittene Gabel (Figur 7) beigelegt, welche der Geprüfte einfach in der Richtung halten muß, in der ihm der Haken offen erscheint; sie ist sehr praktisch, da man nun nicht mehr nötig hat, Naturvölkern, Ungebildeten oder Kindern die Schwierigkeiten des Rechts oder Links auseinanderzusetzen.
Mit dieser Tafel kann jedermann, auch wenn er nicht Arzt ist, mit Leichtigkeit in einer Minute die Sehleistung eines Menschen feststellen. Er stellt den zu Untersuchenden in 20 m Entfernung von der Tafel, in welcher nur in den allerseltensten Fällen ein Auge noch die Haken erkennt, läßt ihn immer näher herankommen und notiert die Anzahl von Metern, in der derselbe bei mehreren ihm gezeigten Haken angeben oder mit der Gabel richtig zeigen kann, ob sie oben, unten, rechts oder links offen sind. – –
Ein Bruch, dessen Zähler die gefundenen Meter und dessen Nenner 6 ist, giebt die Sehleistung.
Wurden also diese Haken in 6 m richtig erkannt, so ist die Sehleistung Sl. = 6/6, d. h. normal; kann der Untersuchte sie sogar aus 12 m Entfernung deutlich sehen, so ist Sl. = 12/6 = doppelt so groß als normal; muß er aber bis 2 m herankommen, um die Haken noch zu erkennen, so ist Sl. = 2/6 = 1/3 der normalen.
Mit Hilfe der Tafel und der Gabel ist es natürlich auch leicht möglich, kleine Kinder, die den ersten Tag zur Schule kommen, auf ihre Sehleistung zu prüfen; man kann also schon vor dem Beginn des ersten Lese- und Schreibunterrichtes die wichtige Frage entscheiden, ob das Kind normale Augen hat oder nicht. Um diese Prüfung noch einfacher zu gestalten, habe ich zum Gebrauche für Massenuntersuchungen von Schulkindern jetzt in der 8. Auflage nur einen einzigen Haken auf die Vorderseite und einen anders gestellten Haken auf die Rückseite eines Cartons drucken lassen; durch Drehungen und Wendungen des Cartons wird genügend Abwechslung geboten, wie die soeben in Breslau an Schulkindern vorgenommenen Messungen gezeigt haben.
Alle diese Sehproben müssen aber unter freiem Himmel gemacht werden. Als ich vor 33 Jahren 10000 Schulkinder in Breslau untersuchte, machte ich die Prüfungen in den Schulzimmern; sie werden sonst in den ärztlichen Sprechzimmern vorgenommen. Allein schon 1871 zeigte ich in Schreiberhau, einem Dorfe im Riesengebirge, daß die Sehleistung im Freien viel größer wäre. Als im Jahre 1882 das vortreffliche Photometer von Leonhard Weber erfunden war, konnte ich durch Messungen nachweisen, daß im Freien die Tafeln immer noch heller beleuchtet seien als an dem Fenster in den hellsten Schulklassen. Die Untersuchung im Freien ist auch darum vorzuziehen, weil es kaum so große Zimmer giebt, als für die Bestimmung der Sehschärfe nötig ist. Man hat bisher angenommen, daß die hier gezeichneten Haken (Fig. 5) vom gesunden Auge nur bis 6 m erkannt werden. Unter freiem Himmel werden sie jedoch viel weiter gesehen.
Wollen wir die wirkliche Sehleistung des Menschen mit unbewaffnetem Auge feststellen, so müssen wir ihm die Möglichkeit der Fernsicht bieten wie in der Natur. Man muß also, da ich Personen gefunden, die diese Haken selbst bis 20 m noch deutlich erkennen, eine Bahn von 20 m Länge auf der Erde mit Strichen bezeichnen und dort den zu Prüfenden antreten und allmählich immer näher kommen lassen, bis er die Haken deutlich erkennt.
Nach diesen Prinzipien untersuchte ich die Schulkinder in Schreiberhau 1871, die Greise in Schreiberhau 1874, die Nubier 1879, die Helgoländer 1896, die Kalmücken 1897 und in diesem Jahre einige ägyptische Volksstämme. Die Resultate dieser sowie einiger von anderen Aerzten angestellten Untersuchungen waren folgende:
Die Nubierkarawane bestand aus 11 Personen; 9 von ihnen hatten doppelte Sehleistung und mehr; einer sogar zweiundeinhalbfache. Am merkwürdigsten aber war, daß Ali Billal, der [663] Priester, der die Nubier begleitete, der einzige, der lesen konnte und viel arabisch gelesen hatte, eine schwache Kurzsichtigkeit erworben hatte (früher will er sehr gut gesehen haben), so daß er jetzt ein Glas konkav 1,5 brauchte; trotzdem aber besaß er mit der Brille noch eine fast doppelte Sehschärfe.
Generalarzt Dr. Seggel in München untersuchte im Jahre 1883 6 Chippeway-Jndianer und fand bei ihnen einundeinviertel- bis einundeinhalbfache Sehschärfe. Er prüfte auch 15 Lappländer, von denen 3 sogar zweiundeinhalbfache, und 4 Hawaier, die einundeinhalb- bis zweiundeinhalbfache Sehschärfe besaßen. Dr. Kotelmann in Hamburg fand 1884 bei 34 Augen von Kalmücken im Durchschnitt Sehschärfe von 2,7, einmal sogar die kolossale Sehleistung von 6,7! Diese mehr als sechsfache Sehschärfe ist nicht auf einen Irrtum zurückzuführen; sondern wiederholt wurde festgestellt, daß dieser Kalmück, Namens Sansché, Haken, die das normale Auge nur bis 6,5 m erkennt, auf 42 m unter freiem Himmel las.
Im Mai vorigen Jahres konnte ich die mehrfach erwähnte große Sehschärfe der Kalmücken selbst im Zoologischen Garten zu Breslau feststellen, da eine Karawane von 21 Personen hier gezeigt wurde. Ich prüfte sie mit meiner Hakentafel und der Gabel. Nur einer von ihnen sah sie auf 6 m, 3 auf 9, 6 zwischen 9 und 12, 8 zwischen 12 und 15, 2 bis 16 und einer, der Kalmück Jawann, bis 18 m; dieser hatte also dreifache Sehschärfe; die beiden Priester, Gellongs, welche die Karawane begleiteten und Gebete in thibetanischer Schrift lesen, aber kaum etwas schreiben konnten, zeigten zwei bis dreifache Sehschärfe. Wir konnten stets erst mit einem Opernglase kontrollieren, ob die von ihnen mit bloßem Auge gemachten Angaben richtig waren.
Etwas geringere Sehschärfe stellte Kotelmann auch bei 23 Singhalesen und 3 Hindus aus Ceylon fest, die im Mittel aber immer noch mehr als die doppelte Sehschärfe hatten. Er vermutet, daß diese Völkerschaften ihre Augen weniger als die fast immer im Freien beschäftigten Kalmücken ausbilden.
Bei den Kaffern wurde von Schwarzbach ebenfalls einundeinhalbfache Sehschärfe gefunden. – Sehr interessant waren die Ergebnisse der Untersuchungen, die ich in diesem Frühjahr auf meiner Studienreise in Aegypten mit meinem Täfelchen angestellt habe.
Unter den Beduinen, die ich bei klarstem Wetter am 16. Februar 1898 nachmittags 5 Uhr am Fuße der großen Cheops-Pyramide in Gizeh untersuchte, befand sich ein Mann von 18 Jahren, Namens Derwisch, der die Haken bis 36 m richtig angab, also eine sechsfache Sehleistung zeigte.
Unter 100 ägyptischen Rekruten, die ich am 20. Februar, einem wolkenlosen Tage, vormittags 10 bis 12 Uhr auf dem Kasernenhofe der Red-Baraks bei Kairo gemeinsam mit Herrn Dr. Bitter, dem Direktor des Hygieinischen Instituts in Kairo, sowohl auf Sehleistung als auf granulöse (ägyptische) Augenentzündung prüfte, hatten 75% eine ein- bis zweifache, 7 eine zwei- bis dreifache und 1 eine dreiundeinhalbfache Sehschärfe. Ram Nassr aus Garbieh, 25 Jahre alt, zeigte eine vierundeinhalbfache und Mohammed Ganim aus Tantah eine fünffache Sehleistung, da er die Haken statt bis 6 m sogar einwandsfrei bis 30 m las. –
Von besonderem Interesse war es für mich, eine größere Zahl von Bischarin, deren Sehvermögen noch nie geprüft worden, zu untersuchen. Diese im Sudan, in der Nubischen Wüste als Nomaden lebende, höchst uncivilisierte Völkerschaft, welche die Bedauiesprache spricht, sendet nur vereinzelte Vertreter nach Ober-Aegypten. Allein hinter Assuan, nicht weit vom ersten Katarakt des Nil, hatte eine große Horde ein Zeltlager bezogen. Ich ritt am Morgen des 3. März nach diesem Lager in die Arabische Wüste mit zwei Dolmetschern; der eine sprach arabisch, der andere verstand die Bedauiesprache und behauptete, die Leute näher zu kennen. Mit Mühe hatte ich, von tropischer Sonne (33° R., keine Wolke) und von unabweisbaren unzähligen Fliegen gepeinigt, in der Nähe der kläglichen Zelte mir eine Bahn von 24 m mittels kleiner Steinhäufchen auf dem Wüstensande markiert und die Sehprüfungen mit einem 10jährigen Knaben begonnen (er verstand die Aufgabe leicht und las bis 11 m), da kam der Aelteste (Schech) der Bischarin, einer sehr trotzigen und wilden Bande, und erklärte, unter keiner Bedingung die Fortsetzung der Untersuchung zu gestatten – aus Aberglauben, da diese Prüfung den Augen schaden könne! Natürlich versuchte ich durch das afrikanische Zauberwort „Bakschisch“ ihn und seine Stammesgenossen zu gewinnen. Allein es wurde mir trotz aller Verhandlungen der Dragomane stets erwidert: Selbst für 100 Pfund Sterling würden sie die Prüfung nicht gestatten. Ich mußte also leider unverrichteter Dinge wieder nach Assuan zurückreiten. Ich hoffe, daß Prof. Schweinfurth, der berühmte Afrikaforscher, dem ich mein Täfelchen in Luxor übergeben, und der sich für die so vereinfachte Untersuchungsweise interessieren will, bei seinen häufigen Reisen in den Sudan doch noch eine größere Zahl der Bischarin prüfen wird. Das wäre von großer Wichtigkeit, da diese merkwürdigen braunen Stämme von der Kultur noch gänzlich unbeleckt sind und gewissermaßen das Urauge zeigen.
Auf der Rückreise konnte ich wenigstens 6 Bischarin in Luxor untersuchen, die mir der dortige deutsche Konsul, Herr Tadros, herbeigebracht; 5 von ihnen hatten zwei- bis dreifache Sehleistung. – Von großem Interesse waren für mich natürlich auch die Untersuchungen in den Schulen in Kairo, die ich gemeinsam mit Herrn Dr. Eloui-Bey ausführte, einem ausgezeichneten, in Frankreich ausgebildetem Augenarzte, der zugleich als Regierungsschularzt mit 12 000 Franken Gehalt angestellt ist.
Die Erlaubnis, die Schulkinder und die Soldaten mit meinem Täfelchen zu prüfen, wurde mir von Sr. Excellenz dem ägyptischen Unterrichtsminister, Herrn Artin Pascha, bezw. vom Generalarzt der ägyptischen Armee Herrn Dr. Mujiar, auf Antrag des deutschen General-Konsulats und des Herrn Prof. Dr. Rogers-Pascha in kürzester Zeit erteilt.
Aus den vielen interessanten Ergebnissen meiner Studien in 5 dortigen Schulen sei hier nur erwähnt, daß ich in der Ecole Abbas, einer modernen ägyptischen Töchterschule, ein 11jähriges Mädchen, Namens Asmah, die Tochter eines Aegypters und einer Cirkassierin, fand, welche als erste und tüchtigste Schülerin bezeichnet wurde, und die zu unserer Ueberraschung die Tafel bis 38 m las, also über sechsfache Sehschärfe hatte, obgleich sie an granulöser Augenentzündung litt. – Noch viel größer aber war unser Erstaunen, als wir in der Khedivialschule, einer Art Gymnasium, einen 16jährigen Jüngling, Namens Achmed Helmi aus Kairo, fanden, der imstande war, an dem wolkenlosen, wundervollen Vormittag des 15. März in dem schönen Garten der Schule die Haken achtmal richtig zu bezeichnen in 48 m! Er hatte also, wie sich Dr. Eloui mit mir überzeugte, eine achtfache Sehschärfe. Sämtliche Schüler und alle Lehrer verfolgten staunend von Meter zu Meter die Sehleistung von Helmi und brachen schließlich in morgenländischen Beifall aus. Seine Sehschärfe entspricht einem Gesichtswinkel von 71/2 Sekunden. Es ist dies eine Sehleistung, die bisher einzig dasteht.
Wenden wir uns nunmehr der Betrachtung der Sehschärfe der Deutschen zu!
Zunächst verdienen die Helgoländer unsere Beachtung. Wir [664] können sie im Hinblick auf ihre Sehkraft den Naturvölkern an die Seite stellen. Sie waren bisher noch nicht untersucht worden, und es war wohl zu vermuten, daß ihre Sehleistungen vorzügliche sein würden, da sie sich nicht mit Nahearbeit beschäftigen, sondern fast sämtlich Schiffer oder Fischer sind. Ich benutzte daher die Gelegenheit eines Badeaufenthaltes vor zwei Jahren, um in Helgoland, wo ich niemals einen Eingeborenen mit einer Brille gesehen, 100 Männer unter freiem Himmel vor dem Hause der königlichen biologischen Anstalt mit meiner Hakentafel zu prüfen. Die Sehleistungen derselben waren geradezu erstaunliche. Auf 6 m lasen nur 5, bis 9 m 16, bis 12 m 40, bis 15 m 22 und bis 18 m sogar 8. Letztere hatten also dreifache Sehschärfe; zwischen zwei- und dreifacher Sehschärfe hatten mithin 30%. Nur ein einziger Helgoländer von 19 Jahren hatte eine halbe Sehleistung, und dieser, lehrreich genug, war der Gemeindeschreiber! Im Mittel hatten die Helgoländer fast doppelte Sehschärfe.
Natürlich mußten solche Befunde bei mir schon lange die Vermutung erwecken, daß überhaupt unser Maßstab zu klein gewählt sei, daß auch das normale Auge bei Europäern wohl viel weiter sehe, als man nach den früheren Untersuchungen in Schulzimmern angenommen, daß man also nicht einen Gesichtswinkel von einer Minute, sondern einen noch kleineren Winkel als die Grenze ansehen müßte.
Dafür sprechen die Schuluntersuchungen, die ich in Schreiberhau im Jahre 1871 vorgenommen. Von den 244 Augen der Schulkinder, die ich damals unter freiem Himmel geprüft, hatten 38 zwischen ein- und einundeinhalb-, 85 zwischen einundeinhalb- und zweifacher, 104 zwischen zwei- und zweiundeinhalb- und 10 zwischen zweiundeinhalb- und dreifacher Sehschärfe.
Nach Prüfungen, welche von Professor Donders und Dr. Vroesom de Haan in Utrecht im Jahre 1860 vorgenommen worden waren, und die sich leider nur auf 28 ältere Personen erstreckten, war ein Gesetz veröffentlicht worden, welches lautete: Die Sehschärfe beträgt im 40. Jahre 20/20, im 60. Jahre 14/20, im 70. Jahre 12/20 und im 80. Jahre 10/20 d. h. selbst gesunde Augen haben in hohem Alter nur eine halbe Sehschärfe. Ein solches Gesetz schien mir schon vor 30 Jahren ganz unrichtig, da ich viele Personen kennengelernt, welche trotz ihrer 70 und 80 Jahre normale Sehschärfe gezeigt hatten. Daher prüfte ich im Jahre 1874 in Schreiberhau, wo es auffallend viel alte Leute giebt, wo nur wenige dieser Greise lesen gelernt und also ihre Augen in der Nähe nicht angestrengt hatten, 100 Personen von 60 bis 85 Jahren auch mit Haken unter freiem Himmel. 70% hatten keine herabgesetzte Sehschärfe. 70 Augen hatten 1 bis 1½, 17 1½ bis doppelte Sehschärfe, ein Auge sogar über doppelte Sehschärfe. Die Durchschnittsgröße der Sehschärfe betrug bei den 60jährigen 27/20, bei den 70jährigen ebensoviel und bei den 80jährigen 25/20.
Die erstaunlichen Leistungen, die ich in Schreiberhau bei Schulkindern gefunden, regten den Oberstabsarzt Dr. Burchardt in Kassel im Jahre 1873 an, die Mannschaften des hessischen Feldartillerie-Regimentes Nr. 11 auf Sehschärfe zu prüfen. Zu seiner nicht geringen Freude fand er unter den 474 Augen jener Artilleristen 281 zwischen einfacher und doppelter, 73 mit doppelter und 16 mit zweiundeindrittelfacher Sehschärfe.
Da es nun bei der Bedienung der Geschütze darauf ankommt, Soldaten, welche recht scharf sehen, sogenannte Richtnummern zu bekommen, und da dadurch die Trefffähigkeit der Geschütze wesentlich erhöht wird, so meinte er mit Recht, es müsse bei der Aushebung eine allgemeine Einteilung nach den Augen ebenso wie nach der Körperlänge stattfinden. Leute mit so ausgezeichneten Sehleistungen dürfen nicht dem Train, den Pionieren, dem Eisenbahnbataillon oder dem Krankendienste, sondern nur der Artillerie oder Infanterie überwiesen werden.
Vor zwei Jahren hatte ich mit gütiger Erlaubnis des damaligen Kommandanten von Helgoland, des Herrn Kapitän zur See Stubenrauch, auch Gelegenheit, die auf Helgoland stationierten Mannschaften der kaiserlichen Marine, 83 Mann, und 14 Mann von den damals dort manövrierenden Artilleristen des Torpedogeschwaders zu untersuchen. Es lasen von ihnen statt bis 6 m auf 7 bis 9 m 10%, auf 10 bis 12 m 36%, auf 13 bis 15 m 35%, auf 16 bis 18 m 7% und einer sogar bis 19 m. Er hatte also mehr als dreifache Sehschärfe!
Es zeigte sich mithin, daß in der Marineartillerie erfreulicherweise dort 89% übernormale Sehschärfe besitzen. Durchschnittlich hatten sie doppelte Sehschärfe. Unter diesen Artilleristen waren keineswegs lauter Küstenbewohner, sondern auch viele Soldaten aus dem Innern Deutschlands.
Wenn ich übrigens die Resultate, die bei 238 uncivilisierten und bei 2620 civilisierten Personen gefunden worden, zusammenstelle, so ergiebt sich merkwürdigerweise, daß die Naturvölker den Kulturvölkern in den Sehleistungen nicht voraus sind; denn von ersteren hatten 48%, ein- bis zweifache, 40%, zwei- bis dreifache, 1,8% drei- bis achtfache Sehschärfe; bei den Kulturvölkern entsprechen diesen Zahlen 62%, 23% und 3,9%. Das Falkenauge der Wilden beruht daher wohl mehr auf der feinen Schulung der Aufmerksamkeit für ferne bewegliche Objekte, die dem meist in Gedanken versunkenen Europäer entgehen.
Gewiß wäre es von großer Wichtigkeit, auf dem bezeichneten Wege die wirkliche Sehleistung aller deutschen Soldaten und Schulkinder kennenzulernen. Ich habe schon im November 1896 eine Eingabe zunächst an das preußische Kriegsministerium gerichtet. Der Herr Kriegsminister von Goßler antwortete mir aber, daß dienstliche Erwägungen die Ausführung zur Zeit unthunlich erscheinen ließen. Daß anderwärts dienstliche Erwägungen die Prüfungen nicht hinderten, beweisen die Untersuchungen, welche zwei bayrische Militärärzte in Neu-Ulm und in München, durch meine Helgoländer Untersuchungen angeregt, und einige Regimentscommandeure in Preußen mit meiner Tafel in diesem Jahre vorgenommen haben.
Stabsarzt Seitz prüfte 468 Artilleristen in Neu-Ulm und fand sogar bei 95% derselben übernormale Sehschärfe, und zwar bei 87% zwei- bis dreifache Sehschärfe. Generalarzt Seggel ließ 930 Artilleristen in München im Freien prüfen und fand 92% übernormal, bei 51% doppelte Sehschärfe, bei 4 Mann dreifache und einmal sogar Sehschärfe 19/6. Als er aber mit Buchstabenproben untersuchte, hatten nur 27% doppelte Sehschärfe. Die Haken werden also weiter erkannt als gleich große Buchstaben.
Sehr interessant ist auch der Vergleich, den Seggel jetzt mit seinen Befunden aus dem Jahre 1873 aufstellt. Damals hatten von 1560 Soldaten 56% übernormale, jetzt dagegen 92% übernormale Sehschärfe. Die Ursache dieser Besserung findet Seggel wohl mit Recht in den seit damals viel besser gebauten Schulen, in den hellen Zimmern der Schulen, und er dringt mit Recht auf die splendideste Tages- und künstliche Beleuchtung aller Schulen, Arbeitsräume, Bureaus, Comptoirs etc.
Generalarzt Seggel hat auch neuerdings die sehr wichtige Thatsache beobachtet, daß infolge der besseren Verhältnisse der Augenhygieine in den untersuchten Münchener höheren Schulen die Kurzsichtigen, trotzdem sie ihre Augen viel anstrengen mußten, Verbesserung ihrer Sehschärfe erfahren haben.
Daß Verbesserung der Sehschärfe sogar bei den höchsten Graden von Kurzsichtigkeit vorkommen kann, wenn die Linse durch Operation entfernt wird, habe ich schon im Jahre 1896 in Halbheft 27 der „Gartenlaube“ in meinem Aufsatze „Die operative Heilung der Kurzsichtigkeit“ mitgeteilt.
Ich ersuchte auch den preußischen Unterrichtsminister, Herrn Dr. Bosse, im vorigen Winter, daß er eine Prüfung aller preußischen Schulkinder in Bezug auf ihre Sehschärfe veranlassen möge. Der Herr Unterrichtsminister antwortete mir, daß der Anregung zur Zeit so erhebliche Hindernisse entgegenstehen, daß er einstweilen von einem weiteren Vorgehen noch Abstand nehmen müsse; doch solle die Angelegenheit immerhin im Auge behalten werden.
Es ist natürlich bedauerlich, daß die von mir geplante große Enquete nicht officiell in Preußen angeordnet wird. Ich muß immer wieder betonen, daß sie weder Kosten noch Mühe verursacht, daß jeder Lehrer, jeder Unteroffizier sie auf dem Turnplatze oder auf dem Exerzierplatze in einer Minute vornehmen kann, und daß also weder der Unterricht, noch der Dienst durch sie gestört wird. Das Ziel ist nicht allein von hohem ethnographischen, sondern auch von zweifellos praktischem Interesse für die Beurteilung der Wehrhaftigkeit der deutschen Jugend.
Jeder Leser kann übrigens leicht mit den 16 Haken, die
[665][666] hier in Fig. 5 gedruckt sind, nach dem oben beschriebenen Modus in einer Minute seine eigene Sehleistung und die seiner Familienmitglieder feststellen.
Während dieser Aufsatz für den Druck vorbereitet wurde, ist es mir erfreulicherweise gelungen, die Breslauer Lehrerschaft für die Aufgabe zu interessieren. Da auch der hiesige Magistrat und fast sämtliche Schuldirektoren in dankenswerter Weise gestatteten, daß alle Lehrer auf dem Turnplatze während der Turnstunden mit meiner kleinen Tafel ihre Schulkinder prüfen dürfen, so werde ich in der Lage sein, über die Befunde bei 40- bis 50 000 Breslauer Schulkindern zu berichten. Ohne den Endresultaten vorgreifen zu wollen, kann ich schon heute mitteilen, daß nach den Ergebnissen bei den ersten Tausenden von Kindern sich meine Vermutung bestätigt hat, indem auch hier in Breslau 50% der Volksschüler eine ein- bis zweifache, 32% eine zwei- bis dreifache und 3% eine drei- bis vierfache Sehleistung aufwiesen.
Wir werden also über die Sehschärfe der Wilden nicht so sehr zu staunen brauchen.
Am 12. Oktober 1798 fand im Weimarischen Hoftheater das lebensprühende Vorspiel zu Schillers Wallensteintragödie die erste Aufführung. So jährt es sich nunmehr zum Hundertstenmal, daß das lustbewegte Bild deutschen Soldatenlebens, in welchem die Zeit des Dreißigjährigen Krieges sich so farbenecht spiegelt, erstmals in Scene ging, daß die köstlichen Knittelreime der Kapuzinerpredigt und die mutvollen Klänge des Reiterlieds mit dem Reiz völliger Neuheit auf ein Publikum wirkten.
„Wallensteins Lager“ ist Schillers humoristischste Schöpfung; in Bezug auf dramatisches Temperament bezeichnet es den Höhepunkt seines Schaffens, wie ja der ganze Wallenstein anerkanntermaßen das größte und vollendetste ist, was Schiller für die Bühne gedichtet hat. Dies wäre schon Anlaß genug, den hundertjährigen Gedenktag dieses Theaterabends festlich zu begehen. Die Aufführung fand aber unter so bedeutsamen Umständen statt, daß der Rückblick auf sie für jeden idealgesinnten Deutschen die stolzesten Erinnerungen weckt.
Mit der Erstaufführung von „Wallensteins Lager“, welcher der berühmte Prolog Schillers vorausging, leiteten Goethe und Schiller ihre gemeinsame Thätigkeit an der Hofbühne Weimars ein, die von grundlegender Bedeutung für das klassische Repertoire des gesamten deutschen Theaters wurde. Der Erfolg dieses Abends und der im Winter folgenden Erstaufführungen der „Piccolomini“ und von „Wallensteins Tod“ bewirkten Schillers Entschluß, sein Leben hinfort der Bühnendichtung zu widmen, der er sich seit Vollendung des „Don Carlos“ entfremdet hatte und der er nun bis zu seinem Tode treu blieb. In dem kurzen Zeitraum von sechs Jahren entstanden jetzt „Maria Stuart“, „Die Jungfrau von Orleans“, „Die Braut von Messina“, „Tell“ und das Fragment des „Demetrius“. Jener Erfolg bewog ihn auch, von Jena ganz nach Weimar überzusiedeln, um als Dramaturg dem ihn in inniger Freundschaft verbundenen Goethe in seinem siegreichen Bemühen zu unterstützen, das Weimarische Hoftheater zu einer weithin wirkenden Musterbühne im Sinne ihres klassischen Kunstideals zu machen.
Mit der Erstaufführung von „Wallensteins Lager“ eröffnete Goethe zielbewußt diese neue Aera, die Shakespeare und Lessing ebenso zu gute kam wie seiner und Schillers Dichtung. Als er 1791 die Leitung des Theaters übernahm, sah er sich an den herrschenden Geschmack gebunden, und dieser Geschmack war im Publikum wie bei der Mehrzahl der Schauspieler auf die Darstellung des Alltäglichen und auf rohen Naturalismus gerichtet. Auch die von ihm geschulten Künstler zeigten sich lange Zeit unfähig, Dramen von rhythmischem Stil, wie seine „Iphigenie“, seinen „Tasso“, zu spielen. Mit unsäglicher Mühe gelang es ihm, allmählich eine Truppe heranzubilden, die sich solchen Aufgaben gewachsen zeigte. Der Freundschaft mit Schiller verdankte er dabei die wertvollsten Anregungen. Während beide Dichter im regen Verkehr miteinander freudig sich der Gemeinsamkeit ihres Zieles in wachsendem Maße bewußt wurden, während sie in befruchtendem Wetteifer auf dem Gebiet der Ballade ihr Reifstes und Schönstes schufen, stand ihnen die Bühne als höchste Etappe für ihren Siegeslauf immer vor Augen. Goethes ermunternder Zusprache war es zu danken, daß Schiller den schon 1791 ins Auge gefaßten Wallensteinstoff im Herbst 1797 energisch aufnahm, wobei er die in Prosa begonnene Gestaltung aufgab und nach dem Muster von Shakespeares historischen Dramen an die Ausführung des Werkes in Jamben ging. In dem „Musenalmanach“ für dasselbe Jahr hatten sie beide vereint gegen die Herrschaft der Banalität in der Litteratur den Kampf aufgenommen, dessen Waffen die „Xenien“ waren. Hier hatte Schiller den Schatten Shakespeares beschworen und dessen Fragen nach dem Stand der deutschen Bühne mit ironischen Ausfällen auf die sie beherrschenden Günstlinge der Mode beantwortet, vor allem auf Kotzebue. Heftig hatten die Angegriffenen erwidert. Für Schiller und Goethe aber waren der Worte genug gewechselt, jetzt sollten Dichterthaten den Kampf entscheiden. Goethe hatte die günstige Gelegenheit des neuen Schloßbaus in Weimar, den der Stuttgarter Thouret ausführte, benutzt, durch diesen auch den Innenraum des Theaters in künstlerischem Geschmack neu herstellen zu lassen. Die Eröffnung des neuen säulengetragenen Saals gab den Dichtern den Vorwand, auch im Sinn ihrer hohen Pläne von dem Beginn einer neuen Aera zu reden. Schiller that dies in dem Prolog, der dem „Lager“ vorangeschickt wurde und welcher seitdem ein laut zeugendes Denkmal der Bedeutung des 12. Oktobers 1798 in der Litteratur- und Bühnengeschichte unserer Nation geblieben ist …
„Die neue Aera, die der Kunst Thaliens
Auf dieser Bühne heut beginnt, macht auch
Den Dichter kühn, die alte Bahn verlassend,
Euch aus des Bürgerlebens engem Kreis
Auf einen höhern Schauplatz zu versetzen,
Nicht unwert des erhabenen Moments
Der Zeit, in dem wir strebend uns bewegen.
Denn nur der große Gegenstand vermag
Den tiefen Grund der Menschheit aufzuregen;
Im engen Kreis verengert sich der Sinn,
Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken.
Und jetzt an des Jahrhunderts ernstem Ende,
Wo selbst die Wirklichkeit zur Dichtung wird,
Wo wir den Kampf gewaltiger Naturen
Um ein bedeutend Ziel vor Augen sehn
Und um der Menschheit große Gegenstände,
Um Herrschaft und um Freiheit, wird gerungen,
Jetzt darf die Kunst auf ihrer Schattenbühne
Auch höhern Flug versuchen, ja sie muß,
Soll nicht des Lebens Bühne sie beschämen.
Zerfallen sehen wir in diesen Tagen
Die alte feste Form, die einst vor hundert
Und fünfzig Jahren ein willkommner Friede
Europens Reichen gab, die teure Frucht
Von dreißig jammervollen Kriegesjahren.
Noch einmal laßt des Dichters Phantasie
Die düstre Zeit an euch vorüberführen,
Und blicket froher in die Gegenwart
Und in der Zukunft hoffnungsreiche Ferne!“
Die letzteren Verse vergegenwärtigen uns die politische Bedeutung unseres Gedenktags; doch nicht nur durch den Hinweis auf den Westfälischen Friedensschluß vor damals hundertundfünfzig Jahren. Nirgends hat sich Schillers hohes Nationalgefühl unmittelbarer ausgesprochen als im „Wallenstein“. Aus seiner Seele stammte der große patriotische Zug in dem düsteren Charakter seines Helden, daß dieser sich gegen seinen Kaiser auflehnt um der Wohlfahrt des Reiches willen. Ein kampfbereites, dem Führer vertrauendes Heer wie das Wallensteins, aber der Führer einig mit dem Staatsoberhaupt: das war das Hoffnungsbild, welches aus Schillers Dichtung der Nation erwuchs, während die Schwäche der deutschen Diplomaten das linke Rheinufer den Franzosen preisgab und das Siegesgestirn Bonapartes mit drohendem Schein über Deutschland aufging. Als 1813 die deutsche Jugend, [667] die Heldengestalt des Max Piccolomini im Herzen, sich waffenfroh um den „Marschall Vorwärts“ scharte, ging Schillers Dichterprophetie aufs herrlichste in Erfüllung.
Eine feine Ironie Goethes war es, daß er an dem Eröffnungsabend dem Prolog und dem „Lager“ ein schwaches Schauspiel von Kotzebue, „Die Corsen“, vorausgehen ließ, dessen konventionelle Theatereffekte in grellem Kontrast zu Schillers Dichtungen standen. Der glänzende Erfolg, den diese in dem dichtbesetzten Haus davontrugen, ist von allen bezeugt, die über den denkwürdigen Abend berichtet haben. Goethe selbst bedachte in einem Briefe, den er in Cottas „Allgemeiner Zeitung“ veröffentlichte, die Schauspieler mit hohem Lob wegen der ausdruckvollen Natürlichkeit, mit der sie die Verse gesprochen hatten. Besonders rühmte er Vohs, der den Prolog in der Kürassieruniform vortrug, in welcher er später in den „Piccolomini“ als Max zu erscheinen hatte. Im „Lager“ spielte Beck den Bauer, seine Frau die Marketenderin, Weyrauch den Wachtmeister, Leißring den ersten, Becker den zweiten Jäger, Genast den Kapuziner, Haide den Kürassier. Am Schluß hob Goethes Bericht besonders hervor, daß die Kostüme nach Abbildungen zugeschnitten waren, die aus damaliger Zeit herstammten.
Als ein künstlerisches Gedenkblatt an den bedeutungsvollen Theaterabend ist der alte Kupferstich auf uns gekommen, der sich auf S. 653 verkleinert wiedergegeben findet. Er stellt das heitere Wiedersehen des langen Peters aus Itzehoe mit der Gustel aus Blasewitz dar und läßt im Hintergrunde bereits den Kapuziner erscheinen, der gleich in den übermütigen Lagerlärm mit seinem höhnischen „Heisa, juchheia!“ hereinplatzen wird. Die Mitteilung des interessanten Kunstblatts verdankt die „Gartenlaube“ auf Befragen dem Direktor des Großherzoglichen Museums in Weimar, Dr. C. Ruland. Der kolorierte Stich stammt von dem Weimarer Kupferstecher C. Müller und ist nach einem Aquarell des Malers Georg Melchior Kraus ausgeführt worden, der im November 1806 in Weimar verstarb. Kraus war wie Goethe ein geborener Frankfurter; er bildete sich unter H. Tischbein, besuchte darauf 1761 Paris, wo Greuze und Boucher auf ihn einwirkten. 1774 traf er in Ems mit Goethe zusammen, der Interesse an seinen Aufnahmen der Lahngegenden fand. Durch Goethes Vermittelung kam er 1776 nach Weimar, wo er in Diensten Karl Augusts die Zeichenakademie gründete. Ruland hat nicht den geringsten Zweifel, daß Kraus die Scene auf unserem Bild so dargestellt hat, wie sie auf der Weimarischen Bühne eingerichtet war. Der Müllersche Stich wurde, wie Ruland weiter mitteilt, populär: er findet sich noch heute eingerahmt und verräuchert in manchem alten Hause. Das Bühnenbild des Dichters aber ersteht immer aufs neue auf unseren Theatern in jugendlicher Frische und wirkt auf die heutige Generation noch mit derselben Kraft wie auf die Zuschauer vor hundert Jahren. J. F.
(6. Fortsetzung.)
„Kolonie Josephsthal, im Mai 189..
Ach, Maria, daß ich die Feder in die Hand nehmen muß, wenn ich zu Dir will, anstatt mich neben Dich zu setzen, Deine liebe Hand festzuhalten und in Deine guten, geliebten Augen zu blicken, die alles verstehen, das Ausgesprochene und – das Unausgesprochene!
Dennoch ist’s ein Trost für mich, zu wissen, daß für mich solch ein liebender, geliebter und verständnisvoller Mensch auf der Welt lebt, daß ich ihn habe, wenn ich auch nicht bei ihm sein darf. Du schreibst so glücklich, so dankerfüllt, daß Gott Dir Deine Else gelassen, die dicht, ganz dicht am Rand des Grabes geschwebt – da will ich mit Dir mich freuen und danken und nicht an mich und meine egoistischen Wünsche denken.
Du willst so vieles wissen, Maria, und Du hast auch ein Recht dazu! Systematisch vorgehen – das kann ich nicht, aber so schreiben, ganz so, als redete ich mit Dir, ja, das kann ich und das will ich auch.
Zunächst das eine Hauptsächliche: das Geheimnis, den Tod meines Vaters betreffend. Nein, Liebste, es ist kein Licht hineingekommen, und wer weiß, ob es jemals geschieht! Ich für meine Person bezweifle es! Korty, Du weißt, der Geheimpolizist, hat wohl vor kurzer Zeit, wie mir Ueberweg sagte, eine Spur gehabt und sie eifrig verfolgt, aber umsonst. Auch Ueberweg ist jetzt der Ansicht, daß wir schwerlich des Mörders habhaft werden würden. – – –
Von Frau von Sperber möchtest Du Näheres wissen – ich kann nur Gutes von ihr berichten. Eine Freundin, eine Vertraute, wie Du es mir bist, wird und kann sie mir niemals werden, aber den Posten, den sie übernommen hat, füllt sie zu voller Zufriedenheit aus; sie ist eine liebenswürdige und gebildete Dame mit feinen, verbindlichen Formen und hat mich offenbar ebenso gern wie ich sie. Wie gut sie zu repräsentieren versteht, das habe ich vor einigen Tagen bei der ersten Gelegenheit, die sich dazu bot, erfahren. Eine Dame aus der Nachbarschaft, Gräfin Versing, stattete mir mit ihren beiden Söhnen, Offizieren, die des öfteren auf Urlaub bei ihr sind, einen Besuch ab. Ich nahm den Besuch an, ließ drei von den Direktoren mit ihren Gattinnen – der vierte ist Witwer – samt den Ingenieuren, Justizrat Ueberweg und meinem Vetter Raimund Hagedorn dazu bitten – daß Cecil dabei war, versteht sich von selbst. Es war höchste Zeit, die Beamten einmal einzuladen. Ich hatte, da es ein sehr warmer Tag war, im Gartensaal servieren lassen. Für die verschiedenen Elemente den richtigen Ton zu finden, war nicht ganz leicht, aber die Majorin traf ihn vorzüglich, und ich hoffe, ich habe mich gleichfalls passend benommen. Die erste Gesellschaft ohne meine Maria! Wie ich an Dich dachte, immer mit dem Zusatz: würde sie das gut heißen? –
Die Gräfin ist zu mir von wahrhaft beängstigender Freundlichkeit, die ihre ganz bestimmten Gründe hat. Sie scheint sehr adelsstolz zu sein; mein nagelneuer Adel und meine Fabrikherrlichkeit können ihr nicht imponieren, desto mehr thut dies wohl – mein Geld. Sie wünschte ganz und gar Beschlag auf mich zu legen, aber die Herren Beamten samt Gemahlinnen haben auch ihren Stolz und wollen sich um alles in der Welt nicht vernachlässigt oder zurückgesetzt vorkommen – da hieß es lavieren! Frau von Sperber umschiffte diese Klippen mit Takt und Geschick, sie wurde Allen gerecht, und ich meine, die Gesellschaft hat bei jedem einen guten Eindruck hinterlassen. Die Herren Grafen von Versing, Wolfram und Eginhard, sind flotte, schneidige Gardeoffiziere, die mit vollen Segeln ins Zeug gingen, mir den Hof zu machen. Mit Cecil verkehrten sie in einer ganz achtungsvollen Manier, der „reiche Engländer“ flößte ihnen einigen Respekt ein – über Hagedorn wollten sie einfach zur Tagesordnung übergehen, aber das gelang ihnen nicht. Ohne eine Spur von Absichtlichkeit, ohne hervorzutreten in irgend einer Weise, wußte er sich zur Geltung zu bringen und seine Stellung als Gast meines Hauses und mein Vetter – ich stelle ihn stets als solchen vor – so zu behaupten, daß ich meine innerliche Freude daran hatte. Die Herren Grafen änderten ihren Ton und ihr Benehmen, aber Raimund, dessen Erscheinung man überhaupt nicht übersehen kann, war ihnen offenbar äußerst unbequem.
Wir hatten auch Musik an meinem Gesellschaftsabend. Die Frau des einen der Direktoren singt recht hübsch, sie ist noch jung, ich glaube, sechs- oder siebenundzwanzig Jahre, hat im Berliner Konservatorium ihre Studien gemacht und Konzertsängerin werden wollen, es dann aber doch vorgezogen, sich zu verheiraten. Mein Vetter Hagedorn begleitete so wunderschön, daß man ihn von allen Seiten bestürmte, etwas vorzutragen, zumal seine musikalische Begabung hier in der Kolonie Josephsthal kein Geheimnis geblieben ist. Er ließ sich aber nicht erweichen – erst als ich kam und ihn bat, gab er nach, noch dazu ungern, wie ich überzeugt bin. Er spielte die Berceuse von Chopin und eine sehr reizvolle Tarantella, ich glaube, sie war von Liszt; zu [668] weiteren Vorträgen ließ er sich, trotz stürmischen Beifalls, nicht herbei. Wie er spielte? Es läßt sich nicht schildern, und nur zwei Empfindungen waren es, die mir nachträglich kamen: die erste war die, daß ich seine Abneigung gegen den ihm vom Schicksal aufgezwungenen Beruf ganz begriff, die zweite war der brennende Wunsch, die ganze übrige Gesellschaft, alle, ja alle ohne Ausnahme, vor die Thür zu setzen, um dies einzig geartete Spiel voll auf mich wirken und ungestört in mir ausklingen lassen zu können. ,Sehr gastfrei und human,‘ wirst Du sagen, aber daran dachte ich natürlich in dem Augenblick nicht!
Ich hätte eben von drei Wirkungen sprechen müssen, die dies Spiel auf mich ausübte – die dritte war jedenfalls die folgenschwerste. Sie brachte mich zu dem schon seit längerer Zeit in mir schlummernden, jetzt aber feste Gestalt annehmenden Entschluß, ihm, der so schwer gekämpft und gelitten hat, der täglich noch kämpft und leidet, helfen, thatkräftig helfen zu wollen. Ich habe Dir Raimunds Lebensgeschichte in flüchtigen Umrissen skizziert, man muß ihn aber selbst kennen und sprechen – – – man muß ihn vor allen Dingen spielen hören, um ihn ganz zu verstehen. Ich kann nicht vor ihn hintreten und ihm sagen: „Ich will für Deinen alten Vater sorgen, bis Du selbständig bist in Deiner Kunst, und ich will Dir die Mittel geben, daß Du dies Ziel erreichst!“ – Er würde das nie annehmen, kaum von seinem besten Freund, geschweige denn von einer Dame.
Daher muß ich versuchen, ein wenig Schicksal zu spielen: ich habe einen Plan, eine Idee – weiß noch nicht, ob sie sich realisieren läßt; ich sende aber diesen Brief an Dich nicht früher ab, als bis ich Dir über irgend ein wenn auch noch so geringfügiges Resultat, und wäre es das erste kleine Glied einer langen Kette, berichten kann.
Von Vetter Cecil und von Oberingenieur Harnack soll ich Dir auch mehr erzählen! Gute Seele, seit wann bist Du denn dem Wahn verfallen, es müßten sich alle Männer in mich verlieben? Das war doch früher in Frankfurt nicht, im Gegenteil, Du hast dort für notwendig gehalten, mich sehr oft vor Einbildungen zu warnen, und gebeten, mich nicht beständig als Prinzeß Turandot zu fühlen. Du denkst wohl, weil hier kein junges weibliches Wesen ist, das weiter in Betracht kommen könnte, müßte mir die allgemeine Verehrung zu Füßen gelegt werden! Bitte sehr, Frau Maria! Kolonie Josephsthal hat weibliche Wesen aufzuweisen, noch dazu junge und hübsche, die sich recht gut neben Deiner ,Aeltesten‘ sehen lassen können! Scherz beiseite, ein paar von den Direktoren haben Töchter, die wohl einem Mann gefallen mögen, und wenn also Vetter Cecil und Herr Harnack wollten –
Uebrigens, mit Vetter Cecil hat’s keine Gefahr! Der will entschieden nicht, weder mich, noch sonst irgend ein hiesiges Mädchen. Hat er sein Herz in England gelassen, oder hat er überhaupt keines, das sanfteren Regungen zugänglich wäre …. hundert Jahre könnten wir zusammen leben (Gott bewahre uns beide davor!), ohne daß unsere Herzen auch nur einen wärmeren Schlag thäten!
Aber ich will nicht undankbar sein! Der gute Cecil steht trefflich der Kolonie Josephsthal vor – was finge ich an ohne ihn? Wie er sich zu den Arbeitern stellt, das bekomme ich nicht heraus – er spricht nicht darüber, und auch die Beamten sind vorsichtig in ihrem Urteil; ich mag sie auch nicht geradezu ausforschen. Daß unsere Leute in der Kolonie Josephsthal nicht schlecht gestellt sind, daß sie, bei vernünftigem Lebenswandel und wenn das Unglück sie verschont, bestehen können mit dem, was sie verdienen, das, Liebste, hab’ ich einsehen gelernt, und es ist mir, wie Du Dir sagen wirst, ein großer Trost. Für schlimme Ausnahmefälle muß freilich noch besser vorgesorgt werden, und das soll geschehen!
Reg’ Dich nicht auf und ängstige Dich nicht, Maria, wegen des anonymen Briefes – ich wollte, ich hätt’ Dir nichts davon geschrieben, aber Du weißt, ich kann Dir nichts verschweigen. Nein, ich habe kein weiteres derartiges Schreiben mehr bekommen! Ob mich der Inhalt des damaligen Briefes nicht verstört und nervös gemacht hat, willst Du wissen? Gar nicht, Liebste! Oder doch nur in der ersten halben Stunde. Kalt’ Blut und seinem Stern vertrauen, ist meine Devise. Du kannst deshalb ruhig sein – ich bin nicht tollkühn, nicht einmal leichtsinnig; ich reite oder fahre nie mehr allein aus, und selbst auf meinen Wanderungen durch den Park begleitet mich ein großer schottischer Wolfshund, den Vetter Hagedorn in meinem Auftrag für mich hat kommen lassen; er heißt ,Rebell‘, macht aber, wenigstens mir gegenüber, seinem Namen keine Ehre, sondern hat sich wunderbar rasch an mich gewöhnt. Ich bin ganz gern mit Rebell allein. Oft überkommt mich jetzt etwas, das ich in Frankfurt eigentlich nie gekannt habe: das Lebensgefühl möchte ich es nennen, aber so erhöht und so gesteigert, daß es deutlich ins Bewußtsein tritt. Die Empfindung, jung und gesund und thatkräftig zu sein, giebt mir ein schwellendes Kraftgefühl, stolz und dankbar zugleich. Ich nehme es nicht hin, wie etwas, das sein muß, worauf ich Anspruch habe, im Gegenteil, ich sehe eine Bevorzugung darin! In Frankfurt bin ich doch auch jung und gesund gewesen, aber ich habe es nicht so intensiv empfunden wie hier, trotz alles Schweren und Traurigen, das ich kürzlich erlebt. Es muß das Landleben sein, der innige Zusammenhang mit der Natur, den ich bisher nie erfahren habe, und nun dieser – dieser einzig schöne Frühling!
Wenn ich mit Cecil rechne oder ihm meine Aufgaben vorlese, wie blick’ ich dann sehnsüchtig über sein wohlzugestutztes Engländerhaupt hinüber durchs geöffnete Fenster in meinen geliebten Park, dessen frisch ergrünte Wipfel mir wie mit Händen zu winken scheinen! Er ahnt nichts von solchen Gedanken, der vortreffliche Vetter, und wenn er es thäte, würde er sie für ,deutsch durch und durch‘ halten. Daß er einen ähnlichen Hinweis auf seine und meine Person im Nachlaß meines Vaters gefunden hat, wie ich ihn fand, davon bin ich überzeugt. Wenn wir gelegentlich unter vier Augen sind – es geschieht fast nie, denn bei den Unterrichtskursen ist jetzt auch immer Frau von Sperber, die etwas profitieren möchte, dabei! – merke ich manchmal, daß er mit dem Entschluß ringt, mir irgend etwas zu sagen, was ihm peinlich ist und schwer fällt. Daß aber dies ,Etwas‘ keine Liebeserklärung ist, dafür lege ich getrost meine Hand ins Feuer!
Anders und viel bedenklicher steht es freilich mit dem andern, nach dem Du Dich so teilnehmend erkundigst – mit Harnack! Ich habe einen durch vielfache Erfahrung geschärften Blick in gewisser Beziehung, und so wußte – fühlte ich es in den ersten fünf Minuten unseres Beisammenseins: hier ist eine Leidenschaft für Dich vorhanden! Sie ist seitdem gewachsen und nimmt zuweilen eine besorgniserregende Gestalt an. Der Mensch ist wie ein Vulkan, dessen Glut mit äußerster Gewalt niedergehalten wird. Ich schrieb Dir, daß er und Vetter Hagedorn sich, solange sie geschäftlich miteinander in unvermeidliche Berührung kamen, beständig rieben und reizten, daß Harnack sehr eigenmächtig vorgegangen war. Ich schrieb Dir auch, daß ich meine Mißbilligung seiner Handlungsweise ihm gegenüber nicht zurückhielt und daß ihm, bei seinem raschen, heißen Temperament und seinem stark entwickelten Selbstbewußtsein, die Kündigung schon auf den Lippen schwebte … und er sie dennoch nicht aussprach, weil ich es ihm angethan habe und er keine Trennung von mir ertragen würde. Ich sah das alles – mußte es sehen, und kann nicht umhin, den Mann, der mir von allen Seiten so gerühmt wird, der sich und seine ungewöhnliche Intelligenz und Tüchtigkeit so ganz in meine Dienste stellt und mir Vorteile und Ansehen mehren hilft, zu bedauern. Aber mehr nicht, Maria! Von Mensch zum Menschen spricht nichts bei mir für ihn, ich fühle mich immer unbehaglich in Harnacks Nähe, und – ich kann es nicht ändern – diese dunklen Augen, die oft mit einem so unverhohlen begehrlichen Ausdruck auf mir ruhen, beleidigen mich geradezu. – – –
Die zwei feindlichen Mächte, Raimund Hagedorn und der Oberingenieur, sind jetzt räumlich und auch sonst getrennt, ein Zusammenstoß mithin ausgeschlossen, und bei meiner Abendgesellschaft grüßten sie einander, als gebildete Männer, die sie sind, mit kalter Höflichkeit, um sich weiterhin konsequent zu meiden … dennoch merkte ich, wie Harnack unausgesetzt den Beobachter spielte, und namentlich, als Raimund am Flügel saß, fing ich einen Blick auf, der mich innerlich erzittern ließ! Ich bin sehr auf meiner Hut in meinem Benehmen, dem Ingenieur gegenüber, immer höflich und von gleichmäßiger Freundlichkeit, nie eine Spanne darüber; er wäre ein Narr, wenn [669] er aus diesem meinem Verhalten auch nur die leiseste Hoffnung schöpfen wollte.
,Aber,‘ höre ich Dich fragen, ,Kind, wo bleiben denn über all diesem Deine Reformpläne, Deine Ideen, Dich allmählich, nicht nur in die Maschinen-, nein, auch in die Menschenwelt, die Dich umgiebt, hineinzuleben, den Leuten, die Dir Deinen Reichtum schaffen helfen, näherzutreten?‘ – Geduld, verehrte Pflegemutter, Schwester, Freundin, Ratgeberin und Moralistin, es kommt alles! Und wenn dieser Brief ein wahres Aktenstück wird – ich schreibe schon den dritten Tag daran! – so ist niemand anderes schuld als Du mit Deinen vielen Fragen!
Also, ich hatte mir’s ausgedacht, ich wollte den Kindern der Fabrikleute, Maschinisten, Heizer, Monteure und so weiter, zu Pfingsten ein Fest im Freien geben. Bei meinen Herren Beamten war dieser Plan auf vielen Widerspruch gestoßen. Mir that es sehr leid, ich hatte die Idee so hübsch gefunden, war auch noch gar nicht willens, sie gleich aufzugeben. So habe ich mit Raimund Hagedorn darüber gesprochen, und der, wie das so seine Art ist, war ganz Enthusiasmus dafür, was mir natürlich wohlthat. Er sagte mir seine Hilfe zu, die Majorin gewannen wir auch noch, und nun setzten wir mit allem Eifer die Sache ins Werk. Ach, es that mir so wohl, einmal nichts von ‚Vernunft‘ und ‚Prinzip‘, von ‚Konsequenzen‘ und Bedenklichkeiten zu hören und einmal mit meinem Gelde schalten und walten zu können, ohne daß mir mißbilligende Moralisten auf die Finger sahen und mir die Hände festhielten!
Im Gartensaal, dessen Flügelthüren sämtlich zurückgeschlagen waren, wurden die langen, weißgedeckten Tafeln aufgestellt – nein, Maria, ich habe solche Gebirge von Pfannkuchen, Schüsseln und Schüsseln voll, solche gewaltige Massen von Kuchenschnitten und Zuckerbrezeln noch in meinem Leben nicht bei einander gesehen – und die Kaffeekessel, die hereingebracht wurden! Punkt drei Uhr traten meine Gäste an – vom halbwüchsigen Jungen, der schon einen ,Diener‘ riskierte, bis zum unsicher wackelnden Flachskopf, den der ,große‘ Bruder oder die ,große‘ Schwester an der Hand führte. Unsere Hausmädchen halfen, die Diener, Françoise, die erwachsenen Direktorstöchter, Vetter Hagedorn, die Majorin, ich – alle aber, daß ich die Wahrheit sage, mit freundlichen, lachenden Gesichtern, alle bemüht, es den kleinen Gästen heimisch zu machen, sie zum Zulangen zu ermuntern. Für die Kleinsten wurden gewaltige Töpfe voll frischer, süßer Milch herbeigeschleppt, und nun ging auf dem großen, freien Platz, der dicht beim Gartensaal liegt, die Bewirtung los. Sehr manierlich griffen die größeren Kinder zu, gar nicht gierig, sie sorgten sogar ganz verständig für ihre kleinen Geschwister. Sauber gekleidet und gekämmt waren sie alle, manche sogar zierlich und nett.
Ich bin, nachdem meine Kuchenberge verschwunden und die Kaffeekessel geleert waren, zwischen den Kindern umhergegangen und habe versucht, Bekanntschaft zu machen. Das war nicht leicht, und ich wüßte nicht, was ich ohne Raimund hätte anfangen sollen. Er hat eine Art, mit diesen Kindern umzugehen, eine Geschicklichkeit, ihren Ton zu treffen, eine Frische und Heiterkeit im Verkehr mit der kleinen Gesellschaft, daß es zum Staunen ist. Zu ihm haben sie alle Vertrauen, auch die schüchternen und wortkargen! Wir zogen nun zum Spielen auf die große Waldwiese, die unmittelbar an den Park stößt, hinaus und veranstalteten hier allerlei Belustigungen: Wettrennen, Sacklaufen, Topfschlagen, da mußte er überall helfen. Einige von den Müttern hatten sich eingefunden und sahen aus einer kleinen Entfernung zu, indem sie sich gegenseitig auf ihre Sprößlinge aufmerksam machten. Ich ging zu ihnen heran und bat sie freundlich, näher zu kommen; sie weigerten sich anfangs bescheiden, als ich aber betonte, sie könnten mir wirklich helfen, mischten sie sich unter die Kinder.
Später erschienen ein paar Musikanten, es wurde auf der Waldwiese getanzt, wobei mehr der gute Wille als die Geschicklichkeit zu bewundern war – dann neue Kuchengebirge, Butterbröte, Milch, Limonade, Honigkuchen zum Mitnehmen, und schließlich paarweises Abmarschieren der Gesellschaft unter Vorantritt der Musikanten. Ich versichere Dich, wir waren alle schachmatt, als das kleine Volk verschwunden war, aber die Genugthuung hatte ich wenigstens: gelungen war alles, und die Kinder sind froh und befriedigt mit ihren Schätzen heimgegangen.
Sieh. das war mein Anfang, mein erster Versuch, für die neue Welt, in die ich eingezogen bin, zu wirken, und ich denke immer, es ist kein schlechter Einfall von mir gewesen, daß ich just mit den Kindern begann. Dadurch habe ich mir viele Mütter gewonnen, und das ist für mich von großem Wert. – – –
Zwei Tage später. Ich habe den Brief liegen lassen müssen, weil ich inzwischen den ersten Schritt zur Ausführung des Planes, von dem ich Dir schrieb, gethan habe.
Vetter Hagedorn hatte sich von seinem Chef – das bin also ich! – einen dreitägigen Urlaub erbeten, um zum Musikfeste nach Stettin zu fahren, und ich hatte ihm denselben huldvollst bewilligt. Mit seinem ,direkten Chef‘, dem Direktor von der Oelmühle, hatte ich zuvor gesprochen, und dieser joviale ältere Herr legte dem Vorhaben seines neuen Buchhalters keine Schwierigkeiten in den Weg.
Mir war Raimunds Abwesenheit sehr willkommen. Ich wollte sie benutzen, seinen Vater kennenzulernen. Ich hatte mir das lange schon gewünscht und auch mit ihm darüber gesprochen. Aber er wollte es offenbar nicht haben. Nun, ich hatte mir die Idee in den Kopf gesetzt, es sollte dazu kommen, und kaum war vorgestern der Zug, der den Vetter nach Stettin bringen sollte, abgedampft, als ich nach Greifswald fuhr.
Einen ganz festen Plan hatte ich dabei noch gar nicht. Jedenfalls aber hoffte ich, auf diesem Wege meinem Ziel näher zu kommen.
[670] Ich fuhr ganz wohlgemut mit meinem Einspänner in den bildschönen Frühlingstag hinein und legte mir gar nichts von dem zurecht, was ich etwa zu dem alten Herrn sagen wollte. Das mußte alles der Augenblick mit sich bringen!
Wie der Wagen endlich in Greifswald vor einem graugestrichenen, etwas engbrüstigen Hause hält, wird mir doch etwas beklommen zu Mute – was soll ich denn eigentlich sagen? Nur: ,Hier bin ich und will Sie kennenlernen?‘
Eine freundliche, sehr gesprächige Frau in einer großen gestreiften Wirtschaftsschürze nimmt mich in dem kühlen, dämmerigen Hausflur in Empfang, und ich frage nach Herrn Hagedorn. Der sei vor knapp zehn Minuten ausgegangen, aber er müsse bald wiederkommen, und ob ich nicht unterdessen hinaufspazieren wolle?
Ich bin dann wirklich ,hinaufspaziert’, und die Gute schickte sich an, mich zu begleiten, wurde aber von ihrem Dienstmädchen abgerufen und mußte mich allein lassen, sehr zu ihrem Kummer, und sehr zu meiner Erleichterung!
Oben sah ich mich neugierig um. Zwei saubere helle Stübchen, die Dielen blank gescheuert, und die Lenzessonne schien durch schneeweiße Gardinen. In der Ecke des etwas größeren Vorderzimmers ein großer Bücherschrank, die Fächer alle von oben bis unten bestellt. Auf dem hohen Aufsatz des altmodischen, aber hübschen Schreibtisches, der beim rechten Fenster steht, ein paar aufgestellte Bilder in Rahmen, kleinere und größere, an der Wand dahinter wieder Bilder. Ich sehe genauer zu – ein entzückender Lockenkopf, ganz klein, auf dem Schoß einer schönen, vornehmen Frau – Raimund und seine Mutter! Hier wieder Raimund, um einige Jahre älter, im Sammethabit und Spitzenkragen, Raimund als halbwüchsiger Junge, Raimund als Student und so fort. Und da an der Wand zwischen vier, fünf andern Bildern, die mir fremd sind, sehe ich ein Gesicht, ein wohlbekanntes, ein schönes, geliebtes – meine Mutter, und sie blickt mich an, als wolle sie zu mir reden. Ach, Maria, wie mich das ergriff!
Wie dann mein Blick endlich die Bilder losläßt und über die Platte des Schreibtisches hinfliegt, bleibt er zufällig – nein, nein, Liebe, es war mehr als ein Zufall, ganz gewiß! – an einem offenen Brief haften, der zwischen Büchern und Papieren da liegt, wie eben aus der Hand geworfen; die Aufschrift lautet: Herrn Eberhard Hagedorn, Hochwohlgeboren, Greifswald, und der Poststempel ist Wien.
Wien! Es geht wie ein elektrischer Schlag durch mein Empfinden! Ich sage mir gleich darauf, das könne ein ganz gleichgültiges Schreiben sein, der alte Herr stehe sicher noch mit einigen Leuten dort in Verbindung: aber immer wieder packt es mich: und wenn es der einstige Geschäftsfreund wäre, der das Hagedornsche Vermögen verbracht hat? Ich drehe vorsichtig den Brief herum: Absender Leopold Steglhuber, Wien, Johannesgasse. Nun war ich so klug wie zuvor, der Name bewies mir gar nichts, Raimund hatte mir nicht gesagt, wie jener Geschäftsfreund hieß.
Du hast es des öfteren eine unehrenhafte Handlungsweise genannt, fremde Briefe zu lesen, Maria, und ich habe Dir beigestimmt! Ich hörte Deine Stimme auf einmal ganz deutlich: ,Thu’ das nicht, Alix, das ist nicht ehrenhaft! Geh’ den geraden Weg!‘ Aber ob mich der gerade Weg in diesem Fall zu meinem Ziel gebracht hätte – nein, nein, ich will auch nicht den jesuitischen Grundsatz aussprechen, daß der Zweck die Mittel heilige … ich that Unrecht, ich empfand es als solches, und die Hände zitterten mir vor Aufregung, aber gethan hab’ ich es! Verzeih’ mir und laß mich sehen, ob ich den Inhalt des Briefes aus dem Gedächtnis wiederherstellen kann!
,Es wird Sie wundern,‘ so etwa begann das Schreiben, ,einen Brief nach so langer Zeit von mir zu empfangen, und mein Name wird Ihnen keine angenehmen Erinnerungen erwecken. Sie waren damals, nachdem das große Unglück mit dem Verlust Ihres Geldes Sie betroffen, so gütig, mir zu schreiben, Sie trügen mir’s nicht nach, Sie wüßten, daß ich schwer gekämpft hätte, um den rollenden Stein aufzuhalten, daß ich jetzt selber aufs ärgste unter den eingetretenen Ereignissen leiden müßte, und daß Sie mich, trotz allem, dennoch für einen ehrlichen Mann hielten!
Herr Hagedorn, das kann und das werde ich Ihnen nie vergessen! Die hellen Thränen sind mir aus den Augen gestürzt, daß so der Mann schreiben konnte, den ich, wenn auch ohne Absicht, schwer, schwer geschädigt hatte! Und ich gelobte mir: kommst Du noch jemals in Deinem Leben wieder auf die Füße zu stehen, dem Mann gedenkst Du es!
,Und nun werden Sie,‘ so fuhr der brave Mann in seinem Brief etwa fort, ,sicher denken, ich hab’ halt einen guten Treffer gemacht, bin wieder obenauf und werde Ihnen gegenüber mein Wort einlösen. Leider – so weit sind wir noch nicht!
Ich hab’ hart gearbeitet, hoffentlich glauben Sie mir das, um wieder in die Höhe zu kommen, aber für einen, der ganz, ganz tief drunten sitzt, bis an Kopf und Hals belastet mit eigenen und fremden Verpflichtungen, ist das rasend schwer. Ich hab’ mich in Comptoiren herumgedrückt, hab’ Kommissionen übernommen, bin Agent gewesen, hab’ ein dutzendmal gedacht: es geht nicht, jetzt machst du ein Ende! und zehn dutzendmal: es muß gehen und du kommst doch durch!
Nun hab’ ich durch eine Kette von Umständen, die herzuzählen gar zu weitläufig sein würde, den Inhaber eines Geschäftshauses kennengelernt – ich lege Ihnen die Karte der Firma bei – der Name derselben hat in der Wiener Geschäftswelt, in unserer Branche, einen guten Klang. Der Inhaber hat mich lange in aller Stille beobachtet, Erkundigungen über mich eingezogen, mir dies und jenes übertragen, kleine Gewinnanteile zugewendet, endlich so viel Vertrauen zu mir gefaßt, daß er mich als Teilhaber in sein Geschäft hinein haben möchte. Für mich ein großer Glücksfall, so groß, daß ich kaum wagte, daran zu glauben! Aber eben, weil mein neuer Gönner solid ist, so ist er auch vorsichtig. Er verlangt Kaution von mir, fünftausend Gulden – erstaunlich wenig, wenn man die Verhältnisse kennt! – doch ich habe sie nicht, kann hier keine Christenseele darum bitten, da meine einstigen Freunde sich seit dem Unglück alle von mir zurückgezogen haben und die Leute, mit denen ich jetzt verkehre, mir teils nicht nahe genug stehen, um sie um ein Darlehen anzugehen, teils arme Teufel gleich mir sind.
Sie werden sagen, das sei eine schöne Taktik, erst einem Ehrenmann das Geld verbringen und dann, nach Jahren, noch um neues bitten. Aber Sie müssen – mein Gott, Sie müssen verstehen, wie dies von mir gemeint ist! Vor mir liegt eine Chance, eine, kann ich sagen, goldsichere Chance, wieder emporzukommen, und ich bin noch in guten Jahren und kann viel leisten …. Sie sind, das schwöre ich Ihnen, der erste, der teilhaben soll an meinem Gewinn. Sie wissen auch, solange ich es konnte, hab’ ich Ihnen Zinsen und Tantieme redlich und pünktlich gezahlt – und ich weiß, Sie glauben mir, wenn ich Ihnen mein Ehrenwort gebe: ich thu’ es wieder, ich trag’ Ihnen alle jetzigen und früheren Zinsen samt Kapital ehrlich wieder ab!
Wollen – – und können Sie mir helfen? Ich weiß nichts Näheres über Ihre Verhältnisse, weiß nicht, ob Sie sonst noch über Ressourcen verfügen, und seit Sie aus Wien verschwunden sind, hat mir niemand Auskunft über Sie zu erteilen vermocht. Ich sollte aber meinen, daß Sie, nach allem, was man über Ihre und Ihres Herrn Sohnes Lebensweise hier hörte, noch andere Hilfsquellen haben, die Ihnen zu Gebote stehen und Sie instand setzen, meine Bitte, meine inständige und dringliche Bitte zu erfüllen!
Nicht wahr, Sie mißtrauen mir nicht? Sie haben auch die richtige Beurteilung meiner Situation und der Wichtigkeit, die meine Bitte für uns beide hat? Ich kann es dreist wiederholen: für uns beide!! –
Wie ich Sie kenne und schätze, weiß ich, Sie werden mich nicht lange in peinvoller Ungewißheit lassen, sondern mir baldigst antworten und, falls es irgend in Ihrer Macht steht, einen günstigen Bescheid senden.‘
So etwa schloß der Brief, der mir für seinen Absender ein gewisses Vertrauen abgewann.
Wieder, Maria, haben mir die Hände gezittert, als ich das Schreiben an seine alte Stelle zurücklegte, aber diesmal war’s ein Zittern vor Freude.
Ich sah einen Ausweg für Raimund, sah ihn deutlich genug vor mir! Schon die Adresse dieses Mannes, seinen Namen erfahren zu haben, war mir von unendlichem Wert – wie hätte ich wohl ohne diesen Brief dazu gelangen sollen? Am liebsten hätt’ ich mich hier zur Stelle an Vater Hagedorns Schreibtisch gesetzt und Herrn Leopold Steglhubers Brief beantwortet. Das Läuten der Hausglocke unten brachte mich auf andere Gedanken. Ich horte Stimmen im Flur – die Wirtin sagte dem [671] Heimkehrenden wohl Bescheid, wer in seiner Behausung auf ihn warte! Die Treppenstufen ächzten unter einem bedächtigen, etwas schweren Tritt, dann öffnete sich die Thür, und in ihrem Rahmen stand ein mittelgroßer alter Herr mit leuchtend weißem Silberhaar und intensiv blauen Augen – ohne jede Aehnlichkeit mit seinem Sohn, aber mit einem so lieben, guten Gesicht, so treuherzig gewinnenden Ausdruck, daß ich in der ersten Minute Zutrauen zu ihm faßte.
Ich stellte mich vor, schalt ein wenig auf seinen Sohn, der unsere Bekanntschaft nicht hatte vermitteln wollen, und mein alter Herr schalt mit und begriff den ‚Jungen‘ gar nicht, ihm etwas so ‚Seltenes und Schönes‘ – wörtlich! – vorenthalten zu haben. Nun kam die Rede auf seine verstorbene Gattin und meine Mutter, und er fand, ich sähe beiden sehr ähnlich, holte die Bilder herbei und verglich sie aufmerksam mit mir. Und dann sprachen wir von Raimund und seiner herrlichen musikalischen Begabung – da legte es sich wie ein Flor über die guten blauen Augen, die Stimme wurde dem alten Herrn rauh und unsicher, und wie ich teilnehmend fragte, ob gar keine Aussicht auf seine weitere Ausbildung sei, schüttelte er den Kopf und sagte seufzend: ‚Keine – gar keine! Der Mensch muß leben, Baroneß, der junge, auch der alte!‘ Dazu ein unwillkürlicher halber Seitenblick nach dem Brief auf dem Schreibtisch.
Hätte der alte Herr mich beobachtet, er hätte es wohl gewahren müssen, daß ich verlegen aussah, aber dergleichen fiel ihm zum Glück nicht ein, er hing ein Weilchen seinen trüben Gedanken nach, dann raffte er sich auf und bat mich um Verzeihung, daß er sich nicht besser habe beherrschen können: der Gedanke an seines einzigen Sohnes verfehlten Beruf und an seine Zukunft überkomme ihn jedesmal wieder wie ein neues Unglück. Wäre ich schon vertrauter mit ihm gewesen, so hätte ich jetzt das Gespräch auf seine pekuniären Verhältnisse bringen können, und ich glaube, er wäre dann ganz von selbst auf den Brief zu sprechen gekommen. Aber nein, es war besser so; ich hätte ihn doch nicht ins Vertrauen ziehen können; seine Kinderseele würde ein Geheimnis vor seinem Sohn nicht lange zu hüten vermögen.
Ich habe ihn gebeten, nach Raimunds Rückkehr bald einmal mit diesem nach Josephsthal, wo es jetzt so hübsch sei, herauszukommen, und er hat freudig zugesagt. Sein Blick ging immer wieder an mir hinauf und hinab, mit einer ganz unverhohlenen Bewunderung, aber es war auch Wehmut dabei: er fand wohl immer mehr Aehnlichkeit zwischen seiner verstorbenen Gattin und mir, und das rührte und ergriff ihn. Von meiner Mutter sprach er mit großer Verehrung: sie sei eine seltene Frau gewesen, und das Freundschaftsband, das sie mit seiner Helene verknüpft habe, ein ungewöhnlich inniges und festes. Wie seltsam es sei, daß er und sein Sohn jetzt, nach so langen Jahren, das kleine Püppchen, zu dessen Taufe sie damals von Wien herübergekommen seien, als erwachsene Dame wiedergefunden hätten und in naher Verbindung mit ihr stünden. Seltsam … jawohl!! –
Wir trennten uns wie zwei alte Freunde. Dann überfuhr ich in meinem leichten Wagen nach Haus. So schnell die Fahrt ging, mir war sie kaum rasch genug; ich konnte die Zeit nicht erwarten, am Schreibtisch zu sitzen und mit Herrn Leopold Steglhuber zu reden, eingehend und verständig, wie die Gelegenheit es erforderte. Das habe ich wirklich gethan. Ich sagte dem Mann, ich hätte durch einen Zufall Kenntnis von seinem Schreiben an Herrn Hagedorn Senior gewonnen, und ich bäte ihn, unter Wahrung strengster, ehrenwortlicher Diskretion, die gewünschte Kaution von mir anzunehmen, da ich Zutrauen zu ihm hätte, vor allem aber wünschte, daß es ihm bald gelingen möge, seinen Verpflichtungen diesem Gläubiger gegenüber gerecht zu werden. Ich erklärte offen, die Verhältnisse der beiden Hagedorns, des Vaters wie des Sohnes, seien derart, daß sie lediglich auf den Verdienst des letzteren angewiesen seien, sozusagen von der Hand in den Mund lebten und nicht einen Kreuzer des Geldes, das er, Herr Steglhuber, ihnen zurückzuerstatten habe, entbehren könnten. Ich bat um postwendende Antwort, ich beschwor den Mann, gegen jedermann, namentlich gegen die beiden Hauptbeteiligten, über diese Angelegenheit zu schweigen, und ich glaube, mein Brief ist so gut ausgefallen, wie mir dergleichen selten gelingt. In vier Tagen spätestens kann die Antwort aus Wien da sein.
Und nun, Liebste, leb’ wohl! Es ist Abend geworden, wie
ich diesen Brief schließe – – ein wonniger, warmer, sonnenübergossener Abend! Der Mai ist zu Ende, aber die Blüten sind noch da und die Düfte und all die süßen Vogelstimmen! Ich schließe Dich an mein Herz, ich küsse Dich und die Kinder und grüße Deinen Mann aufs herzlichste! In treuer Liebe allezeit
Deine Alix.“
Frau Major Sperber saß mit ihrer Häkelarbeit und einem guten Buch in einer hübschen halbrunden Fliederlaube des Josephsthaler Parkes. Ihr Gesicht, welches in der Großstadtluft schmal und blaß geworden war, hatte sich schon ganz ersichtlich gerundet und frischere Farben bekommen. Sie machte sich, seitdem sie anfing alt zu werden, nichts mehr aus der Existenz in der Metropole, sie liebte das Landleben, gute Luft und Ruhe; das konnte sie hier alles aus erster Hand haben. Die eigentliche „Kolonie“ lag ein tüchtiges Stück vom Schloß entfernt, der ganze, weit ausgedehnte Park schob sich dazwischen, man hörte keinen Ton arbeitender Maschinen, sah keine Rauchwolken den Himmel verfinstern und roch keinen Dampf, wenn man nicht direkt nach den „Werken“ hinüberging. Diese interessierten aber die Majorin, die trotz ihrer Jahre nicht aufgehört hatte, strebsamen Geistes zu sein, lebhaft – besonders wenn Ingenieur Harnack die Damen begleitete. Er gefiel der Majorin, und da er dies merkte, so wollte er auch seinen Nutzen davon haben und hatte vor kurzem, als er Frau von Sperber allein traf, ihr, zwar in verblümter Rede, aber doch deutlich genug zu verstehen gegeben, wie es um ihn stand, und daß er der glücklichste Mensch unter der Sonne sein würde, wenn es ihm gelingen möchte, sich Alix’ Gunst zu erringen!
Die Majorin fühlte sich durch das Vertrauen des ihr sympathischen und anderen gegenüber so verschlossenen Mannes sehr geschmeichelt. Anfangs reserviert, war sie bald ganz Feuer und Flamme. Was sie thun könne, ihm die Wege zu ebnen, solle gewiß geschehen, mein Gott, Alix könne ja doch eigentlich nichts gegen ihn haben – ein so gut aussehender, gescheiter und tüchtiger Mann, die eigentliche Seele des ganzen Geschäftsbetriebs! Kurz, die Dame hatte das in diesem Punkt sehr schwache Selbstvertrauen des Ingenieurs bedeutend gehoben.
Wie sie aber jetzt so in der Fliederlaube saß und wieder über die Sache nachdachte, stiegen ihr doch einige Bedenken auf. Alix war liebenswürdig und freundlich zu ihr, vertraulich hatte sie sich aber bisher noch nicht gezeigt, und die Majorin war zu klug und erfahren, um sich dies Vertrauen erzwingen zu wollen. Allerdings hatte sie bei dem jungen Mädchen Anzeichen wahrgenommen, die sich recht wohl als aufkeimende Liebe deuten ließen; aber nichts berechtigte sie zu der Annahme, daß es der Oberingenieur war, dem dieses Gefühl galt. Doch wem sonst? Die Nachbarschaft hatte nach und nach Besuch gemacht, die Gräfin Versing mit ihren beiden Söhnen war schon mehrfach dagewesen, ein paar junge unverheiratete Gutsbesitzer, stattliche Männer, die sich erst kürzlich in der Gegend angekauft, hatten sich gewaltig für die „schöne Müllerin“ ins Zeug geworfen; Vetter Cecil war auch noch da und hatte entschieden etwas auf dem Herzen; der junge Hagedorn – nun, der war ja eigentlich nichts und hatte nichts, aber seine Persönlichkeit stach die andern, streng genommen, alle aus, auch spielte er wunderschön Klavier.
Die Majorin mußte lächeln. Nun war sie selbst so alt geworden, daß ihre eigenen Herzensangelegenheiten ihr keine unruhige Stunde mehr bereiteten, da nahm sie sich diejenigen anderer Leute zu Gemüt – so sind die Frauen! Und noch dazu war sie gar nicht auf sich selbst bedacht, wenn sie für Alix Pläne schmiedete und sie für die Ehe gewinnen wollte …. sobald die schöne Mühlenprinzessin heiratete, war es mit der angenehmen Stellung ihrer Hausdame zu Ende, und diese konnte wieder in das nervenaufreibende Getriebe der Großstadt zurückkehren. – – Vorläufig aber saß sie wohlgeborgen in Josephsthal – wozu sich vorzeitig Sorgen machen?
Unterdessen schritt Alix die Lindenallee herab. Ihr Schritt war rasch, trotz der Hitze, die um diese Stunde noch nichts von ihrer Intensität eingebüßt hatte, und die Bewegung, mit der sie während des Gehens die Uhr aus dem Gürtel zog [672] und darauf niederblickte, verriet offenbare Ungeduld und Hast. Es sah sie niemand, wie sie, in ihrem weißen, gestickten Kleide, unbedeckten Hauptes, nur einen großen weißseidenen Sonnenschirm über sich haltend, ohne Handschuhe, leichten Fußes daherkam, und nur die Streiflichter, welche die Sonne durch das dichte Blätterdach der stolzen Lindenwipfel sandte, huschten und tanzten um sie her. Schwache Klänge zitterten durch die warme, stille Luft herüber – es schlug sieben Uhr, und gleich darauf setzte, bald aus der Ferne, bald in der Nähe, helleres oder tieferes, hastigeres oder langsameres Glockenläuten ein – die Josephsthaler Werke machten Feierabend. Tiefatmend stand Alix still. Kam nicht dort, am Ende der Allee, ein kleiner dunkler Punkt auf sie zu? Sie erkannte den Briefboten, nickte vor sich hin und begann nun, langsam, wie ziellos und zufällig, weiterzuschlendern – man sollte ihr die Hast und Ungeduld nicht anmerken!
Der Briefbote war inzwischen nahe herangekommen, hatte die weißgekleidete Dame bemerkt und ehrerbietig zwei Finger an den Rand seiner Mütze gelegt. Alix nickte leichthin.
„Etwas für mich da, Weßler?“
„Ich glaube ja, gnädigste Baroneß! Wollen gleich mal nachsehen!“ Er schob die Klappe von seiner Ledertasche zurück und ließ die Briefe durch seine Finger laufen.
„Frau Major von Sperber – noch einmal – Mister Cecil Whitemore – Fräulein Klaas, Hausmeisterin auf Schloß Josephsthal – Baroneß Hofmann ,eigenhändig‘ aus Wien!“
„Schön, Weßler! Sie können mir den gleich hergeben. Die übrigen tragen Sie nur nach dem Schloß. Und hier, Weßler, bitte!“
„O, aber – gnädigste Baroneß! Vielen Dank!“
Alix setzte gemessenen Schrittes ihren Weg fort. Als sie ein Stück gegangen war, sah sie nach dem Boten zurück. Er war fort; die Allee machte dort eine leichte Wendung, und der Mann war ihren Blicken entzogen. Mit bebenden Fingern riß das junge Mädchen den Briefumschlag herunter – ihre Augen überflogen die Zeilen – ein sonniges Lächeln verklärte ihre Züge – gottlob, es ging nach Wunsch. – –
Eine halbe Stunde später gesellte sich Alix zu Frau v. Sperber im Garten. Sie war gesprächig und liebenswürdig.
Und noch strahlender wurde ihr Gesicht, als James, der Diener, an seine junge Herrin mit der Meldung herantrat, Herr Hagedorn sei von seiner Urlaubsreise zurückgekehrt und bitte um die Gunst, von Baroneß empfangen zu werden.
„Ich ließe bitten, James – ich ließe hierher bitten. Der Abend ist so wundervoll“ – damit wandte Alix sich an die Majorin – „es käme mir förmlich wie Sünde vor, jetzt im Zimmer zu sitzen. James, besorgen Sie eine Flasche Rüdesheimer!“
Die junge Herrin wies auf eine kleine Gruppe zierlicher Bambusmöbel, die unter einer gewaltigen Platane stand.
Ein wundervoller Abend in der That! Die Sonne schickte sich an, hinabzusinken. In strahlender Glorie von Gold und Purpur brannte der westliche Himmel. In Feuerfluten gebadet standen die Baumwipfel. Dort, wo die Bäume ein wenig auseinander traten, loderte es wie helle Feuersbrunst, der Kiesweg begann zu glitzern wie von tausend funkelnden Brillanten bestreut, ein großer blühender Magnolienstrauch, der neben der Platane stand, glühte auf wie in Rubinlicht gebadet. Jetzt traf eine der roten Flammen das weiße Kleid des jungen Mädchens, das bei dem Strauch stehengeblieben war, traf das rotbraune Tizianhaar und setzte so wunderbar getönte Lichter darauf, daß dieser Anblick eines Porträtmalers Entzücken und Verzweiflung gebildet hätte – denn wie sollte er wohl dies seltene Schauspiel wiedergeben?
Nun, Raimund Hagedorn war kein Maler, aber er war künstlerisch veranlagt, er hatte schönheitsdurstige Augen, eine empfängliche Seele, und was bei dem Bilde, das er hier vor sich sah, durch diese Seele ging, das war so heiß, so übermächtig, daß er die Augen niederschlug, als blende ihn so viel Strahlenpracht, und daß er die Hand, die sich ihm entgegenstreckte, wortlos an die Lippen zog.
Sie ist wirklich außerordentlich freundlich gegen ihn, sagte sich die erfahrene Majorin Sperber, schon allein dies Lächeln, mit dem sie ihn ansieht! Ich habe, solange ich Alix nun kenne, immer gedacht, sie sei zu stolz, um zu kokettieren, heute möchte ich fast in Versuchung kommen, mein Wort zurückzunehmen.
„Willkommen in Josephsthal!“ sagte Alix derweilen, und eine leise Befangenheit ließ ihre Stimme ein wenig unsicher klingen. „Hat Ihnen die Stettiner Reise wohlgethan?“
„Nein!“ sagte Raimund beinahe schroff, und seine Augen irrten wie hilflos seitwärts ab, als wollten sie das berückende Bild lieber gar nicht mehr sehen. „Es thut mir leid, das sagen zu müssen, es sieht auch undankbar aus, da Baroneß mir diesen Urlaub selbst so bereitwillig gestattet haben – aber Sie wollten doch wohl die Wahrheit hören?“
„Ganz sicher!“ entgegnete Alix befangen – sein Ton und sein Gesichtsausdruck hatten beide etwas so Gequältes, daß es sie ängstigte. „Ich bedaure nur, daß Sie Ihren Zweck nicht erreichten. Wollen Sie sich nicht setzen? Hier, neben Frau von Sperber – ich glaube, Sie haben dieselbe noch gar nicht bemerkt?“
„Verzeihung, meine gnädigste Frau!“ Hagedorn verneigte sich tief. „Ich konnte Sie in der That nicht gewahr werden, ich Wurde zu sehr geblendet!“
„Das wurdest du, armer Gesell, in des Worts verwegenster Bedeutung!“ dachte die Majorin mitfühlend, während sie ein paar freundliche Worte sagte. Sie ließ sich in den zunächststehenden Bambusstnhl nieder und deutete für Hagedorn auf einen andern neben Alix. Er zögerte sichtlich.
„Meine Zeit ist mir sehr knapp zugemessen, Baroneß; ich bin hauptsächlich im Auftrag meines Vaters hier, der mich auf der Station erwartete, um mir eine Mitteilung von Wichtigkeit zu machen, und der mich bat, Ihnen nochmals seinen wärmsten Dank für Ihren liebenswürdigen Besuch auszusprechen, den er sich in nicht zu ferner Zeit erlauben werde, zu erwidern.“
Das kam alles sehr formell heraus, ebenso wie auch die Anrede „Alexandra“ wieder dem feierlichen „Baroneß“ gewichen war. Es bedurfte einer neuen einladenden Bewegung des jungen Mädchens, ehe Raimund sich überhaupt setzte. Er sah unruhig und verstimmt aus, und über seinem ganzen Wesen lag etwas wie mühsam unterdrückte Opposition, die am liebsten laut Hinausrufen mochte: Mutet mir nicht länger dieses Komödienspiel zu! Ich will nicht mehr, und ich kann auch nicht mehr!
Nahe genug daran war er, dies wirklich zu sagen. Zwang war seiner Natur aufs tiefste verhaßt, und wie hatte er sich jahrelang zwingen müssen, seinen Neigungen zu entsagen, einen ihm unsympathischen Beruf auszuüben! Jetzt noch die Erfahrungen der letzten Tage und dies Gefühl für Alix, das ihn wie auf die Folterbank spannte, ihm wie zum Hohn das Schönste und Verlockendste dicht, dicht vor die Augen hielt, um ihm die völlige Aussichtslosigkeit seiner ganzen Lebenslage nur noch einschneidender zum Bewußtsein zu bringen!
Ahnte – wußte Alix dies? Sagte sie sich, daß die ganze Stettiner Reise nichts als ein Vorwand gewesen war, eine Art Flucht vor ihr, vor sich selbst, vor seiner eigenen übermächtigen und hoffnungslosen Leidenschaft? Daß er gewähnt hatte, dasjenige, was bisher am stärksten in seinem Leben gewesen war, die Musik, würde ihm vielleicht helfen, für ein paar Tage wenigstens die Leidenschaft zurückzudämmen, die so ganz von ihm Besitz ergriffen hatte?
Es war dem jungen Mädchen beklommen zu Sinn, trotz des Frohgefühls, das sie vor kaum einer halben Stunde noch erfüllt hatte, trotz des Briefes, der in ihrer Tasche knitterte. Sie war so glücklich gewesen über ihren Plan; im Hochgefühl des reichen, des verwöhnten Mädchens hatte sie „Schicksal spielen“, eines Menschen Lebensschiff mutig und geschickt über die Klippen hinwegleiten wollen …. jetzt kamen ihr Zweifel. War es auch recht gewesen? Würde auch alles glücken, und, wenn es glückte, würde Raimund auch nie den Zusammenhang erfahren? Und wenn er ihn dennoch erfuhr … konnte er sie nicht mißverstehen, konnte er ihre gute Absicht nicht verkennen, bei seinem empfindlichen Ehrgefühl sich gekränkt fühlen? Raimund Hagedorn war offenbar nicht der Mann, sich emporheben zu lassen: er wollte selbst etwas einzusetzen und zu bieten haben. Wie unbedeutend aber erschien ihm die Stellung, die er zur Not ausfüllte, die ihm und seinem Vater den Lebensunterhalt, dessen sie bedurften, gewährte, und die ihm von ihr besoldet wurde! Stachel genug für einen Mann, der trotz seines sorglosen Auftretens doch so viel Selbstachtung und Stolz besaß, um dies Dasein als eine Demütigung zu empfinden. Daß er es aber so empfand, [673] daß er dachte, wie er dachte, und ehrlich genug war, dies zu zeigen, eben das hob ihn in Alix’ Augen!
Die Majorin von Sperber sah deutlich genug den Zwang, der auf den beiden lag. Daß Alix die Bekanntschaft Hagedorns des Aelteren gemacht hatte, war ihr neu, und sie wunderte sich im stillen, warum das junge Mädchen ihr diesen Umstand verschwiegen habe.
Als der Wein kam, goß sie die Römer voll und lud zum Trinken ein. Der Rüdesheimer hatte eine köstliche Blume, und die Sonnenfunken tanzten in den Glaskelchen, aber die Miene, mit welcher Raimund Hagedorn sein Glas erhob und „das Wohl der Baroneß“ trank, blieb ernst, und Alix’ Dank war nicht weniger förmlich.
„Sie sind uns noch eine Erklärung schuldig, Herr Hagedorn,“ begann die Majorin von neuem, da die beiden wieder in Schweigen verfielen, „weshalb das Stettiner Musikfest Ihren Erwartungen nicht entsprochen hat!“
„Habe ich das gesagt, gnädige Frau?“ war Raimunds hastige Gegenfrage. „Ich meine, Baroneß hätte zu wissen gewünscht, ob mir die Stettiner Fahrt wohlgethan habe, da mußte ich, der Wahrheit gemäß, mit Nein antworten. Das Musikfest aber ist hieran ganz unschuldig, es fiel schön und gelungen aus, mir fehlte wohl diesmal die richtige Stimmung.“
Die Majorin sah verlegen drein, es that ihr leid, dies Thema angeschlagen zu haben. Sie suchte nach einem anderen, um das peinliche Schweigen zu brechen. „Wie schade,“ sagte sie nach einer Pause unsicher, „ich erinnere mich noch immer mit Vergnügen Ihres wunderschönen Spieles, damals auf unserem Fest. Haben Sie sich niemals als Komponist versucht?“
„Ein wenig. Ich habe als harmloser Dilettant einige Lieder komponiert, verschiedene Klavierstücke und sogar ein Streichquartett! Das Streichquartett hat einer meiner Wiener Bekannten ohne mein Wissen an Johannes Brahms gegeben, und ich besitze einen eigenhändigen, freundlichen und aufmunternden Brief von ihm, der mir sogar Erfolge verheißt, wenn mir ein paar Jahre ernsthaften Studiums vergönnt wären!“
„Aber das ist ja prächtig, ist ja wundervoll!“ Frau von Sperber hatte ihre Verlegenheit überwunden und war ganz bei der Sache. „Auf diese Anerkennung dürfen Sie mit Recht stolz sein! Das ist ja gewissermaßen schon eine sichere Gewähr für Ihre Zukunft! Alix, was sagen Sie dazu?“
„Ich teile Ihre Ansicht, liebe Frau von Sperber!“
In Alix wachten aufs neue Hoffnung und Freude auf; ach, ihr Plan mußte – mußte gelingen!
„Aber bitte, meine Damen, freundliche Ermunterung eines Anfängers, mehr nicht!“ Raimund zog ein kleines Bündel Papiere aus seiner Brusttasche.
„Die Stettiner Programme .... Baroneß erinnern sich vielleicht, daß ich versprechen mußte, sie mitzubringen!“
Jawohl, das junge Mädchen erinnerte sich dessen, und wie sie sich jetzt zu ihm herüberneigte, um Einsicht in die Blätter zu gewinnen, streifte sie mit dem Arm die Magnolie; der Strauch kam ins Beben, einzelne überreife Blüten zerfielen und streuten ihre weißrosigen Blätter über das gesenkte Haupt, über Nacken und Schultern, der feine, fast unmerkliche Duft ihres Haares wehte zu Raimund hinüber und steigerte seine Erregung ins beinahe unerträgliche.
„Und nun mögen Baroneß mir gütigst gestatten, mich zu beurlauben. Wenn die Damen diese Blätter einstweilen hier behalten wollen –“ Damit stand Raimund auf.
Die Majorin sah kopfschüttelnd zu ihm in die Höhe. Welch sonderbarer Mensch dieser Herr Hagedorn doch war!
In diesem Augenblicke erschien James, der in seiner lautlosen Manier um die Platane herumgekommen war, und in einiger Entfernung folgte ihm ein älterer Herr. Sich vor Alix
[674] verneigend, meldete der Diener leise: „Herr Justizrat Ueberweg bittet um die Ehre, Baroneß – –“
„Sehr willkommen!“
Raimund Hagedorn hatte bereits eine Bewegung gemacht, seinen Hut zu ergreifen, zögerte nun aber und sah dem Rechtsanwalt mit offenbarer Spannung entgegen.
„Guten Abend, meine Herrschaften! Erschrecken Sie nicht, liebe Alix! Es ist nichts Bedenkliches, was mich diesmal herführt, es handelt sich um ein juristisches Gutachten, dessen Ihr Vetter Whitemore und der Direktor des Walzwerkes bedürfen. Die Herrschaften mögen ruhig ihre Sitzung bei diesem Rüdesheimer, der übrigens ein hervorragendes Bouquet hat, wieder aufnehmen, ich bin kein Spielverderber! Wie geht es Ihnen, Herr Hagedorn? Habe noch oft an Ihr prächtiges Klavierspiel an jenem Abend denken müssen! Wär’ ich ein Zauberer, ich versetzte Sie mit einem Schlag ans Dirigentenpult und auf den Klaviersessel –“
„Und dafür eine geeignetere Kraft auf meinen Comptoirstuhl, nicht so, Herr Justizrat?“ vollendete Raimund mit einem erzwungenen Lächeln.
„Das entzieht sich meiner Beurteilung,“ entgegnete Ueberweg gelassen und zog sich einen Stuhl herbei. „Danke, James! Das Wohl der Damen! Ein exquisiter Tropfen! Ja, ja, liebe Alix, Ihres Papas Weinkeller genießt nicht umsonst seinen Ruf. Ich hoffe sehr, Herr Hagedorn, daß ich Sie nicht vertreibe!“
Der junge Mann war noch immer unschlüssig stehen geblieben. „Im Gegenteil, Herr Doktor! Ich möchte gern die Gelegenheit benützen, Sie bei Ihrem Weggehen noch kurz zu konsultieren, falls Ihre Zeit es gestattet –“
Der Justizrat zog seine Uhr zu Rat.
„Ein Viertelstündchen darf ich schon an dieser einladenden Rüdesheimer Quelle verweilen,“ entgegnete er launig, „und wenn Sie uns bis dahin Gesellschaft leisten wollen, so kann es mir nur angenehm sein, wenn Sie mich dann begleiten. Daß es mir schwer werden wird, mich von hier so rasch loszureißen, bedarf wohl keiner Versicherung.“ Der Justizrat warf dabei einen sehr ausdrucksvollen Blick auf Alix.
„In diesem weißen Gewand und mit den Blumenblättern, die über Sie hingestreut sind – bitte, bitte, nicht fortnehmen, lassen Sie sie ja, wo sie sind! – bieten Sie einen Anblick, liebe junge Freundin, der zum Beispiel Ihren Verehrern, den beiden jungen Grafen Versing, Atem und Besinnung zugleich rauben würde. Ich war vorgestern dort, und wir haben eigentlich von nichts anderem als von Ihnen geredet!“
Alix hob den Kopf und hatte die Miene der „Diana von Versailles“.
„Wie außerordentlich schmeichelhaft für mich! Und beide Grafen sagen Sie? Sie werden doch nicht damit enden, die Tragödie der feindlichen Brüder aufzuführen!“
„Mir scheint,“ nahm die Majorin das Wort, „die jungen Herren bekommen außerordentlich oft Urlaub!“
„Das scheint mir auch!“ bestätigte der Justizrat trocken. „Sie müssen wohl zwingende Gründe dafür haben!“
„Waren Sie bei Versings zu Gast?“ fragte Frau von Sperber.
„O nein, meine gnädige Frau, ich hatte geschäftlich dort zu thun. Das bürgerliche Element“ – der Justizrat hob den Zeigefinger und zog die Brauen empor – „ist in diesem feudalen Hause nur dann zulässig, wenn es Jugend und Schönheit in die Wagschale zu werfen hat!“
„Sonst nichts?“ meinte Alix spöttisch. „Mir scheint, lieber Doktor, Sie hätten die Hauptsache vergessen!“
Raimund hatte schweigend sein Glas leer getrunken und auf Rede und Gegenrede gehört, während er dabei sichtlich seinen eigenen Gedanken nachging. Wie hochmütig sie aussehen konnte! Als armer Mann in untergeordneter Stellung auch nur den Blick zu einem solchen Mädchen zu erheben, ja, es war der helle Wahnsinn, und Raimund schwur sich’s zu, diesem Wahnsinn keine Macht mehr über sich zu gestatten! Dazwischen folterte ihn die Frage, ob er recht gethan hatte, hier zu bleiben, dem Justizrat seine Begleitung anzutragen – ob es nicht besser gewesen wäre, unter irgend einem Vorwand seinen Rückzug anzutreten, der ja schon vorbereitet gewesen war.
Inzwischen war die Sonne in ein Flammenmeer hinabgetaucht – noch aber schwammen die kleinen Wölkchen in Rosenglut. Die Nachtigallen, die am Tage in der Tiefe des Parkes verweilten, lockten jetzt in unmittelbarer Nähe, und Amsel und Drossel antworteten ihnen. Die glühenden Lichter auf Alix’ rotbraunem Haar waren erloschen, nur über das weiße Kleid zog sich hier und da ein blaßgoldener Reflex – der lichte, schöne Sommertag nahte seinem Ende. – Wieder zog der Rechtsanwalt seine Uhr.
„Höchste Zeit für mich!“ Er erhob sich sofort. „Gnädigste Frau, meine liebe Alix, ich habe die Ehre! Wie ist es, Herr Hagedorn, darf ich auf Ihre Gesellschaft rechnen?“
„Wenn Sie gestatten! Baroneß – ich empfehle mich!“
Ein Handkuß für beide Damen, so ceremoniell und flüchtig zugleich, daß kaum der Rand der Lippen die Hände streifte, eine tiefe Verbeugung hier wie dort, und der junge Mann schritt an der Seite des älteren der Gitterpforte zu. (Fortsetzung folgt.)
Der Schöne Brunnen zu Nürnberg. (Zu dem Bilde S. 648 u. 649.)
„Im Markt zu Nürnberg steht ein Brunn;
Als weit als leuchten mag die Sunn,
Findt man desgleichen nit von Stein.“
Reimspruch des 15. Jahrhunderts.
Wenn man von dem Nürnberger Ponte Rialto, der Fleischbrücke, seine Schritte zur alten Kaiserburg lenkt, gelangt man zunächst zu dem jetzt ganz freigelegten Marktplatz von seltener Größe. In dessen nordwestlicher Ecke, hart an der Straße, steht eines der reizendsten Werke gotischer Profanbaukunst: der Schöne Brunnen, der Stolz der alten Reichsstadt, der von Meisterlin in seiner Nürnberger Chronik der „köstlich Prun“ und von Hartmann Schedel in der berühmten Weltchronik von 1493 ein „allerschönster Prunnen“ genannt wird. Aus achteckigem Bassin erhebt sich eine höchst zierliche gotische, reich mit Figuren geschmückte Turmpyramide von 20 m Höhe, die mit ihren Spitzbogen und Wimpergen, Pfeilern, Fialen, schlanken Säulchen, Krabben und Wasserspeiern von ganz besonders malerischer Wirkung ist. Im unteren Stockwerke stehen die Figuren der sieben Kurfürsten und die „neun Helden“: drei des heidnischen Altertums (Hektor, Alexander und Julius Cäsar), drei des Judentums (Josua, David und Judas Makkabäus) und drei des Christentums (Artus, Karl der Große und Gottfried von Bouillon). Das zweite Stockwerk ist durch die Statuen von Moses und sieben Propheten geschmückt. Auf Pfeilern im Bassin saßen einst noch 16 Figuren der „heiligen Skribenten“, bei der Reindelschen Restauration wurden dieselben aber durch wasserspeiende Bestien ersetzt. Denn es muß eingestanden werden, daß von dem Brunnen, wie er in den Jahren 1385 bis 1396 zuerst unter Friedrich Pfinzings Aufsicht und von 1389 an durch Heinrich den Palier auf Kosten des Rats ausgeführt wurde, heute nur wenig mehr vorhanden ist. Der Schöne Brunnen, der einst vollständig bemalt und reich vergoldet war, so daß er bei der fränkischen Landbevölkerung noch heute vielfach der „goldene Brunnen“ genannt wird, hatte durch die rauhe Witterung vielfach zu leiden. Schon 1447 mußte er neu bemalt, 1464 ausgebessert, 1490 abermals bemalt werden etc. Zu Beginn unseres Jahrhunderts aber war er eine vollständige Ruine. In den Jahren 1821 bis 1824 wurde er nun unter der Leitung des Kupferstechers Albert Reindel, Direktors der Nürnberger Malerakademie, vom Grund auf restauriert, oder vielmehr nach dem alten Originale beinahe neu aufgebaut. Der Staat Bayern und die Stadt Nürnberg teilten sich in die Kosten. Trotz vieler willkürlicher Veränderungen, welche Reindel vornahm, ist dieses Juwel gotischer Baukunst doch heute noch von harmonischer entzückender Wirkung. – In höchst anziehender Weise stellt der ausgezeichnete Nürnberger Architekturmaler Paul Ritter den Brunnen, wie er einst war, in unserem Bilde vors Auge. Der prächtige Hintergrund auf demselben ist erfreulicherweise im wesentlichen heute noch vorhanden, wenn man auch von der Bemalung des großen Giebelhauses mit dem auf dem Marktplatze abgehaltenen Gesellenstechen nichts mehr sieht. Die Staffage versetzt uns in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges.
Heute wird der Schöne Brunnen wiederum einer gründlichen Erneuerung unterzogen. Die Stadt Nürnberg hat sich in unserem Jahrhundert so kräftig entwickelt, daß sie diese ohne staatliche Beihilfe vornehmen kann. Architekt Wallraf aber, dem die Restauration übertragen wurde, ist ein genauer Kenner des gotischen Stiles: er nimmt seine Aufgabe so ernst, daß manche der Verballhornungen Reindels beseitigt werden und das edle, altberühmte Werk bald in neuer Schönheit erstehen wird. H. B.
[675] Das Honterus-Denkmal in Kronstadt. (Zu den Bildern S. 673.) Inmitten der Siebenbürgischen Karpathen breitet sich das Burzenland aus, eine fruchtbare Ebene, die im Laufe der Jahrhunderte durch deutschen Fleiß in einen blühenden Garten verwandelt wurde. Hier ragen die Türme des alten Kronstadt empor. In seinen Mauern herrscht ein reges Leben; Handel und Gewerbe erfreuen sich einer hohen Blüte und bewährte Bildungsanstalten sorgen für Verbreitung des Wissens.
In der Geschichte Siebenbürgens nahm die Stadt eine hervorragende Stellung ein; in ihr wirkten ausgezeichnete Männer und von ihr ging für die Siebenbürger Sachsen die Reformation aus. Ihr Verkünder war ein Kronstädter, Johannes Honterus. Im Jahre 1498 hatte er als Sohn eines einfachen Bürgers das Licht der Welt erblickt. Mit siebzehn Jahren zog er in die Fremde hinaus, um in Wien, Krakau und Basel zu studieren, und im Jahre 1533 kehrte er als Magister der freien Künste in seine Vaterstadt zurück, um in ihr die segensreichste Thätigkeit zu entfalten. Er war Lehrer an der Kronstädter Schule, die er zur hohen Blüte brachte und die heute ihm zu Ehren den Namen „Honterus-Gymnasium“ trägt; er gründete in Kronstadt die erste Buchdruckerei und verkündete in begeisternden Predigten die Lehre Luthers. Am 23. Januar 1549 starb Honterus als Stadtpfarrer zu Kronstadt, nachdem es ihm gelungen war, durch sein „Reformationsbüchlein“ und seine „Kirchenordnung“ den evangelischen Gemeinden in Siebenbürgen eine feste Organisation zu verleihen. Er hat den Siebenbürger Sachsen die geistigen Waffen geliefert, mit welchen sie im Laufe der Zeiten ihre Freiheit und ihre Nationalität verteidigen konnten.
Vier Jahrhunderte sind nunmehr seit der Geburt des großen Reformators verflossen, und das Volk der Siebenbürger Sachsen hat sein Andenken in würdiger Weise gefeiert. In Kronstadt wurde am 21. August ein Honterus-Denkmal enthüllt. Das eherne Standbild ist ein Werk des Berliner Bildhauers Harro Magnussen. Auf einem Granitsockel steht die kraftvolle Gestalt. Angethan mit dem Magistermantel, hebt Honterus die Rechte hoch und hält in der Linken ein aufgeschlagenes Buch, das die Inschrift „Reformationsbüchlein“ trägt. Unsere Abbildung, die ebenso wie die Ansicht der Stadt nach einer photographischen Aufnahme von L. Adler in Kronstadt ausgeführt ist, zeigt uns das Denkmal unmittelbar nach der Enthüllung.
Einen ganz besonderen Glanz verlieh dem Feste der Aufzug sächsischer Frauen und Mädchen im Nationalkleide, welche das Denkmal bekränzten. Das farbenreiche Bild all der lieblichen Gestalten aus Stadt und Land, die kleidsamen Trachten, der kostbare, von Geschlecht zu Geschlecht vererbte Schmuck gemahnten an die Zeiten des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts, wo noch sächsische Kaufherren zur Leipziger Messe zogen und die Deutschen in Siebenbürgen Schutz und Schirm des Reiches, ja des ganzen christlichen Ostens waren.
Zu derselben Zeit, da die Enthüllung des Denkmals stattfand, hielten die sächsischen Vereine und Verbände in Kronstadt ihre Jahresversammlung ab. Landwirte aus nah und fern waren erschienen, Turner-, Schützen- und Sängerfeste wurden veranstaltet. Das große Fest der Siebenbürger Sachsen fand auch in der alten Heimat, im Deutschen Reiche, einen lebhaften Wiederhall; deutsche Universitäten und Vereine sandten nach Kronstadt ihre Grüße und hervorragende Gelehrte, unter ihnen auch Rudolf Virchow, nahmen als Gäste an der Enthüllungsfeier teil.
Man hat auch dafür gesorgt, daß Johannes Honterus in weitesten Volkskreisen bekannt wurde. Aus Anlaß der vierhundertjährigen Gedenkfeier ist in H. Zeidners Sächsischer Volks- und Jugendbibliothek ein Büchlein „Johannes Honterus“ von Wilhelm Morres erschienen, in welchem der Lebenslauf und die Verdienste des Reformators volkstümlich und anziehend dargestellt sind.
„Veteranen der Paulskirche.“ In dem Aufsatz, welchen die „Gartenlaube“ in Halbheft 10 des laufenden Jahrgangs der historischen Bedeutung des ersten Deutschen Parlaments gewidmet hat, konnten fünfzehn Veteranen desselben aufgezählt werden, denen es vergönnt war, das Jubiläum des Eröffnungstags noch zu erleben. Die Feier, welche zum Gedächtnis des letzteren am 18. Mai in der Frankfurter Paulskirche abgehalten wurde, ist dann zum Anlaß geworden, daß wir nachträglich noch von drei weiteren am Leben befindlichen Veteranen Kenntnis erhielten, die als hochbetagte Jubilare den festlichen Tag hatten begrüßen dürfen. Es sind dies die Oesterreicher Heinrich Reitter und Guido Conrad Mosing in Wien sowie Carl Adolf Cornelius in München, der Abgeordnete von preußisch Braunsberg, von Geburt ein Bayer.
Von ihnen ist Heinrich Reitter in den Kämpfen, die in der Paulskirche um die deutsche Einheit geführt wurden, am meisten hervorgetreten. Am 10. November 1816 kam er in Prag zur Welt, wo er auch studierte. Vier Jahre hindurch hatte er als Kriegsbaubeamter auf österreichischen Festungen gedient, als ihn Familienverhältnisse veranlaßten, sich dem Handelsstande zu widmen. Beim Ausbruch der Märzbewegung in Böhmen war er an der Errichtung einer Prager Filiale der Oesterreichischen Nationalbank beteiligt. Reitter gehörte zu denen, welche damals in Prag den Deutschen Nationalverein ins Leben riefen. Zum Abgeordneten für das Frankfurter Parlament wurde er in Böhmisch-Leipa gewählt. In der Paulskirche zählte er zur gemäßigten Linken; im Klub der „Westendhall“, an dessen Spitze Heinrich Simon stand, schloß er sich besonders eng an die Schwaben, wie Friedrich Vischer; oft hatte er sich der Nachbarschaft Uhlands, der hier gern als Gast erschien, zu erfreuen. Bei der Abstimmung über den 2. Artikel der Reichsverfassung, welcher für den neuzugründenden Bundesstaat den Eintritt von Deutschösterreich statt der Habsburgischen Gesamtmonarchie vorsah, trat er mit Entschiedenheit für ihn und die „Personalunion“ ein. Als dieser Plan an dem Widerstand der österreichischen Regierung gescheitert war und nur noch die Errichtung eines „kleindeutschen“ Reichs mit preußischer Spitze Hoffnung auf Verwirklichung hatte, fand er den Mut, trotz der heftigen Opposition seiner Landsleute für diese Lösung der deutschen Frage einzutreten, und gewann dafür auch drei weitere Oesterreicher (Macowitzka aus Krakau, Rößler und Schneider aus Wien). Ihre Stimmen entschieden am 27. März 1849 den Sieg der „Erbkaiserlichen“, an den sich am folgenden Tag die von Welcker beantragte Wahl des preußischen Königs zum Deutschen Kaiser schloß. An der Kaiserwahl selbst beteiligten sich die vier Oesterreicher nicht; aber was sie gethan, war und blieb auf lange hinaus in den Augen der Machthaber Oesterreichs ein schweres Verbrechen. So sah sich Reitter nach der Auflösung des Parlaments aus der Heimat verbannt. Er fand ein Asyl in Württemberg, wo er Sekretär der Heilbronner Handelskammer wurde. 1857 trat er in die Verwaltung der Frankfurter Versicherungsgesellschaft „Providentia“ als Vicedirektor ein und die gleiche Stellung erhielt er 1864 bei der neugegründeten Pester Versicherungsanstalt. Seit 1878 erfreut sich Reitter der Stille des Privatlebens in Wien. Als 1873, fünfundzwanzig Jahre nach 1848, Schmerling in Wien eine festliche Zusammenkunft der in der Paulskirche thätig gewesenen Oesterreicher veranlaßt hatte, brachte Reitter nach dem Hoch auf den österreichischen Kaiser ein Hoch auf Kaiser Wilhelm I aus. An der fünfzigjährigen Jubiläumsfeier in Frankfurt teilzunehmen, verhinderte ihn leider sein Gesundheitszustand.
So ging es auch dem nächstältesten der obengenannten Jubilare, Professor Cornelius in München. Auch er gehörte zu den „Großdeutschen“, die nach dem Scheitern ihrer auf Oesterreich gesetzten Hoffnungen sich zu dem preußischen Erbkaisertum bekehrten. Er saß im rechten Centrum und stimmte bei der Kaiserwahl für Friedrich Wilhelm IV in der Hoffnung, daß der letztere den drohenden gewaltsamen Konflikt verhüten werde. Carl Adolf Cornelius ist am 12. März 1819 in Würzburg geboren. Er war der Sohn des Schauspielers Carl Cornelius, eines Vetters von Peter Cornelius, dem berühmten Maler. Im Hause des Schwagers von diesem, des Schulrats Brüggemann, wurde er erzogen. Als Student der Geschichte war er in Berlin ein Schüler Rankes. Beim Ausbruch der Märzbewegung wirkte er am Lyceum Hosianum, einer höheren Lehranstalt für katholische Theologen im ostpreußischen Braunsberg, als Lehrer der Geschichte. So erklärt es sich, daß er, der Bayer, Vertreter einer preußischen Stadt in der Paulskirche wurde. Auf Grund seiner Schrift „Die Münsterischen Humanisten und ihr Verhältnis zur Reformation“ widmete er sich dann der akademischen Laufbahn, die ihn über Breslau und Bonn 1856 nach München führte, wohin ihn König Maximilian II auf Empfehlung Rankes neben dem protestantischen Sybel als katholischen Geschichtsprofessor berief. Hier wurde Cornelius Mitglied der Akademie der Wissenschaften und 1890 als Giesebrechts Nachfolger Sekretär der historischen Klasse derselben. Er schrieb u. a. eine gehaltvolle Geschichte des Münsterischen Aufruhrs und Studien zur Geschichte des Bauernkriegs. Ein Schlaganfall nötigte ihn erst vor kurzem, seine Aemter niederzulegen.
Eines der jüngsten Mitglieder der deutschen Nationalversammlung war der andere Oesterreicher, von welchem dieser Nachtrag zu berichten hat, Dr. Guido Conrad Mosing aus Wien. Am 23. Februar 1823 als Sohn eines Wiener Advokaten geboren, zählte er 25 Jahre, als ihn die Wahl zum „Deputierten-Stellvertreter“ für das Frankfurter Parlament traf. Zur Ausübung seines Mandats als Ersatzmann Prinzingers kam er freilich erst im Frühjahr 1849, als die Nationalversammlung bereits ihrem Ende entgegenging und die wichtigen Abstimmungen, welche die Abberufung der österreichischen Abgeordneten durch das Ministerium Schwarzenberg bewirkten, schon stattgefunden hatten. Mosing hatte während der Märzbewegung in Wien eine Charge in der akademischen Legion bekleidet. In der Paulskirche wählte er seinen Platz im linken Centrum. Er erlebte hier noch die stürmischen Auftritte, welche Ende Mai zur Verlegung der Nationalversammlung nach Stuttgart führten. Als er später in den österreichischen Staatsdienst eintrat, wurde er Referent bei der Hofkammerprokuratur in Wien. Doch schon im Jahre 1859 trat er ins Privatleben zurück, um seinen bereits früher gepflegten litterarischen Neigungen ganz zu leben. Als Dichter hat sich Mosing vornehmlich auf dramatischem Gebiete hervorgethan. Besonderen Erfolg errang „Atho, der Priesterkönig“, eine dramatische Dichtung, die ähnlich wie Kinkels „Nimrod“ das Gesetz des politischen Fortschritts an Begebenheiten aus sagenhafter Vorzeit darstellt. Das Stück gelangte unter Dingelstedts Leitung am Wiener Hofburgtheater zur Aufführung. Bei der Jubiläumsfeier des 18. Mai dieses Jahres in Frankfurt a. M. war Mosing einer der wenigen „Veteranen der Paulskirche“, die in rüstiger Frische an dem Feste teilnehmen konnten. In begeisterter Rede feierte er auf dem Bankett das Deutsche Reich, in dem so viel sich verwirklicht habe, was das erste Deutsche Parlament erstrebte, und sprach in warmen Worten den Anteil aus, mit welchem die Deutschen im verbündeten Oesterreich die kraftvolle Entwicklung des Deutschen Reiches verfolgen.
Der Erstgeborene. (Zu dem Bilde S. 665.) Wahrhaftig, er kann schon das Köpfchen frei tragen! Mit glückseligem Lachen staunt es die junge Mutter an und hält ihn dabei hoch empor, damit der Vater draußen das neue Kunststück auch gleich zu sehen bekommt. Drei Monate erst, und solche Kraft, solche Schönheit und Gesundheit! Mit keiner Königin würde Maddalena tauschen, denn solch’ einen Buben wie den ihrigen giebt es in keinem Schloß der Welt; er ist ihr und ihres Mannes höchstes Glück; er lacht schon, er kennt sie alle und kräht ihnen freudig entgegen. Das reine Wunderkind! Nicht nur Maddalena und ihr Giorgio finden dies alle Tage, sondern auch die Großmutter, die ebenfalls voll Entzücken den Buben betrachtet. Und wenn die es sagt, muß es wahr sein, denn sie ist gewiß eine unparteiische Zeugin!
Kaffeeverbrauch in Europa und Amerika. Laut statistischen Ermittelungen ist das Deutsche Reich allen Ländern Europas über im Kaffeetrinken. Der Verbrauch von Rohkaffee beziffert sich nach dem Deutschen Handelsarchiv für das Jahr 1897 auf 136 390 Doppelzentner. Dem
[676] gegenüber stehen unsere Nachbarstaaten weit zurück. Frankreich verbrauchte nur 77 000, Oesterreich-Ungarn nur 39 000, das theeliebende Albion sogar nur 12 000 Doppelzentner, wogegen Belgien wieder mit 29 000 und die Schweiz mit 10 000 Doppelzentnern in die Schranken treten. Diese europäischen Leistungen verschwinden freilich im Vergleich zum Kaffeeverbrauch der Vereinigten Staaten. Dort sind während des gleichen Zeitraums nicht weniger als 318 000 Doppelzentner verbraucht worden. R. B.
Eine Ballonfahrt über die Alpen. (Mit Abbildungen.) Seit am 5. Juni 1783 die Brüder Montgolfier zu Annonay im französischen Departement Ardèche den ersten Ballon steigen ließen, hat bis heute eine Menge kühner Luftschiffer Fahrten unternommen, die entweder durch die Weite oder durch die Höhe des Fluges oder die besonderen Umstände, unter denen sie stattfanden, die Aufmerksamkeit der weitesten Kreise erregten. Allein nie hat es in der mehr denn hundertjährigen Geschichte des Ballonwesens ein Luftschiffer gewagt, die Alpen, die großartige Markscheide zwischen Nord und Süd, das weiße geheimnisvolle Gletscherland mit seinen Burgen ewigen Winters zu übersegeln. In diesen Tagen, Ende September 1898, wird ein schweizerischer Luftschiffer, Kapitän E. Spelterini, an das Wagnis herantreten. Eine innige Vertrautheit mit den Gefahren seines Berufes, ein halbes Tausend glücklicher Fahrten, die der Kapitän bereits ausgeführt hat, verheißen dem kühnen Unternehmen Gelingen. Kapitän E. Spelterini, ein geborener Toggenburger, ist heute ein Mann von 45 Jahren und auf dem Gebiet des Ballonwesens, das er seit bald 20 Jahren pflegt, eine anerkannte Autorität. Nachdem er besonders in den Mittelmeerländern, aber auch in allen Erdteilen seinen Ballon hat steigen lassen, hält er sich seit Anfang dieses Jahrzehnts in seinem Heimatlande auf und hat seither in der Schweiz, die er nur zu einigen Abstechern nach Deutschland verließ, eine Menge glücklicher Fahrten ausgeführt. Die Umsicht, die er dabei an den Tag legt, sein wissenschaftlicher Ernst und seine große persönliche Liebenswürdigkeit haben ihm im Laufe der Jahre allgemeines Vertrauen erworben, so daß man seinem neuen großen Plan in der Schweiz volle Zuversicht entgegenbringt.
Die Fahrt über die Alpen, die den Charakter eines wissenschaftlichen Unternehmens tragen soll, ist von langer Hand vorbereitet. Eine aus schweizerischen Gelehrten der Naturwissenschaft gebildete Kommission, an deren Spitze Professor Albert Heim vom eidgenössischen Polytechnikum in Zürich steht, ein auf dem Gebiet der Geologie in der ganzen wissenschaftlichen Welt hochgeschätzter Forscher, hat die Vorkehrungen beraten, die dem Unternehmen einen möglichst günstigen Verlauf und möglichst große wissenschaftliche Ausbeute sichern, und es stellt sich insbesondere die schweizerische meteorologische Centralanstalt in Zürich mit allen ihren Mitteln in den Dienst der Fahrt, deren Ergebnisse in erster Linie der Lösung meteorologischer Fragen dienen sollen.
Für die Expedition wird ein neuer in Paris hergestellter Ballon, die „Wega“, benutzt, deren Vorzüge hauptsächlich in der Güte der verwendeten Stoffe und in der peinlichen Sorgfalt ihrer Arbeit liegen. Der Ballon ist aus 6336 Stücken Seidenstoff gearbeitet, die, in 132 Zonen angeordnet, durch 4440 m Nähte miteinander verbunden sind. Der Durchmesser des kugelförmigen Ballons beträgt 18½ m, der Umfang 58 m, die Oberfläche 1065 qm, der Inhalt 3268 cbm. Das Netz, das über den Ballon gezogen wird, läuft in einen kunstvoll gearbeiteten Holzring zusammen, an dem es eine Tragkraft von 80 000 kg besitzt. Im oberen Pol des Ballons ist ein Holzring mit zwei Ventilklappen befestigt, sie werden mit Zugseilen, die durch den Ballon zum Korb niedergehen, regiert. Die Gondel besteht aus einem rechteckigen Korb mit 76 000 kg Tragkraft. Ballon, Ring, Netzwerk, Gondel sind Musterwerke sorgfältiger Ausführung und enthalten im einzelnen eine Menge praktischer Neuerungen und Verbesserungen, die nach Angaben Kapitän Spelterinis ausgeführt worden sind. Das Gesamtgewicht des Fahrzeugs beträgt fast genau 1000 kg. Das Gewicht der drei Insassen und der Instrumente für die Fahrt sind auf 400 kg angenommen, der Ballast von Sand auf 2000 kg und bei einer Meereshöhe des Abfahrtortes von 520 m die Gesamtsteigkraft auf 3700 kg gerechnet. Der Ballon wird durch einen Gaserzeuger mit Wasserstoff gefüllt, zu dessen Herstellung 20 000 kg Eisenspäne und 25 000 kg Schwefelsäure notwendig sind.
Die wissenschaftliche Ausrüstung der „Wega“ soll nach den Vorschlägen der vorberatenden Kommission zu den reichsten gehören, die je ein Ballon besessen hat. Sie führt ein eigenes vollständiges meteorologisches Observatorium mit sich, dessen Apparate zum Teil am Aequator des Ballons, zum Teil am Korb angebracht sind und sowohl aus selbstregistrierenden Instrumenten wie aus solchen bestehen, die während der Fahrt abgelesen werden. Unter ihnen befindet sich ein selbstthätiger Ballonbarograph, der Höhe und Luftdruck bis auf 6200 m auf einer rotierenden Trommel aufzeichnet, so daß die Forscher genau den Verlauf der Fahrt übersehen und jederzeit sogleich erkennen können, ob der Ballon in steigender oder sinkender Bewegung ist. Eine wichtige Aufgabe der Fahrt über die Schweizer Alpen sind photographische Aufnahmen des Hochgebirgs aus dem Ballon, die der Kartographie und Geologie dienen, sowie solche, die dem Studium der Dunst- und Wolkenbildung zu Hilfe kommen.
Als wissenschaftliche Beobachter begleiten Professor Albert Heim vom eidgenössischen Polytechnikum und Dr. Maurer, Vicedirektor der meteorologischen Anstalt in Zürich, den Leiter des Luftschiffes, der selbst ein geübter Photograph und tüchtiger Beobachter ist.
Als Abgangsort für die Fahrt wurde von der wissenschaftlichen Kommission das Städtchen Sitten im Kanton Wallis gewählt, weil ein dort aufsteigender Ballon, wie immer der Wind in den oberen Regionen wehe, einen beträchtlichen Teil der Hochalpen überfliegen muß, ehe er ebenes Gebiet erreicht. Der Aufstieg soll, wenn immer möglich, an einem Tag stattfinden, an dem das Gebirge klar und in der Tiefe Windstille ist und über 4000 m Höhe der im September vorherrschende Südwestpassat weht.
Unter dieser Voraussetzung geht der Flug der „Wega“, die eine mittlere Höhe von 4000 bis 5000 m innehalten und also nicht sehr hoch über den erhabensten Gipfeln dahinstreichen soll, über den größten Teil der schweizerischen Hochalpen, über Finsteraarhorngruppe, Urner- und Glarnerhochgebirge, zusammen etwa 200 km, dahin und kann im Rheinthal zwischen Chur und Bodensee seinen Abschluß finden.
Der malerisch-poetische Reiz der Fahrt wird so großartig sein, daß er sich kaum ausschildern läßt, denn als ein vielbewegtes Relief wird das Alpengebirge zwischen den verblauenden Ebenen mit einem reichen Wechsel von Farben unter den Fahrgästen liegen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß, wenn unsere Leser diese Mitteilungen lesen, der Forscherflug bei günstigem Wind und Wetter schon stattgefunden haben wird. Ueber die wissenschaftliche Ausbeute werden wir dann berichten. H.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
[676 a]
Taschentücher mit Madeirastickerei. Man fertigt diese hübschen und hochmodernen Tücher aus feinstem Leinen 35 cm im Quadrat groß und verziert ihren Außenrand mit Madeirastickerei, für die die naturgroßen Muster zwei hübsche Vorlagen bieten. Sehr fein sieht es auch aus, solche Leinentücher nur mit kleinen Languettenbogen abzuschließen, die nach der Rundung eines Bleistiftes aufgezeichnet werden können, oder sie mit dem reicheren Languettenabschluß zu versehen, den das dritte kleine Muster zeigt. Zum Zeichnen oder Markieren der Tücher sind kaum 1 cm hohe römische Buchstaben sehr beliebt.
Ofenschirm mit Ansichtskarten. Ein eigener Reiz muß im Sammeln der Ansichtskarten liegen, dafür spricht der Eifer, mit dem derselbe von jung und alt betrieben wird. Ob die Freude aber vorhält, wenn ein Album nach dem anderen schnell gefüllt ist? … zumal, da man sich jetzt nicht mehr auf die durch die Post, „von guten Freunden unterwegs“, erhaltenen beschränkt, sondern schon im kleinsten Städtchen Ansichtskarten von aller Welt Enden käuflich erhält. – Ich sann auf eine bleibendere Verwertung meiner Karten, als wirklicher Erinnerungen; – vom Tischler ließ ich zwei Kistendeckel von gleicher Größe (etwas über 1 m hoch) glatt abhobeln und mit beweglichen Messingscharnieren verbinden; die Ränder beklebte ich 6 cm breit mit schwarzem Glanzpapier und nun werden meine Ansichtskarten darauf geklebt, eine über die andere, so daß das Geschriebene verdeckt wird; nur den gedruckten Ortsnamen lasse ich möglichst frei und bitte deshalb meine Korrespondenten, unterhalb desselben ihre Mitteilungen zu beginnen. Für die Vorderseiten des Schirmes habe ich nur die hellgrünlichen Mondscheinkarten in Aussicht genommen, wodurch ein hübscher, einheitlicher Ton entsteht, während ich innen alle durcheinander, bunte und schwarze, in größter Abwechslung, arrangiere. A. v. Z.
Tasche für Nähuntensilien. Ein Stück Cretonne von obenstehender Form (40 cm hoch mit Zacken und 55 cm lang) wird an der punktierten Linie heraufgebogen, an den Seiten, dem oberen Taschenrand und den Zacken mit Bändchen eingefaßt und an den drei senkrechten Linien genäht, daß es vier gleiche Taschen nebeneinander giebt. Diese werden bei I und II dem Rücken entlang zusammengenäht und wie ein Buch mit einem Band besetzt. Schließlich bringt man Knöpfe und Knopflöcher zum Verschluß sowie ein Bändchen zum Zusammenbinden an. Beliebige Verzierung. Auf Reisen zur Aufbewahrung von Bändchen, Knöpfen, Stickgarn sehr bequem.
Spankorb mit ausgemaltem Holzbrand. Das niedliche Spankörbchen, das unsere Abbildung zeigt, dient zum bequemen Aufbewahren jeglicher Art Handarbeiten. Durch seine originelle und doch praktische Form läßt es sich sowohl neben dem Nähtisch aufhängen, als auch leicht in der Hand tragen.
Auf der Vorderseite des Korbes prangt ein größerer Strauß von Mohnblumen, während an den Seiten kleinere Sträuße der gleichen Blüten zu sehen sind. Jedem Feld, das durch das Flechten der Späne entstanden ist, sind fünf dunkle Punkte in Kreuzform eingebrannt. Auf dem Korbrand und Henkelgriff zeigt sich ein dunkler gebranntes Muster, das sich wirkungsvoll abhebt, es gleicht einem Bande, das sich um den Holzstreifen schlingt, dessen Zwischenräume durch Striche und Punkte ausgefüllt wurden. Die Mohnblumen und Blätter sind leicht mit Wasserfarben angetönt und sodann mit Aquarellfirnis überstrichen. Innen ist der Korb mit grünem Satin ausgefüttert, der am oberen Rande eingekräuselt ist. Eine Schleife von gleichfarbigem Band schmückt den Henkel.
Bestickte Gewebe. Jedermann kennt die neue Richtung, welche die Kunst und nach ihr das Kunstgewerbe eingeschlagen hat, und wer die Erscheinungen der Zeit mit Interesse verfolgt, der wird bemerkt haben, daß auch auf dem Gebiete der Nadelarbeiten sich die neue Kunstrichtung immer mehr Geltung zu verschaffen weiß.
Es geschieht dies weniger hinsichtlich der einzelnen Techniken der Nadelführung und der Stichlagen, als vielmehr hinsichtlich der Mustervorzeichnungen und der Farbenwahl. Die belebende Wirkung der neuen Anregungen zeigt sich allenthalben, ist es doch Thatsache, daß viele Damen, die jahrelang keine Sticknadel zur Hand nahmen, sich jetzt mit neuerwachtem, großem Interesse der Sache zuwenden.
Freilich treten ihrem Bestreben noch mancherlei Schwierigkeiten entgegen, hauptsächlich mangelt es an guten Vorlagen, welche sich für Stickereizwecke eignen. Die ehedem so vielfach verwandten Motive entsprechen eben nicht dem neuen Stil. Auch das Selbstentwerfen von Mustern, das hier und da – leider viel zu wenig – von den Damen vorgenommen wird, ist nicht leicht ausführbar: die neue Kunstrichtung erfordert ein tiefeindringendes Studium, nur zu bald übersieht man das eigentliche Wesen derselben und produziert Vorlagen, die äußerlich vielleicht dem neuen Stil ähneln, innerlich aber ohne jeden Gehalt und daher wertlos sind. So muß also geraten werden, die nötigen Vorlagen sich irgendwo abzusehen und für Stickereizwecke umzuarbeiten. Solche Vorlagen bieten nun jetzt in reichlicher Fülle die Erzeugnisse der Textilindustrie. Auch diese hat sich der neuen Richtung bereits zugewandt und liefert Vorhänge, Portieren, Bett- und Tischdecken, Möbelbezüge, Kissen, Wandbekleidungen etc., deren Webemuster unbedingtes Sachverständnis bekunden. In Möbelstoffgeschäften findet man in großer Auswahl und in allen Preislagen gewebte und bedruckte Stoffe mit modern-künstlerischen Mustern. Ja, noch mehr: die Gegenstände selbst erübrigen ein Abzeichnen der Muster auf andere Stoffe, sie selbst geben die beste Grundlage zum Besticken ab und gestatten hierdurch, die schöne Wirkung der Muster unglaublich zu steigern. Obendrein sind sie nicht nur in der Zeichnung, sondern auch in der Farbenstimmung modern gehalten, man kann also zum Besticken dieselben Farbentöne wählen, nur vielleicht in etwas kräftigeren Schattierungen, aber man kann ebensogut die Farbenzusammenstellung ganz nach eigenem Geschmack vornehmen und umändern, ebenso wie die Verteilung und die Wahl der Stiche. Hier wird sich Stielstich empfehlen, dort Plattstich, da Nadelmalerei; hier spart man aus, dort legt man Feder- oder Grätenstich ein, hier bringt man Knötchen an, dort füllt man mit Flach-, Zier- oder Spitzenstichen etc. Diese Arbeiten bilden eine Beschäftigung, bei welcher Kunstgeschmack, Handfertigkeit und Schönheitssinn sich herrlich offenbaren können.
Hauswirtschaftliches.
Einige süße Speisen für Kranke. Geringer als bei Fleisch- und Gemüsespeisen, als bei Krankensuppen und Getränken ist die Auswahl für süße Speisen in der Krankenkost, und doch haben unsere Patienten oft geradezu ein leidenschaftliches Verlangen nach kleinen süßen Leckerbissen. Mancher Hausfrau, die einen lieben Kranken gesund pflegt, werden ein paar Vorschriften für solche süßen Speisen für Kranke sehr willkommen sein. Die Gerichte sind oft erprobt und stets gut bekommen. Selbstverständlich ist die Erlaubnis des Arztes vorher einzuholen.
Weinschaum. Man rührt 2 Eigelb mit 40 g Zucker schaumig, giebt 4 Löffel Weißwein, einen Löffel Citronensaft, wenig Citronenzucker und eine kleine Prise Salz daran und schlägt alles im Wasserbade schaumig. Man füllt den Schaum in eine kleine Glasschale, legt einige Erdbeeren obenauf und giebt ein Löffelbiskuitchen dazu. – Kräftiger ist der Weinschaum, wenn man statt Weißwein guten Rotwein nimmt. Diesem Schaum wird stets ein Löffel Fruchtgelee, am besten Himbeergelee, zugesetzt.
Kalte Citronencreme. Zwei Eigelb rührt man mit 100 g Zucker und etwas Citronenzucker schaumig. Indes wäscht man 6 g weiße Gelatine, löst sie in 3 Löffel Citronensaft auf und löst gleichzeitig 2 g Fleischpepton in wenig Rum auf. Beides giebt man zu der schaumigen Eiermasse, rührt es, bis sie anfangt, dicklich zu werden, und zieht dann den steifen Eiweißschnee durch die Masse.
Apfelspeise. Zwei feine säuerliche Aepfel schält man, entfernt das Kernhaus und kocht sie in Wasser weich, worauf man sie durchstreicht. 5 g rote Gelatine werden in etwas Apfelwasser gelöst, mit 30 g Zucker, ½ Theelöffel Citronensaft, ½ Theelöffel Citronenzucker vermischt, durch ein Sieb zu dem Apfelmus gegossen und dies in ein kleines Förmchen gefüllt. Nach dem Erkalten stürzt man die Speise und häuft obenauf etwas geschlagene Sahne. H.
Farbige Kerzen werden zumeist nicht zum Gebrauch, sondern zum Paradieren aufgesteckt, aber wie alles andere, verschmutzen auch sie mit der Zeit und sehen nicht mehr schön aus. Man reibe sie dann, jedoch nur ganz leicht, mit einem in guten Spiritus getauchten, weichen Läppchen ab, worauf sie wieder wie neu erscheinen. Durch zu langes und zu starkes Reiben würde allerdings die lediglich von Abziehbildern herrührende Malerei verwischt.
[676 b]
Allerlei Kurzweil.
An den Schluß nachstehender sieben Sätze sind zu deren Ergänzung je zwei Wörter anzufügen, und zwar muß das zweite Wort stets aus dem von rückwärts gelesenen ersten Wort bestehen.
Beispiel: „Bringen Sie mir,“ sagte der Gastwirt zum Förster, „wann Sie Zeit haben, das – – “ (Auflösung: Reh her.)
Bei richtiger Lösung nennen alsdann die Anfangsbuchstaben der an erster Stelle stehenden Wörter den Namen eines großen deutschen Dichters.
1) Während der alte Krämer Anis abwog, verkaufte sein Sohn – –
2) Im Ballsaal entzückte die graziös tanzende – –
3) Als er sie zum erstenmal in der Konditorei erblickte, aß – –
4) Man baut nicht nur in Amerika, sondern auch in Asien, z. B. in – –
5) Der junge Bienenzüchter sagte zu seiner allezeit geschäftigen Braut: „Du bist fleißig wie eine – – “
6) Der Dichterling grübelte oft ganze Tage über einen neuen Stoff, allein etwas Gescheites fiel ihm – -
7) Bei Eröffnung der persischen Königsgruft sah man erst, welche Schätze das – –
Die Buchstaben in nebenstehender Figur sind derart anzuordnen, daß die sechs wagerechten Zeilen bekannte Wörter ergeben, und zwar: 1. einen Edelstein, 2. ein Säugetier, 3. einen männlichen Vornamen, 4. eine Stadt in Schlesien, 5. einen Berg, 6. einen griechischen Philosophen.
Sind alle Wörter richtig gefunden, so nennen die Buchstaben der beiden Diagonalreihen, in der Richtung der PFeile gelesen, den Namen eines deutschen Dichters, sowie den Titel einer seiner bekanntesten Dichtungen.Mutig Ringen bringt Gelingen.
Na – Jade, Najade.
Auflösung der Schachaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 20.
1. Se6 – d4
2. f3 – f4 + beliebig
3. Da8 – b8, h8, f8, d5 #.
A.
1. . . . K e5 – d4:
2. D a8 – e4 + K d 4 – c 5:
3. D e4 – d5 #.
B.
1. . . . K e5 – f6
2. D a8 – f8 + K f6 – e5
3. D f8 – d6 #.
C.
1. . . . beliebig
2. S e3 – g4 + K e5 – d4:
3. D a8 – d5 #.
Kartenverteilung: Skat: rD., s7.
Vorhand: eW., gW., e9, e7, rZ., rK., rO., r9, r8, r7 = 21.
Hinterhand: eD., e8, gK., gO., g9, g8, g7, sO., s9, s8 = 21.
1. r7! eZ., eD. (– 21)
2. gK., e7, gZ. (– 14)
3. r8, eK., g7. (+ 4)
4. sW., e8, gW. (– 4)
ö. r9, sK., sO. (– 7)
6. rO., eO., g8. (+ 6)
7. sD., s8, e9. (– 11)
8. eW., rW., gO. (– 7)
Der Spieler bekommt keinen Stich mehr und hat nur 10 Augen erhalten. Auch wenn er nicht fordert, sondern Däuser spielt, kann er den Schneider nicht vermeiden.
Rotsolo hätte Vorhand mit Schneider gewonnen, da die Gegner nicht mehr als 29 Augen erhalten konnten.
[ Verlagsanzeige (Ernst Keil's Nachfolger für „Bock's Buch“) und dreimal Produktwerbung, hier nicht dargestellt.]