Die Gartenlaube (1898)/Heft 22

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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22. Heft. Preis 10 cents. 19. Oktober 1898.

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Max Well & Co., cor. 12th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

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Inhalt.
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Kleine Mitteilungen.


Theodor Fontane †. In Theodor Fontane, der am 20. September in Berlin eines sanften Todes verschied, hat die deutsche Litteratur einen allverehrten Meister verloren, dessen liebenswürdige Persönlichkeit dem litterarischen Leben der Reichshauptstadt zu ganz besonderer Zierde gereicht hat. Theodor Fontane war in der Mark Brandenburg geboren; am 30. Dezember 1819 kam er in Neuruppin zur Welt: tief im Boden seiner Heimat wurzelte sein geistiges und poetisches Wesen.

Sein Vater, der Apotheker war, hatte ihn für den gleichen Beruf bestimmt; doch früh folgte er dem Drange nach litterarischer Bethätigung. Seine Jugend fiel in die Zeit, in welcher Walter Scott noch seinen vollen Zauber auf die deutsche Lesewelt übte, und die schottische Sagenwelt, die altenglischen und schottischen Balladen boten ihm die Anregung zu seinen ersten eigenen poetischen Versuchen. Noch später ist er gern auf dieses Stoffgebiet zurückgekehrt, wie mehrere seiner bekanntesten und vollendetsten Balladen aus der Zeit der vollen Reife seines Talentes beweisen. Diese Vorliebe gab ihm auch Anlaß zu verschiedenen Reisen nach England und Schottland, deren Eindrücke er mit anschaulicher Kunst und feinem Sinn für den historischen Charakter von Land und Leuten schilderte. Früh aber trieb es ihn, in der überkommenen kraftvoll gedrungenen Balladenform auch „Männer und Helden“ der preußischen Geschichte zu feiern und von seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ mit demselben poetisch-historischen Sinn zu erzählen, der vorher fremden Ländern zu gute kam. In vier Bänden, die 1862 bis 1881 erschienen, schilderte er sein engeres Heimatland und dessen stolze Erinnerungen, welche vom Aufschwung Preußens zur Macht und Größe so viel zu berichten haben. Seit 1844 lebte er in Berlin als Schriftsteller, für verschiedene Zeitungen thätig; in den letzten Jahrzehnten gehörte er der Redaktion der „Vossischen Zeitung“ an, für welche er ständig die Schauspielneuheiten des Hoftheaters besprach. Die Waffenerfolge des preußischen Heeres auf den Schlachtfeldern Schleswigs und Böhmens, die er selbst besucht hatte, brachte er in den Bänden „Der schleswig-holsteinische Krieg im Jahre 1864“ und „Der deutsche Krieg von 1866“ zu lebendiger Darstellung. Als das deutsche Volk in Waffen dann im Sommer 1870 über den Rhein „in Frankreich hinein“ zog, folgte er dem Heere, um nach eigenen Eindrücken auch diesen Feldzug zu schildern; wie er dabei Ende Oktober zu Vaucouleurs in die Hände von Franktireurs fiel und dann eine Reihe abenteuerlicher Fahrten als Gefangener zu bestehen hatte, das hat er mit frohem Humor in dem Buch „Kriegsgefangen“ erzählt. In einem Alter, das so manchen anderen Schriftsteller schon schaffensmüde findet, wandte er sich dann der Romandichtung zu. Auch hier bestimmte sein Patriotismus die Wahl des Stoffes: „Vor dem Sturm“, dessen vier Bände 1878 erschienen, bietet ein ergreifendes Bild der deutschen Erhebung gegen das Napoleonische Joch. Mit jedem folgenden Werke zeigte sich sein Talent auf dem neuen Boden heimischer und erfolgreicher; das Leben der Reichshauptstadt, ihr schnelles Wachstum zur Großstadt bot ihm die mannigfaltigsten Motive. So war seinem Herbst noch eine reiche Blütezeit vergönnt. In der „Gartenlaube“ erschienen die kraftvollen Romane „Unterm Birnbaum“ und „Quitt“. Als Fontane seinen siebzigsten Geburtstag feierte, widmete ihm unser Blatt eine eingebendere Darstellung seines Lebensganges, wobei sein Wirken als Dichter die wärmste Würdigung fand. Auch sein Bildnis ist im Jahrgang 1890 erschienen.

Ein glänzender Hofstaat. Kaum einer der orientalischen Fürsten hatte einen so großartigen Hofhalt wie Kaiser Karl VI, der Vater der Maria Theresia (1711 bis 1740), einen Hofhalt, der durch seine unglaubliche Massenhaftigkeit imponieren mußte. Nicht weniger als 40000 Personen gehörten dazu. Davon standen 2000 in fester Besoldung und aktivem Dienste, die übrigen waren Titulierte und Pensionäre. Es gab sechs Oberhofstäbe, dazu eine Wolke von Kammerherren mit goldenen Schlüsseln und schwarzen Schleifen, während die Kammerdiener eiserne Schlüssel führten. Fürsten oder Grafen, deutsche, böhmische, ungarische, niederländische, spanische und italienische Herren trachteten nach den kaiserlichen Kammerherrstellen. Im Jahre 1732 waren ihrer 216 ernannt worden. Bei der Hochzeit der Maria Theresia kam auf einmal aus der kaiserlichen Kammer ein neuer Kammerherrenschub hervor, der die Zahl derselben um 168 vermehrte. Jeder dieser Kammerherren mußte dem Obristkämmerer beim Antritt seines Amtes kraft alten Herkommens 200 Dukaten zahlen. Das waren kaiserliche Geschenke; statt des Ostereis bekam Graf Trautson eine Liste von dreißig neukreierten Kämmerern und sein Nachfolger Graf Waldstein eine von siebenundvierzig. Jenes Osterei brachte also 6000, dieses 9400 Dukaten ein. Der Schar der Kammerherren und der Lakaien entsprach diejenige der Hofdamen, Kammerfräulein, Kammerfrauen, Kammerdienerinnen adeligen Geblüts, die sich im Hofstaat der Kaiserin, der schönen Elisabeth von Braunschweig, der Kaiserin-Mutter und der beiden jungen Erzherzoginnen befanden. Um diesen zahlreichen Hofstaat und dessen Dienerschaft unterzubringen, gab es die sogenannten Hofquartiere, die auf den Häusern in der Stadt und den Vorstädten lastende Verpflichtung, überall in das zweite Stockwerk gegen ein kleines Entgelt die Hofdienerschaft aufzunehmen. Im übrigen lebte halb Wien eingestandenermaßen von kaiserlicher Hofküche und Hofkeller. In der Hofküche wurde in gröbster Weise betrogen: allein für Petersilie wurden jährlich 4000 Gulden in Ansatz gebracht. Der Schlaftrunk der Kaiserin-Mutter betrug auf der Rechnung täglich zwölf Kannen Ungarwein und für jede ihrer Hofdamen sechs. Zum Einweichen des Brots für die Papageien der Kaiserin Elisabeth wurden jährlich zwei Faß Tokaierwein, für ihr Bad jährlich fünfzehn Eimer österreichischer Wein berechnet. Der kaiserliche Hofkeller enthielt aber auch Riesenfässer, wie die beiden, die der Bindermeister Johann Zugk aus Müglitz eingeliefert: das eine hielt 3025, das andere 5050 Eimer.


Tülldurchzug. Der lange Zeit fast ganz vernachlässigte Tülldurchzug wird wieder modern und in leichter Musterung gern für die großen Shawlkrawatten wie für Spitzen und Einsätze jeder Art verwendet. Kopfhüllen und Fichus mit reichem Muster in dieser Arbeit ausgeführt, beanspruchen allerdings ziemlich viel Zeit, sind dann aber auch an Wirkung echten Spitzen zu vergleichen. Die besonders beliebten Blumenmuster kann eine geschickte Hand sich leicht selbst aufzeichnen, auch ergeben spanische und Chantillyspitzen sehr hübsche Vorlagen. Oefter verbindet man auch die schnellfördernde irische Spitzenarbeit mit Tülldurchzug; einige Musterfiguren, zum Beispiel Blumen, werden dann durch Medaillonbändchen gebildet, während ein glattes und Picotbändchen den Randabschlnß ergiebt. Stets nur gutes Material zu verarbeiten, ist sehr zu empfehlen.

Goldene Ketten zu reinigen, ist oft nicht ganz so einfach. Am erfolgreichsten verfährt man, wenn man die Kette in eine weithalsige Flasche thut, etwas geschabte Seife und Wienerkalk hinzufügt, warmes Wasser aufgießt und die Flasche zukorkt. Dann schüttelt man das Ganze einige Minuten lang tüchtig, nimmt die Kette heraus, wäscht sie in reinem Wasser und dann in Spiritus nach und trocknet sie ab. Sie wird hiernach tadellos neu aussehen.

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HERBST
Nach dem Aquarell von J. R. Wehle

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Halbheft 22.   1898.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahresabonnement (1. Januar bis 31. Dezember) 7 Mark. Zu beziehen in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


Montblanc.
Roman von Rudolph Stratz.
(1. Fortsetzung.)


4.

Durchdringender Knoblauchsgeruch mit kaltem Cigarettenqualm vermischt, zwei von den drei vorhandenen Betten des nie gelüfteten Zimmers von einem blonden europäischen Kaufmann und einem schnarchenden Spanier besetzt, dessen pechschwarzes Haupt- und Barthaar undeutlich aus gelblichbrauner Wäsche sich abhob, kahle Dielen, schmutzige Wände mit einem Muttergottesbild als einzigem Schmuck, lose in den Angeln klappernde Fenster und chaotische Unordnung von nassen Kleidern, kotüberzogenen Schuhen, Leder- und Wollproben überall – sehr einladend war die Unterkunft nicht, welche die „Fonda d’España“ dem spät abends gekommenen Fremden zu bieten vermochte.

Der stand nachdenklich vor dem Bett, einem gichtbrüchigen Holzgestell.

Der Wirt, ein indolenter Spanier, sah das Zaudern des Gastes vor dem zweifelhaften Lager und entschloß sich, mit der krankhaften Vorliebe der „Inglès“, der Fremden, für reine Wäsche vertraut, ein übriges zu thun. Er ging und kam mit einem sauberen, kleinen spitzenbesetzten Kopfkissen wieder, das er mit einer gewissen Feierlichkeit auf dem Bette niederlegte. Nun war nach seiner Ansicht den äußersten Ansprüchen an Komfort Genüge gethan. Verlangte der Fremde noch mehr, so war ihm nicht zu helfen!

Aber der Fremde hatte genug. Er schickte den Wirt fort, warf sich, in seinen Mantel gewickelt, mit allen Kleidern auf das Bett und blies das Licht aus.

Der Regen rauschte, eintönig klapperte das zerfallene Fenster in den Angeln, der Spanier und der blonde Kaufmann sägten und schnarchten im Schlaf um die Wette, und über den müden Gast, der mit offenen Augen wach in das Dunkle hineinsah, kam trotz des eklen Lagers allmählich die Ruhe. Er war zu erschöpft.

Leichte Fieberschauer durchrieselten ihn und webten um seinen unstet

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Wildkatze.
Nach dem Gemälde von L. Beckmann.

[678] arbeitenden Kopf ihre Dämmerschleier, bis das Bewußtsein darin versank und einige Stunden traumlosen Schlafes ihn umfingen.

*  *  *

„Allah ist Allah! Mohammed ist sein Prophet!“ Durch das Dämmern des Regenmorgens klang klagend feierlich der Ruf der Muezzin, und von fernen Minarehs tönte es wie ein Echo im Frühlicht wieder: „Beten ist besser denn Schlaf!“ – „Eine Stunde bis zum Tode!“ und wieder, mit der dröhnenden Wucht tiefer, kräftiger Männerstimmen: „Allah ist Allah! Mohammed ist sein Prophet!“

Der Baß der Gebetrufer weckt die Gläubigen. Daß der ungläubige Christ die fünfte Stunde nicht verschläft, dafür sorgen die Flöhe von Tetuan. Ist die erste bleierne Ermattung vorüber, so findet er vor dem Andrang der Quälgeister keine Ruhe mehr und giebt, das Lager räumend, den hoffnungslosen Kleinkrieg verloren.

Unten, in dem viereckigen Mittelraum der Fonda herrschte schon Leben, als der Afrikaner ärgerlich, in seinen Mantel gewickelt, die Treppe herabstieg. Die Wirtin, eine dicke Spanierin, und ihre leidlich hübschen Töchter gingen in saloppen Morgenjacken, die Haare flüchtig aufgesteckt, hin und her, ein paar barfüßige Mägde räumten auf und schürten das offene Herdfeuer, dessen prasselnde Reisigglut ihren Flackerschein über einige halbschlafend davor kauernde, in abenteuerliche Fetzen gewickelte braune Gesellen warf. Ein kleiner verschmitzter Berberjunge, der die Kapuze seines regentriefenden Mäntelchens hoch über den Kopf gezogen hatte und von hinten wie ein verirrter Gnom aussah, stand, sich die Pfötchen am Feuer wärmend, fröstelnd neben ihnen. Auf der anderen Seite winkte aus einem Nebenraum ein ganz einladend gedeckter Tisch.

Wenn es dem Sennor gefällig sei, möge er dort Platz nehmen und sich nur noch eine Viertelstunde gedulden, dann sei der Kaffee fertig!

Allein der Sennor zog es vor, dem zweifelhaften Dunst der spanischen Häuslichkeit zu entfliehen. Er stieß die Thür auf und trat auf die Gasse hinaus.

Eine Seitengasse, von Kot und Wasserlachen strotzend, vielfach von Hausbögen überwölbt, so daß sie halb einem schmalen Schacht, halb einem Tunnel glich. Auch auf ihr regte sich unter dem Ruf der Muezzin schon der neue Tag. Verschleierte Berberfrauen gingen, lautlos mit ihren bräunlichen Beinen den Schlamm durchmessend, vorbei; von halbwüchsigen Burschen getrieben, liefen bepackte Saumtiere und Esel geduldig ihren Weg; aus irgend einem Spalt in einem gegenüberliegenden Hause schob sich, schwarz, unförmlich dick und scheußlich wie eine Kröte, eine alte Negersklavin, hob prüfend den wolligen Grauschädel zum Himmel empor und kroch kopfschüttelnd wieder in ihre Höhle zurück.

Dann wieder trappten Roßhufe um die Ecke. Ein vornehmer Marokkaner ritt, fest in seinen weißen Burnus gewickelt, daher. Sein beinahe schwarzes, auf Blutmischung mit der Negerrasse deutendes, von krausem Vollbart umrahmtes Gesicht hatte einen finstern, grausamen Ausdruck. Er würdigte den Fremden, den die Weiber und Leute aus dem Volk mit unverhohlener Neugier angestarrt, keines Blickes und zog langsam weiter in den Regen hinaus.

Regen, trostloser Landregen über einer morgenländischen Stadt, die, wie nichts anderes auf der Welt, blauen Himmel und Sonnenglut verlangt, um ihre bestrickend bunte Eigenart zu zeigen. Jetzt war das alles wie weggespült von den rastlos niederströmenden Fluten. Die streng nach außen abgeschlossenen, kaum mit ein paar vergitterten Fenstern versehenen Häuser, der breiige Morast zwischen ihnen, die triefende Himmelswölbung darüber – wie traurig war das alles, wie öde! Ein Gähnreiz lag über allen Dingen. Man konnte am Leben verzweifeln.

Und doch fühlte sich der Forschungsreisende heute viel besser als am Tag zuvor. Das Fieber war gewichen. Auch die Schmerzen von dem Sturze hatten aufgehört und in der herbstlichen Kühle des Morgens empfand er einen lange in dem Wüstenbrand entbehrten Hunger. Er frühstückte nun mit allem Ernst, von den hübschen, schlampigen Töchtern des Hauses bedient. Aber kaum war er mit den mächtigen, dickschaligen Orangen am Ende der Mahlzeit angelangt, so trieb es ihn wieder hinaus in die frische Luft. Für ihn, der nun so viele hundert Nächte im Zelt unter freiem Himmel, in Negerhütten oder den Häusern der Araber zugebracht, war diese schmutzige und übelriechende Karikatur eines europäischen Hotels ein Greuel.

Wieder stand er draußen auf der Gasse, deren Ueberwölbung ihn vor dem Regen schützte, und schaute in die graue Welt hinaus, Stunde um Stunde, die Cigarette zwischen den Zähnen. Afrika hatte ihn Geduld gelehrt.

Immer stärker brandete jetzt um ihn her das Leben der erwachenden Stadt. Aber es war immer dasselbe Bild, die Einförmigkeit des Orients, der keine Sonderart kennt. Immer die gleichen braunen Gestalten in weißem Mantel, gelben Schlappschuhen und hohen Kapuzen, die gleichen verschleierten Frauen mit den neugierig herumrollenden Augen, die Lastesel, die Ziegen- und Schafherden, die kaum bekleideten Negersklaven, halb Affen, halb grinsende Menschen, die in Lederschläuchen das Trinkwasser schleppten, dazwischen einmal ein Mekkapilger in weißem Turban, ein Schwarm Juden in langem schwarzen Kaftan, schwarzem Käppchen und roter Leibbinde – als wären es immer ein und dieselben Menschen, so kamen die Gestalten, verschwanden und kehrten wieder im Rieseln des Regens.

Aber jetzt tauchten zwei neue Erscheinungen auf, die, wenn auch in Tetuan nicht ungewohnt, doch allgemeines Aufsehen erregten: zwei Europäer! Nicht von der nach Tausenden zählenden spanischen Judengemeinde, deren vorgeschrittenste Glieder auch schon europäische Tracht trugen, ohne doch voll gerechnet zu werden – nein, zwei richtige „Jnglès“, im Reitanzug, den Spazierstock in der Hand, die Stummelpfeife zwischen den Lippen.

An dem seltsamen Unterschied ihrer Körperlänge erkannte der Forschungsreisende schon von weitem die beiden Gentlemen von gestern abend, die Freunde Angelas. Der knochige Hüne rechts mit dem langen, fuchsroten Schnurrbart war der Prinz, von dem sie gesprochen, sein Begleiter, eine kleine, sehniggedrungene Figur, auf der ein glattrasierter, ausdrucksvoller Napoleonskopf saß, der Goldmensch aus Transvaal! Sie standen beide zu Mitte der Dreißig.

„Well, Sir!“ der Yankee trat, lässig den Hut lüftend, heran. „Ich bin erfreut, einem so prominenten Mann die Hand zu schütteln. Mein Name ist Franklin Moore.“

„Ysselstein!“ sagte sein langer Begleiter düster und lakonisch, und dem Afrikaner fiel bei dem Klang des Namens ein, daß dieser gefürstete Nachkomme eines alten Raubrittergeschlechts auch einen Ruf in der Wissenschaft genoß. Allerdings in seiner Weise. Prinz Eitelwulf von Ysselstein war ein Mann, dessen Stumpfsinn alle stubenforschenden Gelehrten zur Verzweiflung brachte! Er führte die schwierigsten Hochgebirgstouren in Europa, in Südamerika und Neuseeland aus, ohne auch nur daran zu denken, daß man durch Höhenmessungen und physikalische Beobachtungen das Herz seiner Mitmenschen erfreuen konnte! Ihm genügte es, daß er oben gewesen war. Alles andere war ja Unsinn! Und ebenso brachte er von seinen tollkühnen Ritten durch Centralasien, seinen Jagdausflügen an der Goldküste und in der Kalahariwüste nicht eine Notiz, nicht eine Thatsache von geographischem Wert aus den vielfach noch unerforschten Ländern mit. Ein Verzeichnis der geschossenen Elefanten und Büffel war das Einzige, was man ihm bestenfalls entlockte. Um sonstige Kleinigkeiten hatte er sich nicht gekümmert und wußte keine Auskunft zu geben. Schließlich hatte man daran verzweifelt, den Kraftmenschen zu den Pflichten des 19. Jahrhunderts zu bekehren, und ließ ihn seine abenteuerlichen Wege wandern, die ihn, wie einst seine Vorfahren über mondbeschienene Heiden und Waldgestrüpp, ziel- und zwecklos über Wasserstraßen und Karawanenpfade von einem Weltteil zum anderen führten.

„Wie befinden Sie sich, Herr?“ fuhr indessen der Kleine heiter lächelnd fort: „Leidlich? Freut mich zu hören! Wir beide sind schon seit Morgengrauen auf! Unter uns gesagt … es ist etwas Eigentümliches um dies … dies Nachtleben in Tetuan. Ich schätze die Zahl der Flöhe hier bedeutend höher als an irgend einem anderen Platz der Welt, den ich kenne!“

[679] „Das Land ist schwach bevölkert,“ bestätigte der düstere Prinz. „Aber die Einwohner sind es desto mehr! Ein Glück, daß wir wenigstens noch für Angela ein sauberes Quartier bekamen.“

„Und wie geht es Frau Angela sonst?“ frug der Afrikaner. „Kann man sie schon sehen?“

Der Kleine schüttelte den Kopf. „Sie ist noch unsichtbar. Zu ermüdet von dem gestrigen Ritt. Hat sich gleich, wie wir in die Herberge kamen, in ihrem Zimmer ihr Feldbett aufschlagen lassen und erklärt, sie käme heute nicht vor Zwölf zum Vorschein.“

„Dann werde ich um zwölf Uhr meinen Besuch machen und mich inzwischen durch ein paar Zeilen anmelden!“

„Thun Sie das, Herr!“ Der Yankee lächelte höflich, während sein reckenhafter Begleiter schweigsam und düster in die Ferne sah. „Auf Wiedersehen! Wir müssen jetzt zum spanischen Konsul!“

„Ich hätte Lust, diesen Konsul, den dicken Lümmel, mit seiner eigenen Schlafrockschnur zu erdrosseln!“ brummte der Prinz.

„Aber nachher giebt er uns, fürchte ich, keine Pässe nach Ceuta. Kommen Sie, Franklin!“

Er grüßte und das ungleiche Paar wanderte die Straße weiter. Der Afrikaner schaute ihnen eine Weile nach, dann kehrte er in sein Zimmer zurück, holte sein Taschenbuch heraus und schrieb mit Bleistift einen Brief.

 „Liebe Freundin!
Das erste, was mir entgegenklang, als ich aus der Wildnis kommend gestern wieder am Nordrand der Kultur auftauchte – das war Ihr Name.

Das schien mir ein gutes Vorzeichen. Ich habe daraufhin meinen Reiseweg geändert und habe gethan, was ich schon so oft seit dreizehn Jahren gethan habe: ich bin hinter Ihnen hergeritten!

Sie wissen, es giebt kaum einen Winkel der Welt, wo wir uns nicht schon getroffen haben, in Sheppards Hotel in Kairo, im Yellowstone-Park drüben überm Wasser, auf den ,Inseln‘ in St. Petersburg, auf den Boulevards von Paris – ach, überall!

Und überall habe ich Sie dasselbe gefragt: Wann Sie endlich meine Frau werden wollen?

Und überall haben Sie nur gelacht. Dasselbe silberhelle Lachen, das ich gestern in der Nacht seit lange wieder zum erstenmal gehört hab’! Eine blonde Malerin, die ich gestern traf, die meinte, Sie hätten ein rechtes Madonnengesicht. Aber ich kenne Sie besser: Echt ist das Gesicht nur, wenn ein spitzbübisches Lächeln darauf liegt, wie es ja auch Ihr verehrter Herr Vater, der Petroleumkönig, besitzt.

Wann werden Sie endlich meine Frau? Als Sie mich vor zwei Jahren abwiesen, hab’ ich die Achseln gezuckt, den Weg in die Wüste eingeschlagen und mir gesagt: Das war das letzte Mal! Nun vergiß sie wirklich!

Ich habe Sie nicht vergessen, und als ich müde von meinen Abenteuern zurückkam, da traf ich sofort wieder Sie, Frau Aventiure!

So hab’ ich Sie damals getauft, in jener Stunde auf dem Montblanc, als wir uns zum erstenmal sahen. Da standen Sie plötzlich hinter mir wie ein Geist in Ihren weißen Schneeschleiern, mit Ihrem Gatten und Ihren Führern.

Oben auf dem Montblanc stellt man sich nicht vor. Da waren wir bald wie alte Freunde. Wir saßen beisammen im Schnee und frühstückten und lachten und deuteten mit der Hand unter uns: da unter Ihrer Stiefelspitze die kleine Spielzeugschachtel ist die Schweiz – und da drüben, dies zerknitterte Ding unter den weißen Lämmerherden von Wolken Südfrankreich, und da hinten, wo eben unten im Thal das kleine Gewitter niedergeht, Italien.

In der Stunde wurde mir frei und leicht. Ich hatte die Empfindung: du hast den Menschen gefunden, der zu dir gehört! Fleisch von deinem Fleisch und Geist von deinem Geist!

Ich bin zu wild und rauh für das Philisterglück. Ich habe es mir nie als so ein zärtliches, blondes Etwas am Kaffeetisch mir gegenüber denken können und ein anderes krabbelndes Etwas unten am Boden und ringsherum die gute Stube.

Das mag andere freuen. Ich brauche einen Kameraden oben auf den Höhen. Und als ich wenige Wochen darauf las, Ihr Gatte sei gestorben – da schien mir auch das wie eine Fügung des Schicksals für mich.

Ein Jahr darauf bat ich Sie, meine Frau zu werden. Sie haben gelacht und mich auf später vertröstet. Seitdem sind zwölf Jahre verstrichen. Ich bin über vierzig und habe mein Leben wahrlich doppelt gelebt. An meinen Schläfen färbt sich das Haar schon grau, und als gestern am Thor von Tetuan einen Augenblick das Streichholz aufleuchtete, da war es mir sogar, als läge auch über Ihren dunklen Haaren schon ein leichter silberner Schein.

Das ist natürlich Täuschung. Aber der Herbst ist nah. Wir werden alt und grau, Frau Aventiure, und müssen die Zeit nutzen, ehe alles traurig und öde wird.

Oder vielmehr: in mir ist’s schon so! Was hab’ ich von diesem ganzen wildbewegten Leben? Nur eine Leere, ein Unbefriedigtsein, ein fortwährendes Warten und Suchen nach dem, was das Leben eigentlich bringen soll.

Sie soll mir das Leben bringen. Ich weiß es ganz genau und werde nicht eher froh. Wir beide gehören zusammen.

Erhören Sie mich diesmal. Ich hatte so eine gläubige Hoffnung, als ich Ihnen gestern durch die Nacht und Wüste im Galopp nachritt: diesmal muß es werden!

Um Zwölf bin ich bei Ihnen.

Möge meine Hoffnung mich nicht täuschen!“

*  *  *

Er versiegelte den Brief und gab ihn dem Berberjungen zur Besorgung nach der nahegelegenen anderen Herberge. Nach kurzem kam der Bengel wieder, lächelte verschmitzt unter seiner Kapuze und meldete, daß der Auftrag ausgerichtet sei.

Der Afrikaner entlohnte ihn mit einem maurischen Silberstück und streckte sich wieder auf dem Lager aus. Er wußte nicht, was ihm fehlte, aber er fühlte sich schwerkrank seit dem Sturze von gestern. Die Beklemmungen im Herzen wollten nicht weichen und wurden stärker und stärker, je mehr der Zeiger seines Chronometers auf Mittag wies.

Die Erregung vor dem entscheidenden Zusammentreffen – weiter war es nichts! Er stand auf und ging im Zimmer hin und her, unermüdlich, eine Stunde um die andere, bis es endlich Zeit war. Der Berberjunge zeigte ihm den Weg. Sie schritten die schmutzige Straße hinab und bogen auf den großen Marktplatz ein. Ganze Hammelherden blökten hier, im Regen zu graugelben Klumpen zusammengedrängt; zu Dutzenden lagen, in der Farbe kaum vom Erdboden zu unterscheiden, die Kamele in dem Schlamme, und endlos wirrte und wogte wie in einem Ameisenhaufen das Gewimmel der braunen Gestalten in braunen Mänteln und hohen Kapuzen schreiend durcheinander. Machten sie auch willig dem Europäer Platz, so kostete es doch Mühe, sich durch all diese unablässig über die engen Gassen hingespülten farblosen Menschen- und Tierwogen den Pfad bis zu der Herberge zu bahnen, die wie die Fonda d’España etwas abseits von dem großen Verkehr zwischen Winkelmauern lag. Am Eingang der Fonda lehnte der Wirt, ein zwerghaft schmächtiger Spanier. Er verstand nur seine Muttersprache und einige berberische und englische Worte. Allen Fragen nach Frau Angela Rey und ihren Begleitern wies er ein lächelndes Kopfschütteln entgegen und deutete mit der Hand die Straße abwärts.

Er mußte schwachsinnig sein, daß er so gar nicht begriff, um was es sich handelte! Aber der kleine braune Bengel wußte Rat. Er sprang davon und kam nach kurzem mit einem europäisch gekleideten jungen Juden zurück, der, den Strohhut lüftend, sich auf französisch bereit erklärte, aus Gefälligkeit den Dolmetscher spielen zu wollen.

„Dann bitte, mein Herr,“ sagte der Afrikaner gleichfalls auf französisch, „fragen Sie diesen Menschen da, warum er mich nicht bei Frau Angela Rey anmelden will! Sie erwartet mich! Ich habe ihr einen Brief geschrieben.“

Der Jude wandte sich in erregtem spanischen Wortwechsel zu dem Inhaber der Fonda, dann wieder zu dem Fremden: [680] „Der Wirt sagt, die Lady habe freilich einen Brief erhalten. Aber eine Stunde darauf sei sie abgereist!“

„Abgereist?“

„Jawohl. Sowie die Pässe vom spanischen Konsul da waren. Mit den beiden Gentlemen und aller Dienerschaft. In der Richtung nach Ceuta. Unterwegs wollen sie eine Nacht am Meer in Zelten lagern.“

„Und was hat sie mir hinterlassen?“

Erneuter Wortwechsel zwischen dem Wirt und dem Hebräer.

Dann zuckte der die Achseln. „Mein Herr, der Wirt sagt, die Lady hat nichts hinterlassen!“

„Gar nichts?“

„Nein. Gar nichts!“

Eine Weile stand der Fremde stumm da. Dann reichte er dem jüdischen Vermittler nach Landesbrauch die Hand. „Ich danke Ihnen,“ sagte er kurz und ging langsam, wie ein Schwerkranker, wieder seiner Herberge zu.


5.

Gegen Abend hatte sich das Wetter geklärt. Vom Mittelmeer herüber wehte eine Brise durch das rauhe Land und scheuchte die Wolkenfluten in ihre Schlupfwinkel in der zerrissenen Wildnis des Atlas zurück. Bald brach die Sonne durch, mit stechenden Abendstrahlen, in deren Glut alles von Feuchtigkeit dampfte, und die weiten Heidestrecken, die mit Agavenhecken umsäumten Gärten, die grünen Saatfelder am Habesch-Fluß sich in eine weiße Rauchdecke hüllten.

Weiter nach dem Meer zu, jenseit des Kap Negro, verlor sich diese Ueppigkeit des Pflanzenwuchses. Als da die Sonne am nächsten Morgen in langen feuerroten Streifen sich aus den blauen Wellen des Ostens hob, übergoß ihr Licht eine jener eigentümlichen Sumpflandschaften, wie sie der Kampf zwischen Ebbe und Flut an flachen Küstenstreifen erzeugt, ein Gewirr von Sanddünen, brackigen, reglosen Morästen, Seewasserpfützen und schlammerfülltem Buschwald, das niedere Höhenzüge nach dem Land zu, muschelbedecktes buntes Kieselgeröll auf der Seeseite abschlossen.

Hart an der Flutgrenze des Mittelmeeres, neben einigen phantastisch aufgerichteten Felszacken stand ein Zelt. Maultiere und Pferde wälzten sich träge daneben am Boden und zwischen ihren angepflöckten Pflegebefohlenen lagen reglos, die Sättel als Kopfkissen unterm Haupt, in verschossene braune Mäntel gewickelt, die Gestalten der Treiber.

Nur zwei Männer waren an diesem frühen Morgen schon wach, dessen bläßlichblaue Wölbung sich klar und kühl über Länder und Meere spannte, und gingen schweigsam, die Cigarre im Mund, die Hände in den Hosentaschen, auf dem knirschenden Kies mit leisem Sporenklirren auf und nieder.

„Hören Sie mal, Franklin!“ sagte der Hüne nach einer Weile und blieb stehen. „Ich muß Sie mal was fragen.“

Well. Fragen Sie!“

„Ich meine … wann gedenken Sie denn eigentlich so ungefähr nach Johannisburg zurückzukehren?“

„Nach Johannisburg? Gar nicht!“

„Na oder nach Amerika. Oder sonstwohin? Irgendwo muß der Mensch doch hin!“

„Das weiß ich nicht. Es gefällt mir hier ganz gut!“

„Wo denn?“

„In Ihrer Gesellschaft, Durchlaucht!“ sagte der kleine Yankee und lächelte liebenswürdig. „Ich wüßte keine bessere.“

Der Prinz drehte ärgerlich seinen roten buschigen Schnurrbart und begann wieder mit seinen langen Beinen den Sand der Dünen zu messen. „Sie sind mir ja auch verdammt sympathisch!“ murmelte er, mit der Reitpeitsche die Disteln am Boden köpfend. „… Aber … schließlich … na kurz gesagt … Einer von uns kann sie ja doch nur heiraten!“

Sein Begleiter lächelte tiefsinnig. „Ich werde Sie zur Hochzeit einladen, Prinz! Seien Sie unbesorgt!“

„Oder ich Sie!“

„Oder keiner von uns den andern!“ ergänzte der Kleine.

„Das kann niemand wissen!“

„Nein. Ich wollte auch nur wissen, ob Sie nicht die Sache aufgeben?“

„Ich denke nicht daran!“

„Ich auch nicht!“

„All right!“ Und einträchtig kehrten die beiden zum Lager zurück. Der Lange schraubte gähnend ein Fernrohr aus und musterte den Strand. „Dort ganz in der Ferne reitet sie,“ brummte er. „Ich sehe so einen weißen Punkt und so ein Gewimmel drum herum. Das ist sie.“

Er reichte das Glas dem Yankee, der bestätigend nickte. „Das ist Angela,“ sagte er und sah auf die Uhr. „Und die zwei Stunden, die sie uns nach ihrem Abmarsch zu warten befohlen hat, sind um. Wir können aufbrechen! Hallo, ihr Kerle!“ Er klatschte in die Hände. „Auf! An die Pferde!“

In dem Getümmel der sich erhebenden Berber und ihrer Tiere blickte der Prinz sauertöpfisch drein. „Sagen Sie um Gottes willen, Franklin,“ frug er endlich, „ich zerbreche mir schon die ganze Zeit den Kopf: was ist denn heute eigentlich in Angela gefahren, daß sie allein mit ihren Leuten vor Tag und Tau vorausreitet und wir ihr erst in zwei Stunden Abstand folgen dürfen?“

Der Kleine suchte lächelnd den weißen Punkt an der Küste. „Sehr einfach,“ meinte er. „Es ist jemand in Tetuan, den sie nicht sehen will! Sie wissen, wer dieser Jemand ist!“

„Ja.“

„Gleich nach seinem Brief ist sie fort. Wir natürlich mit. Es wäre aber möglich, daß dieser Jemand hinter unserer Karawane herreitet. Dann trifft er bloß uns. Und was er sucht, ist verflogen wie der Wind. Das blinkt nur noch ganz ferne dort übern Strand. Wenn er es nicht weiß, kann er es auch mit dem Fernrohr nicht erkennen!“

„Aber was sagen Sie ihm, wenn er nach Angela frägt?“

„Was sie mir aufgetragen hat: Sie sei schon gestern abend an der Mündung des Tetuanflusses an Bord der dort kreuzenden Jacht ,Liberty‘ gegangen. In den Ocean kann er nicht hineingaloppieren. Also kehrt er um!“

„Ach so!“ Der Prinz stieg tiefsinnig in den Sattel und trieb das Pferd an. „Aber er kommt überhaupt nicht. Er sah sehr schlecht aus. Ich glaube, er wird krank!“

„Ich glaube es auch!“ meinte der Yankee gleichmütig und die beiden trabten los.

*  *  *

„Aeh!“ sagte der Riese nach einer Weile ärgerlich. „Wie die Gäule im Sand versinken! Wir kommen nicht von der Stelle! Ich habe dies Herumstrolchen in Afrika satt. Ich sehne mich nach meinen Bergen!“

„In ein paar Wochen sind wir in Chamounix,“ tröstete ihn Franklin. „Sie haben doch unsere Wette mit den Herren vom Londoner Alpine-Klub nicht vergessen?“

„Aiguille du diable und Gipfel des Montblanc an zwei Tagen hintereinander zu machen? Das werde ich vergessen!“

„Und glauben Sie, daß wir’s zwingen werden?“

„Natürlich! Auf den Montblanc wollte ich mich noch verpflichten, Angela führerlos mitzunehmen! Das wäre eigentlich eine Idee! Das giebt dem Ganzen noch so einen …. wie nennt man das …. so einen ästhetischen Anstrich!“

„Schlagen Sie es ihr doch vor! Die kommt gleich mit!“

„Das werde ich auch!“ sagte der Prinz vergnügt und deutete nach vorn: „Jetzt werden wir naß, Franklin! Naß bis zum Sattel! Jetzt geht’s in die Sümpfe!“

Das Meer hing an dieser Stelle weithin mit den in das Innere des Landes sich erstreckenden Morästen auch bei der Ebbe zusammen. Es gab keinen Weg als quer durch den Wasserspiegel, dessen Ausdehnung die rings darin verstreuten Gebüschgruppen kaum erraten ließen.

Zuerst lenkte der Araber, den sie gestern in Tetuan als Führer angenommen, sein Roß hinab in die Flut, die dem geduldig vorwärtsschreitenden Tier bald bis an den halben Leib reichte. Wie ein großer bunter Wasservogel schwamm sein Reiter in seinem weißen Burnus und dem roten Turban auf der blauen Flut und gab durch ein Schwenken der hoch über den Kopf gehaltenen Flinte das Zeichen, ihm zu folgen.

Das Wasser, das krystallklar über den feinen Sandgrund hin dem Meere zurann, umspülte unangenehm kalt die Steigbügel

[681]
Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0681.jpg

Photographie im Verlag von V. Angerer in Wien.
Gute Aussicht.
Nach dem Gemälde von J. Hamza.

[682] und stieg rasch bis zum Knie der Reiter empor. Die fröstelten anfangs etwas unbehaglich. Aber bald gewöhnte man sich an die feuchte Straße, auf der man, vor sich nur den Pferdehals, rechts und links und überall weithin unter sich nur das strömende Wasser, beim Niederblicken fast schwindlig wurde.

Dann tauchten die triefenden Pferdeleiber wieder an das Sonnenlicht empor. Durch gurgelnden gras- und buschbewachsenen Schlamm ging es nun, das Haff, das hier zu tief wurde, zur Rechten lassend, landeinwärts in die Wirrnis von Sumpf und Sand. Wieder stiegen die Rosse plätschernd von dem Ufer hernieder, aber diesmal war es lauwarmer Morast, der sie umgab, eine trübe, reglose Flut, über deren Schilf und schmutzig schillerndem Spiegel zu Tausenden die Stechmücken summten.

Im Kampf mit diesen kleinen Blutsaugern schlug man sich langsam vorwärts, durch Buschwerk und Dünen von dem freien Hauch des Meeres geschieden, unter sich das faulig dünstende Schlammwasser, durch das die Steigbügel und die Beine darin plätschernd schleiften. Eine Rinderherde belebte allein die ausgestorbene Gegend. Mitten aus dem Sumpf hoben sich die gehörnten Schädel stumpfsinnig empor.

Am anderen Ende der Tümpel konnte man endlich auf leidlichem Geröllpfad galoppieren. Blitzschnell flog die Landschaft vorbei, rechts die tiefe Bläue des Meeres, links das stumpfe Braun der Klippen. Die Gegend belebte sich allmählich. Düster blickende bezopfte Rifkabylen schlichen, die Flinte in der Hand, den bepackten Esel vor sich, lautlos an den Hängen dahin; vom Markte kommende Berberhirten, beritten und von frei laufenden Maultieren umgeben, halbnackte braune Fischer am Strande wurden immer häufiger, und in der Ferne stieg, eine malerisch über die Klippen hingegossene Masse von alten Mauern, flachen Dächern und vereinzelt nickenden Palmen, die Feste Ceuta empor.

Sie rückte rasch näher, denn der Weg verbesserte sich zusehends. Da war schon der erste spanische Soldat, als Vorposten der Kultur, dann ein Holzschuppen mit Bänken, auf denen ein ganzer Haufen von Rothosen sich träge sonnte, rings von den Höhen ragten die Wachttürme, die Bollwerke Spaniens im Marokkanerkrieg und jetzt noch ein Schutzgürtel gegen den unabhängigen und selbst dem Kaiser von Marokko nicht unterworfenen Stamm der Adorrakabylen, der in den Schluchten des hochaufgetürmten Dschib-El-Musagebirges als Nachkomme der alten Rifpiraten haust.

Aber die wilden braunen Kerle am Wege begannen sich zu verlieren. Statt ihrer knieten da und dort spanische Soldatenweiber an den Rinnsalen und klopften auf Steinen ihre Wäsche, weiße Kinder stimmten, neben den Pferden mit erhobenen Händen laufend, ihr „cinque Centimos, Señor!“, die unerträgliche spanische Bettlerweise, an, und der holperige Saumpfad verwandelte sich plötzlich in eine breite, baumbepflanzte Chaussee, die in vielen Windungen hinab zu den Festungswerken führte.

Dort wurden von der Wache die Pässe abgenommen. Scheinbar endlos ging es dahin über Zugbrücken und durch Tunnels, in denen die Hufe der Rosse widerhallten, längs der Wallgräben und über weite, mit Pyramiden von rostigen Kanonenkugeln geschmückte Kasernenhöfe bis in die eigentliche Stadt.

Die europäischen Straßen und Läden, die europäisch gekleidete Menschheit, der Trommelwirbel des Militärs, der Anblick der massenhaften, an der Festung bauenden Strafgefangenen mit ihrem Völkergemisch von Weißhäuten, Chinesen und vielen Negern erschreckte die aus dem Innern kommenden Pferde. Zitternd und scheuend tanzten sie über das Pflaster, bald auf die Spiegelscheiben einer Kramhandlung zu, bald gegen einen Laternenpfahl und andere unbekannte Dinge, bis endlich das Gasthaus am Hafen erreicht war.

Einige Dampfer, ein paar spanische Torpedoboote, ein englisches Kohlenschiff und das Kurierfahrzeug der Regierung schaukelten auf der offenen, stark bewegten Reede. Stundenweit rauschten weiter hinaus die Wellen. Dahinter aber stieg im Mittagsglanz ein unwahrscheinlicher, düster ragender Bergkoloß gebieterisch am Horizont empor. In violetten, verschwommenen Tönen von dem tiefblauen Himmel abgegrenzt, stand der Felsen von Gibraltar wie die Verkörperung der Macht an dieser Grenzscheide zweier Welten, an der Pforte zweier Meere da. Die beiden Männer sahen ihn sich an, gähnten und traten in die Fonda.

(Fortsetzung folgt.)     


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Der Meraner Saltner.

Von Karl Wolf in Meran.

In erster Linie ist es allerdings der Burggräfler Bauer selbst, welcher bei andauerndem Sommerregen besorgt durch die Laubengänge der Weinberge schreitet. Die Trauben fangen an unter der sogenannten Rostkrankheit zu leiden, und so herrliche Aussichten der Frühling für die Ernte bot, der nun herrschende Regen scheint sie zerstören zu wollen.

Aber es ist noch jemand da, der über das Regenwetter murrt und brummt, der „Saltner“.

Der „Saltner“, wie in der Meraner Umgebung der Weinhüter, oder besser gesagt, der Flurwächter genannt wird, ist eine so merkwürdige Erscheinung, daß er wirklich der Beachtung wert ist.

Ich habe in den verschiedenen Gemeindeämtern ringsum von Meran Saltnerordnnngen selbst noch aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gefunden, und beim Durchsehen dieser Dokumente wurde ich belehrt, daß das alte „Reglement“ für die Saltner in den Grundzügen sich bis auf die Gegenwart erhalten hat. Dies ist ein Zeichen, mit welcher Zähigkeit der Burggräfler Bauer an seinen alten Sitten festhält.

Um so bewunderungswürdiger ist es, als im Winter Meran als Centrum des Fremdenverkehrs angesehen werden kann, als sich viele fremde Gäste im Laufe der Zeit hier angekauft haben und mitten unter den Bauern leben. Diese fremden Leute bringen viel fremde Sitten in das Land. Und dennoch hat sich die alte, schöne Tiroler Nationaltracht gerade im Burggrafenamte erhalten und ebenso treu die alten Sitten und Gebräuche.

In letzterer Beziehung haben erst heuer Mitglieder der deutschen Südmark bittere Erfahrungen gemacht, als sie versuchen wollten, die Sonnenwendfeier bei uns einzuführen. Hier hat man am ersten Sonntag in der Fastenzeit die sogenannten „Holapfandfeuer“ veranstaltet, aber die Bauern zogen mit Knitteln bewaffnet gegen „den neumodischen Brauch“ aus.

Schon in seiner Erscheinung ist der Saltner ebenso originell wie auffallend. Die Tracht und Ausrüstung ist dieselbe, wie ich sie auf einem alten Bilde mit der Jahreszahl 1735 im Schlosse Lebenberg gesehen habe. Ein gewöhnlicher breitkrempiger Bauernhut wird so zusammengebogen, daß er aussieht wie ein Dreispitz. Dann wird dieser Hut über und über mit Hahnen- und Nachteulenfedern besteckt. Vorgezogen werden die Federn des schwarzen Haushahnes, da dieselben eine ganz besondere Kraft gegen alle Ränke und Anschläge der Hexen besitzen sollen. Vorne am Hut werden sehr häufig zwei Eichhörnchenbälge als Symbol der Gewandtheit befestigt, und von den Ecken baumeln zwei Fuchsschwänze hernieder als Symbol der Schlauheit. Sonst werden wie gewöhnlich die rote Weste, die kurzen ledernen Hosen, welche das Knie freilassen, und weiße Strümpfe sowie der mit Pfauenfederstreifen gestickte breite Lendengurt, „die Bind“, getragen. Anstatt der braunen Lodenjoppe kommt nun aber ein Lederkoller, dessen Unterärmel mit schmalen Riemen an der Schulter befestigt sind. Auf der Brust des Saltners hängen an feinen Kettchen große Eberzähne, welche als Pfeifchen hergerichtet zu Warnungssignalen verwendet werden. Starke, lederne Gamaschen schützen die Unterschenkel. In der Seitentasche der Hosen trägt der Saltner das breite, halbmondförmige Rebmesser; eine Hellebarde, oft ein wahres Museumsstück, ist seine unmittelbare Waffe, während er die hinter der „Bind“ steckende Pistole nur zu Schreck- oder Warnungsschüssen benutzt.

Die Saltner bewachen die Weinberge einer bestimmten Anzahl von Höfen und ein solcher Bezirk wird „die Hut“ genannt. Jeder Hof ist Eigentümer irgend eines Stückes der [683] Saltnerausrüstung, um so die Zusammengehörigkeit der „Hut“ zu bezeichnen. Im Haupthause der „Hut“ befindet sich die „Rungel“. Das ist ein schweres vierzig Centimeter langes und zehn Centimeter breites Messer, mit allerlei Zeichen versehen. Mond und Sterne sind darauf eingeschlagen, zum Zeichen, daß der Saltner die Nacht wachsam sein soll, oft auch ein mit dem Saltner ringender Teufel, und nie fehlt das Drudenkreuz, das gegen die Druden, d. h. Nachtgeister, schützen soll und folgende Gestalt hat (Pentagramm). Die Rungel führt auch den Kosenamen „’s Greatele“ (Gretchen) und der Bauer, der sie aufbewahrt, heißt darum der „Gretlbauer“.

Ist ein Bursche von den „Hutbauern“ zum Saltner erwählt, und dies ist eine große Ehre, denn er muß ein tadelloses Vorleben haben und wird von der politischen Behörde in Pflicht genommen, so stellt er sich beim „Gretlbauer“ und spricht: „Die Ehr zu danken kumm i, daß mi die Wahl troffen hat, und wenn a Wein im kühlen Keller wär, den Antrunk machet i zur gerechtsamen Hut.“ Der „Gretlbauer“ bringt nun einen Krug Wein, trinkt davon mit dem Spruche: „’s Vertrauen hat schon in Richtig’n troff’n. Beschütz es und ehr’s.“ Hierauf reicht er dem Burschen den Krug, welcher bedächtig leergetrunken wird. Dann wird dem Saltner die Rungel übergeben, welche er an der rechten Hüfte befestigt, und er beginnt seinen Rundgang auf den betreffenden „Huthöfen“, um die einzelnen Stücke seiner Ausrüstung zu sammeln. Ueberall wird der obligate Krug Wein getrunken, und wenn der Saltner sich vom letzten Hofe seiner Hut entfernt, so schaut ihm wohl der Bauer schmunzelnd nach. „Dös werd a saggrischer Saltner,“ sagt er, „den reißt’s nit glei um.“ Diese Bemerkung ist bedeutungsvoll, wenn man bedenkt, daß der Bursche im Laufe des Nachmittags vielleicht fünf Liter Rotwein getrunken hat.

Auch die „Diandlen“ schauen dem Saltner mit freundlichen Blicken nach. Wird er doch für die Zeit seiner Hut wenigstens einen Tag in der Woche Hausgenosse; denn der Saltner hat während seiner Dienstzeit die Kost abwechselnd in jenen Bauernhöfen, deren Weingärten er überwachen soll. Seine Kammer giebt er für diese Zeit auf und bereitet sich da und dort in den Häusern, in irgend einem Winkel der Scheune eine Lagerstätte. „Ma soll nit wiss’n, wo a Saltner schlaft,“ sagt man im Burggrafenamte. „Ma soll nit wiss’n, wo a Saltner fensterlt,“ sagt dieser.

Um Jacobi beginnt der Dienst der Saltner. Durch die Weingärten führt eine Menge gern erlaubter und der Abkürzung und des Schattens wegen viel benützter Wege. Von diesem Tage an werden sie aber „Pfandwege“. Der Saltner stellt bei der Einmündung derselben einen Pfahl auf mit einer roh aus einem Brette geschnittenen Hand, die mit Dornenzweigen geziert ist: „Die Saltnertatz“. Der Weg ist nun nicht gerade verboten, aber wer auf einem solchen vom Saltner getroffen wird, zahlt ein „Pfandgeld“ von fünf Kreuzern. Auch auf offenen Wegen pflegt der Saltner den „Stadtlinger“ um einen Tabakkreuzer anzusprechen.

Da und dort errichtet der Saltner zumeist aus Maisstengeln Schutzwände, hinter welchen er auf Diebe lauert, oder er baut sich einen Auslug auf einem hohen Baum. Das Gerichtsverfahren ist zumeist ein sehr einfaches. Traubenstehlende Kinder stäubt er einfach mit einer Rute durch. Erwachsene Personen führt er auf jenen Hof, zu welchem der Weingarten gehört, in dem gestohlen wurde, und da kann sich der Ertappte mit Geld abfinden. Bei einem größeren Diebstahl wird der Gefangene aufs Gemeindeamt geführt.

Ich begegne nun der Frage, auf welche Weise die Weingartenbesitzer sich die Ueberzeugung verschaffen, daß der Saltner seinen ganzen Bezirk auch fleißig abstreift. Sehr einfach. Der Saltner hat auch die Obliegenheit, um die Weingärten gegen Eindringen des Viehes zu schützen, die Sperrzäune in Ordnung zu halten und etwa losgegangene Latten mit den überall wachsenden Weiden festzubinden. Der Saltner streift nun, zum Zeichen, daß die Reparatur frisch gemacht ist, vom Weidenzweig das Laub nicht ab; der Bauer hingegen reißt, um die Wachsamkeit desselben zu prüfen, nicht ungern da und dort einmal eine Latte los. Ist die Stelle dann einige Tage nicht repariert, so muß sich der Saltner viel Sticheleien gefallen lassen.

Der Saltner hingegen findet in dieser Sache wieder fleißige Bundesgenossinnen. Wenn er bei einem Diandl zum Fensterln geht, versäumt er gewiß nie die Bitte: „Gelt du Herzsüße, a brochns Zäundl, wenn d’ findest, selb bindest auf mit einer Laubrute. Es wachsen eh Röserln drauf, wenn du’s thust.“

Die schöne Leserin wird nun meinen, das ist allerdings gute Aushilfe im Weingarten des einen Hofes. Der Saltner hat aber viele Höfe in seiner Hut. Da will ich nun ein Saltnerliedlein bekanntgeben, welches sagt:

„Zwei Diandlen z’ liaben,
Sell macht miar nit hoaß,
Der oan muaß ma schönthuan,
Daß die andre nix woaß.“

Der Saltner schleicht auch die Nacht an das Haus des Weinbergbesitzers, um zu „wetzen“. Dies geschieht, indem er mit seiner Hellebarde in Bogenlinien unter dem Fenster der Schlafkammer des Bauern fest an der Mauer so lange hin und her streicht, bis derselbe durch Klopfen an das Fenster anzeigt, daß er seinen diensteifrigen Saltner gehört habe. Daß ein Mann, welcher so viel in der Nacht herumstreifen muß, welchem sogar der Besuch der Kirche für die Zeit der Hutdauer geschenkt ist, im hohen Grade den Nachstellungen der Hexen und der Geister ausgesetzt ist, gilt als selbstverständlich.

Aber da hat er auch seine Gegenmittel. Er trägt an einer Schnur um den Hals geweihte Pfennige von Maria Einsiedel, dann einen geweihten Rosenkranz in der Hosentasche und noch einige geweihte Pfennige im ledernen Geldbeutel.

Die Hauptsache aber ist das „Kreuzeisen“. Dieses hat die Form des Eisernen Kreuzes, nur ist es vielleicht zweimal so groß. Es sind auf ihm alle möglichen Zeichen eingeschlagen, deren Bedeutung niemand mehr kennt, welche aber auf allen Kreuzeisen vorkommen. Das Drudenzeichen bildet die Mitte.

Der Träger dieses Kreuzeisens kann ruhig zuschauen, wenn die Hexen in der Au tanzen, oder wenn die Saligen Fräulein durch die Lüfte ziehen, oder wenn der Teufel zur Nachtzeit durch die Rauchfänge der Häuser späht, ob nicht eine arme Seele abzufangen wäre. Ihm können all diese finstern Mächte nichts anhaben. Die Hexen haben sich in früherer Zeit auch oft Mühe gegeben, ein solches Kreuzeisen einem Saltner abzuschmeicheln.

So geschah es auf der alten Vintschgauer Straße, wo die Etsch sich über das starke Gefälle der Töll in den Thalkessel von Meran stürzt. Da war einmal ein Saltner. Ein junger, schwarzlockiger Bursche mit treuherzigen, blauen Augen, wie man es nicht selten sieht bei den Leuten des oberen Etschthales. Die Mädchen aus dem Dorfe Algund, wo er als Knecht bedienstet war, schauten ihn gern an und lächelten ihm ermunternd zu. Ja sogar die reichen, stolzen Bauerntöchter verschmähten es nicht, an Sonntagen seinen Hut mit roten Nelken zu schmücken. Und rote Nelken bedeuten Liebe in Tirol. Er aber nahm die Blumen freundlich entgegen, kamen sie nun von der Anna, oder der Marie, von der erbgesessenen Tochter, oder von der Magd. Auf dem Thalerhofe lebte ein Witwer mit seiner einzigen Tochter. Diese war sehr schön, aber die jungen Burschen fürchteten sich, ihr zu nahen, denn ihre verstorbene Mutter stand im Rufe einer Hexe, und man flüsterte sich zu, sie habe solch’ unheimliche Kunst auch ihrer Tochter vererbt. Die Thaler Kundi stellte nun dem jungen, schönen Knechte nach auf jede mögliche Weise. Er aber schien es nicht zu bemerken und nahm ihre Aufmerksamkeiten mit derselben Ruhe und Kälte entgegen wie von den anderen Mädchen. Er wurde oft und oft gewarnt vor der Thaler Kundi. Aber er lachte dazu und meinte: „Mir kann nix ankommen, i hab allwegs a Kreuzeisen bei mir.“ Das wurde einmal der Kundi hinterbracht, und diese nahm sich fest vor, dem Burschen das Kreuzeisen abzulocken, um ihn in ihre Gewalt zu bekommen.

Sie hatte noch nie von der „schwarzen Kunst“ Gebrauch gemacht, von der sie thatsächlich einiges verstand.

Es kam die Zeit der Saltnerhut heran und der junge Bursche trat seinen Dienst an. In einer herrlichen, mondhellen Nacht war es, da vernahm er oben auf dem Plarschersegg einen wunderherrlichen Gesang, der ihn mit fast unwiderstehlicher Gewalt anzog. Da fand er eine Mädchengestalt auf einem großen Felsen sitzend, wie er sie noch nie geschaut. In herrlichen, langen, schwarzen Locken wallte das Haar um die Schultern der Singenden. Sie war in ein silberschimmerndes Gewand gehüllt und in ihren [684] Haaren leuchtete es wie Johanniswürmchen. Das waren purlautere Diamanten. Mit ihren feinen Fingern strich sie leise über die Saiten einer goldenen Zither und sang:

Dandaradei! Dandaradei!
Wo weilst du, mein liebster Knabe?
Dandaradei! Dandaradei!
Weißt du nicht, daß ich mich nach dir sehne?
Dandaradei! o komm! o komm!
Dandaradei!

Furchtlos näherte sich der Saltner der Sängerin.

„Wer bist denn du?“

„Ich bin die blühende Rose aus dem Kranz der Saligen Fräulein. Fürchtest du dich?“

„O na,“ sagte der Saltner. „Ja wenn d’ a schiache (häßliche) Hex g’wes’n wärst, zelm könnt’s sein. Aber vor so was Schöns fürchten, thät mi närrisch teuch’n.“

„Komm, setze dich an meine Seite, ich will dir die schönsten Lieder spielen.“

Der Saltner wußte nicht, wie ihm geschah. Er mußte der Einladung Folge leisten, und alsbald saß er an ihrer Seite.

Solche Melodien hatte er freilich nie gehört, wie sie das Salige Fräulein spielte. Es zog wie ein lieblicher Traum durch seine Seele und alsbald sank sein Kopf schlafmüde in den Schoß der Hexe.

Durch einen fürchterlichen Schrei wurde er aus dem Schlummer geweckt. Das Salige Fräulein war verschwunden und wo sie gesessen, lag rotglühend das Kreuzeisen, welches sie dem träumenden Burschen entwenden wollte.

Das Kreuzeisen war aber rotglühend geworden, eine solche Zauberkraft hatte es, und die Thaler Kundi hatte am anderen Tag eine häßlich verbrannte Hand. Von einem Pfannenstiel sagte sie. Der Saltner aber wußte das besser. –

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0684.jpg

Meraner Saltner.
Nach einer Aufnahme des Photographen H. Breßlmaier in Meran.

In manchen Bezirken darf der Saltner nie in einem Hause schlafen, sondern es sind sogenannte „Saltnerhütten“ errichtet, in welchen eine Bürde Stroh, eine Wolldecke und ein mit Heu gefüllter Sack das Lager bilden. Der Saltner soll nie die ganze Nacht durchschlafen, sondern seinen ganzen Bezirk abwandern und nur hier und da in einer der Hütten eine Stunde der Ruhe pflegen.

In einer alten Saltnerordnung, die ich besitze, und welche aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammen dürfte, wird folgende Bestimmung erlassen, deren Zweck war, die Wachsamkeit des Saltners zu kontrollieren: „Ain jede Herrschaft soll ain knecht oder zween dray nächt vor dem wymat (wimmen, Weinernte) hinaus den saltner schiken und sollen bay jeder hütt drai zimlich schrey tun und ist kain saltner bei der hütt sollen sie sain pettgewandt nehmen und beim Wirt trauf trinken zimblich.“

Diese Worte dürften einer Saltnerordnung des Schlosses Schöna bei Meran aus der Zeit um das Jahr 1500 entnommen sein.

Es geschieht noch heute nicht selten, daß kecke Burschen dem schlafenden Saltner Hut und Hellebarde stehlen und beim Wirt gegen einige Liter Wein versetzen. Der Saltner findet dann an einer auffallenden Stelle einen Zettel mit der Inschrift:

„Saltner haun haun![1]
Die Kästn[2] sein braun,
Die Weimer[3] sein süaß,
Beim … Wirt haben mir versoffen Huat und Spiaß.“

Der arme Teufel muß dann eben schauen, wie er seine Sachen wieder bekommt. Dafür aber nimmt er Rache. Er treibt allerlei Schabernack, wenn er Burschen findet, welche „Gaßlen“ oder „Fensterln“ laufen. Wenn er meint, jene herausgefunden zu haben, welche ihm „Huat und Spiaß versoffen“, dann ruht er nicht eher, bis er weiß, mit welchem Diandl die Betreffenden Liebschaften unterhalten.

Dann ruft er heimlich alle Freunde zusammen und vor den Fenstern der Diandlen wie vor jenen der Burschen werden aus Sägespänen auf dem Boden große Herzen gezeichnet und diese mit einem etwa zehn Centimeter breiten Streifen Sägespäne den ganzen Weg entlang, oft eine Stunde weit, verbunden, zum Gaudium der ganzen Gemeinde – aber nicht immer zum Vorteile der zu bewachenden Weingärten.

Wenn das Winzern beginnt, so steckt sich der Saltner einen Wetzstein in die Tasche und geht herum, die Rebmesser zu schärfen, mit den Bauerndiandlen zu scherzen und herzhafte Züge aus dem „Bitterich“ (Kürbisflasche) zu machen, denn beim Winzern muß Wein zu beliebigem Zuspruch genügend da sein.

Ist die Wein- und die Kastanienernte vorbei, dann versammeln sich die Bauern der gemeinsamen Hut „zur Roatung“ (Abrechnung) beim Dorfwirt. Der Saltner hat sich seiner Amtstracht entledigt, fein sauber rasiert, was er während der Dienstzeit nicht thun darf, und aus dem Fenster der Gaststube steckt er eine Stange; daran hängt, mit roten Bändern geschmückt, „die Rungel“, zum Zeichen, daß in diesem Hause „Saltner Tinzltag“ (Ehrentag, Tanztag) sei. Es wird ein ordentlicher Schmaus, bestehend aus Kalbsbraten mit Zwetschgen und Schweinebraten mit Kraut, gehalten, die Bauern zahlen je nach der Größe ihrer Grundstücke dem Saltner „’s Huatgeld“ aus, und für den jungen Burschen beginnt wieder das Alltagsleben, allerdings nicht so einförmig, wie in manchen Ländern das Leben eines Bauernknechtes ist.

Jedes kirchliche und weltliche Fest in den verschiedenen Thälern Südtirols bringt eine Menge oft sehr origineller Bräuche mit sich, welche heute alle noch eingehalten werden. Dann haben die jungen Leute allerlei „Kurzweil“ und sind unerschöpflich im Ersinnen lustiger Streiche.


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Dunkle Gebiete der Menschheitsgeschichte.

Die Höhlenlabyrinthe in Bayern und Oesterreich.
Von Eduard Grosse.

Seit uralten Zeiten haben die Menschen in Höhlen Zuflucht gesucht, anfangs in Naturhöhlen, in denen sie sich häuslich niederließen, später in künstlichen Höhlen, die sie zu Wohnzwecken in weiches Gestein oder geeignetes Erdreich gruben. Noch heute werden hier und dort solche Höhlenwohnungen geschaffen. In den mächtigen Lößlagern Chinas findet man sogar ganze Dörfer, die in den Löß eingegraben sind, der bekanntlich die Eigenschaft besitzt, an der Luft zu erhärten und auch ohne Ausmauerung genügende Sicherheit gegen den Einsturz zu gewähren.

Diese Eigenschaft des Löß war auch Völkern, die vor uns Deutschland bewohnten, wohl bekannt, und sie legten in ihm sowie in weichem Sandstein eigenartige Höhlen an, die unter dem Namen „Erdställe“ in Mähren, Niederösterreich und Bayern bekannt sind und seit einigen Jahrzehnten den Scharfsinn der Altertumsforscher herausfordern, da ihre ehemalige Bestimmung noch immer von dem Schleier des Geheimnisses verhüllt ist.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0685 1.jpg

Das Höhlenlabyrinth zu Lechwitz in Mähren.
Blick von innen mich dem Eingänge.
Eingang in einen Höhlenbau.
Innerer Gang mit Abzweigungen im Hintergrunde.

Auf diese sonderbaren Höhlen wurde man zumeist durch Einsinken von Pferden, das während des Ackerns erfolgte, aufmerksam. So versank im Jahre 1813 unweit des Lechwitzer Schlosses in Mähren ein Ackerpferd mit den hinteren Beinen so tief in das aufgelockerte Erdreich, daß es großer Anstrengung bedurfte, das Pferd wieder herauszuheben. Wo es eingesunken war, entdeckte man ein tiefes Loch, das zum Eingang einer künstlichen Höhle führte, die zuerst vom Lechwitzer Amtmann Zelinka untersucht und beschrieben wurde. Man schüttete damals den Bau wieder zu, und er geriet in Vergessenheit. Im Jahre 1857 sank abermals ein Pferd ein, und nun beauftragte die Regierung den Altertumsforscher Mauriz Trapp, eine gründliche Untersuchung vorzunehmen. Diese ergab, daß der Erdstollen aus fünf Gemächern und verbindenden Gängen bestand, alle von geringer Höhe und die Decken in Spitzbogen ausgehauen. Der Eingang, welcher ursprünglich frei lag, war hoch mit aufgeschwemmter Humuserde bedeckt, deren Mächtigkeit Zeugnis ablegt für das hohe Alter des Höhlenbaues. Unsere obenstehenden Bilder zeigen den Eingang in den Höhlenbau, den Blick von innen nach dem Eingänge, und einen Gang mit Spitzbogenkammern nach den Zeichnungen, die s. Z. im Auftrage des mährischen Landesausschusses aufgenommen wurden.

Durch das Einsinken von Zugtieren und durch andere Zufälle wurden da und dort immer mehr Höhlenbauten entdeckt; dadurch aufmerksam gemacht, nahmen die Altertumsforscher sowohl in Oberbayern wie auch in Niederösterreich eine umfangreiche, wissenschaftliche Durchforschung der rätselhaften Erdstollen vor.

Die gesamten Höhlenbauten Bayerns und Oesterreichs sind nach gleichen Grundgedanken angelegt. Eine Abweichung zeigt sich nur in der verschiedenen Deckenform, die bald im Rundbogen, bald im Spitzbogen mehr oder weniger kunstvoll ausgehauen ist.

Auffallend ist die allgemeine Niedrigkeit der Gänge sowohl als der Kammern. Erstere muß man fast immer in gebückter Stellung durchschreiten oder noch öfter langausgestreckt auf Händen und Beinen durchkriechen. Auch die Kammern sind sehr niedrig, so daß ein großgewachsener Mann darin selten vollständig aufgerichtet stehen kann. Der Querdurchmesser der Kammern schwankt zwischen 1 und 4 Metern, der Durchmesser der Gänge ist meist so gering, daß ein Mann eben hindurchschlüpfen kann. Die Maße sind alle zwerghaft, und wenn das Volk des Mittelalters, welches die ehemalige Bestimmung der Erdhöhlen nicht mehr kannte, dieselben sagenhaft als Zwergwohnungen auffaßte, so war das dem damaligen Zeitgeiste ganz entsprechend. Noch heute werden die Höhlen in einigen mährischen Landstrichen vom Volke „Zwirglhöhlen“ genannt.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0685 2.jpg

Grundriß des Höhlenlabyrinthes von Unterretzbach.
(Die Buchstaben K bezeichnen die Kammern, G die Gänge, F die unerforschten Fortsetzungen der Gänge. Die punktierten Linien bedeuten übereinander liegende Bogengänge oder Irrgänge.)

Der Umfang der Höhlen ist verschieden. Man findet kleine Anlagen, aber auch wieder erstaunlich umfangreiche Bauten, die sich kilometerweit unter der Erde hinziehen und ein vollständiges Labyrinth von auf- und niedersteigenden, sich verzweigenden, sich krümmenden, in sich zurückkehrenden Gängen und dazwischenliegenden Kammern bilden. So entdeckte Pfarrer Lambert Karner in dem österreichischen Dorfe Röschitz ein Höhlenlabyrinth, das sich unter vielen Bauerngehöften hin erstreckte und zu dessen Erforschung er nahezu drei Tage Zeit brauchte. Das Labyrinth war zwar nicht mehr vollständig zugänglich, die Grundmauern und Keller der Häuser hatten es in einzelne Teile zerschnitten, der Grundriß der Anlage läßt jedoch erkennen, daß ehemals die einzelnen Teile alle zusammenhingen und ein Ganzes bildeten. Umfangreich ist auch das Labyrinth von Unterretzbach, das sich der Sage nach eine halbe Stunde weit unter der Erde fortsetzen soll, und von dessen erforschtem Teil wir den Grundriß in Abbildung bringen.

Die unterirdischen Gänge und Kammern sind natürlich vollständig dunkel, da kein Lichtstrahl in dieselben fallen kann. Wer sein Leben nicht aufs Spiel setzen will, darf sie daher ohne ein mitgenommenes Licht und ohne sonstige Vorsichtsmaßregeln nicht beschreiten. Als sie noch von ihren Erbauern und deren Nachfolgern benutzt wurden, fand sich der Eingeweihte mit Hilfe von handgroßen Vertiefungen [686] zurecht, die an verschiedenen Stellen in die Wände eingehauen sind, und die daher von den Altertumsforschern „Tastnischen“ genannt werden. Wer mit dieser Zeichensprache genau vertraut war, konnte das Labyrinth auch ohne Licht besuchen, der Fremdling dagegen durfte das nicht wagen, denn die Gefahr des Verirrens war zu groß.

Infolgedessen ist auch die Erforschung der Höhlen nicht gefahrlos, umso mehr als dieselben stellenweise schon eingestürzt sind und fortwährend neuer Einsturz droht. Wer sich, auf dem Bauche liegend, durch die engen Eingänge zwängt, muß stets befürchten, daß hinter ihm ein Einsturz stattfindet, der ihn von der Außenwelt abschneidet. Aber auch sonst erfordert das Betreten der Höhlen Mut und Kaltblütigkeit. Die Gänge laufen oft steil nach oben, man muß sich in ihnen nach Schornsteinfegerart emporarbeiten, andernteils fallen sie ebenso steil wieder nach unten, und kriecht man mit dem Kopfe voran in dieselben hinein, so kann man leicht einen unerwünschten Kopfsturz in die Tiefe machen. Verliert man dabei das Licht, so kommt man in Gefahr, sich in dem dunklen Labyrinthe zu verirren. Dazu drückt die schwüle Luft betäubend auf das Hirn, der Schweiß rinnt aus allen Poren des Körpers, und eine unheimliche Angst schnürt die Brust zusammen. Alles ist zu eng. In den Gängen kann man sich nicht frei bewegen, in der schweren Luft nicht frei atmen. Das alles trägt dazu bei, die Sinne zu verwirren, und hierin liegt fast eine größere Gefahr als in den Labyrinthgängen selbst. Offenbar wurde dieser unheimliche, sinnverwirrende Eindruck mit Vorberechnung angestrebt, um dadurch die Gefahr des Verirrens zu erhöhen.

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0686 1.jpg

Gang. 0 Kammer mit Gang- 0 Gang. 0 Gang in 0 Gekrümmter Gang. 0 Kammer mit 0 Gang.
öffnung in die Tiefe   die Tiefe.   Luftloch.
und Luftloch.  

Teil eines Höhlenlabyrinthes im Durchschnitt.

Von diesem Umstande abgesehen, machen die sauber ausgehauenen Kammern einen verhältnismäßig günstigen Eindruck, der in einigen besonders schön angelegten Räumen selbst bis zum staunenden Bewundern steigen kann. Es wurden Gemächer entdeckt, die durch regelmäßig eingehauene Nischen und sorgfältig gearbeitete Spitzbogen einen überraschend schönen, fast weihevollen Eindruck machten. Einen solchen Raum entdeckte der Pfarrer Karner in dem großen Labyrinth zu Röschitz. Er schreibt darüber: „Als Licht und Auge den Raum vor mir streifte, da wäre beinahe das Licht meiner Hand entfallen – nicht vor Furcht und Entsetzen, sondern vor Ueberraschung über den wundervollen Bau desselben. Unwillkürlich entfuhr meinen Lippen ein Ruf des Erstaunens, denn was ich schaute, versetzte mich sozusagen in eine ganz andere Welt, und ich glaube, selbst die kühnste Phantasie hätte diesen Anblick nicht geahnt. Ein Heiligtum in dem ausgesprochensten Sinne des Wortes glaubte ich betreten zu haben! Ein schmaler, langgestreckter, zu einem scharfkantigen Spitzbogengewölbe sich verjüngender Raum lag vor mir. Hätte ich doch eines Künstlers Hand, um dieses Bild fixieren zu können! Es klingt zu prosaisch, diesen Raum eine ,Kammer‘ zu nennen. Die Bezeichnung ‚gotische Kapelle‘ drückt noch am annäherndsten die Vorstellung aus, die man sich davon machen kann.“

Diese vollendet schönen Kammern bilden freilich Ausnahmen. Die große Mehrzahl ist gewölbeartig ausgehöhlt, an den Wänden befinden sich oft Bänke, die aus dem Erdreich ausgehauen sind, desgleichen mehr oder minder große vertiefte Nischen.

Die Gänge münden nicht immer zu ebener Erde in die Kammern, sondern der Fußboden der letzteren liegt oft beträchtlich tiefer, so daß man vom Gang aus in die tiefergegrabene Kammer hinuntersteigen muß. Das läßt auch die untenstehende Abbildung der „Spitzbogenkammern“ erkennen, wo in der oberen Kammer der Gang im Hintergrunde in Bodenhöhe weiterführt, während er in der unteren Kammer in ziemlicher Höhe vom Boden mündet.

Um einen annähernden Begriff von der Anlage der Erdbauten zu geben, bilden wir den Teil eines Höhlenlabyrinthes auch im Durchschnitt ab. Leider ist es nur möglich, auf diese Weise die Gänge und Kammern abzubilden, die in einer Linie liegen. Das Labyrinth dehnt sich natürlich nach allen Seiten aus, und diejenigen Gänge und Kammern, welche in die Tiefe führen und hinter dem abgebildeten Teile liegen, entziehen sich der Wiedergabe. Man muß sich demnach dieselben rechts und links, wie auch in die Tiefe fortgesetzt denken, um ein annäherndes Bild der Wirklichkeit zu gewinnen. Ferner steigen die Gänge oftmals nach oben auf, teils allmählich, teils schornsteinartig, und führen zu höhergelegenen Kammern, die sich wie die Stockwerke eines Hauses über den unteren Kammern als obere Etagen befinden.

Der Bau so umfangreicher Labyrinthe erforderte offenbar viel Arbeitsaufwand, dazu auch bewundernswerte Ausdauer und Geduld. Denn die niedrigen Gänge, welche man nur in ausgestreckter Lage durchkriechen kann, mußten natürlich auch in einer ähnlichen Körperlage ausgehöhlt werden. Liegend zu arbeiten ist jedoch ungleich schwieriger, als stehend zu hacken und zu schaufeln. Bedenkt man ferner, wie umständlich das Hinausschaffen der ausgegrabenen Erde war, die bei umfangreichen Erdbauten durch viele Kammern und enge Gänge nach außen befördert werden mußte, so fragt man sich wohl erstaunt, wer sich die anstrengende Arbeit machte, diese weitverzweigten Höhlen zu graben, und welchen Zweck dieselben haben mochten.

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Rundbogen- und Spitzbogenkammern.

Bevor die künstlichen Höhlen wissenschaftlich erforscht waren, nahm man an, sie seien von den Landleuten während der Schweden- und Türkenkriege als geheime Zufluchtsstätten gegraben und benutzt worden. Diese Annahme erwies sich jedoch nach der wissenschaftlichen Durchforschung als irrig. Die Höhlenlabyrinthe sind viel älter, sie gehören höchst wahrscheinlich der vorgeschichtlichen Zeit an und wurden vielleicht schon lange vor unserer Zeitrechnung gegraben. Die Werkzeugeinschnitte, welche noch an den Wänden vieler Höhlen sichtbar sind, zeigen stets dieselben Formen, nämlich Einschnitte von einem spitzen und einem breiten, an der Schnittfläche [687] gerundeten Werkzeuge. Die breiten Einschnitte haben genau die Form von Schneiden, wie man sie an vorgeschichtlichen Bronzeäxten findet; man ist daher geneigt, die Höhlen der vorgeschichtlichen Bronzezeit zuzuschreiben. In einem mährischen Höhlenbau fand man einen Steinhammer, ein als Spitzhacke zugerichtetes Hirschgeweih und eine hölzerne Schaufel, also Funde, die auf eine noch ältere Zeit hindeuten, auf die sogenannte Steinzeit, in welcher die Metalle noch unbekannt waren.

Als Wohnungen haben die Höhlen offenbar nicht gedient, denn in keiner derselben fand man Spuren, die auf ehemalige Bewohner schließen lassen. Der Fußboden war stets sehr sauber, nirgends fand man Speiseüberreste und dergleichen, so daß man nicht einmal an eine vorübergehende Wohnstätte in Zeiten der Gefahr mit Bestimmtheit glauben kann. Als Wohnungen waren die kleinen, engen Kammern überhaupt ganz ungeeignet, weil sich beim längeren Aufenthalt mehrerer Personen in denselben die Luft bald so verschlechtern mußte, daß der Aufenthalt gesundheitsschädlich wurde. Ueberdies gewährten die Höhlen auch keinen sicheren Schutz. Denn die engen Gänge, welche die Verfolger abhielten, wurden natürlich für die Eingeschlossenen gleich gefährlich, sobald diese durch Nahrungsmangel oder durch eine Kriegslist der Belagerer gezwungen wurden, die Höhlen zu verlassen. Letztere konnten z. B. Wasser in die Luftlöcher gießen oder Rauch in die Höhlen verbreiten und dadurch die Darinbefindlichen zum Verlassen ihrer Zufluchtsstätte zwingen.

Viel wahrscheinlicher ist die Annahme, daß die Höhlenlabyrinthe Kultuszwecken dienten. Man führt zur Begründung dieser Ansicht an, daß die kleinen Nischen als Fackel- und Lichthalter, die großen dagegen zum Einstellen von Urnen gedient haben mögen. In der Decke vieler Gänge befinden sich enge röhrenartige Luftlöcher. Mitunter gehen diese Löcher auch von tiefen, in Mannshöhe angebrachten Nischen aus. Einige Forscher wollen in diesen Luftlöchern eine Art von Sprachrohr erkennen. Stellte sich ein Mann in die Nische und redete in das Sprachrohr, so wurde seine Stimme an der Oberfläche gehört; auf diese Weise sollen altheidnische Priester dem versammelten Volke ihre Orakelsprüche aus der geheimnisvollen Tiefe der Erde verkündet haben. Das sind jedoch ungenügend bewiesene Annahmen. Würde man in den Höhlenlabyrinthen Urnen oder Skelette finden, so könnte man sie mit Gewißheit für Grabstätten erklären. Man fand jedoch weder diese noch andere Spuren eines ehemaligen Gebrauches, nichts erinnert an das Vorhandensein von Menschen als nur der Rauch, der sich oberhalb der Lichtnischen an der Decke vieler Kammern befindet. Dieser Rauch rührt offenbar von Fackeln oder Lichtern her, die zur Erleuchtung der unterirdischen Räume dienten. Was jedoch die Menschen beim Licht ihrer Fackeln hier vornahmen, ob gute oder böse, ob religiöse oder weltliche Handlungen, das wird wahrscheinlich niemals vollständig aufgeklärt werden.


Schloß Josephsthal.
Roman von Marie Bernhard.

 (7. Fortsetzung.)


16.

Nun, Herr Hagedorn,“ brach der Rechtsanwalt nach längerer Zeit das Schweigen und sah seinen jungen in sich gekehrten Begleiter aufmerksam von der Seite an, „Sie haben mir etwas mitzuteilen?“

Hagedorn biß sich in die Lippe und atmete schwer. „Allerdings, das hätte ich wohl!“ sagte er gedrückt.

„Also, bitte! Was ist es?“

Der junge Mann blickte über seine Schulter zurück. Das stolze, hochragende Gitterthor des Parkes lag bereits ein ganzes Stück hinter ihnen. Da der Rechtsanwalt den Weg zur Walzmühle einschlug, so mußten sie die Lindenallee kreuzen und kamen alsbald auf freies Terrain, eine Art Feldweg, der sich zwischen niedrigen Hügeln und Weizenbreiten hinwand. Zur Walzmühle war es noch etwa zwanzig Minuten zu gehen, man gewahrte sie von hier aus noch nicht, da sie mehr im Thal lag und mehrere Wegkrümmungen sich dazwischen schoben.

„Sind Sie, Herr Justizrat,“ begann Raimund stockend, „der – der Mordaffaire irgendwie nähergekommen?“

„N – – ein,“ erwiderte der Gefragte in gedehntem Ton, zugleich mit einer Miene, als bereite ihm die Frage Verlegenheit. „Das heißt, wir glaubten bereits vor einiger Zeit, eine Spur gefunden zu haben, aber das war leider ein Irrtum. Eine außerordentlich unfruchtbare Geschichte für mich, wie für meine Herren Kollegen! So sehr wir alle wünschten, in der Sache weiter zu kommen …. wie die Dinge liegen, ist verzweifelt wenig Aussicht dazu!“

„Und Sie können mir nicht andeuten,“ fragte Hagedorn, „welcher Art die Spur war, die Sie gefunden zu haben meinten?“

„Nein,“ erwiderte Ueberweg ernst, „das kann ich nicht wohl, da es eben nichts als eine Hypothese war, die ebensogut richtig wie falsch sein konnte. Sie jetzt nachträglich aussprechen, das hieße, einen vielleicht ganz unschuldigen Menschen verdächtigen, einen Menschen noch dazu, dessen Aufenthalt zur Zeit nicht hat ermittelt werden können, den man also gar nicht auf die Haltbarkeit oder Unhaltbarkeit dieses Verdachtes hin zu prüfen imstande war.“

„Und meinen Sie nun, Herr Justizrat,“ begann Hagedorn, nach einer Pause von neuem, „daß es die Pflicht eines Menschen ist, der zufällig ein Verdachtsmoment erfaßt hat, dieses der Justiz zu unterbreiten, auch wenn es kein Beweis genannt werden darf?“

„Ohne Zweifel hat der Betreffende diese Pflicht!“ Der Rechtsanwalt sprach sehr nachdrücklich und ruhig; er holte zugleich seine Cigarrentasche hervor und brannte sich eine Cigarre an, ein Verfahren, das sich seine näheren Bekannten sofort zu deuten gewußt hätten: er behauptete, bei der Cigarre besser zuhören und schärfer denken zu können.

Raimund beachtete das nicht, er lockerte mit der Rechten seinen Halskragen, wie wenn ihm derselbe plötzlich zu eng würde.

„Und doch weigerten Sie sich zuvor, dasselbe zu thun,“ sagte er endlich mit Anstrengung. „Sie meinten, es sei Ihnen unmöglich, einen vielleicht ganz unschuldigen Menschen zu verdächtigen.“

„So meine ich auch jetzt noch, ich muß dabei bleiben. Und wären Sie nicht in sichtlicher Erregung, Herr Hagedorn, so entginge Ihnen wohl nicht der gewaltige Unterschied in der Lage der Dinge: der Jurist hat andere Verpflichtungen als der Privatmann, welcher jedes Verdachtsmoment dem Juristen mitteilen soll, als Material, das die Justiz sich möglicherweise zunutze machen kann! Die Verantwortung des Juristen ist hundertmal größer als die des Privatmanns!“

„Sie haben recht!“ stieß Raimund abgebrochen hervor. „Wenn Sie aber wüßten, was der Entschluß mich kostet – bei meiner ganzen Naturanlage – und ich habe noch nie etwas Aehnliches in meinem Leben gethan! Es – sieht einer – Denunziation so verzweifelt ähnlich!“

Beschwichtigend legte ihm der Rechtsanwalt die Hand auf den Arm.

„Wohl kann ich mich in Ihre Lage versetzen – Sie kommen sich wie ein Angeber vor. Aber indem Sie der Justiz helfen, einen Schuldigen zu ergreifen, erweisen Sie nicht nur ihr, erweisen Sie gewissermaßen der ganzen Menschheit einen Dienst, denn sie darf mit Recht fordern, daß gemeingefährliche Elemente ausgesondert werden.“

„Und wenn es sich erweist, daß es der Schuldige gar nicht ist, daß ein Makel auf einen Menschen geworfen wird, ver vielleicht nur durch eine unglückliche Verkettung von Umständen bei der ganzen Sache beteiligt war?“

„Mein bester Herr Hagedorn, das Gericht geht bei dergleichen Dingen mit der äußersten Vorsicht zu Werke. Es müssen sich schon schwerbelastende Verdachtsmomente häufen, ehe es auch nur zur Untersuchungshaft kommt, welche freilich leider auch einen Unschuldigen einmal treffen kann.“

[688] „Es tritt noch ein Umstand hinzu,“ sagte Hagedorn gepreßt, „der mir die Angelegenheit doppelt peinlich macht. Ich – ich stehe persönlich mit – jemand gespannt, der ein nahes Interesse an der Sache haben und denken muß, dieser Umstand sei auf meine Handlungsweise nicht ohne Einfluß geblieben.“

Der Rechtsanwalt horchte auf und dampfte so heftig aus seiner Cigarre, daß gewaltige blaue Ringel in die stille, heitere Abendluft emporflatterten.

„Dies darf Sie gleichfalls nicht bestimmen, mit Ihren Mitteilungen zurückzuhalten!“ entgegnete er fest. „Sie können sich außerdem überzeugt halten, daß man sich der äußersten Vorsicht bedienen und Ihren Namen erst dann nennen wird, wenn dringende Notwendigkeit es gebietet!“

„Ich fürchte, sie wird es gebieten! Zur Sache also! Ich fuhr zum Musikfest nach Stettin – ich wollte, ich hätte es nicht gethan, aus mehr als einem Grunde! – und traf dort einen alten Bekannten, noch aus meiner Wiener Zeit. Wir hatten fast ein Jahr hindurch Pult an Pult in demselben Comptoir gearbeitet, und ich hatte den ehrenhaften, tüchtigen Menschen immer gern gehabt. Wir freuten uns beide sehr, alte Erinnerungen wurden aufgefrischt. Mein Bekannter – Wollheim ist sein Name – hat jetzt Stellung in Rostock in einem großen Bankgeschäft, nachdem er früher jahrelang im Westfälischen bei einer Fabrik Disponent gewesen ist. Wir fragten uns gegenseitig unsere Lebensschicksale ab. Wie ich ihm sagte, daß ich hier in der Kolonie Josephsthal sei, stutzte er und fing von dem Mord an – ich solle ihm doch ja sagen, was ich davon wüßte ....“

Raimund trocknete sich mit seinem Taschentuch die Stirn.

„Und Sie sagten ihm das,“ fiel Ueberweg ein, absichtlich in nüchternem, geschäftsmäßigem Ton sprechend.

„Ja, – ich erzählte es ihm – auch, wie die Sache mir nahegegangen, da ich doch mit Baron Hofmann verwandt und ihm zu Dank verpflichtet gewesen sei. Wollheim wollte nun genau wissen, was die Justiz herausgebracht, auf wen sie Verdacht gehabt und so weiter. Ich sagte ihm, was ich wußte, auch daß ein gewisser Kraßna, ein Pole, der kurze Zeit in den Werken gearbeitet habe, nach seiner wegen Aufwiegelung der Leute erfolgten Entlassung verhört, aber wegen Mangels an Beweisen und eines beigebrachten Alibis wieder freigegeben worden sei. Nun rückte er mit der Sprache heraus. Diesen Kraßna kenne er, derselbe sei auch in jenem westfälischen Fabrikort beschäftigt gewesen und habe dort einen guten Freund gehabt, mit dem er förmlich unzertrennlich gewesen sei. „Dieser Freund –“ Hagedorn stockte. „Dieser Freund,“ fuhr er dann mit Anstrengung fort, „ist ein jüngerer Bruder des hiesigen Oberingenieurs Harnack, ein begabter, aber sehr leichtsinniger Mensch, der keine gute Vergangenheit hat. Er hat damals, als sein Bruder die ausgezeichnet gut dotierte Stelle in Josephsthal bekam, den Chef der Werke, Baron Hofmann, brieflich ersucht, ihn, den jüngeren


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Rückkehr von der Weinlese.
Nach dem Gemälde von A. Corelli.

[689] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.


Harnack, ebenfalls in einer der Mühlen zu beschäftigen, und für die Zukunft alles Gute versprochen. Der Baron, der sehr genau informiert war wie immer, wies ihn kurz ab und machte sogar die definitive Anstellung des älteren tüchtigen, ihm warm empfohlenen Bruders von der Bedingung abhängig, daß der jüngere Harnack nie die Kolonie Josephsthal betreten, nie sich in irgend welche persönliche Beziehung zu seinem Bruder setzen dürfe.

All dies hat der junge Harnack eines Abends dort in Westfalen in Gegenwart meines Bekannten und zweier oder dreier anderer ,Kollegen‘ in besonders animierter Stimmung selbst erzählt. Schon damals hat er Drohungen gegen den hochmütigen ‚Geldprotzen‘, den ,Tugendhelden‘, der anständigen Leuten gegenüber einen solchen Ton anzunehmen und sie schnöde zurückzuweisen wage, ausgestoßen: es sei noch nicht aller Tage Abend, und es würde eine Zeit kommen, da die Herren Fabrikanten und Kapitalisten ihren hohen Ton gewaltig herabstimmen werden. Die kleinste Pistolenmündung verrichte oft Wunderdinge! – Wollheim und die andern haben den jungen Menschen zu beschwichtigen gesucht und diese Drohungen für die hohlen Renommistereien eines stark angetrunkenen Prahlers genommen.

Bald darauf ist Harnack junior entlassen worden und unmittelbar danach auch Kraßna – die beiden haben sehr häufig geäußert, sie würden bei einander bleiben und wären Freunde fürs ganze Leben. Es hieß, der ältere Harnack, der schon verschiedentlich namhafte Opfer für seinen Bruder gebracht, habe diesem das Geld gegeben, nach Amerika hinüberzugehen und sich dort eine Zeit lang über Wasser zu halten. Kraßna kam damals nach Josephsthal, verschwand aber bald wieder, und nach seinen Reden hätte man annehmen sollen, er werde seinem Freund Harnack als treuer Intimus in die Neue Welt folgen – doch stellte es sich heraus, daß er eine Stelle in Mecklenburg angenommen hatte.“

Der Rechtsanwalt warf sein Cigarrenstümpfchen in hohem Bogen fort und zündete sich eine neue Cigarre an.

„Mein Freund Wollheim,“ fuhr Hagedorn fort, „hatte als eifriger Zeitungsleser, der er ist, die Josephsthaler Mordaffaire mit Interesse verfolgt, dann dasselbe, da keine Resultate erfolgten, allmählich fallen lassen. An die beiden Freunde, Harnack und Kraßna, mit denen er persönlich keine Beziehungen gehabt, dachte er gar nicht mehr; er hatte andere Dinge, die ihn beschäftigten. Da erhielt er von seiner einzigen Schwester, die an einen Kaufmann in Breslau verheiratet ist, einen Brief, in dem sie ihn bat, sich ihres jungen Schwagers, des Bruders ihres Mannes, anzunehmen. Der junge Mensch, ein Baubeflissener, hatte vor kurzem eine nicht unbedeutende Erbschaft angetreten; die Kontrolle im Hause des verheirateten Bruders sagte ihm nicht länger zu, er hatte beschlossen, zunächst für einige Zeit zu reisen, ,sich die Welt anzusehen‘, und seine Verwandten hatten den blutjungen, zum Leichtsinn neigenden Menschen nicht ohne Sorge von sich [690] gelassen. Die Sorge erwies sich als gerechtfertigt: er hatte in den ersten Wochen äußerst spärliche Nachrichten gegeben, dann blieben auch diese aus, angestellte Nachforschungen hatten keinen Erfolg, bis es mit einem Male hieß, er sei in Rostock gesehen worden, und zwar unter Verhältnissen, die mit Sicherheit darauf schließen ließen, er sei in sehr schlechte Gesellschaft geraten. Wollheims Schwester und deren Gatte beschworen nun meinen Freund, sein Möglichstes zu thun, den jungen Menschen zunächst aufzufinden, sodann ihn von den Schlingen, in die er geraten war, zu befreien, sei es auch mit Geldopfern, und womöglich den Seinigen wieder zuzuführen.

So kam es, daß Wollheim, einer der solidesten, nüchternsten Leute, die ich kenne, überdies ein schon älterer Mensch, für den gewisse Versuchungen gar nicht existieren, sich in Lokale begeben, unter Individuen mischen mußte, die er sehr viel lieber hätte meiden mögen. Nähere Schilderungen hätten weiter keinen Zweck – die Hauptsache für uns ist die, daß er den Gesuchten als treuen Kumpan, als Dritten im Bunde mit eben jenen beiden Freunden fand, von denen ich Ihnen schon sprach – Kraßna und Harnack junior.“

„Lebt der letztere jetzt in Rostock?“ fragte lebhaft Ueberweg und hielt seinen Schritt an – die Walzmühle lag in geringer Entfernung vor ihnen.

„Es scheint, daß er dort nur zeitweise ist. Er muß ein sehr unstetes Leben führen, bald hier, bald dort auftauchen, zuweilen auch unter fremdem Namen. In hiesiger Gegend wird er offenbar durch ein Liebesverhältnis mit einem Mädchen festgehalten, das mehrfach in seiner Gesellschaft gesehen worden ist. Meinem Bekannten ist sein Benehmen, namentlich auch sein großer Geldbesitz, verdächtig vorgekommen; er hat zwar keinen festen Anhalt gefunden, die Polizei in Anspruch zu nehmen, indessen –“

„Indessen,“ fiel der Rechtsanwalt ein, „verdient er sich schon dadurch unsern Dank, daß er uns nachweist, wo der Mann überhaupt zur Zeit ist. Denn wir haben ihn gesucht und suchen ihn noch in allen umliegenden Städten – in Stralsund, in Anclam, in Stargard, in Wismar, wo er überall gesehen worden ist, um in beinahe unbegreiflicher Weise alsbald wieder zu verschwinden. Selbst hier in der Kolonie Josephsthal ist er unlängst gewesen –“

„Unglaublich! Unmöglich!“

„Weder das eine, noch das andere! Sein Erscheinen hier wäre nur der beredteste Beweis dafür, wie sicher er sich fühlt, wie von jedem Verdacht ausgeschlossen. Und mehr als ein Verdacht kann auch vorläufig nicht gegen ihn geltend gemacht werden. Vor allen Dingen, wenn man einen Menschen verhören und überführen will, muß man ihn haben, und das gerade war es, woran bisher unsere Kunst scheiterte. Gestatten Sie mir jetzt noch ein paar Fragen, Herr Hagedorn: wann hat Ihr Freund Wollheim den jüngeren Harnack zum letztenmal gesehen?“

„Wir sind gestern und vorgestern des Abends zusammengewesen, Wollheim und ich, und er sagte, wenn ich mich recht entsinne, daß er noch ein paar Tage zuvor Harnack junior gesehen habe.“

„Ist ihm seine Wohnung in Rostock bekannt?“

„Nein, obgleich Wollheim mehrmals versucht hat, dies gesprächsweise zu erfahren. Er hat aber gehört, daß seine Kumpane ihn mit dem Namen Starke anredeten, während Kraßna ihn mit seinem Vornamen Reinhold oder Holdchen genannt hat.“

„Hat Ihr Freund kein weiteres Verdachtsmoment genannt als nur das eine, daß Harnack ihm auffallend viel Geld zu besitzen scheine?“

„Doch! Er werde unruhig, sobald das Gespräch auf Baron Hofmann und die Mordaffaire komme, oder sobald auch nur der Name des Barons in Verbindung mit dem seines Bruders genannt werde. Als Wollheim ihn fragte, warum er seinen Namen geändert habe, habe er erwidert, das thue er seines Bruders wegen, welcher jede seiner Handlungen überwachen wolle. So etwas werde lästig; außerdem sei der Herr Oberingenieur ein fürchterlich strebsamer und fleißiger Tugendbold, der ihm ewig dasselbe Lied vom Segen der Arbeit vorsinge – und da habe er keine Lust, einzustimmen, er brauche das nicht, seit er in Amerika so reich geworden. Auf meines Freundes Frage, wie lange oder vielmehr, wie kurze Zeit er denn drüben gewesen wäre und wie er es angefangen habe, in der kleinen Frist so viel Geld zu erobern, habe er lachend erwidert, das Rezept dazu könne er nicht jedem Beliebigen geben, der ihn danach frage. Dies alles, was ich Ihnen jetzt erzählte, hat sich im Verlauf von einigen Wochen abgespielt, während welcher Zeit der junge Harnack auch einmal acht Tage hindurch gar nicht in Rostock gewesen ist, wie er gesprächsweise geäußert hat. Wollheim wird ihn im ganzen vier- bis fünfmal gesehen haben. Ich habe Ihnen, Herr Justizrat, wort- und wahrheitsgetreu alles berichtet, was mein Wiener Bekannter mir gesagt hat. Er hat gezögert, der Rostocker Polizei irgend welche Anzeige zu machen, da er nur einen, ich möchte sagen, rein persönlichen, aus ihm selbst hervorgegangenen Verdacht hegt, den er mit Beweisen nicht belegen kann. Er vermag selbstverständlich auch in keiner Weise dafür einzustehen, daß man heute noch Reinhold Harnack, alias Starke, in Rostock findet; der Vogel kann längst wieder ausgeflogen sein. Nur als Wollheim hörte, ich lebte in Josephsthal und die Justiz suche heute noch ebenso eifrig und ebenso resultatlos nach dem Mörder des Baron Hofmann, wie sie vor fast vier Monaten gesucht habe – da hielt er es für seine Pflicht, mir die Idee, die er sich gebildet, mitzuteilen und mich zu beauftragen, falls ich sie für wichtig genug dafür hielte, sie dem Untersuchungsrichter oder dem Staatsanwalt, kurz, der ersten maßgebenden juristischen Persönlichkeit, die ich aufzufinden vermöchte, zu unterbreiten. Ich weiß nicht, ob Ihnen die gegebenen Winke nützen können, ob dieselben ein Resultat ergeben werden …. ich weiß nicht einmal, ob ich dies wünschen soll. Ich bin mit mir zu Rate gegangen seit gestern nacht – – ich habe nicht schlafen können, habe hin und her gedacht …. es ließ mir aber keine Ruhe! Darum habe ich mich überwunden und habe gesprochen!“

„Sie thaten recht daran!“ sagte der Rechtsanwalt fest und schüttelte dem jungen Mann kräftig die Hand. „Ich glaub’ es Ihnen gern, daß es Ihnen schwer fiel – Sie sehen wirklich ganz blaß aus. Und wenn Sie in diese Geschichte hineinverflochten werden –“

„Ist das unvermeidlich?“

„Doch wohl – schon wenn es sich darum handelt, festzustellen, wie wir zu Ihrem Freunde Wollheim gekommen sind, dessen wir entschieden als Zeugen bedürfen werden …. Wenn Sie also, wiederhole ich, in diese Sache verwickelt werden, so sagen Sie sich zu Ihrem Trost, daß die Vorsehung Sie zu ihrem Werkzeug ausersehen hat, den Schuldigen zu fassen.“

„Ein sehr schwacher Trost!“ sagte Raimund mit einem mühsamen Lächeln.

„Der einzige, den ich Ihnen geben kann.“ Der Justizrat sprach eilig, er war offenbar mit seinen Gedanken schon weit fort. „Haben Sie einstweilen Dank, Herr Hagedorn – Sie kehren wohl jetzt um?“

„Gewiß …. aber Sie? Sie wollten ja doch in die Walzmühle –“

„Kann ich fürs erste noch nicht! Habe noch etwas zu erledigen bei – bei – einem Arbeiter –“

„Arbeiter? Hat man auf einen von ihnen hier Verdacht?“

„Nein,“ entgegnete Ueberweg und lächelte ganz eigentümlich dazu, „auf diesen, den ich meine, hat man entschieden keinen Verdacht. Das wäre auch mehr wie kurios! Also adieu, und auf Wiedersehen!“

Raimund lüftete stumm den Hut und ging denselben Weg zurück, den er gekommen war.


17.

Sie hatten im Gartensaal, dessen Thüren und Fenster geöffnet waren, ihr Abendesien eingenommen. Vier Personen, wie immer: Alix, die Majorin von Sperber, Françoise und Cecil Whitemore. Es war noch hell im Gartensaal, ein halbes Dämmern, das jeden Gegenstand deutlich genug erkennen ließ, allem aber eine weiche Kontur gab.

„Nein, lassen Sie das Anzünden!“ sagt Alix über die Schulter zu James, der die Glasschale mit duftenden Erdbeeren als Nachtisch aufsetzt und seine junge Herrin in diskretem Ton fragt, ob sie Beleuchtung wünsche. Dann thut sie mit dem silbernen Löffel einige Erdbeeren in ihr halbvolles Glas Rheinwein und sieht träumerisch zu, wie die winzigen [691] Perlen im Glase aufsteigen und sich um die kleinen roten Früchte ansammeln.

Schon während des Essens war Alix merkwürdig einsilbig gewesen; auch jetzt versinkt sie wieder in ihre Gedanken. Françoise telegraphiert über ihr erhobenes Weinglas mit den Augen sehr ausdrucksvoll zu der Majorin hinüber, diese erwidert das nicht, weil sie es unpassend findet und auch meint, Alix könnte es bemerken. Deswegen dürfte sie es ruhig thun – Alix hat für nichts Augen. Und Cecil Whitemore, der englische Vetter, was ist mit ihm? Sonst hat er sich allabendlich für verpflichtet gehalten, die Damen in seiner etwas schwerfälligen Weise zu unterhalten. Heute läßt er es ganz an dieser seiner Schuldigkeit fehlen. Er hat auch wenig und dies wenige mit einer abwesenden, zerstreuten Miene gegessen und es gar nicht gemerkt, daß die Majorin ein englisches Gericht, von dem er neulich beifällig gesprochen, ihm zu Ehren hat herrichten lassen. Da sitzt er steif aufgerichtet, starrt auf das Tischtuch, läßt den kleinen Teller mit den prachtvollen Erdbeeren unberührt vor sich stehen und füllt weder sein eigenes Glas, noch das der neben ihm sitzenden Frau von Sperber.

„Liebe Alix, Sie gestatten wohl, daß ich die Tafel aufhebe?“ klingt jetzt deren Stimme in das allgemeine Schweigen, und auf Alix’ hastiges: „Ich bitte!“ drückt sie den Gummiballon an der Hängelampe und winkt James, man könne abräumen.

Die vier Stühle werden gerückt, das übliche Händeschütteln wird getauscht; als Cecil die Rechte seiner Cousine faßt, sagt er: „Darf ich Sie auf eine Viertelstunde allein sprechen, Cousine?“

Alix blickt etwas erstaunt, sie nickt aber und deutet in den Park hinaus. „Wollen wir dorthin gehen?“ sagt sie, worauf er sich zustimmend verneigt.

Die beiden gehen miteinander die fünf flachen, breiten Stufen hinab, und hinter ihnen legt Françoise ihre Hand leicht auf den Arm der Majorin und flüstert: „Glauben Madame nicht, daß er jetzt um Mignonne werben wird?“ worauf diese sehr entschieden erwidert: „Nein, das glaube ich in keinem Fall!“

Cecil steuert auf die Gruppe von Bambusmöbeln unter der Platane zu, aber Alix sagt rasch: „Kommen Sie lieber hierher!“ Noch zwanzig, dreißig Schritte, und es steht eine Bank, aus ungeschälten Birkenstämmen zusammengefügt, am Wege; hier läßt Alix sich nieder und winkt dem englischen Vetter, an ihrer Seite Platz zu nehmen.

„Wenn Sie es gestatten, stehe ich lieber!“ sagt Cecil.

Beide schweigen eine ganze Weile. Alix wartet, daß er anfangen soll zu reden – wartet seelenruhig, ohne eine Spur von Erregung oder Neugier; ihr Herz thut nicht einen rascheren Schlag, wie sie so dasitzt, die Hände leicht übereinandergelegt, die Augen ruhig zu ihm emporgerichtet.

„Cousine,“ fängt Cecil endlich an, „ich habe Ihnen etwas mitzuteilen – etwas Wichtiges, was schon längst meine Pflicht gewesen wäre, Ihnen zu sagen, aber es war mir peinlich!“

„Und hat es jetzt aufgehört, Ihnen peinlich zu sein?“

„O nein, im Gegenteil! Aber einmal muß es sein, und ich habe heute die Bitte – nein, die Mahnung von London her erhalten, daß es endlich an der Zeit wäre, es zu thun!“

„Nun, so thun Sie es denn, Cecil!“

„Sie ahnen nicht, was es sein kann?“

„Vielleicht! Aber auf meine Ahnungen kommt es nicht weiter an. Sprechen Sie nur!“

„Ich habe Furcht, daß Sie böse werden könnten, daß Sie wünschen könnten, was ich nicht wünsche!“

„Sehr möglich, lieber Vetter, wir müssen es darauf ankommen lassen!“

Der Gentleman in Mr. Whitemore sträubte sich ganz entschieden dagegen, dies zu thun, aber es mußte ja wohl sein und mit raschem Entschluß stieß er endlich hervor: „Ihr Vater hat gewollt, wir sollten uns heiraten, Cousine!“

Da war es heraus, aber das war das schwerste noch nicht.

„Ich habe einen Brief von Onkel Hofmann vorgefunden, unter seinen Privatpapieren, einen an mich gerichteten Brief, der mir diesen Wunsch ausspricht.“ Cecil redete jetzt geläufig, die Kugel war im Rollen. „Diesem Brief ist die Bestimmung beigefügt, es solle mir, im Fall wir uns einigen könnten, eine Verbindung für das Leben zu schließen, die Führung und Leitung sämtlicher Werke von Josephsthal anheimfallen, und würde ich somit, da, wie Onkel Hofmann schreibt, ihm ein Sohn versagt geblieben ist, in die Rechte eines solchen eintreten. Weigern Sie sich, den Wunsch Ihres Vaters zu erfüllen, so fiele die Schneidemühle, meines Oheims Lieblingsschöpfung, laut Testament an mich; weigere ich mich, so bleibt Ihnen das Gesamteigentum Ihres Vaters ungeschmälert, nur darf ich demselben einen Verwalter nach eigener Wahl geben. Weigern wir uns beide, so bleibt es bei der letzten Bestimmung, doch muß meine Wahl von Ihnen bestätigt werden. Es steht zu vermuten, daß der an Sie gerichtete Brief, der sich gleichfalls im Privatnachlaß Ihres Vaters vorfand, Ihnen dieselben Wünsche ausgesprochen hat.“

„Dieselben Wünsche!“

„Und – Sie verzeihen, aber wir müssen es doch einmal durchsprechen! – wie denken Sie darüber?“

Alix wollte eine hochfahrende Antwort geben, aber als sie die Situation bedachte, kam ihr der Humor dieser ganzen Scene angesichts der unendlichen Verlegenheit des englischen Vetters zum Bewußtsein, und sie sagte, während es um ihre Lippen verräterisch bebte: „Sie scheinen ganz zu vergessen, Cecil, daß die erste Entscheidung bei Ihnen liegt.“

„Sie wünschen also, ich soll Ihnen, der Form wegen – einen Heiratsantrag machen?“

„,Der Form wegen‘ ist sehr hübsch und für mich sehr schmeichelhaft gesagt! Ich wünsche, daß Sie mir sagen, ob Sie mich heiraten wollen oder nicht.“

„Das soll ich durchaus mit Worten sagen?“

„Aber Vetter Cecil, verlangen Sie denn von mir, daß ich Ihnen einen Heiratsantrag machen soll?“

Der arme junge Mann war in großer Verlegenheit.

„Nein, das können Sie nicht!“ entgegnete er mit schwacher Stimme. „Aber – aber – – verzeihen Sie mir tausendmal! – ich kann es auch nicht!“

„Sie können es auch nicht?“

„Nein!“

„Das ist mir außerordentlich lieb; darf ich fragen: weshalb nicht?“

„Weil ich verlobt bin – seit beinahe einem halben Jahr – wenn auch noch nicht öffentlich.“ Cecil zog sein Taschentuch hervor und fuhr sich damit über die feuchte Stirn.

„Lassen Sie sich Glück wünschen, Vetter!“ sagte Alix herzlich und streckte ihm die Hand hin, die er nur zaghaft zu berühren wagte.

„Sie sind mir nicht böse, Cousine? Wirklich nicht?“

„Ich? Nicht im allergeringsten! Wie sollte ich auch?“

„Well – ich dachte, Sie könnten vielleicht anderer Meinung sein als ich!“

„Sie dürfen sich beruhigen,“ sagte sie mit feinem Lächeln. „Dachten Sie das im Ernst?“

„Ich weiß kaum mehr, was ich gedacht und gesagt habe, Cousine, ich bin zu sehr in Verwirrung! Ich fürchtete zuweilen, Sie könnten aus – aus kindlichem Gehorsam für den Wunsch Ihres Vaters –“

Alix schüttelte den Kopf.

„Bei aller Pietät für die Bestimmungen meines verstorbenen Vaters – diese Bestimmung hätte ich nur dann respektieren können, wenn mein Herz Ja und Amen dazu sagte, und das that es denn doch nicht. Ich sage nicht: verzeihen Sie meine Offenheit! Sie sind ja auch offen gegen mich gewesen, und ich finde, es ist in unserm Verhältnis geradezu eine Hauptbedingung, daß wir aufrichtig zu einander sprechen!“

„Ganz gewiß, Cousine! Ich – ich danke Ihnen! Ach, es ist mir eine solche Last von der Seele, seitdem ich weiß, daß auch Sie mich nicht wollen …. das heißt, ich schätze Sie sehr hoch, finde Sie sehr schön und begehrenswert, höchst geeignet, einen Mann, der Sie liebt und den Sie wieder lieben, glücklich zu machen –“

„Genug, genug!“ unterbrach Alix diese gewissenhafte Herzählung ihrer Vorzüge. „Ich erlasse Ihnen alles weitere! Uebrigens kann ich Ihnen die Versicherung geben, Cecil, daß ich keinen Augenblick um Ihretwillen in Sorge gewesen bin. Sie haben sich nie so benommen, daß ich denken konnte, Sie trügen [692] eine heimliche Liebe für mich im Herzen. Und nun erzählen Sie mir etwas von Ihrer Braut. Wann und wo lernten Sie sie kennen?“

„O, ich kenne sie schon seit ihrer Kindheit. Gwendolen ist ein prächtiges Mädchen, der Vater ist Geistlicher in Devonshire – und sie ist die zweite Tochter.“

„Und wann gedenken Sie zu heiraten?“

Cecil wurde aufs neue verlegen.

„Das, Cousine, wird von Ihnen abhängen!“

„Von mir?“ wiederholte Alix verwundert.

„Ich müßte, um Ihnen das zu erklären, von meinen Verhältnissen sprechen –“

„Darum bitte ich Sie! Möchten Sie sich zu diesem Behuf nicht endlich setzen?“

Der junge Engländer beantwortete diese Aufforderung mit einem ganz regelrechten Kompliment und ließ sich am äußersten Ende der Birkenbank nieder, so daß zwischen ihm und Alix ein beträchtlicher Raum frei blieb. Das junge Mädchen sah sich den wohlerzogenen jungen Herrn mit einem Lächeln an, das ein rückhaltloses Amüsement zur Schau trug – er sah das wohl, bezog es aber durchaus nicht auf seine Person.

„Als jüngerer Sohn,“ begann er, „werde ich, wie das in England so Sitte ist, gegen den älteren Bruder bedeutend verkürzt werden. Ihr Vater, Cousine, wußte das …. er sah aber auch, daß ich für das Fabrikwesen zugleich Neigung und Begabung hatte … ich darf sagen, wir haben gegenseitig Achtung voreinander empfunden. Weil er die nun hatte und sah, wie wenig günstig meine Aussichten in London waren, hat er sich Pläne gemacht und Zukunstsgedanken ausgesponnen, die mein Glück, zugleich aber auch das Gedeihen seiner Schöpfungen sowie das Lebensglück seiner einzigen Tochter in sich schlossen.“

„Ja,“ warf Alix mit Nachdruck ein, „Was Papa von seinem Standpunkt aus dafür hielt!“

„Ganz recht – was er dafür hielt! Er hat gedacht, ich würde seine Ideen und Pläne in seinem eigenen Sinne weiterführen –“

„Das würden Sie doch auch sicher thun!“

„Gewiß, wenn es in meine Macht gegeben wäre!“

„Aber das ist es doch! Ob Sie die Werke, die ganze Kolonie Josephsthal leiten wollen oder nicht, steht doch einzig bei Ihnen!“

Deutschlands merkwürdige Bäume: die Wendelinuseiche
bei Geisfeld.

„Einzig, keineswegs, Alexandra! Haben Sie die Bedingungen Ihres Vaters vergessen? Weigern Sie sich, so fällt mir die Schneidemühle zu, weigere ich mich, so bleibt Ihnen der Gesamtbesitz der Werke ungeschmälert, ich darf aber einen Verwalter nach eigener Wahl über die Kolonie setzen. Weigern wir uns beide – so –“

„So bleibt es bei der letzten Klausel; was ist da weiter zu sagen?“

„Es ist doch ein Nachsatz dabei! Ich darf den betreffenden Verwalter dann nicht frei nach eigener Wahl einsetzen, Sie müssen gleichfalls damit einverstanden sein!“

„So setze ich hierdurch Mr. Cecil Whitemore aus London zu meinem Verwalter ein, falls nämlich er keine Einwendungen dagegen erhebt!“

„Sie hätten nichts dagegen, Cousine, daß ich mich hier ganz ansässig mache, daß ich mir meine junge Frau hierher hole, daß ich meine ganze Zukunft und die meiner Familie auf die Josephsthaler Werke gründe?“

„Nicht das geringste, wie sollte ich denn? Im Gegenteil, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es thäten. Ich stehe der großen Verantwortung, die der Besitz so ausgedehnter Betriebswerke auferlegt, hilflos gegenüber. Sie wissen am besten, wie meine sogenannten Geschäftskenntnisse beschaffen sind. Auf gut Glück müßte ich mir einen fremden Verwalter engagieren, auf gut Glück ihm die Zukunft der Werke, aller der Arbeiter, die mir unterstellt sind, in die Hand geben! Von Ihnen erwartete mein Vater für diese Zukunft das Beste, Sie wünschte er an der Spitze seines Lebenswerkes, wenn er einmal nicht mehr da war, zu sehen, und ich sollte zaudern, Sie zu bitten: kommen Sie an die Stelle, die Ihnen bestimmt war?“

Alix hatte so lebhaft, so bewegt, zugleich so freimütig gesprochen, daß ihr Feuer sogar diesen korrekten Gentleman mit fortriß.

„Lassen Sie mich Ihre Hand küssen, Cousine, und Ihnen danken! Sie verstehen es, die Sache so zu drehen, als thäte ich Ihnen einen speziellen Dienst, während doch mir eine weit größere Gabe zuteil wird. Ich bin nicht ohne Selbstbewußtsein! Ich weiß sehr wohl, was ich leiste, und daß es nichts Geringes ist, wenn ich Ihnen gelobe: ich will Ihres Vaters Lebensaufgabe in seinem Sinne fortzuführen bestrebt sein, solange ich mir selbst und Ihnen genüge.“

„Abgemacht!“ erwiderte Alix freundlich und reichte ihm die Hand. „Auf gute Freundschaft! Aber nun kommen Sie, Vetter Cecil, es ist spät geworden, die Majorin und Françoise werden sich über die Ausdehnung unseres Gespräches absonderliche Gedanken machen.“

Cecil hatte sich gleichfalls erhoben, zögerte aber, als hätte er noch etwas auf dem Herzen.

„Nun?“ Sie war ein wenig ungeduldig.

„O – es ist nur – da wir doch, wie Sie sagten, gute Freunde sind – und da ich es nicht bin, den Sie gewählt haben –“

„So meinen Sie, es müsse ein andrer sein?“ unterbrach sie ihn lächelnd.

„Es ist,“ fuhr er unbeirrt fort, „weil ich Jemand weiß, der Ihnen sehr, sehr zugethan – nein, das ist ein viel zu zahmes Wort – der glückselig wäre, wenn Sie ihm Ihre Hand reichen wollten! Er hat mir nie ein Wort davon gesagt, aber ich weiß, was ich weiß! Und wenn ich für ihn ein gutes Wort bei Ihnen einlegen könnte, Cousine – Sie – Sie können mir doch darum nicht böse sein – “

Alix hatte sich jählings umgewendet und war dem Schloß zugegangen. Jetzt wandte sie dem Engländer, im Weitergehen, ihr stolzes, vom Mondlicht weißbeschienenes Antlitz zu.

„Wollen Sie sich nicht damit begnügen, Vetter Cecil, Ihr eigenes Schicksal zu lenken und die Angelegenheiten guter Freunde auf sich beruhen zu lassen? Zumal wenn Sie nicht beauftragt sind!“

„Das bin ich freilich nicht. Ich dachte nur – ich möchte fragen, ob er, den ich meine, den auch Sie meinen – ob er vielleicht es einmal wagen dürfte, seine Zaghaftigkeit zu überwinden und die entscheidende Frage zu thun.“

„Ich segne diese seine Zaghaftigkeit,“ fiel ihm das junge

[693]
Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0693.jpg

Eilpost in Kalifornien.
Nach dem Gemälde von J. Gutzon (Mothe-Borglum).

[694] Mädchen beinahe heftig ins Wort, „und ich wünschte sehr, sie bliebe ihm weiter für alle Zeit erhalten!“

Damit nickte sie dem Vetter, das Haupt leicht über die Schulter zurückgewendet, einen Abschiedsgruß, nahm mit einer vornehmen Gebärde ihr weißes Kleid mit der Linken ein wenig auf und schritt in dem breiten Streifen silbernen Mondlichts dem Schlosse zu.


18.

Der alte Hagedorn, Raimunds Vater, saß in seinem gemütlichen Wohnzimmer, in welchem Alix damals den verhängnisvollen Brief aus Wien gelesen hatte, und wartete auf seinen Sohn. Vor ihm lag ein zweiter Brief aus Wien, inhaltsschwerer, bedeutungsreicher noch als jener erste, und der alte Herr wünschte dringend, mit dem Sohn darüber persönlich Rücksprache nehmen zu können. Er wäre zu diesem Zweck gern nach Josephsthal hinübergefahren, allein sein Rheumatismus war bei dem kürzlich eingetretenen Witterungswechsel ziemlich heftig zum Vorschein gekommen, so daß der alte Mann mit dem linken Fuß kaum aufzutreten vermochte, trotz eines weichen Stoffschuhs und eines derben Stocks, dessen er sich beim Gehen als Stütze bediente. Aus diesem Grunde hatte er auch seinen beabsichtigten Besuch bei Alix, um den es ihm sehr zu thun war, vorläufig noch hinausschieben müssen.

Er dachte sehr oft an das junge Mädchen, es hatte ihm außerordentlich wohlgefallen, wegen seiner Schönheit sowohl als auch um der freimütigen Liebenswürdigkeit willen, mit der sie ihn, „den alten vergessenen Greifswalder Einsiedler“, wie er sich selbst zu nennen liebte, aufgesucht und behandelt hatte. In dem einförmigen Stillleben, das der alte Herr führte, hatte seine Phantasie, die allzeit geschäftig gewesen war, leider oft auf Kosten des nüchternen, praktischen Verstandes, so recht Muße, ihr Spiel zu treiben, und sie gefiel sich jetzt darin, goldene Fäden aus dieser seiner Zusammenkunft mit der Josephsthaler Erbin zu spinnen, Fäden, die aus dem unschönen, grauen Alltagsleben in die Zukunft hinüberreichten und sie mit einem verklärenden Schimmer umwoben!

Wer wollte es dem alten Herrn verdenken, wenn er dies that, wenn er in dieser Weise seines Sohnes gedachte, den er dazu geschaffen wähnte, im Sonnenschein zu wandeln, und den ein ungünstiges Geschick für immer in den Schatten bannen zu wollen schien.

Ein ungünstiges Geschick? Ach, war es nicht er selbst, der eigene Vater, gewesen, der die Hand dabei im Spiel gehabt hatte? Der sorglos die Verwaltung des Vermögens, das doch seines Sohnes Erbteil war, fremden Leuten anvertraut hatte, ohne jemals Erkundigungen einzuziehen, ob das Geld auch sicher stand? Der nun thatenlos zusehen mußte, wie sein Einziger, auf den ihm bestimmten Beruf verzichtend, sich abplagte, um sich und dem Vater das Leben zu fristen! Und er wußte es wohl, wie sehr sich im stillen der Sohn noch immer danach sehnte, dem von ihm so heißgeliebten Beruf zu leben. Gerade die ängstliche Art, mit der Raimund jedes Eingehen auf das Thema vermied oder abschnitt, war ihm dafür ein Beweis.

Aber Raimund war ein bildhübscher, intelligenter Mensch von liebenswürdigem Wesen und einnehmenden Manieren, er mußte den Frauen unbedingt gefallen, darauf gründete jetzt der alte Herr seine Zukunftsträume. Es war eine gewisse ursprüngliche Frische in seinem Wesen, die von seinem Blick, seinem Ton, seinem Lachen wohlthuend auf andere ausströmte. Er hatte viel vom Leben gesehen und auch vieles genossen, was sich ihm, dem damals reichen jungen Mann, bot, aber das war mit jener harmlosen Unbekümmertheit geschehen, die mehr entgegennimmt als selber bietet. In Raimunds Dasein, das wußte sein Vater ganz genau, hatte die Frau das entscheidende Wort noch nicht gesprochen. Würde jetzt dieser bedeutsame Abschnitt in Raimunds Leben eintreten? Wäre es bereits geschehen? Konnte er ein Mädchen, wie Alexandra von Hofmann eines war, sehen und kennenlernen, ohne es zu lieben? Freilich nicht ohne Bedenken und Zweifel hatte sich der alte Herr diesen Träumen hingeben können. Er kannte den Stolz seines Jungen, der es ihm in seiner abhängigen Stellung verbieten würde, um das reiche Mädchen zu werben!

Da brachte der gestern nachmittag aus Wien eingetrosfene Brief auch hierin Wandel. Er eröffnete eine Aussicht, daß vielleicht in nicht allzulanger Frist Raimund doch noch in seinen eigentlichen Beruf einlenken könne! Freilich war alles noch so ungewiß – und würde Raimund jetzt, mit fast achtundzwanzig Jahren, diese neue Bahn noch einschlagen wollen? Würde er nicht meinen, daß es zu spät dazu sei?

Ein neuer Schmerzanfall in dem kranken Fuß versetzte den alten Herrn in die Gegenwart zurück. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust und er brachte das linke Bein in eine andere Lage. Sein Blick schweifte dabei zum Fenster hinaus. Was er da zu sehen bekam, war nichts Erfreuliches. Es hatte den ganzen vorhergegangenen Tag mit Regen gedroht; jetzt hing der Himmel seltsam schwer und niedrig über den Häusern, er hatte eine bleierne Färbung, nur im Westen türmten sich schiefergraue Wolkenballen übereinander. Es fing an zu regnen. Ein scharfer Wind fegte dann und wann in hohlen Stößen durch die Straßen und zauste die Wipfel der jenseits stehenden Ulmen, daß sie sich schüttelten, als ob es sie friere bis ins Mark hinein.

Da kam es plötzlich dort, wo die Bäume standen, mit heiterem Blinken wie ein Blitz heran, schoß an den letzten Ulmen vorbei, sauste um die Ecke in einer eleganten Kurve und hielt mit einem straffen Ruck dicht vor Herrn Hagedorns Thür. Raimund war es auf seinem Zweirad, das er ebenso geschickt meisterte wie früher seine Rassepferde.

Zwei Minuten später wurde ein elastischer Schritt draußen auf der Treppe hörbar, ein Schritt, der immer zwei Stufen der alten Stiege auf einmal nahm – nun ein rasches Pochen an der Thür ….

„Herein, nur schnell herein mit dir!“ Der alte Herr wollte sich erheben, um seinem Sohn entgegenzugehen, aber sein linkes Bein legte entschiedenen Protest gegen diese verwegene Absicht ein: er fühlte einen so plötzlichen schneidenden Schmerz bis in die Hüfte hinauf, daß er mit einem nur mühsam unterdrückten Jammerlaut auf seinen Stuhl zurücksank.

Der Sohn war schon neben ihm, schüttelte ihm herzhaft die Hand, klopfte ihm ermutigend auf die Achseln. „Was treibst du denn wieder für Zeug! Rheumatismus im Juni! Ich hab’ solchen Schreck bekommen, als ich das las –“

„Aber – aber Jungchen – Schreck! Was ist weiter dabei, wenn der alte Freund, der Rheumatismus, mir wieder mal eine Staatsvisite macht! Das ist ja nicht schlimm weiter, weißt du, wenn man sich ruhig hält – nur eben, daß man nicht gehen kann!“

„Gerade schlimm genug, in der schönsten Jahreszeit nicht gehen zu können!“

„Drum hat mir unser Herrgott zum Trost jetzt das schlechte Wetter geschickt, mein Jungchen! Aber nun geh’ mal vor allem an den bewußten Wandschrank und gieß dir ein Gläschen Marsala ein!“

„Ich bin doch nicht hergekommen, um dir dein bißchen Wein auszutrinken!“

„Jungchen, gehorch’ und mach’ mich nicht bös! Das schadet mir sehr bei meinem Rheumatismus!“

Das „Jungchen“ stand mit einem unterdrückten Seufzer auf, langte ein kleines Glas und eine Flasche aus dem Wandschrank, goß das Gläschen halbvoll und schlürfte mit einem „Dein Wohl!“ den Inhalt ein. „Darf ich dir nicht auch –?“

„Gott soll mich bewahren!“ Mit beiden Händen wehrte der Alte ab. „Ist ja Gift für den verdammten – – na, na, nicht fluchen, davon wird’s auch nicht besser! Also –“

„Ja, also!“ Der Sohn zog von neuem seinen Stuhl heran. „Was hat’s denn gegeben?“

„Reich’ mal den Brief da vom Schreibtisch herüber – so! Und nun lies ihn mir gefälligst vor!“

„Aber du wirst ihn doch entschieden selbst schon und vielleicht sogar mehr als einmal gelesen haben!“

„Stimmt! Hab’ ich auch! Schadet nichts! Möchte aber alles noch einmal aus deinem Munde hören. Also gehorch’ mir hübsch, Jungchen, und mach’ mich nicht ärgerlich! Das schadet mir sehr.“

„Leopold Steglhuber – – ah!“ machte Raimund, der zuerst nach der Unterschrift gesehen hatte. Dann begann er zu lesen.

„Sehr verehrter Herr Hagedorn! Als Ihr Brief kam, bin ich noch in derselben Stunde damit zu meinem neuen Prinzipal [695] gegangen und habe ihm gesagt: ,Das schreibt mir der Mann, der durch mich sein Vermögen verloren hat und den ich jetzt um die geforderte Kaution gebeten habe, weil ich glaubte, er hätte noch die Mittel dazu.‘ Mein Prinzipal hat Ihren Brief gelesen, Herr Hagedorn! Es war keine Indiskretion dabei, wenigstens habe ich es als solche nicht empfunden.

Und ein Segen, daß er ihn gelesen! Er hat zunächst nichts weiter gesagt, hat mir den Brief stumm zurückgegeben und dann, da eine Unterbrechung kam, bloß flüchtig die Worte hingeworfen: ,Morgen sprechen wir mehr darüber!‘ – Der andere Tag kam, ich ging zu ihm, resignierten Sinnes – was konnte er mir zu sagen haben? Daß er die Kaution verlangte, wenn er mir den wichtigen Posten in seinem Geschäft übertragen sollte, fand ich nur zu begreiflich, ja, selbstverständlich, aber geben konnte ich sie ihm leider nicht – – – also war die Sache zu Ende!

Es kam anders.

Mein Vorgesetzter eröffnete mir ganz trockenen, sachlichen Tones, es würde ihm lieb gewesen sein, die Kaution als Sicherheit zu haben, da ich aber außer stande sei, sie ihm zu bieten, so müsse er schon darauf verzichten. Als Kaution werde er meine bisherige musterhafte Führung – seine eigenen Worte! – annehmen und als Kapitaleinlage meine Ehrenhaftigkeit, meinen guten Willen und den Brief des Herrn Hagedorn aus Greifswald, der so viel Vertrauen bekunde, nach all dem Schweren, das er durch mein geschäftliches Unglück erfahren. Als mein Anfangsgehalt, das er mir auswarf, normierte er eine Ziffer, die meine Erwartungen weit überstieg, und verhieß mir auch Anteil am Reingewinn, der, wenn das Geschäft fortfährt, günstig zu gehen, gleichfalls eine hübsche Summe repräsentiert, jedenfalls die Bedürfnisse für meinen eigenen Lebensunterhalt, den bescheidenen eines kinderlosen Witwers, vollauf decken wird. Ich werde daher mein Gehalt sehr bald im vollen Umfang zur Tilgung meiner Schulden benutzen können. Mit Abschluß des Jahres läßt sich alles besser übersehen; ich werde mir alsdann erlauben, Ihnen ein festes Abkommen zu unterbreiten, nach welchem sich meine halbjährlichen Abzahlungen zu regeln hätten. Sollten Sie irgend welcher nicht gar zu großen Summe gleich bedürfen, so würde ich mich glücklich schätzen, Ihnen auch damit, ganz nach Ihrem Wunsch, zu Gebot stehen zu können. Eintausend bis zweitausend Gulden hätte ich jeden Tag disponibel, und würde es sich zur ganz besonderen Ehre rechnen, Ihnen damit die erste Zahlung zu leisten,
Ihr Ihnen stets dankbar ergebener  
 Leopold Steglhuber.“ 

„Nun,“ sagte der alte Herr, der gedankenvoll zugehört hatte, „findest du es nicht auch sehr ehrenhaft von dem Steglhuber, daß er so energisch bemüht ist, sein Verschulden wieder gut zu machen? Wenn auch noch nicht abzusehen ist, wie sich das alles abwickeln wird – aber, Jungchen, ja, was hast du denn?“

Raimund war aufgesprungen, stand, zu seiner ganzen stattlichen Größe aufgerichtet, vor dem Vater und dehnte seine breite Brust unter einem so tief herausgeholten Atemzug, als wälze er eine Bergeslast von seiner Seele.

„Und du fragst das noch? Begreifst nicht? Aber dies ist ja die Erlösung für mich – die Befreiung – die Zukunft – das Glück!“

„Ja – Kind, meinst du denn –“ begann der Alte zaghaft.

„Meinen, Vater? Aber hier haben wir ja die Gewähr – haben sie dicht vor Augen!“ Raimund faßte den Brief und hielt ihn mit beiden Händen. „Steglhuber wird fest und sicher angestellt mit jährlichem Gehalt und Gewinnanteil, er ist dir tief verpflichtet, diese Verpflichtungen drücken ihn, er setzt alles daran, um ihrer ledig zu werden – und Steglhuber ist ein Ehrenmann, war immer einer, wenn er auch das Unglück gehabt hat, unser Vermögen zu verlieren! Jetzt will er gut machen und kann es auch! Kann es! Und ich – und wir – nicht eine Stunde länger, als eine anständige Kündigungsfrist erfordert, bleib’ ich hier! Ich kann nicht! Endlich – endlich darf ich fort!“

„Ja, aber – aber, mein guter Sohn –“ der alte Mann vergaß wieder seinen kranken Fuß, wollte rasch aufstehen und sank mit einem Aufstöhnen zurück, „ich bitte dich um alles, sei auch nicht zu sanguinisch, sieh die Sache nicht in zu rosigem Licht! Wenn du dir eine andere Stelle –“

„Wer spricht davon?“ Raimund, der ruhelos im Zimmer hin und her gegangen war, stand neben dem Lehnsessel des Vaters wie angewurzelt still. „Eine andere Stelle? Die hätt’ ich mir längst verschaffen können – – aber sieh nur – versteh’ nur – das durfte ich doch nicht! Es hätte ausgesehen wie rabenschwarzer Undank, und es hätte ausgesehen, als fürchtete ich mich hier zu bleiben, als wollte ich die Flucht ergreifen – daher hieß es für mich, die Zähne zusammenbeißen und aushalten – – aber jetzt, Vater –“ es klang wie Jubel in seiner Stimme – „jetzt kann ich – – und werde ich gehen – meiner wahren Bestimmung entgegen!“

Hilflos und erschrocken hingen des Vaters Augen an dem strahlenden Gesicht. Es kam ihm in aller Schwere zum Bewußtsein, wie verhaßt dem Sohn sein jetziger Beruf sein mußte, wenn er den ersten Hoffnungsstrahl, der ihm winkte, schon als sichere Erlösung begrüßte. Daß Raimund ein tägliches Opfer brachte, hatte er sich oft gesagt; was ihn dieses Opfer gekostet, sah er erst heute.

„Jungchen, komm’, setz’ dich doch wieder! Sei nicht so aufgeregt! Sieh, es fällt mir entsetzlich schwer, dir irgend welche Illusionen zu nehmen – ich hab’ selbst immer welche gehabt und bin Zeit meines Lebens nichts als ein unpraktischer Träumer gewesen – das war mein Unglück! Darum aber meine ich jetzt, so auf das Ungewisse hin –“

„Aber du siehst doch, was der Mann schreibt, Vater! Hast es mit eigenen Augen schwarz auf weiß gelesen und eben jetzt von mir dir vorlesen lassen: er hat zweitausend Gulden disponibel! Zweitausend Gulden – das sind über dreitausend Mark in unserem Gelde – und das ist nur der Anfang! Steglhuber zahlt fortan regelmäßig, vergiß das nicht!“

„Und wenn er es nicht kann? Wenn er seine Einnahmen, sein Können überschätzt hat – oder – oder – wenn er stirbt?“

„Sterben? Ach, er denkt nicht dran!“ Raimund wehrte diesen Gedanken mit einer raschen Handbewegung von sich ab, gleichsam wie eine zudringliche Fliege. „Jetzt, wo sich ihm eine neue Bahn öffnet, wo er gutmachen kann …. Vater, kannst du’s denn nicht fassen, was es für mich heißt, meine Kunst, meine Musik zurückzuerobern?“

Mit beiden Händen faßte er die Schultern des Vaters, rüttelte ihn sanft, sah ihm mit den in reinstem Blau glänzenden Augen nahe ins Gesicht, wollte wieder anheben zu sprechen und konnte es nicht.

Auch der alte Mann suchte umsonst nach Worten. Raimunds Erregung und Freude hatten auch ihn gepackt, rissen ihn mit fort, er sah ihn im Geist schon lorbeergekrönt, von einem enthusiastischen Publikum umjubelt, in Ehren und Würden, sein Blick trübte sich, und er mußte sich mehrmals räuspern. Der Hals war ihm wie zugeschnürt.

„Noch ist es nicht zu spät!“ begann Raimund von neuem, als ihm die Stimme wieder gehorchte. „Früher hab’ ich das zuweilen gedacht, aber es ist Unsinn gewesen. Ich hab’ manchmal gedacht, meine Spannkraft sei dahin, sei mir abhanden gekommen in dieser stickigen, nüchternen Comptoirluft, jetzt denk’ ich das nicht mehr! Achtundzwanzig Jahre! Ist das zu spät für einen Menschen, der voll Talent steckt – alle haben sie mir’s doch zugestanden! – der voll brennenden Eifers und voll unermüdlichen guten Willens ist …. zu spät, einen neuen Beruf zu ergreifen – vielmehr zu seinem ursprünglichen Beruf zurückzukehren?“

„Aber du,“ stammelte zaghaft der Alte, „du wirst mich doch nicht etwa hier allein lassen wollen?“

„Hier lassen? dich? Mein bestes Besitztum? Bitt’ mir den nichtswürdigen Gedanken ab auf der Stelle! Wie in aller Welt kannst du nur darauf kommen?“

„Wär’ ja nichts so Unrechtes, Kind,“ gab verlegen der Vater zurück. „Aber weißt du, eine Trennung auf lange, eine weite Entfernung von meinem Einzigen …. ich glaub’ nicht, daß ich es aushielte. Man kann ja nicht wissen, wie lange der liebe Gott mich alten Knaben noch am Leben läßt –“

„Jetzt hörst du aber auf! Du und ich, wir gehören zu einander und bleiben beisammen. Ich bitte dich also, zunächst an Herrn Steglhuber zu schreiben, und zwar die lautere Wahrheit: ich wünschte meine Carriere zu ändern und wäre ihm außerordentlich dankbar, wenn er seinen Verpflichtungen uns gegenüber soviel wie irgend möglich nachkäme! Die von ihm bezeichnete [696] Summe möge er, sobald er könne, schicken. Bin ich im Besitz derselben, so reiche ich hier sofort meine Kündigung ein und betreibe die einleitenden Schritte für meine Uebersiedelung nach Frankfurt. Das Nähere besprechen wir noch!“

„Ja – gut – schön!“ brachte der alte Mann stotternd hervor, und seiner wieder ratlos gewordenen Miene war es nicht anzumerken, daß er in seinem Innern wirklich alles gut und schön fand. „Aber nun, Raimund – Jungchen – – was wird deine – deine Cousine, die Baroneß meine ich, deine Prinzipalin zu diesem Entschluß und zu deiner Kündigung sagen?“

„Vermutlich mancherlei, Vater. Sie wird meinen Entschluß gutheißen und meine Kündigung verstehen, wenn sie imstande ist, sich einigermaßen in meine Lage zu versetzen; und das traue ich ihr zu –“

„Und die Trennung von hier – von – von – allem fiele dir gar nicht schwer?“

„Von der Kolonie Josephsthal? Da ich dich, mein bestes Eigentum, mit mir nehme? So viel für die ganze Kolonie!“ Raimund that, als ob er eine Flaumfeder von seinem Rockärmel bliese.

„Ich meinte ja nur, ob dir denn die Trennung von Alexandra von Hofmann nicht schwer fällt?“

„Davon reden wir lieber ein andermal – oder – oder – vielleicht auch gar nicht. Es giebt Dinge, Vater – genug davon! Laß uns nur erst den Brief nach Wien schreiben und die erste Anzahlung in Händen haben, damit ich hier kündigen kann! Und jetzt werde ich leider schon wieder zurück müssen, Papa!“ Raimund, die Hände in den Taschen seines hellen Sakko, wiegte sich ungeduldig auf den Hacken hin und her.

„Jetzt? Mitten in dem Unwetter?“

„Ach, das ist ja nur ein Sprühregen! Sieh, die Sonne will schon mit Gewalt hindurch!“

Ein wunderhübsches Schauspiel! Während es noch vom Himmel feinen, staubartigen Regen herab schüttete, bekamen die losen Wolkenmassen, die dort über den Ulmen hingen, helle Ränder, ließen endgültig die Sonne durch und woben eine buntleuchtende Strahlenbrücke, die über die ganze Stadt reichte, so weit der Blick trug …. den schönsten Regenbogen, dessen zartgetöntes Abbild sich westwärts in die Wolken malte.

Vater und Sohn hatten schweigend das farbige Wunder entstehen sehen und waren jetzt in stummes Anschauen verloren. Der ältere Hagedorn sah verklärten Auges zum Himmel empor, wo es zwischen den Wolkenfetzen blau und verheißungsvoll zu schimmern begann. Konnte dies nicht ein Bild ihrer Zukunft sein? Kam nun endlich, nach Sturm und Regen und Ungemach, die Sonne in ihr Leben?

„Also wirklich schon fort, Raimund?“ Er fühlte seines Sohnes Hand auf seiner Schulter.

„Ja, Vater, es ist Zeit für mich. Ich will da mitten in den Regenbogen hineinfahren – dort, wo er hinter den Bäumen die Erde berührt – siehst du’s?“

„Schalksnarr, der du bist! Hör’ nur das eine noch!“ Der alte Herr faßte einen Rockknopf des Sohnes und hielt ihn daran fest. „Du sagtest vorhin, wenn du dich um eine neue Stelle bemüht hättest, das würde ausgesehen haben, als fürchtetest du dich davor, hier zu bleiben, als wolltest du die Flucht ergreifen. Darf ich fragen, wovor?“

Raimund sah mit einem sehr zweifelhaften Gesicht auf seinen Vater nieder und wollte sacht dessen Hand von seinem Rockknopf losringen, aber der Alte hielt fest.

„Vor wem wolltest du fliehen?“ fragte er eindringlich.

„Hab’ ich das wirklich gesagt?“ gab Raimund in unsicherem Ton zurück.

„Wahr und wahrhaftig!“

„Dann ist’s erst recht Zeit, daß ich gehe! Zerbrich dir nicht weiter den Kopf, Vater, und laß los! Aus dem Rockknopf drehst du’s doch nicht heraus! Also du schreibst nach Wien und läßt mich’s wissen, sobald die Antwort da ist – per Telephon.“

„Und wie wird es mit meinem versprochenen Besuch bei Baroneß Hofmann?“

„Ja, dazu mußt du doch zunächst zwei gesunde Füße haben!“

„Freilich, das muß ich!“ Hagedorn senior seufzte.

„Wird alles werden, immer Kopf hoch, und hübsch die Einreibung brauchen, die Doktor Petri das letzte Mal verschrieben hat, die half ja! Gute Besserung, Väterchen! Hübsch stillgesessen! Mich brauchst du doch am Ende nicht hinauszukomplimentieren!“

Ein freundliches Nicken, ein Händedruck, ein Lächeln, noch lag ein Abglanz von Verlegenheit auf dem hübschen sorglosen Gesicht – die Treppe knarrte unter dem raschen Tritt – die Hausthür kreischte unten in ihren Angeln – – der alte Mann am Fenster bog sich vor ….

Da war er .... grüßte noch einmal mit Hut und Hand nach oben, faßte die Lenkstange, saß auf – und nun, wie der Pfeil von der Sehne fliegt, sauste das Zweirad blitzend und funkelnd dahin .... gerade mitten in den Regenbogen hinein! (Fortsetzung folgt.)     


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Eine Wanderung durch das oldenburgische Moorgebiet.

Von Franz Poppe. Mit Illustrationen von G. Bakenkus und R. Rucktäschel.

Von den nordwestdeutschen Mooren, die gegen Norden tief in Jütland, gegen Westen in Holland hineinreichen, haben Mittel- und Süddeutsche selten eine richtige Vorstellung. Als öde und tot sind bei ihnen die Moore verschrieen. Man denkt bei dem Wort an Sumpf und Morast, und kennt nicht die Poesie der Heide, die sich auf dem Boden des nordischen Torfmoors entfaltet. Unser Moorland hat sogar seine sehr malerischen Seiten. Wie käme es sonst, daß sich im Moore zu Worpswede bei Bremen eine Kolonie von Malern angesiedelt hat, deren Stimmungsbilder aus der dortigen Gegend allgemeinen Beifall gefunden haben? Auch Gerhard Bakenhus, nach dessen Bildern und Zeichnungen einige Illustrationen dieses Artikels ausgeführt sind, haust Winter und Sommer, tagaus tagein im Moorland, um dessen eigentümliche Schönheit ausschließlich auf sich wirken zu lassen und Naturstudien zu entwerfen. In der That verlohnt es sich wohl, eine Wanderung durch das Hochmoor zu machen. Freilich ist sie nur für rüstige Fußgänger zu empfehlen; denn Fahrgelegenheit treffen wir im Hochmoor nicht an; der Boden vermag oft kaum unsere eigene Last zu tragen.

Am besten gehen wir von der Stadt Oldenburg aus gen Westen. Das Herzogtum Oldenburg ist ein mit Mooren reich gesegnetes Land; das Hochmoor umfaßt mindestens 70000 ha. Durch die hübschen Gartenstraßen der großherzoglichen Residenz mit ihren schmucken Villen gelangen wir bald in ländliche Bezirke. Noch marschieren wir auf gebahntem Sandwege, und trotz des Morgennebels, der die ganze Landschaft einhüllt, bemerken wir frischgrüne Saatfelder und stattliche Eichen. Allmählich wird aber die Gegend niedriger, Birken und Föhren treten an die Stelle der Eichen. In den Gräben zur Seite des Weges fällt uns kaffeebraun gefärbtes Wasser auf. Der Boden nimmt nach und nach eine schwarzbraune Färbung an und ist stellenweise mit brauner Heide bewachsen. Dies zeigt uns, daß wir bereits in die Region des Moores eingezogen sind. Wenn der frische Morgenwind den dichten Nebelschleier zeitweilig ein wenig lüftet, so überschauen wir niedrige, feuchte Wiesen, mit Binsen und Sumpfgräsern bewachsen, auch bemerken wir hin und wieder dunkle Buchweizenäcker, die jetzt im Frühling noch nicht bestellt sind. Krähen ziehen in schwerem Fluge krächzend durch den Nebel und scheue Rebhühner schnellen schwirrend empor.

Ein durch aufgefahrenen gelblichweißen Kiessand gebahnter Seitenweg führt uns von der Landstraße ins Moor, das zunächst noch Leeg- d. h. niedriges Moor ist. Wäre ein solcher fester Weg nicht hergestellt, so würden Pferde und Wagen im Morast versinken, und der Torf, den man aus dem erhärteten Moorboden gewinnt und der überall in schwarzen, runden Haufen umhersteht, könnte nicht weggefahren werden. Hier und dort fällt uns auch eine aus schräg gegeneinander gestellten, mit Moorschollen bedeckten Sparren errichtete Hütte auf, in der die [697] Torfgräber bei Regenwetter eine Zuflucht und des Nachts eine Ruhestätte auf Stroh finden.

In den feuchten Niederungen ringsum wachsen nur lange Binsengräser, das eigentümliche, weißbüschelige Wollgras und der blaugrüne Sumpfporst; nur auf höheren Stellen immergrüne


Torfbereitung mit Hilfe von Maschinen.
Nach einer Originalzeichnung von G. Bakenhus.


Preißelbeerstauden, niedriges Weidengestrüpp und Brombeergesträuch, an dessen Zweige und Blätter sich die Tauperlen gehängt haben. Ein Windstoß zerreißt die Nebelhülle, der blaue Himmel blickt hindurch, die Sonnenstrahlen blitzen in den Tautropfen, und eine einsame Heidelerche steigt schmetternd und triumphierend zum Licht empor, während lange, weiße Nebelstreifen gespenstisch über die stille Fläche huschen und entweichen. Das Licht hat gesiegt. Ein Glück für uns; denn der gebahnte, feste Weg hat aufgehört, rechts und links gähnen uns tiefschwarze Wasserlachen und mit einer trügerischen hell- oder dunkelgrünen Moosdecke überwachsene bodenlose Sümpfe an. Das sind die gefürchteten Moore, aus denen wir lebendig nie wieder emportauchen würden. In der Ferne grüßen die weißen Stämme vereinzelter Birken mit ihrem frischgrünen Blätterschmuck, die auf einer die Sümpfe überragenden hohen Torfschicht stehen. Ein märchenhafter Zauber brütet über dem ganzen Landschaftsbilde, das auf braunem Grundton eine so reiche Mannigfaltigkeit der Farbenschattierungen zeigt.

Gleich die nächste Wasserlache läßt uns im kleinen die Entstehung des Moores erkennen. Weiche Moospolster umsäumen die Ufer. Auf dem Wasser bemerken wir schleimige, grüne Fäden und Filze. Das sind die sogenannten Wasserfäden oder Algen und Konferven. Diese sterben ab, sinken nieder bis auf den sandigen Untergrund, vermodern, häufen sich und machen die erste Moorlage aus. Ihre Vermehrung geht so schnell vor sich, daß das träge Gewässer sich bald in einen Sumpf, in die schwarze Moorsuppe, verwandelt. Nach und nach siedeln sich nun auch andere Wasserpflanzen an, Binsen, Riedgräser, Wollgras, Teichrosen, Moose etc. Namentlich das Torfmoos (Sphagnum), dessen lange Wurzeln in die Tiefe dringen, ist für die Moorbildung außerordentlich wichtig, da es in jedem Herbste unten abstirbt, in jedem Frühjahr aber wieder neue Schüsse treibt und dichte Filze und Polster bildet, wie wir sie hier erblicken. Jahr für Jahr entsteht aus den abgestorbenen Teilen eine neue Moorschicht, eine über der andern, bis der Sumpf endlich eine feste Decke bekommt, auf der auch schon andere, namentlich holzige Pflanzen, wie die Moosbeere, der Porst und die Heide, Fuß fassen können.

Das Moor wird nun von Jahr zu Jahr trockener, wächst aber, weil es wie ein großer Schwamm stets Feuchtigkeit hält, noch immer höher. Eine Pflanzengeneration ersteht auf dem Grabe der andern. Tief unten findet man noch die Mumien der abgestorbenen Gewächse, wie z. B. Stengel und Blätter der Teichrosen. Ein riesiges Herbarium ist das Moor, in dem nicht bloß Moose und Gräser, sondern auch gewaltige Bäume wohlkonserviert sind. Hier liegen solche ausgegrabene braune Baumstämme und Wurzelstümpfe, die vor vielen Jahren aus dem trockenen Untergründe hervorwuchsen und Wälder bildeten, die namentlich aus Föhren bestanden. Die Wälder sind darauf untergegangen; die Stämme liegen entwurzelt oder abgebrochen hingestreckt in der

Heideschafe.
Nach einer Originalzeichnung von R. Rucktäschel.

[698] Richtung von Nordwest nach Südost. Während nämlich das Moor oder Moos nach und nach höher an den Bäumen hinauswuchs und immermehr Feuchtigkeit ansammelte, mußten die Stämme allmählich verdorren, bis sie von den in Norddeutschland vorherrschenden nordwestlichen Winden in der angegebenen Richtung hingestreckt wurden. Im Plattdeutschen heißen sie „Keenstubben“ (Kienholz); sie brennen getrocknet wie Teer. Treten wir heran an die durch den Torfabstich gebildete hohe Moorwand! Die oberen Lagen haben die unteren zusammengepreßt, so daß die Masse unten dicht und dunkel, fast verkohlt und schwarz, nach oben zu immer loser und Heller wird, in der Mitte bräunlich, oben aber weißlich aussieht. Wieviele Jahrhunderte mögen vergangen sein, bis sich diese gewaltigen Torflager bildeten! Je dunkler derTorf ist,ein desto besseres Brennmaterial giebt er ab. Die helleren Moorschichten werden zu Torfstreu verarbeitet, die bekanntlich zurDesinsektionund zur Verpackung von Früchten, Eiern etc. verwandt wird.

Als angenehme Unterbrechung der tiefen Stille dringt jetztschellengeläute an unser Ohr. Es rührt von einer Herde jener kleinen, schnellfüßigen, mit haariger Wolle bedeckten Schafe her, die man „Heidschnucken“ nennt. Sie begnügen sich mit Heidekraut und dürftigen’ Gräsern. Gehütet und bewacht werden sie von dem treuen Schäfer und seinem klugen Spitzhunde.

Jener wandert Tag für Tag, Sommer und Winter, mit ihnen durch die weite Heide, still Wie diese, in sich gekehrt, fast beständig strickend, gegen die Unbilden der Witterung in einen grauen Mantel aus Heidschnuckenwolle („Heiken“) gehüllt (s. die Abbildung S. 697).

Das Moorbrennen.
Nach einer Originalzeichnung von G. Bakenhus.

Setzen wir jetzt unsere Wanderung fort. Der Boden wird nach und nach wieder höher; wir steigen unmerklich zum Plateau des Hochmoores hinan. Es erstreckt sich von der Hunte westlich bis an die Eins in Ostsriesland und darüber hinaus und umfaßt, soweit es zu Oldenburg gehört, mindestens 40 Quadratmeilen. Auf dem sandigen, stellenweis lehmigen Urboden lagert die Moorschicht in verschiedener Mächtigkeit von 1/3 bis 12 m und mehr. So weit wir sehen, nichts als schwarzes Moor und nur Moor. Stundenweit dehnt es sich aus nach allen Richtungen. Nur am äußersten Rande des Horizontes gewahren wir in verschwimmenden Umrissen meilenweit entfernte Gebüsche und Dörfer. Kein Haus, kein wildwachsender Baum, kein Strauch, nur kümmerliches Heidekraut, hin und wieder Binsen und harte Gräser, auch manchmal eine Fläche, die von allem Pflanzenwuchse entblößt ist, so daß uns das nackte braune Moor mumienhaft anschaut. Kein Singvogel mag hier nisten. Nur der klagende Rus des Moorhuhns dringt durch die totenstille Oede.

„Was für ein dicker, schwarzer Rauch wälzt sich jetzt drüben empor?“ Das Moorbrennen hat bereits begonnen. Wir werden diesen Vorgang gleich in der Nähe betrachten. Durch das Brennen wird die Oberfläche für den Buchweizenbau vorbereitet, nachdem sie der „Moorker“ im Herbst und Winter durch kleine Gräben,sogenannte „Gruppen“, entwässert und den Boden zerhackt und aufgelockert hat. Sind die Schollen genügend abgetrocknet, so beginnt im Frühlinge das Moorbrennen. Die Schollen werden angezündet und gegen den Wind auf dem Ackerboden umhergeworfen, damit die auseinander fallenden Stücke sich überall entflammen. Jetzt sehen wir den Moorbrenner vor uns. Er hat schwere, dicke Holzschuhe an und eine langgestielte, alte, durchlöcherte Pfannkuchtnpfanne in der Hand, mit welcher er die glimmenden, schmauchenden Moorklöße gegen den Wind wirft (vgl. die nebenstehende Abbildung). So steht er häufig mitten im dicken Rauch. Nicht bloß Männer, sondern auch Frauen und Kinder verrichten dies mühsame Geschäft, das ihnen wegen des die Augen beißenden Rauches manche Thräne kostet. Aber „die mit Thränen säen, werden mit Freuden ernten“, falls der Buchweizen gerät.

Der von unsern Mooren zur Zeit des Brennens aufsteigende Qualm bildet eine ungeheuere Rauchwolke, die sich dann über weite Länderstrecken verbreitet, über Holland, das mittlere und südliche Deutschland, bis in die Schweiz hinein, wo sie „Höhenrauch“ genannt wird. Der Moorrauch ist somit eine wahre Landplage, weil er uns die schönsten, sonnigsten Tage des Frühlings verdirbt. Welch einen brandigen Geruch verbreitet er! Die Sonne vermag ihn kaum zu durchbrechen.

[699]

Am Moorkanal.
Nach einer Originalzeichnung von R. Rucktäschel.

Wie eine blutrote Scheibe steht sie am Himmel, und alle Gegenstände, Berg und Wald, erscheinen in gelbrötlicher Färbung. In jüngster Zeit sucht man das Moorbrennen durch Kunstdüngung mit Kalk, Kainit, Chilisalpeter etc. überflüssig zu machen; ob es ganz gelingen wird, steht dahin.

Durch das Moorbrennen wird eine Zersetzung des Bodens bewirkt und demselben die überflüssige Humussäure, die das Wachstum hindert, entzogen. Ist das Feuer erloschen, so wird der Buchweizen gesät und eingehackt oder eingeeggt. Weil häufig der weiche, zitternde Moorboden kein Zugvieh tragen kann, so spannen sich Mann und Frau vor die Eggen und verrichten einmütig die schwere Arbeit des Ziehens.

Bald gehen die Körner auf und zaubern ein frisches, zartes Grün ins schwarze Moor. Und später die zierliche Buchweizenblüte, wie zart, weiß und rot, gleich einer verschämten Maid, sieht sie aus! Nun kommen auch die Bienenzüchter oder Imker gezogen und stellen in langer Reihe ihre Völker auf, die summend dem duftenden Buchweizenfelde zufliegen.

Wie ist alles so still ringsum! Die Luft zittert und flimmert im warmen Sonnenschein; man hört nichts als das Gesumme der Bienen und vielleicht das Trillern einer Lerche, hoch in blauer Luft. Der Imker wandelt bedächtig vor seinen Bienenkörben auf und ab, bläst blaue Rauchwolken aus seiner kurzen, braunen Pfeife („Dävke“) gen Himmel und träumt von seinen Honigernten.

„Kein Klang der aufgeregten Zeit Drang noch in diese Einsamkeit“

so schließt das Gedicht Theodor Storms, welches diese Stimmungswelt schildert.

Auch die Buchweizenernte im September (vgl. untenstehende Abbildung) ist nicht ohne Poesie. Männer, Frauen und Kinder ziehen alsdann ins Moor und dreschen auf dem festgeklopften Boden den Buchweizen aus. Die Flegel blitzen und tanzen in der Sonne, die Körner springen, das Stroh fliegt und der Schlag der Drescher tönt dumpf übers stille Moor. An diesem Tage bricht auch der ernste Moorbewohner sein gewohntes Schweigen. Kaffee und Bier lösen die Zunge, und Lachen, Singen und Jauchzen ertönen.

Buchweizenernte.
Nach einer Originalzeichnung von R. Rucktäschel.

Auf unserer Wanderung sind wir jetzt an einen Kanal gelangt, der mitten durchs Hochmoor gegraben ist. Er heißt „Hunte-Ems-Kanal“ und verbindet in einer Länge von 41 km die Hunte, welche in die Weser mündet, mit der Ems. Nun entwickelt sich ein neues, interessantes Bild. Indem wir unsern Weg am Kanal fortsetzen, gewahren wir bald zu beiden Seiten Kolonistenwohnungen, die einen sehr freundlichen Anblick gewähren und im Innern zwar einfach, aber doch wohnlich eingerichtet sind. Wir haben eine Fehn- oder Moorkolonie vor uns. Es giebt mehrere solcher Kolonien am Kanal: Moslesfehn, Elisabethund Jdafehn. Sie haben die Bestimmung, das Moor zu kultivieren. Dies geschieht durch das Abgraben der hohen Moorschicht bis auf den sandigen Untergrund. Jene wird zu Torf verarbeitet, dieser in fruchtbare Aecker, Gärten und Wiesen umgewandelt. Beides kann aber nur geschehen mit Hilfe eines schiffbaren Kanals; denn der Torf muß nach entfernten Dörfern und Städten ausgeführt und statt seiner muß Dünger etc. eingeführt werden. Die Kanäle sind mithin die pulsierenden Lebensadern der Moore; ohne sie ist und bleibt das Moor tot. Sowie aber ein Kanal durchs Moor gelegt wird, erwacht neues Leben in den Fehnkolonien, die – nachdem wir stundenlang über öde Heide und braunes Moor gewandert sind – einen überraschenden Anblick gewähren.

Der breite, unabsehbar lange Kanal ist bedeckt mit Booten, Kähnen und kleinen Seeschiffen. An den Ufern entlang, 20 bis 30 Schritt voneinander entfernt, stehen reinliche, freundliche Häuser aus roten Ziegelsteinen, umgeben von sorgsam gepflegten Blumengärten, grünen Gemüseund Obstgärten.

Hier erheben sich Mühlen, dort steigen Zugbrücken in die Höhe.

Hier dehnen sich Quais und Stapelplätze für Torf, und dort erblicken wir das rege Leben und Treiben einer Schiffsbauerei. Entfernen wir uns vom Kanal, so wogen bald Getreidefelder zu unseren Füßen, oder kleereiche Wiesen breiten sich aus, auf denen schöne, glänzende Kühe weiden.

Weiterhin treffen wir wieder dasLand im Urzustände: halb oder ganz ausgegebenes Moor, oder noch wild daliegendes Heideland. Wo der Torf bis auf den Untergrund abgegraben ist, da erhebt sich die steile, brauue Moorwand oft bis zu 10 und mehr Metern [700] Höhe. Oben auf dem öden Moorplateau stehen zum Trocknen kunstgerecht aufgebaute, luftige Torfringe oder hohe, schon trockne schwarze Torfhaufen. Ueberall reges Leben, emsige Thätigkeit! Alt und jung, Männer und Weiber, Knaben und Mädchen, alle sind bei der Arbeit.

Beim Torfgraben.
Nach einer Originalzeichnung von G. Bakenhus.

Hier steht ein knochiger Mann, schwere Stiefelholzschuhe an den Füßen, in der tiefen Torfgrube, sticht mit langem, schmalem Spaten die schmierigen Torflaibe los und wirft sie stöhnend hoch nach oben, wo ein anderer Mann sie mit einer Gabel aufnimmt und auf eine Schiebkarre legt, die ein hochaufgeschürztes Mädchen fortschiebt, bis zu dem Platze, wo die Torfsoden vorläufig zum Trocknen nebeneinander gelegt werden. Das ist eine schwere, mühsame Arbeit. Unser Bild stellt den oberen Teil der Torfgrube dar. Ganz oben ist eine Frau mit einer leichteren Arbeit beschäftigt, nämlich, den halb trocknen Torf in Ringe zu stellen. Ist der Torf ganz trocken, so wird er in runde Haufen geworfen oder zum sofortigen Transport in Schiffe gebracht. Wo die Moorschicht sehr tief sitzt, wird sie mit Maschinen herausgearbeitet, die gleich die Mischung besorgen und den braunen Moorkuchen an die Oberfläche befördern, wo er ausgebreitet, in Soden gestochen und in der bereits angedeuteten Weise getrocknet wird (vgl. das Bild S. 697).

Es liegt ein großer Reichtum, ein verborgener Schatz in unseren Mooren vergraben, der aber nur durch eine planmäßige, vom Staate ausgeführte Kanalisierung gehoben werden kann. Tausenden von Menschen, die jetzt im Elend verkommen oder zum Schaden des Vaterlandes auswandern, könnte hier noch eine glückliche Wohnstätte bereitet werden.




Als ich ’mal renommieren wollte.
Erinnerung aus der Schulzeit.
Von E. v. Wang.

„Wenn Gustav in diesem Jahre nach Sekunda kommt, werde ich ihn zur Belohnung ganz allein zur Großmama nach Berlin schicken!“ So hatte ich meinen Vater zur Mutter sagen hören, als ich gerade an der offenen Stubenthür vorbeiging. Die Wirkung dieser Worte auf mich war wunderbar. Eben war ich im Begriff gewesen, das Haus zu verlassen, um meinen neuen Weihnachtspaletot, meinen neuen Schlips, den so überaus kleidsamen neuen Filzhut und den zu einem schlanken Stückchen zusammengedrehten Schirm auf der Langgasse spazieren zu führen. Jetzt wandte ich mich im Nu auf dem Absatz herum und flog die Treppe in meine Giebelstube wieder hinauf. Ohne mich zu besinnen, entledigte ich mich der schönen, zum erstenmal ohne Zuhilfenahme von Papas alten Röcken hergestellten Garderobe und fuhr wieder in den alten Knabenkittel, dessen Aermel so abscheulich viel von meinen Handgelenken freiließen. Ich sah es wohl im Spiegel und bemerkte auch, wie mir der schnelle Kleiderwechsel all den Nimbus raubte, in dem ich mich wenige Minuten vorher gesonnt hatte, als ich in dem stattlichen dickwattierten Ueberzieher mit dem Stolzgefühl eines angehenden Bonvivants an derselben Stelle gestanden. Aber was that’s! Der Gedanke, bald „ganz allein“ nach Berlin reisen zu können, ließ keinen andern neben sich aufkommen!

Dann machte ich mich an die Arbeit, und sie geriet ganz gewiß besser, als wenn vorher in der Langgasse die Augen einiger „höheren Töchter“ sinnverwirrend auf mir geruht hätten. Und als ich fertig war, da dachte ich nicht mehr an die Langgasse, ich dachte an die „Linden“ Berlins. Ich schwelgte in der Vorstellung, so ganz, ganz allein, frei wie ein Vogel und unabhängig wie ein Student, von niemand gegängelt und gehindert, erst in die Welt hineinzufahren und mich dann in das Gewühl der Großstadt zu stürzen. Das Absteigequartier bei Großmama – hm, das mußte sein, das war ja die Voraussetzung der ganzen Reise! Ich freute mich ja auch aufrichtig auf Großmama! Ader wenn ich sie dann in ihrem traulichen Stübchen begrüßt haben würde, dann wollte ich hinauswandern in die große Stadt, um teilzunehmen an ihrem heißpulsierenden Leben und alles kennenzulernen, was sie interessant macht, ihre Licht- und ihre – Nachtseiten! Ich war ja noch ein ganzes Kind, aber von diesen „Nachtseiten“ hatte ich doch schon vernommen – was trifft nicht alles das Ohr eines heranreifenden, in die Welt hineinlauschenden Knaben, was kommt ihm nicht alles unter die Augen, und sei es auf dem Stück Zeitungspapier, in welches die sorgende Hand der Mutter harmlos das Frühstücksbrot für den Schulweg einwickelt! Freilich zu der angelesenen Weltkenntnis fehlte die deutliche Vorstellung – es schwebte mir nur die Ahnung von etwas schauerlich Schönem, das man „pikant“ nannte, vor. Eine Welt, angethan mit dem Zauber unangetasteten Geheimnisses – und diese Welt sollte mir nun bald die Reise entschleiern!

Das gab mir auch in den folgenden Wochen viel zu denken, zu träumen. Aber es hielt mich nicht ab, meine Schularbeiten mit Fleiß und Eifer zu machen und während des Unterrichts besser aufzupassen als sonst wohl. Ich mußte ja versetzt werden, um die Erlaubnis zu der Reise nach Berlin zu erhalten! Das feuerte an. Dann kamen die Tage der Prüfung, des letzten Kampfes um das diesmal mir so schön vergoldete Ziel. Und ich rang mich durch, ich wurde versetzt – der Tag war da, wo ich freudestrahlend den Eltern verkünden konnte, daß ich Sekundaner geworden.

Man hatte einen Pudding gebacken, den man, im Falle ich nicht versetzt wurde, kalt stellen konnte – nun dampfte er auf dem Tisch und daneben stand die Kirschsauce, und Vater und Mutter lasen Wange an Wange das Zeugnis, während ich weder an die Versetzung, noch an die durch sie verbesserten Aussichten für meine Zukunft dachte, sondern nur an den Pudding und an Berlin. Ich bat, heute einmal nur Pudding essen zu dürfen, und als das Mahl fertig war, saß ich da wie eine Boa constructor und nahm Papas längst erwartete Frage, ob ich am andern Tage Großmama besuchen wolle, deshalb mit so ruhiger Würde hin, weil ich fühlte, daß jede lebhafte Freudenäußerung meinem körperlichen Befinden im höchsten Grade unzuträglich werden müßte. Papa, der sich während seiner Frage zurückgelehnt hatte, um mich schlau lächelnd über die Brille anzusehen, hatte gewiß eine lebhaftere Freudenäußerung erwartet.

[701]
Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0701.jpg

Ein Opfer.
Nach dem Gemälde von G. F. Metcalff.

[702] Nun stand es unwiderruflich fest: am folgenden Tage sollte ich meine erste Reise, meine erste selbständige Reise anrreten!

Ich war zu Weihnachten so ausgestattet worden, daß Mama jetzt nur den Koffer zu packen brauchte, wobei mein jüngerer Bruder Toby mit rührend selbstloser Teilnahme half. Fast bei jedem Stück, das in den Koffer gelegt wurde, sagte er: „Das darf auch mit nach Berlin!“ oder: „Ihr glücklichen Hemden, Großmama wird euch gewiß selbst auspacken“ und so weiter. Er brachte bald dies und bald jenes von seinen Sachen und fragte, ob ich das nicht lieber auch mitnehmen möchte, ich könnte es vielleicht brauchen. Ich meine, das geschah nicht allein aus Teilnahme an meinem Glück, sondern ihm machte schon der Gedanke Spaß, daß wenigstens etwas von seinen Sachen die Reise mitmachen dürfte.

Als der Junge so eine Weile mit glänzenden Augen und heißen Backen seine Aufmerksamkeit zwischen mir und dem Koffer geteilt hatte, geschah etwas Unerwartetes. Toby hatte gerade, ganz gegen Gewohnheit respektvoll, zu mir, der ich vor dem Spiegel meine Reisetoilette anlegte, die anerkennenden Worte gesprochen: „Du siehst wirklich wie ein Sekundaner aus, beinahe wie ein Erwachsener,“ da sagte auf einmal Papa halb zu Mama gewandt, während ihre Blicke sich eigentümlich über mir kreuzten: „Na, Toby, pack deinen Kram mit hinein, du kannst mitreisen!“

Ich muß bemerken, daß ich meinen Bruder zärtlich liebte, daß ich ihm in Feuers- und Wassersgefahr unverzüglich nachgesprungen wäre – als er aber so dazu ausersehen ward, von meiner Reise die ganze Sahne abzuschöpfen, da hatte ich keinen Funken von Teilnahme für die Seligkeit, mit der er sich den Eltern an den Hals warf; ich hätte dem von nun an gemeinschaftlichen Koffer einen Stoß mit dem Fuße geben und ausrufen mögen: „Nun fahre ich gar nicht!“ Doch ich schämte mich meines Zornes und drehte Toby und den Eltern den Rücken. Zum Glück wurde ich gar nicht beachtet in seinem Freudenrausch. „Zur Großmama, zur Großmama!“ rief er und tanzte durch das Haus. Ich hatte fast nur an Berlin gedacht, an Großmama nur nebenbei, aber Toby – er dachte nur an Großmama, und wie es bei Großmama aussehen würde! Berlin war für ihn nur der Hintergrund für die liebe alte Frau.

Und nun schleppte er seine Sachen heran und packte sie in meinen Koffer. Ich war viel besser ausstaffiert als er, „trug“ er doch „auf“, was aus Vaters Kleidern für mich gemacht worden war. Die Knopflöcher seines Ueberziehers waren rund wie Mauslöcher, die ausgebeutelten Taschen voll gestopfter Risse, und mit diesem Paletot, mit diesen mehrfach geflickten schiefgetretenen Schuhen sollte er neben mir im Coupé sitzen, wenn ich den Mitreisenden das Rätsel aufgab, was für ein bedeutender junger Mann ich wohl sei! Nun, Toby ist auch nicht immer derselbe geblieben; nach und nach kam auch bei ihm die Selbstkritik zum Durchbruch und mit ihr das Verlangen, den Mangel an innerem Gleichgewicht durch eine zureichendere Toilette zu maskieren. Eine Eitelkeit, die nur bei hoffnungslosen Schmutzfinken ausbleibt.

Was Benzin, Bürste, Nadel und Faden an seinen Kleidern in Eile gutmachen konnten, das geschah. Ich machte den Vorschlag, ihn seine Sonntagssachen gleich zur Reise anziehen zu lassen, doch Mutter erklärte, da dieselben aus dem „billigen“ Laden wären, so vertrügen sie es wohl, von Toby bei einer Visite getragen zu werden, aber nicht, von Danzig bis Berlin die Bänke zu scheuern.

Ich gab mir redlich Mühe, mich mit der neuen Lage zu versöhnen. Doch fiel es mir recht schwer. Was den Besuch des „Zoologischen“, des Aquariums, des Panoptikums und der Urania anbetraf, so war mir die Begleitung von Toby ja nicht unwillkommen, da hatten wir so ziemlich die gleichen Interessen. Aber mit der erträumten freien Burschenherrlichkeit war es aus und vorbei! Ich hatte auf den Bruder aufzupassen, anstatt auf die mich umgebende neue Welt, ich hatte auf seine kindischen Interessen einzugehen, anstatt mich den Rätseln der Großstadt hinzugeben! So dachte ich – ahnungslos, daß der kleine Junge mir lediglich als Aufpasser beigegeben wurde, als Bleigewicht gegenüber den hinreißenden neuen Eindrücken.

Trotzdem wir, in einer Vorstadt wohnend, täglich die Lokalbahn benutzten, machte mir der Gedanke, an den Billetschalter treten und zwei Billets nach Berlin fordern zu können, genau denselben Spaß, als wenn ich ein kleinstädtischer Junge gewesen wäre.

Aber aus diesem Spaß wurde nichts, die gute Mutter konnte sich nicht entschließen, uns die letzte Stunde, die sich so schön mit Ermahnungen ausfüllen ließ, uns selbst zu überlassen. Sie begleitete uns, um, wie sie erklärte, unsere Billets zu besorgen. Ich bat, sich dieser Mühe doch nicht zu unterziehen, am Billetschalter wäre es so zugig. „Gieb mir nur das Geld,“ warf ich hin, wie wenn sich das von selbst verstünde, und streckte die Hand aus, als wäre diese Sache gar keiner Erörterung wert.

Aber nein! Mama erklärte, sie wolle am Schalter alles „noch einmal ordentlich befragen“. – Nur das nicht! knirschte es in mir, und jeder, der einmal selbst Sekundaner war, wird mir nachempfinden können, mit welchen Empfindungen ich diesem aus treuestem Herzen stammenden Vorhaben der Mutter entgegensah. So bescheiden wie möglich wies ich darauf hin, daß Papa ja die ganze Route klipp und klar aufgeschrieben und was es kostete abgezählt und eingewickelt habe. Aber Mama beachtete meinen Einwurf gar nicht, sondern fuhr fort, auf den guten treuherzig aufhorchenden Toby einzureden, der an ihrem Arm hing und zärtlich zu ihr emporblickte. „Wenn ihr euch zum Fenster hinauslehnt,“ wandte sie sich an mich, „kann plötzlich ein Tunnel kommen, und euch wird der Kopf eingeschlagen, oder ihr werdet blind von der Zugluft. Und bei Großmama müßt ihr euch gut die Füße rein machen. Und wenn Großmama nachmittags bei der Zeitung einschläft, dann stört sie nicht, sondern bleibt schön still sitzen. Sie schläft von 1 bis 4 Uhr, dann wird Kaffee getrunken, und dann wird Tante Tildchen mit euch ausgehen. Vormittags wird sie dazu keine Zeit haben; dann werdet ihr vom Fenster aus das Treiben auf der Straße betrachten, es ist dort sehr lebhaft; oder spielt Halma, lest und schreibt an uns, aber versucht nicht, allein auszugehen! Großmama würde sich tot ängstigen.“

Ich war ganz baff. Von morgens 7 bis zum Mittagsessen aus dem Fenster sehen, von 1 bis 4 Uhr neben einer schlafenden Großmama sitzen und dann um 4 Uhr mit Tante Tildchen ausgehen! O freie Burschenherrlichkeit, du lockender Traum, solltest du wirklich also zerrinnen?

Am Billetschalter herrschte lebhaftes Gedränge. Und was ich als das Schlimmste befürchtet hatte, traf ein: eine ganze Schar von Schülern der oberen Klassen des Gymnasiums bemühte sich gleichfalls um Billets. Nach Zoppot, wie ich hörte. Und sie alle sollten nun Zeuge werden, wie über meinen Kopf weg Mama unsere Reise erörtern würde, als sei ich noch ein Kind, das man an der Hand führen müsse.

„Hier meine beiden Knaben sollen nach Berlin fahren,“ begann sie – „zur Großmama“ – letztere Erläuterung galt dem uns durch langen Verkehr bekannten Billeteur, nicht dem Eisenbahnfiskus. „Geben Sie mir zwei Billets dritter Klasse nach Berlin! Das geht über Stettin, nicht wahr?“ „Aber Mama, selbstverständlich,“ raunte ich ihr im tiefsten Kehlton männlicher Ueberlegenheit zu, „oder wir müßten mit einem ganz andern Zug über Dirschau fahren,“ fuhr ich lauter fort, um vor den Umstehenden die Ehre der Familie zu retten.

Doch Mama ließ sich nicht beirren. – „Und in Stettin muß umgestiegen werden, nicht wahr? Da müssen die Kinder über ein Gleis gehen – ist das nicht gefährlich?“

Glücklicherweise reichten die Specialkenntnisse des Billeteurs über seinen Bezirk nicht hinaus. „Na, die jungen Herren werden sich schon zu helfen wissen,“ sagte er lächelnd, legte die Billets hin, strich das Geld ein und die Nachdrängenden schoben unsre Mutter weiter.

Sie reichte verschiedenen ihr bekannten Damen die Hand und klagte: „Es ist einem doch so eigen, die beiden Buben ganz allein fahren zu lassen. Sie fahren nur bis Zoppot – schade, wie gerne hätte ich sie Ihnen anvertraut.“

„Na, bis Zoppot will ich ihn beschützen, auch soll’s mir nicht darauf ankommen, bis Klein-Katz mitzufahren!“ sagte Konrad Telge, einer von deu Autoritäten der Obersekunda, und gratulierte mir händeschüttelnd zu der Reise. Und ohne den Hohn dieser Worte zu erfassen, nahm die besorgte Mutter vor [703] den uns spöttisch musternden Mitschülern ihre Ermahnungspredigt wieder auf: „Und vor den Bauernfängern nehmt euch in acht … trinkt nicht erhitzt, verderbt euch nicht den Magen …“ Dann verstummte sie plötzlich und horchte auf. Und schnell sich nach dem Schalter zurückwendend, wo eben von einer Dame ein Billet nach Berlin gefordert worden war, schoß sie auf diese los: „Sie fahren nach Berlin?“ jauchzte sie, „ach, da hätte ich eine große Bitte! Hier meine beiden Knaben fahren auch nach Berlin, zur Großmama – möchten Sie sich nicht derselben annehmen? Sie sind noch nie allein gereist!“

Jetzt war nur noch durch schnelles Handeln der letzte Rest der erwarteten Reiseromantik zu retten. Gerade fuhr der Zug ein. Der Augenblick war günstig. „Mama, der Zug ist da,“ rief ich ängstlich und faßte sie unterm Arm, während ich mit der andern Hand unbarmherzigen Griffes Tobys fleischlosen Oberarm packte und beide so auf dem Bahnsteig vorwärts schob. Aber meine Mutter ließ ihrerseits auch die nach Berlin reisende Dame nicht locker. Rückwärts gewandt, sprach sie weiter in sie hinein, so daß ich nur Bruchstücke der Unterhaltung auffangen konnte: – „können verunglücken – bösen Menschen in die Hände fallen – nicht hinfinden“. – „Können ganz ruhig sein, werde schon aufpassen – sie nicht aus den Augen lassen, bis ich sie dem Onkel übergebe.“

Ich knirschte mit den Zähnen. O freie Burschenherrlichkeit: ich sollte auf einen kleinen Jungen, und eine fremde Dame sollte auf mich aufpassen. Das war meine Reise „ganz allein nach Berlin “!

Noch einen Kuß tauschte ich mit der Mutter, während ich ihr mit von Thränen erstickter Stimme zuraunte: „Nun hast du mir die ganze Reise verdorben!“ Dann schubste ich Toby und den Koffer in ein leeres Rauchcoupé und schlug die Thür hinter uns zu, die aber im selben Augenblick wieder aufgerissen wurde. Die Dame, deren Aufsicht ich anvertraut war, stieg uns nach.

Toby war ihr bei dem Verstauen ihres zahlreichen Gepäcks behilflich; sentimentales altjüngferliches Reisegepäck: Plaidrollen, auf denen „Glückliche Reise“ gestickt war, ein Schlummerkissen, mit der Widmung „Nur ein Viertelstündchen“, eine Schirmtasche, mit „Gut Wetter“ und ein Kofferbezug, der ebenfalls mit einem wohlmeinenden Spruch verziert war. Ich lehnte mich zum Fenster hinaus, las in den Augen meiner Mutter aufdämmerndes Verständnis und Reue, die Lokomotive zog an, und ich sank in eine Ecke, steckte die Hände in die Taschen, schob den Hut in die Stirn und gab mir ein so unleidliches Ansehen, wie es Jungen in meinem damaligen Alter an und für sich schon nicht unnatürlich ist. Wenn ich nur Cigarren gehabt hätte, ich hätte ihr eine nach der anderen bei geschlossenen Fenstern unter der Nase vorgepafft, unbekümmert darum, was aus mir danach wurde. Gewöhnlich wurde mir schlecht davon.

Ja, hätte sie ehrlich alt ausgesehen, aber sie hatte sich so als Backfisch zurecht gemacht, und davon ließ sich der gute Toby bestechen. „Sei doch nicht so eklig,“ raunte er mir zu, „sie ist wirklich ganz nett und weiß so schön auf allen Bahnhöfen Bescheid. Und laß dir nur ja nicht einfallen, in Zoppot in ein anderes Coupé zu steigen; sie sagt, dann müsse sie nachsteigen; sie sähe wohl, daß dir ihre Aufsicht nicht gefiele, aber ihr Wort müsse sie halten.“

Im selben Augenblick hielten wir in Zoppot und das Erscheinen von Konrad Telges Gesicht am Fenster hinderte mich an der Flucht. „Na, Gustav! Ist dir noch nichts passiert? Steck’ nur nicht deinen Kopf zum Fenster heraus, ein Tunnel könnte kommen und ihn dir wegnehmen,“ höhnte er. Da wurde er rechtzeitig beiseite gedrängt. Sechs Matrosen mit sechs brennenden Cigarren platzten lachend und ulkend in unser Coupé. Der Dame wurde angst, sie sprang auf und setzte sich zwischen Toby und mich.

„Haben Sie keine Bange nicht, wir duhn Ihnen nischt!“ sagte der eine.

„Wenn Ihnen das Rauchen unangenehm ist, müssen Sie nicht ins Rauchcoupé steigen,“ sagte der zweite.

„Ja, so ’ne scheene junge Dame, die muß immer Damencoupé fahren!“ sagte der dritte.

Sie sah mich an, flehend, Schutz heischend, und ich war so unritterlich, keine Notiz davon zu nehmen.

Die Matrosen raunten sich unverständliche Worte zu, sie lächelten, grinsten und stießen sich mit den Ellbogen in die Seite; die Dame sah wie verraten und verkauft drein. Toby war ganz hingenommen, die Unterhaltung zu erlauschen, und starrte von einem zum anderen, wie so ein selbstvergessener amüsierter Junge starrt: den Rücken krumm, die Hände in den Hosentaschen, den Mund offen, die einwärts gedrehten Füße baumelnd, dann und wann ein blitzähnliches Aufleuchten auf dem breiten Gesicht.

Als sich eine Station mit längerem Aufenthalt näherte, dachte ich: Nun wird sie aussteigen; auf die dahinzielende Bemerkung eines Matrosen sagte sie aber: „Ja, wenn die beiden Knaben mir folgen; sonst bin ich gezwungen, in diesem Qualm auszuhalten.“ Aber nun streikte auch Toby. „Ich bleibe hier,“ erklärte er bestimmt. Er hatte doch gar zu interessante Worte aufgefangen: Rio, Calcutta, Honolulu, Singapore! Es dauerte nicht lange, so waren wir beide im besten Zuge, die Leute über ihre Reisen auszufragen und uns erzählen zu lassen. Vergessen war die Dame! Ich dachte nicht mehr an Umsteigen. Als ich mit den Leuten in einer Station Bier getrunken, stieg ich ruhig ins selbe Coupé, und in Stettin gaben mir die Matrosen mit Händeschütteln und dem Wunsche „Viel Vergnügen in Berlin“ meine ganze Manneswürde zurück. Mochte die Dame auf mich aufpassen, es war mir so gleichgültig, als wenn mich eine Katze ansähe.

Ein paar Stationen vor Berlin erklärte sie aber plötzlich, daß sie auf der letzten Station einen Onkel Meier wohnen hätte, dem sie etwas zu übergeben hätte, sie habe es vorhin ganz vergessen. Da müsse sie nun aussteigen und könne deshalb ihr Versprechen nicht vollständig halten. Aber sollten wir unseren Onkel auf dem Bahnhof nicht treffen, so möchten wir nur warten; sie würde bestimmt den nächsten Zug benutzen und uns vom Bahnhof dann bis ans Haus der Großmutter bringen.

Ich erwiderte ihr, sie möge sich gar keine Sorge machen; es wäre „selbstverständlich“, daß wir uns nicht ohne jede Führung in den Berliner Straßenwirbel stürzen würden; sie könne ruhig aussteigen. Die letzte Station kam in Sicht, ich öffnete das Fenster, um unserer Duenna beim Aussteigen behilflich zu sein.

Auf dem Perron stand unter anderen Passagieren ein Gendarm, stramm wie eine Säule, sauber vom Helm bis zur Stiefelspitze. Toby schüttelte unserer Dame die Hand, ich riß meinen Hut mit übertriebener Höflichkeit vom Kopfe, sie bestellte noch Grüße an meine Mutter; die schön bestickten Handgepäckstücke wurden ihr nachgereicht, und ich schlug seelenvergnügt die Thür zu. Willkommen, freie Burschenherrlichkeit! Jetzt werden wir in Berlin einziehen wie ein paar Studenten! Juchhe!

Der Gendarm war unterdessen den Zug abgelaufen, ohne einen Platz zu finden; da stieß er auf unsere Dame, sie stutzte, sie eilte auf ihn zu, sie redete auf ihn ein. Wollte diese hilfsbereite Seele dem Gendarm zu einem Platz verhelfen, war es ein Bekannter von ihr, vielleicht Onkel Meier selbst? Sie zeigte auf unser Coupé, der Gendarm nickte und stürzte auf uns zu. Mit Blitzesschnelle drängte sich mir der Zusammenhang auf: wir waren abermals einer Schutzmacht übergeben! Diesmal einer bewaffneten! Entsetzlich! Toby, der Koffer und ich flogen hinaus, aber ebenso schnell waren wir drei von des Gendarmen geschäftskundiger Hand zurückexpediert, er sprang nach und schlug die Thür zu.

„Sakermentsche Buben! ’s hat gepfiffen und kein Platz ist im ganzen Zuge mehr! Aber ich weiß schon Bescheid, die Bub’n wollen wohl erst ’n bißel allein nach Berlin ’nein, sich nicht gleich vom Onkel finden lassen. Daraus wird nichts! Hab’s dem Fräulein Böhm versprochen und laß nicht locker, bis der Onkel zur Stelle ist!“

Aus dem Nebencoupé starrten Augen voll Neugier auf die beiden Knaben, die wie Ausreißer in das Coupé zurückgeworfen worden waren, und nun wie Inkulpaten dasaßen. Doch die Gaffer hatten nicht viel Zeit. Berlin näherte sich mit größter Beschleunigung. Man griff nach dem Handgepäck. Da dehnte sich schon das Häusermeer vor den Fenstern. Der Zug hielt. Höflich ließ der Gendarm die übrigen Insassen unseres Coupés aussteigen, dann folgte er, setzte eines seiner wohlbestiefelten Beine auf das Trittbrett und befahl uns, oben zu bleiben, weil [704] wir von da am besten von dem Onkel aufzufinden sein würden. Dann stützte er sein Körpergewicht auf den Säbel und stand wie ein Fels im Meer, wie eine preußische Schildwache dasteht, unbekümmert, was um sie vorgeht.

Da sein Vorschlag praktisch war, denn die Ferienflut, die dem Zug entquoll, hätte das Erkennen des Onkels sonst fast unmöglich gemacht, fanden wir uns leidlich in unser Schicksal und schauten sehnsüchtig nach dem Erwarteten aus. Dabei fiel es uns aber doch auf, daß sich die Menge vor unserem Coupé im Vorbeiziehen immer etwas staute und auch, als es sich lichtete, ein Trupp Menschen vor uns stehen blieb und uns mit wachsender Neugierde betrachtete. Ein paar schadenfrohe und ein paar mitleidige Physiognomien fielen mir dermaßen auf, daß ich den Gendarm fragte, was die Leute denn eigentlich wollten.

Der Gendarm warf einen Blick um sich: „Ach so,“ sagte er, „die denken bloß, daß ich euch arretiert habe.“ Bloß – arretiert! Und das mir, der ich so viel auf das Dekorum gab. Ich sprang gewaltsam aus dem Wagen, und im selben Augenblick zerteilte auch Onkel Eugen die Menschenflut mit ausgestreckten Armen, wie ein Schwimmer. Der Hut saß ihm im Nacken und in seinen Augen malten sich Entrüstung und Entsetzen. „Kinder, Kinder!“ keuchte er, „was bedeutet das?“ Schwankend zwischen kindischer Wut, dem Verlangen, das ganze Elend dieser Fahrt mit thränenerstickter Stimme zu erzählen, und dem Drange einer Mannesseele, welche alles begreift und verzeiht, gelang es mir schließlich, mich mit Humor aus der Affaire zu ziehen. Ich reichte dem Gendarm mit verbindlichem Lächeln die Hand und sagte so laut, daß die Umstehenden es hören mußten: „Haben Sie Dank für Ihre freundliche Unterstützung!“ Und dann meinen Arm in den des Onkels schiebend, machte ich ihm so obenhin eine Erklärung, wie wir zu dem Schutze durch diesen Bewaffneten gekommen waren.

Der Onkel atmete erleichtert auf. „Gott sei Dank!“ rief er und erzählte, wie er in der Menge folgende Ausrufe gehört hatte: Arretiert! Solche Bengels! Was mögen die angestellt haben, so jung und schon so verderbt! Die armen Eltern! „Und,“ fuhr er fort, „als ich schließlich nach den in Rede stehenden Jungen blicke, da sind es meine eigenen Neffen. Verleugnen hätte ich euch mögen!“

Das war unser Einzug in Berlin. Den Empfang bei Großmama will ich übergehen, auch wie wir nach und nach die Sehenswürdigkeiten Berlins besuchten. Onkel verstand das „Bärenführen“ aus dem Grunde und hatte für uns Zeit. Wir waren nicht bloß aufs zum Fensterhinausschauen, auf Tante und Großmama angewiesen; aber wenn wir mit dem Onkel zu den beiden Frauen heimkehrten, ganz erfüllt und überströmend von allem Erlebten, dann empfingen sie uns mit ihrer Liebe und einer gedeckten Tafel und machten wahre Götzenbilder aus uns, was wir uns wohlig gefallen ließen. Und selbst wenn wir des Abends kein besonderes Vergnügen, wie Besuche im Theater und Cirkus, vorhatten, gelüstete es mich nicht nach den „Nachtseiten“ der Großstadt. Ich hätte die Nase nicht mehr aus der Thüre stecken mögen, wenn die anderen drinnen um den Theetisch und die strickende Großmama saßen und Toby mit des Onkels kleinen Kindern „Post- und Reisespiel“ spielte.

Bei allem, was ich sah, war ich innig froh, daß Toby neben mir hertrabte, trotz seines schlechten Paletots und seiner schiefen Absätze; ich vergaß, mich mit meiner eigenen werten Person zu beschäftigen. Ueber all den Eindrücken, die ich empfing, dachte ich nicht mehr daran, selbst Eindruck machen zu wollen. Das große Berlin hatte mich sehr klein gemacht, in seiner gesunden Kraft wirkte das Leben, das ich wahrnahm, erhebend und reinigend auf meinen Geist, so daß all meine über Berlins interessante Nachtseiten zusammengetragene Wissenschaft davonstiebte wie Nebel vor der Sonne. Im übrigen sahen die Menschen auf den Straßen genau so aus wie daheim. Und die fragwürdigen Männergestalten, die man hier und da herumlungern sah: wenn sie die Typen der großstädtischen Kriminalromane waren, so unterschieden sich diese durch nichts von unserem Danziger Lumpengesindel! Sie fielen mir gar nicht auf, und wie hätte mein Auge nach den Verbrecherkellern suchen mögen, nachdem es sich in den Schönheiten der antiken Welt im Museum gebadet, nachdem es die abgegrabenen Schätze vergangener Völker geschaut? Ich verlebte die Ferien wie ein glücklicher Schüler, seelenvergnügt, abends mit Toby unter Großmamas Flügeln zu sitzen und alte Geschichten aus der Kindheit der Eltern zu hören.

Aber als ich am Abend vor der Abreise alles übersinnend im Bette lag, da kam auf einmal die Frage über mich: „Hast du den Berliner Aufenthalt auch recht ausgenutzt? Ist es einigermaßen so gekommen, wie du erwartet hast?“

Und trotzdem alles tausendmal schöner gekommen war, als ich erwartet hatte, regte sich die Unzufriedenheit und fing an zu nörgeln. Wie war erstens die Reise, die Ankunft so ganz, ganz anders gewesen, die Aufsichtsdame und der Gendarm hatten mich nach ihrem Willen gegängelt, während ich die Selbständigkeit hatte genießen wollen. Und in Berlin selbst, räsonnierte ich weiter, hast du irgend was erlebt, was für deine Person an sich wichtig war? Nein! Bist du einmal allein ausgegangen, so wie du es dir hundertmal ausgemalt? Nein! Hast du irgend etwas deinen Kameraden zu erzählen? Nein, denn von Schlössern und Museen und Zoologischen Gärten etc. erzählt man seinen Mitschülern heutzutage ebensowenig wie davon, daß man in Berlin zu Mittag gegessen hat! Es war doch schade, daß du es nicht ausgeführt hast, was du dir vorgenommen. Du hättest irgend etwas erleben können, was doch nach einem Abenteuer schmeckte! Und nun tauchten all die leeren Renommistereien meiner Klassengefährten auf, denen ich nie etwas hatte entgegensetzen können und denen ich nun abermals nichts zu bieten hatte, trotzdem ich mir gerade diesen Erfolg von meiner Reise hatte versprechen dürfen. Doch nun war es zu spät – zu spät! Ich war wieder, wie immer, ein artiger kleiner Junge gewesen, und das beklagte ich jetzt beinahe so sehr, wie diejenigen es später zeitlebens beklagen, denen es beizeiten geglückt ist, die Nachtseiten der Großstadt gründlich kennenzulernen. Nichts weiter als ein artiger kleiner Junge, der mit dem Onkel herumläuft, sich dankbarlichst von ihm eine Tasse Chokolade bei Kranzler bestellen läßt und abends mit kleinen Kindern um Pfeffernüsse spielt!

Doch halt – vor mir lag ja noch die lange Rückreise, konnte sich da nicht noch etwas ereignen? Die großstädtischen Verwandten dachten nicht im geringsten daran, uns einen Schutz aufzuhalsen. Mit diesem tröstenden Gedanken schlief ich ein. Doch als wir nach schmerzlichem Abschied von Großmutter in der nüchternen Morgenfrühe abfuhren, da waren zunächst alle Gedanken an Abenteuer verflogen.

Einige Stationen lagen schon hinter uns, da stürzte im letzten Augenblick eine junge Dame in unser Coupé, atemlos, mit tanzenden Löckchen. Ich half ihr beim Verstauen ihres Gepäckes, ich sah sie an, und ich fragte mich: „Sollte dies dein Abenteuer sein?“

Sie war reizend; nicht größer als ich, leicht wie ein Vogel, mit rosigen Wangen, roten Lippen, Perlenzähnen, und der keck aufsitzende Hut, der auffallend große spanische Kragen an dem grünen Tuchkostüm, paßte das nicht alles zu einem Abenteuer? Und zu dieser, nur im Interesse der Renommage den andern Jungen gegenüber, gestellten Frage kam mit der Zeit ein reines Wohlgefallen an ihr selbst, als sie sich mit ihrer angenehmen Stimme in eine Unterhaltung mit mir einließ. Es interessierte sie sehr, daß wir das gleiche Ziel hatten. Dann brachte sie das Gespräch auf die Danziger Schulen, ein Gespräch, das ich gern vermieden hätte, denn es wäre mir lieb gewesen, wenn sie mich für einen Erwachsenen gehalten hätte. Sie hatte es aber gleich weg, daß ich noch ein Junge war und auch in welches Gymnasium ich ging, in welcher Klasse ich saß. Und dann brachte sie mich in das richtige Fahrwasser: ich zog über unsre Lehrer her; ich schilderte ihr das Gymnasium mit Mann und Maus. Am längsten verweilten wir bei meinem künftigen Klassenlehrer, bei dem auch ich schon in ein paar Fächern Stunden gehabt hatte. Den mußte ich ihr besonders interessant geschildert haben, denn sie kam immer wieder auf ihn zurück, und ich häufte auf ihn all die schiefen Urteile, welche die Spottlust der flüggen Jugend sich bildet, und erzählte ihr von seinem Spitznamen, von all dem Ulk, den wir mit ihm anstellten, und all die überreizten, aus der Langweile geborenen, pointenlosen Schulanekdoten, die gerade diesen Lehrer wie eine Gloriole umgaben.

[705]

Abend auf dem Chiemsee.
Nach dem Gemälde von K. Raupp.

[706] Und dabei sah sie mich an mit ihren glänzenden braunen Augen, mit ihrem lachenden Munde, so amüsiert, so gut unterhalten, daß ich mir wirklich etwas auf meine geistreiche Plauderei einzubilden begann und immer kühner ins Zeug ging. Ich machte aus dem Lehrer schließlich einen wahren Popanz, nur um immer wieder dieses Lachen um Augen und Mund hervorzuzaubern, was kein anderer Gesprächsgegenstand vermochte. Wohl traf mich bisweilen warnend ein staunender Blick aus Tobys runden ehrlichen Augen; in mir aber jubelte es: „Dies ist das Abenteuer, dies ist das Abenteuer!“

Wir saßen zusammen im Stettiner Wartesaal und aßen zu Mittag, d. h. Toby und ich ein Paar warme Würstchen; ich half ihr beim Ein- und Aussteigen; ich holte ihr eine Tasse Kaffee, ja ich wagte es, ihr eine Tafel Chokolade zu überreichen, die ich mit meinem letzten Zehnpfennigstück einem Automaten entlockt hatte. Ich trug ihr Handgepäck beim Umsteigen, ich legte ihr das Plaid um die Schultern, und als ich den Dr. X. vollständig parzelliert hatte, tauschten wir Gedanken über Litteratur und Kunst aus, und da ich gerade, dank diesem Dr. X., darin wirklich ein paar Gedanken entwickeln konnte, so nahm die Unterhaltung einen immer höheren Schwung.

Die Stationen glitten an mir vorüber wie Perlen an einer Schnur; die Stunden flohen dahin wie Minuten; mir bangte, mir graute vor dem Ende der Reise, vor dem Erwachen aus diesem Glücks- und Eitelkeitsrausch.

Und als wir uns Danzig näherten, da reichte mein Ideal mir die Hand und sagte: „Hoffentlich begegnen wir uns wieder einmal. Sie haben mich wirklich sehr gut unterhalten.“ Und ich neigte mich über ihren Handschuh und – Tobys Augen wurden immer runder, denn das Handküssen gehörte nicht zu den Gepflogenheiten in unserm Kreise – preßte einen glühenden Kuß darauf! Dann sah ich ihr tief in die schimmernden braunen Augen, durchbebt von dem Gefühl der ersten Jugendliebe. Da hielt der Zug; die Thür wurde aufgerissen und des von mir so viel geschmähten Oberlehrers bärtiges Gesicht erschien im Rahmen derselben – meine Jugendliebe warf sich ihm in seine Arme – sie war seine Braut.

Was ich nach diesem Abenteuer für eine Nacht verbrachte, mit was für Gefühlen ich am folgenden Morgen dem Dr. X. unter die Augen trat, das fragt den Toby! Wenn ich den kleinen dummen Bruder in der Nacht nicht bei mir gehabt hätte, ich hätte weglaufen oder mir das Leben nehmen können.

Wir gingen all den Unsinn durch, den ich gesprochen, Toby hatte ja voll Staunen jedem Worte gelauscht. „I wo wird sie ihm alles wiedererzählen!“ tröstete er; „sie wird ihm nur das erzählen, was ihm Spaß machen könnte. Dazu war sie zu nett zu dir, das thut sie dir nicht an!“ Und als wir bis zum Morgen in Aufregung hin und her geredet, da wendete er sich schlaftrunken nach der Wand mit dem Wort, das mir Fassung und Mut wiedergab: „Ueberdies weiß sie ja gar nicht, wie wir heißen, und er kann uns gar nicht erkannt haben in dem Augenblick.“

Aber noch monatelang quälte mich in seinen Stunden der Zweifel: weiß er es, oder weiß er es nicht! Ich habe mich seitdem nie mehr nach Abenteuern gesehnt. Ich eignete mich nicht dazu. Und zum Renommieren hatte ich auch kein Talent.



Blätter und Blüthen.

Merkwürdige Kalender. (Mit Abbildungen.) Der Kalender ist noch in der Gegenwart dasjenige Buch, welches sich auch der litterarisch anspruchsloseste Mann alljährlich anschafft oder schenken läßt. In der Vergangenheit war der Kreis jener, die sich mit dem Kalender begnügten, sicher noch ein ungleich größerer als heutzutage, die Leute waren im Kalenderwesen auch viel mehr bewandert und hatten in dieser Beziehung Kenntnisse, die der jetzigen Generation so ziemlich mangeln. Aus diesem Grunde hatten auch die ältesten gedruckten Wandkalender, welche bald nach Einführung der Buchdruckerkunst ausgeführt wurden, nicht ein Verzeichnis der einzelnen Tage des ganzen Jahres, sondern nur die goldene Zahl der Sonntagsbuchstaben, die Epakten etc., mit deren Hilfe sich die kalenderkundigen Leute die beweglichen Feste dann selbst ausrechneten.

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Kalendermünze aus dem Jahre 1694.

Auch noch in späterer Zeit verfuhr man so, wenn der Mangel an Raum hierzu nötigte. Dies war vor allem bei den Taschenkalendern der Fall, die man auf ein Elfenbeintäfelchen schrieb, das in einem Futteral aus dem gleichen Material steckte, oder auch in Erz in Form einer großen Münze goß und wohl auch aus Silber fertigte, das reich graviert war. Die in Bronze gegossenen waren natürlich die dauerhaftesten. Ein uns vorliegender, der obenstehend abgebildete, umfaßt die Jahre 1694 bis 1760, die in Tabellenform angeführt sind. Unten stehen die Sonntagsbuchstaben, oben finden sich die Wochentage durch die Zeichen der Planeten dargestellt. In den vier Kreisabschnitten sind immer drei Monate und die Angabe verzeichnet, an welchen Tagen die Sonne in die Zeichen des Tierkreises eintritt. Auf der Rückseite sind, von außen nach innen gerechnet, verzeichnet die zwölf Monate des Jahres, die unbeweglichen Fest- und Feiertage, die Tageslängen, der Sonnenaufgang, die Nachtlängen und der Sonnenuntergang. Das mittlere Quadrat aber enthält die Monate und die Monatstage. Darunter steht 1694, das Jahr der Anfertigung, darüber „Gotha“, jedenfalls der Ort, in dem der Kalender gefertigt wurde.

Es mußte einer schon recht kalenderfest sein, um diese sonst sehr handlichen Kalendarien benutzen zu können. In unserem raschlebigen Jahrhundert hat man natürlich keine Zeit, sich das zu Wissende mühsam auszurechnen. Doch auch früher gab es schon Leute, denen das zu umständlich war und die mit einem gewöhnlichen Kalender auch vorlieb nahmen. Die tapferen Krieger aber halfen sich anders. Sie ließen den ganzen Kalender auf ihre Schwertklinge ätzen, je sechs Monate auf eine Seite. Eine schöne derartige Klinge des 16. Jahrhunderts im Germanischen Museum zu Nürnberg, deren oberen Teil wir untenstehend abbilden, weist in reizender Aetzung unter den Zeichen des Tierkreises und dem lateinischen und deutschen Namen jedes Monats die einzelnen Tage und die Schutzheiligen derselben für das ganze Jahr auf. Solche Schwerter führten jedoch nur die Vornehmen, der gemeine Mann bloß dann, wenn ihm ein solches als willkommene Beute zufiel. Die Kalenderklingen wurden besonders hoch geschätzt, man schrieb ihnen während des Dreißigjährigen Krieges, wohl auch vor- und nachher, sogar geheime Kräfte zu. Simplicissimus schenkte [707] dem Kommandanten von Villingen des Freibeuters Ollivier Schwert. Er schreibt darüber: „In Wahrheit aber, so war dasselbe trefflich schön und gut, es war ein ganzer ewigwährender Kalender darauf geätzt und lasse ich mir nicht ausreden, daß es nicht in Hora Martis von Vulcano selbst geschmiedet und allerdings zugerichtet worden seie, wie im Heldenschatz eines beschrieben wird, worvon alle andere Klingen entzweispringen und die beherzteste Feinde und Löwen-Gemüther wie forchtsame Hasen entlaufen müssen.“ Hans Boesch.     

Das Standbild Albrechts II in der Siegesallee zu Berlin. (Mit Abbildung.) Von den Standbildern brandenburgischer Fürsten, welche die Siegesallee in Berlin schmücken, haben wir schon früher (vergl. Jahrg. 1897, S. 224) die Figuren zu der Gruppe des Markgrafen Otto I unseren Lesern im Bilde vorgeführt; heute geben wir das Standbild Albrechts II im Holzschnitt wieder.

Als Nachfolger seines ältesten Bruders Otto II bestieg Markgraf Albrecht II im Jahre 1205 den brandenburgischen Thron. Im Gegensatz zu seinem lebenslustigen Vorgänger, dem ernste Arbeit wenig zu Sinn gestanden zu haben scheint, strebte er, seine Macht zu festigen und zu vergrößern. Letzteres gelang ihm auch, besonders nach Osten hin. 1215 rückte er von den deutschen Plätzen an der Havel gegen das Oderthal vor und drängte die Pommernherzöge, denen sich sogar Barnim und Teltow in der Nähe Berlins schon unterworfen hatten, zurück. Seinem Charakter entsprechend ist der Markgraf vom Künstler in der Haltung und der Tracht eines Kriegsmannes dargestellt. Das Haupt deckt ihm der Helm. Ueber dem schweren Kettenpanzer trägt er Oberkleid und wallenden Mantel, der Dolch steckt ihm im Gürtel, das Schwert aber hat er aus dem schweren Gehänge gezogen, kampfbereit hält er es in der Faust und finster blicken die Augen, als schauten sie dem kommenden Feinde entgegen.

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Standbild des Markgrafen Albrecht II in der Siegesallee zu Berlin.
Nach einer photographischen Aufnahme von W. Titzenthaler in Berlin.

Die beiden Männer, deren Hermen die Umgebung des Hauptstandbildes schmücken, stehen in nur sehr losem Zusammenhange mit dem Markgrafen selbst. Es sind seine hochverdienten und berühmten Zeitgenossen Eyke von Repkow und Hermann von Salza. Der letztere (rechts auf unserem Bilde) wurde 1210 zum Hochmeister des deutschen Ritterordens gewählt, in dessen Tracht er auch dargestellt ist. Unter ihm nahm der Orden einen gewaltigen Aufschwung; er war es, der 1231 durch Hermann Balk die Eroberung des heidnischen Preußenlandes beginnen ließ. So wurde er der Gründer des mächtigen Ordensstaates, aus dem später Preußens Königtum hervorwuchs. – Eyke von Repkow erscheint vom Jahre 1209 bis 1233 in den Urkunden des mittelelbischen Landes. Er stammte aus Aken a. d. Elbe und ist berühmt als Verfasser des „Sachsenspiegels“, des ältesten Werkes über das deutsche Recht, das er 1230 verfaßt hat (vergl. Jahrgang 1896, S. 148). Der Künstler hat den gelehrten Beruf des verdienten Mannes durch seine sinnende Haltung und das Buch, das er in der Hand hält, angedeutet. – Der Schöpfer der Gruppe ist Johannes Boese in Berlin; sie wurde in diesem Frühjahr, am 22. März, dem Geburtstage des ersten Hohenzollernkaisers, enthüllt.

Die Wildkatze. (Zu dem Bilde S. 677.) Einen prächtigen Charakterkopf aus der Tierwelt bietet Ludwig Beckmann unsern Lesern in dem lebenstreuen Porträt einer Wildkatze. Bosheit und Heimtücke malen sich deutlich in dem Gesichte der fauchenden Bestie. – In unseren Wäldern wird die Wildkatze immer seltener und hält sich zumeist nur noch im Gebirge auf. Von dem großen Publikum, das durch Wald und Flur streift, finden die wenigsten Gelegenheit, sie im Freien zu beobachten, denn sie ist ein Nachttier, das das helle Licht des Tages scheut und von scharfsichtigen Naturbeobachtern nur während der Morgen- und Abendstunden wahrgenommen wird. In ihrer äußeren Gestalt ist sie unserer Hauskatze durchaus ähnlich, aber kräftiger als diese gebaut. Im allgemeinen erreicht sie die Größe eines Fuchses, wird bis 45 cm hoch und gegen 80 cm lang; die Schwanzlänge, die in das letztgenannte Maß nicht einbegriffen ist, beträgt etwa 30 cm. Beim Wildkater ist der Balg grau, bei der Wildkatze gelblich. Die Grundfarbe ist mit dunklen Streifen gezeichnet, die auf dem Schädel und Rücken verlaufen und um den Schwanz und die Läufe sich ringeln. Das Hauptmerkmal aber, durch das man sie von unserer Hauskatze unterscheiden kann, ist der „Sohlenfleck“, d. h. die schwarze Färbung der Hinterseite des Hinterlaufes. Bei der Hauskatze, die von der ostafrikanischen Felis maniculata abstammt, reicht der „Sohlenfleck“ bis zum Hacken, bei der Wildkatze aber erstreckt er sich nur wenig oberhalb der Zehen. Bei Mischlingen zwischen beiden Katzenarten hat der „Sohlenfleck“ eine mittlere Ausdehnung. Nach diesem Merkmal kann der Jäger leicht entscheiden, ob er eine Wildkatze oder nur eine verwilderte Hauskatze erlegt hat. – In der Regel nährt sich die Wildkatze von Mäusen und Ratten, aber sie stellt auch anderen Tieren nach, lauert den Vögeln auf, plündert ihre Nester und überfällt, wenn sie älter und stärker geworden ist, selbst größeres Wild, wie Hasen und Rehkälbchen. Fast niemals begegnet man zwei Wildkatzen zusammen; denn sie sind ungesellige Tiere. Das Weibchen wirft ihre Jungen in Felsspalten, Baumlöchern oder in einem verlassenen Fuchsbau, aber die Jungen trennen sich bald von der Alten und rauben auf eigene Faust. Trotz ihrer verhältnismäßigen Stärke ist die Wildkatze feig. Sie verteidigt nicht ihre Brut; sie sucht ihr Heil in der Flucht, und nur wenn sie selbst aufs äußerste bedroht wird, setzt sie sich zur Wehr; dann aber entfaltet sie alle ihre List und Gewandtheit und wird in ihrer Wut ein gefährlicher Gegner. *      

Gute Aussicht. (Zu dem Bilde S. 681.) An der Grenze der elterlichen Besitzungen, wo ein verschwiegenes Gitterpförtchen den Austritt [708] aus dem gräflichen Park in die Besitzung des reichen Kaufherrn gestattet, dort haben sie sich getroffen heute, wie schon viele Male früher, in der Zeit, wo beide Elternpaare dem Herzensbund noch abgeneigt waren. Aristokratischer und patrizischer Stolz stemmten sich ihm entgegen, aber die Liebe triumphierte schließlich, die Hindernisse wurden besiegt, und heute sind die beiden jungen Menschenkinder im Maienglanze hier beisammen – er voll Seligkeit zu seinem blonden Liebchen aufblickend und sie mit lächelnder Anmut ihre Hand in die seine legend – während ringsum der herrliche Hintergrund von Wäldern, Parkanlagen und Villen sich ausdehnt! Da ist es wohl gestattet, in jedem Sinne von „guter Aussicht“ zu reden! Bn.     

Rückkehr von der Weinlese in Süditalien. (Zu dem Bilde S. 688 und 689.) Für den Besitzer der kleinen Weinberge im Süden Italiens ist die Weinlese ein Freudenfest. Die Mädchen aus der Nachbarschaft werden geladen, die schönsten und sangeslustigsten erhalten vom Sohne des Hauses eine besondere Einladung, und die Burschen sind rasch zur Stelle. Im Morgengrauen schon ist alles beisammen. In der Nähe der Kelter sitzen sie am Boden nieder, und bis die Sonne die taufeuchten Trauben trocknet, frühstücken sie, und das muntere Wort fliegt hin und wieder. Dann beginnt die Arbeit. Die Burschen auf der Leiter schneiden die „Zöpfe“, die Ranken, aus, die Mädchen lösen die Trauben und sammeln die abfallenden Beeren, andere tragen die Körbe zur Kelter. Lustig leuchtet das grelle Rot und Blau der Tücher und Röcke durch das Grün, Schüsse knallen, aber das Schönste sind die schallend gesungenen, lang aushallenden Canzoni. Der Jubel wächst. Von den Weinbergen da drüben antworten singend andere Scharen. – Mit dem Abend muß die Arbeit beendet sein. Jedes Mädchen bekommt ein kleines Silberstück und ein Körbchen voll Trauben, die in den Kammern für den Wintergebrauch aufgehängt werden. Fröhlich und festlich wie sie ausgezogen, noch immer singend und schwatzend, ziehen sie, im Geleite der Burschen, in die Dörfer zurück. Und manche trägt unter den bacchischen Früchten im Korbe Amors liebliche Rose mit heim. Woldem. Kaden.     

Deutschlands merkwürdige Bäume: die Wendelinuseiche bei Geisfeld. (Zu dem Bilde S. 692.) In der Nähe des gegen 2½ Stunden von Bamberg entfernten, am Fuße des Geisberges hübsch gelegenen Pfarrdorfes Geisfeld befindet sich, in dichtem Jungholz versteckt, die Wendelinuseiche, ein prächtiger, fast kerngesunder Baum, dessen Alter von Fachleuten auf 1000 bis 1300 Jahre geschätzt wird. In einer Höhe von 12 m geht vom Stamm der einzige riesige Hauptast aus, da der gegenüberliegende vor vielen Jahren durch einen Blitzstrahl abgetrennt wurde. Der Umfang des Stammes, am Fuße gemessen, beträgt 12,56 m. Die ganze Höhe des Stammes ist etwa 20 m, mit einem Kubikinhalt von etwa 48 m. Der Name Wendelinuseiche ist dem Volksmunde entnommen; es soll hier der Sage nach der heilige Wendelinus gepredigt haben. Da der betreffende Heilige jedoch nie nach Franken gekommen ist, so liegt die Vermutung nahe, daß man es mit einer Umbildung des Worts Wendeneiche zu thun hat und der Baum nach den vielfach in Oberfranken eingewanderten Wenden benannt ist. C. S.     

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Blechmusik.
Nach dem Gemälde von J. F. Engel.

Eilpost in Kalifornien. (Zu dem Bilde S. 693.) Von Nord nach Süd durchzieht Kalifornien die Gebirgskette der Sierra Nevada, deren höchste Gipfel Mount Shasta und Mount Whitney gegen 4400 m über dem Meeresspiegel sich erheben. In den südlichen Teil dieses Gebirges, auf die Straße, die nach Monterey führt, versetzt uns das lebensvolle Bild auf S. 693. Eine sechsspännige Postkutsche rollt thalabwärts durch eine malerische einsame Landschaft. Früher vermittelten die Postkutschen in diesen Gegenden den gesamten Verkehr, und oft brachten sie Goldschätze aus den Minen. Da waren die Fahrten mit Gefahren verbunden; Straßenräuber lauerten der Post auf und oft hörte man von Ueberfällen. Heute ist das Dampfroß auch in die Sierra Nevada eingedrungen, aber noch immer vermittelt in abgelegeneren Gegenden die Eilpost allein den Verkehr. Die Wege sind meist gut gehalten und in gewissen Abständen finden sich Stationen, an denen die Pferde gewechselt werden. Trotz der Schnelligkeit, mit der die Postwagen an Abhängen entlang und auf abschüssigen Wegen dahin fahren, führen die Kutscher die Pferde mit großer Sicherheit, daß selten ein Unglück vorkommt. *      

Ein Opfer. (Zu dem Bilde S. 701.) Schwer, unsäglich schwer hat sich die bleiche verhärmte Frau den Entschluß abgerungen, den sie nun unter stummer Seelenqual zur Ausführung bringt. Von all dem Schmuck, den sie in besseren Tagen besaß, hat sie sich ruhigen Herzens trennen können, als die über ihre Witwentrauer hereinbrechende Not sie zum Verkaufe desselben zwang. Aber das mit Perlen umrahmte Miniaturbild ihres frühverstorbenen Gatten hat sie als kostbarstes Angedenken an das verlorne Glück bis heute wie ein Heiligtum verwahrt. Tapfer hat sie den Kampf mit den Sorgen aufgenommen, die sie seit dem jähen Tod des Unvergeßlichen bedrängen, und durch ihrer Hände Arbeit hat sie bisher ihre Kinder vor den Entbehrungen zu schützen gewußt, die sie selbst ohne Murren auf sich nahm. Seit jedoch ihre beiden Aeltesten an schwerer Krankheit daniederliegen und deren Pflege ihre ganze Kraft und Zeit in Anspruch nimmt, sah sie mit Grauen den Tag herankommen, der sie endlich doch nötigen werde, auch dieses Kleinod zum Pfandleiher zu tragen. Und nun ist er gekommen, der gefürchtete Tag. Das Kleinste nahm sie mit auf den schweren Weg, damit der Gang durch die frische Luft ihm gut thue; erschreckt von dem schweigsamen Ernst und dem bleichen Aussehen der Mutter, zupft der Liebling sie jetzt am Kleid und blickt zärtlich zu ihr empor, als wolle er sie in ihrer Traurigkeit trösten. Und wahrlich, nur dankbare Kindesliebe kann die Bedauernswerte entschädigen für das Opfer, das sie soeben heldenmütig der Liebe zu ihren Kindern bringt.

Abend auf dem Chiemsee. (Zu dem Bilde S. 705.) Der Abend sinkt herein über den Spiegel des Chiemsees, langsam gleitet das Schifflein durch die Fluten, während drüben die Bergkette beginnt, sich in blauen Duft zu hüllen und im Osten der Vollmond heraufsteigt. Seitwärts ruht die Fraueninsel mit ihren vielhundertjährigen Linden und dem uralten Kloster wie ein Eiland des Friedens über dem stillen Wasser; nur das Horaglöcklein tönt über den weiten Seespiegel hin; sonst kein Laut ringsum als das leise Geplätscher am Schiffsende, wo die alte Fischerin lässig das Ruder bewegt. Still bleiben auch alle Insassen des Kahnes, die Nonne, deren Blick sich von dem Andachtsbuch in ihrer Hand dem sacht aufglimmenden Sternlein am Himmel zuwendet, die junge Klosterschülerin, welche beflissen die altertümlichen Schnörkel und Bilder auf den vergilbten Blättern betrachtet, und endlich das kleine Enkeltöchterlein der Fischerin, das gar nichts denkt, sondern nur den linden Abend wohlig genießt. Sie alle stimmen ebensogut zu dem tiefen Frieden ringsum, als sie recht eigentlich zur Chiemseelandschaft gehören. Denn Fischer und Klosterleute fuhren hier vor tausend Jahren wie heute. Br.     


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart.0Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

[708 a] ----

Allerlei Winke für Jung und Alt.

Kantenmuster in Stielstichstickerei. Ausgesparte Muster wirken immer sehr schön und sind an sich auch leicht auszuführen, aber die Musterung des Zwischengrundes, durch welche

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Kantenmuster in Stielstichstickerei.

das eigentliche Motiv der Zeichnung erst richtig zur Geltung kommt, erfordert in den meisten Fällen viel Accuratesse und Geduld. Nicht so das Kantenmuster obenstehender Abbildung, welches lediglich sowohl in der Zeichnung wie in der Grundierung, aus Stielstich besteht und trotz dieser einfachen Stichart doch ein originelles und effektvolles Aussehen besitzt. Man nimmt die Stickfäden in gleicher Farbe, jedoch in hellerem und dunklerem Ton, letzteren für die Blätter und Stiele etc., ersteren für die Grundierung der Zwischenflächen, welche übrigens bandartig hinter dem Muster hinläuft und dieses oben und unten teilweise darüber hinausstehen läßt. Man beginnt die Arbeit mit Ausführung des Weinlaubmusters, wozu feine Stickfäden gehören. Die Grundierung besteht aus Quadraten, welche mit 5 oder 6 dicken, abwechselnd senkrecht und wagerecht gelegten Stickfäden zu markieren sind. Die Kante eignet sich vorzüglich für Tischdecken, Servier- und Büffettdecken etc., auch für Gartendecken, Handtücher u. v. a. Selbstverständlich kann man auch jedes andere Motiv als Weinlaub benutzen, nur vermeide man zuviel Details, damit das Grundmuster noch genügend zur Geltung kommt.

Kartenbehälter aus Leder. Wer seine Whistpartie oder abendliche Patience liebt, nimmt gern die eigenen Karten mit auf Reisen, und die aufmerksame Tochter oder Nichte findet hier Gelegenheit zu einem sehr netten kleinen Geschenk. Sie macht ein Täschchen vom Format der Karte, aus leichtem Schafleder, in einem langen Stück zugeschnitten, unten umgebogen, an den Seiten mit feinen Lederriemchen oder brauner Seidenschnur kreuzweis verschnürt. Einen Metallknopf zum Schließen läßt sie vom Säckler hineinschlagen. Unser Vorbild zeigt den unteren Teil des Täschchens mit Brandarbeit hübsch verziert; die Blumen bleiben im hellen Lederton stehen, der dunkle Grund dazwischen ist rotviolett, das Leder im übrigen mit feinen gebrannten Linien schraffiert. Wer nicht brennt und malt, kann das Täschchen leicht aus einem Stück breiten Seidenbandes mit etwas leichter Stickerei herstellen.

Um gedrückten Plüsch aufzuplätten, muß man sehr vorsichtig verfahren und am besten eine zweite Person zu Hilfe nehmen. Am schnellsten erreicht man sein Ziel, wenn man ein sehr heißes Plätteisen zwischen zwei Schüsseln mit dem Griff nach unten legt, auf die heiße Fläche ein stark angefeuchtetes Leinentuch breitet und über die aufsteigenden Dämpfe so lange den Plüsch hält, bis alle Härchen desselben sich wieder schön aufgerichtet haben. Hauptsache dabei ist es, den Plüsch ganz fadengerade und sehr stramm gespannt zu halten, wozu eine dritte Hand gute Dienste leistet. Bei Vernachlässigung dieser Hauptsache bleibt der Plüsch verzogen. Bei sehr stark zerdrücktem Stoff läßt man am sichersten denselben fadengerade mit der Kehrseite nach oben von zwei Personen halten, befeuchtet ihn etwas mittels Schwammes mit reinem Wasser und plättet ihn direkt in der Luft, also ohne jede Unterlage mit recht heißem Eisen.

Fächertasche. Aus einem Stückchen Seidenbrokat oder sonst einem schönen, broschierten oder geblümten Seidenstoffreste kann man die ebenso bequeme wie moderne Fächertasche leicht selbst anfertigen. Vorder- und Rückwand messen je 34 bis 36 cm Höhe zu 6 cm unterer und 12 bis 13 cm oberer Breite, doch ist der Rückwand gleich die etwa 8 cm hohe, gefällig abzurundende Schlußklappe anzuschneiden.

Der mit Mull zu unterlegende Oberstoff und das Futter aus leichter einfarbiger Seide sind für sich bestehend zusammenzunähen, dann wird das Futter dem Oberstoff eingeschoben und mit ihm an den oberen und unteren Ecken wie an der Schlußklappe durch möglichst unsichtbare Stiche verbunden. Ein gutes gekraustes Spitzchen oder ein Krepppüffchen garniert Nähte und Schlußklappe; 4 bis 5 cm breites Band ergiebt Schleifenschmuck und Tragbügel.


–– Für die Kinderstube. ––

Laufschule. An Stelle der bekannten kistenartigen, schwer beweglichen Gefängnisse für die Kleinsten schlagen wir folgende Laufschule vor; vier 50 bis 60 cm hohe, 11/2 bis 2 m lange Holzrahmen werden nach innen mit Jute, Gobelin oder Leinenstoff bespannt, nach außen mit einem einfach gemusterten Cretonne; eine schmale Wollenborte, mit kleinen Nägeln befestigt, deckt den oberen schmalen Rand. Die Teile werden einzeln gearbeitet, jeder erhält an den Schmalseiten je einen angeschraubten Ring, links höher, rechts tiefer, so daß beim Zusammensetzen immer zwei Ringe nahe übereinander stehen; ein langer Metallstift wird als Verschluß durch die beiden gesteckt (siehe Abbildung). Die inneren Seiten hat man vor dem Montieren mit bunter Wolle als Garten bestickt, mit Blumen, Kräutern, Tieren, – je nach Können und Geschmack.

Gehäkelte Wagendecke für Kinder. Eine behaglich warme Decke für Kinderwagen kann sehr hübsch und schnell aus der weichen flockigen Krimmerwolle gearbeitet werden. Man wählt zwei Farben und läßt diese in Streifen oder Carreaus abwechseln. Um ein weiches, schmiegsames Maschengewebe zu erhalten, muß die Häkelnadel aus Holz und recht kräftig sein. Man häkelt in hin und zurück gehenden Touren nur feste oder Stäbchenmaschen. Bei festen Maschen sticht man unter dem ganzen oberen Maschengliede hindurch und geht mit 1 Luftmasche von einer Tour zur anderen, bei Stäbchenmaschen kann man mit der Häkelnadel zwischen denselben hindurch stechen und ersetzt die 1. Stäbchenmasche durch 3 Luftmaschen. Auch das Carreausmuster wird in etwa 12 cm breiten Streifen gehäkelt, welche dann natürlich abwechselnd mit der einen oder der anderen Farbe anfangen. Die fertigen Streifen verbindet überwendliche Naht; als Abschluß der Decke sind Schlingenbogen aus je 1 festen Masche und 3 bis 4 Luftmaschen zu häkeln.

Das nächtliche Bloßstrampekn kleiner Kinder ist für diese, der möglichen Erkältung wegen, äußerst nachteilig und gar manche Mutter hat alle ihre Mühe, die sie dagegen anwandte, vergeblich gesehen. Das einzig Erfolgreiche ist ein Nachtkittelchen, möglichst lang, welches unten umsäumt, vorn herunter aber zum Zuknöpfen eingerichtet wird. Durch den unteren Saum zieht man ein Band zum Zubinden. Steckt das Kindchen in einem solchen, des Nachts unten sackartig zusammengezogenen und zugebundenen Kittelchen, so hat es noch immer Bewegung genug für die kleinen Füße, vermag aber das schützende Deckbett nicht so leicht wegzustrainpeln, allenfalls aber bietet der Kittel selbst noch einen hinreichenden Schutz gegen Erkältung. In kurzer Zeit haben sich dann auch die Kinder das Strampeln abgewöhnt.

Muster zu Unterröckchen oder Westchen für Kinder. Zu jedem Muster gehören 11 Maschen und werden danach die Maschen aufgeschlagen.

1. Nadel l. gestrickt, 2. Nadel r. gestrickt. 3. Nadel das Muster r. gestrickt. 1. M. abgestrickt (oder abgehoben). 2. M. zusammengestrickt. 3. M. r. gestrickt. Faden über die Nadel geschlagen, 1 M. r. gestrickt, Faden über die Nadel geschlagen, 3 M. r. gestrickt, 2 mal hintereinander 2 M. zusammengestrickt, 3 M. r. gestrickt, Faden übergeschlagen, 1 M. r. gestrickt, Faden übergeschlagen u. s. f.

Die 4. Nadel wird ganz glatt links abgestrickt, so daß der übergeschlagene Faden immer eine Masche wird, damit das Loch sich klar bildet.

Die 5. Nadel wie die 3. u. s. f. bis man 3 linke Touren auf der rechten Seite haben wird, die jeweils das Muster unterbrechen müssen. Silvana.     

(Abkürzungen: l. für links, r. für rechts, M. für Maschen.)


[708 b]

Allerlei Kurzweil.

Damespielaufgabe.
Von A. Stabenow in Berlin.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht und gewinnt.


  Homonym.
Nenn’ mir den Titel, der im Süden
Tagtäglich manchem Mund entschwirrt,
Der aber, find’st du ihn im Osten,
Vor deinem Blick zu – Wasser wird.
  Oscar Leede.


Verwandlungsrätsel.
Patras | ....,, | .,,... | ,..,.. | ....,, | ...,., | ,...., | ,..,.. | Berlin.

Wie gelangt man mit Hilfe von sieben substantivischen Wörtern als Zwischenstufen von Patras nach Berlin? Es muß jedes Wort aus dem vorangehenden durch Veränderung je zweier Buchstaben, deren Stelle oben durch Sternchen angedeutet ist, ohne Umstellung der übrigen Buchstaben entstehen. A. St.     


  Rätsel.
Mit i: das singt sein muntres Lied;
Mit u: das zündet, sprüht und glüht.   E. S.


Formrätsel.

Die Buchstaben sind so zu ordnen, daß die wagerechten Reihen bezeichnen: 1. ein Zeitmaß, 2. eine Kunst, die zur Verschönerung kirchlicher Feiern beiträgt, 3. ein Gestein, 4. einen deutschen Dichter und Schriftsteller, 5. einen Berg in Griechenland, 6. einen Nebenfluß des Kongo, 7. eine der russischen Ostseeprovinzeu, 8. eine Fraueugestalt der griechischen Sage, 9. eine Stadt in Persien. – Nach richtiger Lösung nennen sowohl die Anfangs- als auch die Endbuchstaben der Wörter je einen griechischen Dichter.


Wechselrätsel.

Mit i hat’s Schaden oft gebracht,
Mit u ist es ein Freund der Nacht,
Mit l wird’s jetzt nicht mehr verwandt,
Mit r steht’s an des Baches Rand.
  F. Müller-Saalfeld.


Auflösung des Diagonalrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 21.

Bürger, Leonore.

Auflösung der Dominopatience auf dem Umschlag von Halbheft 21.

Auflösung des Ergänzungsrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 21.

1) Leo, Oel
2) Ella, Alle
3) Sie, Eis
4) Siam, Mais
5) Imme, Emmi
6) Nie, ein
7) Grab, barg
0= Lessing.


Auflösung der Geduldaufgabe „Ein Teufelsknoten“ auf dem Umschlag von Halbheft 21.

Der richtige Anfang des verschlungenen Bandes ist unten (Mitte). Von hier ausgehend werden zuerst alle Buchstaben an den Ringeln oder Wendungen des Bandes gelesen, die am äußersten Kreise sind, dann in zweiter und dritter Lesung jene des zweiten und dritten (innern) Kreises. Es ergiebt sich der Spruch:

1) An der Geduld
2) erkennt man
3) den Mann.



[ Verlagsanzeige (Ernst Keil's Nachfolger für „Gartenlaube-Kalender 1899“) und zweimal Produktwerbung, hier nicht dargestellt.]



Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. haun haun! = verhöhnender Zuruf.
  2. Kastanien.
  3. Trauben.