Die Gartenlaube (1898)/Heft 27
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Konrad Ferdinand Meyer †. Nach schwerem Leiden, das eine Zeit lang den Charakter geistiger Umnachtung trug, ist am 28. November der Schweizer Dichter Konrad Ferdinand Meyer auf seiner Besitzung Kilchberg bei Zürich im 74. Lebensjahre verschieden. Wie Gottfried Keller, dem gleich ihm die deutsche Litteratur einen reichen Schatz von Erzählungen und Gedichten von ganz eigentümlichem Gepräge und hoher Kunstvollendung verdankt, war Meyer in Zürich geboren; er kam als Sohn des Regierungsrats Ferdinand Meyer am 12. Oktober 1825 zur Welt. Im Gegensatz zu Keller, der, auf sich selbst angewiesen, sich unter Entbehrungen zur Bethätigung seines Künstlerberufes emporringen mußte, gehörte er einer alten Züricher Patrizierfamilie an, deren Ueberlieferungen bis in die Reformationszeit zurückreichen, und wuchs nach dem frühen Verluste des Vaters unter dem Einfluß einer geistig hochstehenden Mutter auf, die ihm volle Freiheit in der Ausübung seiner Lieblingsneigungen ließ. Während er in Zürich dem juristischen Studium oblag, gehörte sein Hauptinteresse schon der Geschichte. Als längeres Siechtum seine Uebersiedelnng an den Genfer See und später größere Erholungsreisen nach dem Süden veranlaßte, widmete er sich ausschließlich geschichtlichen Studien; Thierrys „Erzählungen aus den Zeiten der Merowinger“ übersetzte er ins Deutsche. Er lebte sich in dieser Zeit so in das französische Geistesleben ein, daß er schwankend wurde, ob er nicht für das eigene litterarische Schaffen sich der französischen Sprache bedienen sollte. Den Stoff zu seiner ersten Novelle „Das Amulett“ entnahm er der französischen Geschichte. Nach einem längeren Aufenthalt in Paris kehrte er in die Heimat zurück. Da wurde der mächtige Eindruck, den sein Gemüt von der Wiedererrichtung des Deutschen Reiches empfing, für seine Dichterlaufbahn entscheidend.
Er hatte sich in Meilen am Zürichsee niedergelassen; der tägliche Blick auf die Insel Ufenau, welche einst dem deutschen Reformationsdichter Ulrich von Hutten die letzte Zuflucht geboten, hatte ihn zum Studium der Geschichte dieses Geisteskämpen angeregt; im Jahre 1871 schuf er die epische Dichtung „Huttens letzte Tage“, in deren kraftvollen Gesängen ein warmherziges Bekennen des Dichters zum Deutschtum offen hervortritt. Die Geschichte der Reformationszeit bot ihm auch den Stoff für seinen ersten Roman „Jürg Jenatsch“ (1874). Hier bewegte er sich auf dem Boden der Schweiz, deren gewaltige Alpennatur den landschaftlichen Hintergrund der dramatisch bewegten Vorgänge bildet; der düstere Held ist ein Vorkämpfer des Calvinismus in Graubünden; durch eigene Schuld und Untreue wird der Fanatiker in sein tragisches Schicksal verstrickt.
Auch „Der Heilige“ schildert kirchliche Kämpfe; Thomas a Becket, der in der Abtei von Canterbury den Dolchen seiner Mörder erlag, steht im Mittelpunkt der packenden Handlung. Wie hier hat es der Dichter auch in seinen späteren historischen Erzählungen gar wunderbar verstanden, fremde Zeiten und Sitten im Reiz ihrer Besonderheit lebensecht heraufzubeschwören und heroische Gestalten zu erschaffen, die sich der Seele des Lesers unauslöschlich einprägen. Von seinen kürzeren Novellen üben besonders „Der Schuß von der Kanzel“, „Die Hochzeit des Mönchs“, „Die Richterin“ tiefergreifende Wirkung. Seinem letzten Roman „Angela Borgia“, der wie „Die Versuchung des Pescara“ im Zeitalter der Renaissance und in Italien spielt, fehlte die plastische Geschlossenheit, die seine früheren Erzählungen bewundern ließen. Dies Nachlassen der poetischen Kraft war leider schon ein Symptom der Krankheit, welche 1892 seinen zeitweiligen Aufenthalt in der Heilanstalt Königsfelden bei Brugg nötig machte. Auch in seinen „Balladen“ hat Konrad Ferdinand Meyer die markige Gestaltungskraft seiner Phantasie meisterlich bewährt; seine rein lyrischen Gedichte spiegeln ein für alles Edle und Große begeistertes Seelenleben wider.
Berliner Jugendwehr. Im Juni 1896 wurde durch den Generalmajor v. d. Heyde und den Hauptmann d. L. Friedmann der Verein für militärisches Turnen, Exerzieren und Schwimmen der männlichen Jugend zu Berlin ins Leben gerufen, welcher anläßlich seines ersten Stiftungsfestes, mit dem zugleich die Weihe der aus eigenen Mitteln beschafften Fahne begangen wurde, den Namen „Jugendwehr“ annahm. Der Zweck, den die Leitung des Vereins, dem weit über tausend Zöglinge aus allen Gesellschaftsklassen angehören, verfolgt, ist ein doppelter; erstens dem Heere körperlich gut vorbereitete Freiwillige, welche später kapitulieren und einen guten Ersatz für das Unteroffizierkorps bilden, zuzuführen, dann aber auch die Liebe und Treue zu Kaiser und Reich zu pflegen, Achtung vor den Gesetzen zu lehren, die jungen Leute durch körperliche Uebungen abzuhärten, um sie auch für die Arbeit des täglichen Lebens kräftiger und widerstandsfähiger zu machen. – Die Exerzier- und Turnübungen finden sonntäglich in den Morgenstunden statt und endigen vor Beginn des Hauptgottesdienstes; an den Wochentagen empfangen die Zöglinge in den Abendstunden Musik-, Gesang- und Fechtunterricht. Auf diese Weise werden dieselben in dem für die Jugend, namentlich einer Großstadt, so gefährlichen Alter – sie stehen meist im 15. bis 19. Lebensjahre – für die Zeit, welche ihnen ihre bürgerliche Thätigkeit frei läßt, in angemessener Weise beschäftigt. Unter strenger Einhaltung dieser Prinzipien ist es dem Vorstand möglich geworden, schon jetzt dem Verein ein Korps Spielleute zu 40 Mann, ein Musikkorps zu 60 bis 70 Mann und einen gegen 80 Mann starken Sängerchor zu schaffen. – Seit einem Jahre ist nun auch die Thätigkeit der freiwilligen Krankenpflege im Felde in das Bereich des Unterrichts gezogen worden. – Die Notwendigkeit, junge Lazarettgehilfen heranzubilden, trat kurz nach Gründung des Vereins an den Vorstand heran, da bei den weiten Uebungsmärschen der Jugendwehr in das Berlin umgebende Gelände, an welchen stets gegen 800 junge Leute teilnehmen, kleine Erkrankungen infolge großer Hitze oder Unglücksfälle, wenn auch unbedeutender Art, wie Fußverstauchungen etc., nicht vermieden werden konnten. Mit großem Eifer gingen die jungen Leute an die Erlernung des auch von den freiwilligen Krankenträgerkolonnen zu bewältigenden Dienstes. Die für die praktische Ausübung nötigen Arzneimittel und Verbandstoffe wurden aus den vorhandenen Vereinsmitteln beschafft, und es hat sich diese Einrichtung aufs trefflichste bewährt; ja selbst bei schwereren Fällen wurden seitens der jungen Leute die Verbände so tadellos angelegt, daß sogar Aerzte sich lobend über das Gesehene äußerten. Der Vorstand der Jugendwehr hofft, in nicht allzulanger Zeit eine vollständig ausgebildete Krankenträgerkolonne stellen zu können.
Elektrische Kochapparate. Nach Mitteilungen der „Oesterreichischen Zeitschrift für Elektrotechnik“ ergab eine Vergleichnng der Kosten des Kochens mit elektrischen Oefen einerseits und mit gewöhnlicher Kohlenheizung anderseits das Resultat, daß die übliche Art, mit Kohlenheizung zu kochen, sich heute noch bei weitem billiger stellt. Versuche, die in Bezug auf die Kosten der drei täglichen Mahlzeiten einer aus sechs Personen bestehenden Familie angestellt wurden, zeigten, daß bei direkter Heizung für eine Mahlzeit nur 19 Prozent von den Kosten, die die elektrische Heizung verursacht, nötig waren. Auch das Plätten nach der gewöhnlichen Art erwies sich halb so billig als mit Elektricität.
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Halbheft 27. | 1898. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Montblanc.
Der Lichtpunkt, der hoch von oben aus dem nächtigen Grauen der Schneefelder in das Thal hinableuchtete, war, in der Nähe gesehen, ein kleiner, knisternder und lodernder Scheiterhaufen unter einer überhängenden und auf der einen Seite wie ein Windmantel schirmend vorspringenden Felswand. Die vermummten Gestalten, die um die Feuerstätte kauerten, schauderten trotzdem alle Augenblicke vor Frost auf, wenn ein neugierig um die Ecke fahrender Windstoß mit seinem Eishauch die Flammenzungen platt zu Boden drückte und die Rauchfunken weit über den Gletscher hinstieben ließ. Sobald die Flamme sich wieder aufrichtete, warf sie einen halbkreisförmigen Glutschein hinaus in die Nacht. Sie übergoß mit ihrem Zitterlicht die fröstelnden Männer, denen der Reif in den Bärten hing und der Atem wie eine Wolke von den Lippen dampfte – daneben die mannigfache Ausrüstung einer verwegenen Hochtour, eine kleine Klappenleiter, Schlafsäcke, Steigeisen, Laternen, Proviant und Seile in Menge, Wein in großen flachen, auf dem Rücken festzuschnallenden Blechscheiben, alles im Durcheinander des Biwaks – darüber die hellbestrahlte Felswand, an der sich die Umrisse der Firnwanderer in riesigen Schatten abzeichneten, und im Umkreis endlich, soweit der Brandschein reichte, die Spukgestalten der Gletscherwildnis.
Wie Vorposten des Todes standen reglos, weißleuchtend die abenteuerlichen Eiskegel da, einer den andern überhöhend, bis ihr Gewimmel sich in der Nacht verlor, und glotzten in stummem Grimm auf die Eindringlinge herüber. Ihr erstarrender, aus unerforschten Schlünden atmender Frosthauch wehte um das lustige kleine Feuer, und wie ein warnendes Knurren lief zuweilen eine Luftwelle zwischen ihren Schründen hin.
Eine Weile war dann wieder alles still. Nichts als die Takte des Yankee-Doodle, die Franklin Moore leise vor sich hinpfiff, das gedankenvolle Räuspern eines Führers oder Trägers, das Summen des Schneewassers in dem über der Glut hängenden Kessel.
[838] Dann plötzlich ein wüster Lärm da draußen in der Nacht, ein Krachen und Klirren, ein langhingezogenes Rollen, ein paar kurze, knallende Töne wie Flintenschüsse hinterher …
Die Führer schauten sich ernst an und nickten, überzeugt, daß sie alle das Gleiche dachten, stumm mit den Köpfen. Der kleine Amerikaner zog die Uhr heraus und gähnte. „I say!“ sprach er zu dem hünenhaften Gesellen, der, den Rücken an die Felswand gepreßt, neben ihm saß und seine langen Beine bis beinahe in das Feuer geschoben hatte. „Die Lawine ist durch unser Couloir gegangen!“
„Durch das wir hinauf müssen?“
„Ich denke so! Es war Eis und Stein durcheinander.“
„Ja.“
Sie schwiegen wieder. Der Kraftmensch gähnte hinter der hohlen Riesenhand und Franklin hüllte fröstelnd seinen mageren Leib, die Miniaturausgabe eines Athleten, fester in den Mantel.
Wieder polterte es oben dräuend in der Nacht.
„Wenn uns so was morgen faßt …“ Franklin Moore war nachdenklich geworden und holte sich aus der Innentasche seines Rockes ein Portefeuille heraus.
„Still, Franklin!“ sagte der blonde Hüne phlegmatisch. „Was wissen Sie davon? In den Bergen sind Sie ein Kind!“
Franklin Moore hatte stirnrunzelnd und den Bleistift mit den Lippen feuchtend in seinem Notizbuch zu rechnen begonnen. „Hoho!“ sprach er in Gedanken. „Ist die Traversierung des Matterhorns nichts? Ist der Monterosa nichts? Oder Jungfrau und Mönch an einem Tag und …“
„Gott ja!“ Der andere streckte gähnend die Beine. „Sie machen die Sachen ja! … Aber als ein Dilettant! Als ein Mensch, der in Europa ’rumbummelt, weil in Transvaal eben nicht viel los ist und drüben in den Staaten Ihr geschätzter Vater alles selber besorgt. Sie machen eben die ,europäischen Einrichtungen‘, wie Sie das nennen, geduldig mit. Kommen Sie nach Bayreuth, so gehen Sie in die ‚Götterdämmerung‘, kommen Sie nach Zermatt, so gehen Sie aufs Matterhorn, weil das so Mode ist. Sie nehmen alles mit. Wenn es an irgend einem Platze, wo Sie hinkommen, Brauch wäre, sich köpfen zu lassen, Sie thäten vielleicht auch das!“
„Das könnte Ihnen wohl passen!“ meinte der Yankee und zwinkerte mit den Augen.
„Ja,“ sagte der Riese schlicht und sein Gefährte wandte sich wieder dem Notizbuch zu.
„So!“ sprach er befriedigt und klappte es zusammen. „Nun ist mein Conto in Ordnung und mein Vater kann über meinen Anteil in Transvaal disponieren, wenn uns morgen der Teufel holt. Hier in Nacht und Eis, wo uns wirklich nur noch Frithjof Nansen als dritter zum Skat fehlt.“
„Arbeiten Sie denn mit Ihrem Vater zusammen?“
„Oh no, Sir! Der würde mich schön übers Ohr hauen, wie alle seine Compagnons! Ob Sie mir’s glauben oder nicht – aber er ist ein ganz aufgeweckter alter Herr!“
„Wenn ich Sie anseh’, glaub’ ich’s!“ gähnte der Riese. „Ich wollte, es wäre morgen früh und wir wären auf dem Gipfel!“
„Wenn wir überhaupt hinaufkommen!“
„Um acht Uhr dreißig sind wir oben, um acht Uhr vierzig beginnen wir den Abstieg, um halb Elf sind wir in der Hütte Pierre-Pointue, treffen Angela …“
„Hoffentlich!“
„Sicher ist sie bis dahin schon hinaufgeritten. Dort rasten wir bis gegen Abend, bummeln dann im Mondschein die paar Stunden den Gletscher hinauf bis zu den Grands Mulets, wo unsere Wettgegner vom Londoner Alpine Club jedenfalls schon alle sitzen, legen uns ein bißchen aufs Ohr, brechen um Mitternacht auf . .“
„ . . und sind neun Uhr einundzwanzig Minuten dreiachtel Sekunden auf dem Gipfel des Montblanc!“ ergänzte der Kleine mit mephistophelischem Lächeln.
„Etwas später.“ Der Genosse furchte die Stirne. „Weil wir Angela zwischen uns am Seil haben. Das hält auf. Aber es bringt, wie ich neulich schon in Afrika sagte, etwas Aesthetisches in das Ganze … Es ist eine feine Lektion für die Londoner, daß wir auch noch ’ne Dame mitnehmen!“
„Sagen Sie mal!“ Der Yankee blickte sinnend vor sich hin. „Wollen Sie Angela immer noch heiraten?“
„Sie auch?“
„Ja.“
Sie schwiegen beide und starrten in die Flammen.
„Huhu!“ Der kleine Athlet zuckte die Achseln. „Es wird kalt, sehr kalt! Wenn uns nur die Träger nicht unsern Wein wegtrinken!“
„Dann werfe ich die Teufel in die nächste Gletscherspalte,“ brummte der finstere Hüne. „Ich glaube, hier oben darf man das! Und nun wollen wir in die Nester kriechen!“
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Einige Stunden waren verstrichen, da wurde es den langen Gliedern des Prinzen ganz unerträglich in dem engen Schlafsack. Von unten drückte das Steinwerk durch Pelz und Stroh blaue Flecke in die Haut, von oben lastete die Wucht der Hülle, die Luft innen war heiß und verdorben, man fror und schwitzte beinahe zu gleicher Zeit in dem stockdunklen Gefängnis, in das von außen nur das Schnarchen der Führer und ferne zuweilen der scharfe Knall, das sprungweise Rumpeln und ersterbende Rollen des Steinschlags tönte.
„Gerade als ob man schon im Grabe läge!“ brummte der Insasse und horchte erstaunt auf. Er hörte dicht über sich taktmäßiges Händeklatschen, seltsame Sprünge und einen englischen Fluch. Dann stieß ein Nagelschuh gegen seine Rippen und zog sich sofort wieder zurück.
„Pardon!“ rief von oben eine frostzitternde Stimme.
„Passen Sie doch auf!“ knurrte der andere und kroch hinaus. Eine Art Schrecken erfaßte ihn. Es war da draußen so dunkel wie im Schlafsack. Nicht die Hand vor Augen zu sehen. Kein Stern am Himmel. Ringsum undurchdringliche schweigende Nacht.
„Was ist denn los?“ frug er verblüfft.
„Der Mond hat das Spiel satt!“ hörte er neben sich Franklin Moores Stimme. „Er läßt schön grüßen und ist nach Hause gegangen!“
„Und das Feuer?“
„Hat ein Windstoß ausgelöscht.“
„Zum Henker, warum zünden’s denn die Führer nicht wieder an?“
„Es geht nicht. Es ist zu feucht geworden. Alles ringsum ist wie aus dem Wasser gezogen. Ich schätze, wir stecken mitten im Nebel …“
„Das wäre …“ Der andere unterdrückte einen Fluch und fuhr, die Handschuhe abstreifend, in die Tasche. „Ich werd’ mal ein Magnesiumlicht anzünden!“
Das Licht flammte in grünem Sonnenglanz auf, aber schon auf wenige Schritte verlor sich sein Schein in der grauen, zäh wie Dampf dünstenden Luft. Kaum daß man die aufrechtstehenden, vermummten Gestalten der Führer zwischen dem Wirrwarr des Biwaks erkennen konnte und dahinter die düster glotzenden Eisfratzen der Wildnis, die stumm und böse wie ein weißes Gespensterheer im Umkreis Wache hielten.
Den rasch in der Kälte erstarrenden Fingern entfiel die Flamme. Eine Weile glomm sie noch am Boden und warf die abenteuerlich verzerrten Schatten der Männer auf das grünlich widerspiegelnde Eis. Dann verlosch sie. Wieder war die Nacht da, pechschwarz, dick, wie mit Fingern zu greifen. Und mit der Nacht umhüllte der Frost die schaudernden, sich in die Hände schlagenden und von einem Fuß auf den andern tretenden Männer.
Franklin Moore machte in dem Dunkel ein paar elastische Schlußsprünge auf der Stelle. „Ich hab’ es mir vorhin ausgerechnet!“ sprach er dann wehmütig. „Ich habe genug Geld, um mir fünftausend schöne warme Bettstellen mit allem Zubehör zu kaufen. Statt dessen hüpfe ich wie ein Narr um Mitternacht in diesem Eiskeller herum. Der Teufel hole die europäischen Einrichtungen!“
„Ich hab’ ein Schloß!“ sagte der andere mißmutig. „In dem stehen dreißig Gastbetten! Warum lieg’ ich Esel nicht in einem davon, statt hier zu tanzen und zu springen?“
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[839] Das Morgengrauen war da, eiskalt und trübe im Brauen des Nebels, der alles umflutete. Grämlich standen in seinem Geriesel die nächsten Gletscherzacken. Weiterhin war nichts mehr zu sehen als der weiße Rauch. Kein Lüftchen regte sich. Tiefe Stille lag über dem ganzen Firnkessel, während die Luft sich mehr und mehr erhellte.
Die Führer hatten über einer Spiritusflamme aus Schneewasser einen dünnen heißen Kaffee bereitet und sich mit Brot und Speck gestärkt. Jetzt warteten sie schweigend, was ihre Herren beschließen würden.
„Vorwärts!“ sagte der Prinz ziemlich apathisch, und die vier Führer kauerten, ohne weiteren Wortwechsel, am Boden nieder und packten die Seile, Steigeisen, Laternen, Wein und Fleisch und den übrigen Gletscherbedarf zusammen. Was sonst da noch in Unordnung auf der Felsplatte herumlag, sollten die durch die Höhennacht völlig verblödeten und verängstigten Träger wieder mit sich nach Chamounix zurücknehmen.
Der Abschied war nicht gerade herzlich. Die verdrossene Beklommenheit, die eine gefährliche Hochtour einleitet, lastete auf der kleinen Schar. Man trennte sich mit kurzem Kopfnicken der Herren und stummem Hütelüften der Leute.
Ein kurzer Marsch, eintönig in dem Schlürfen der Bergschuhe, dem taktmäßigen Aufstoßen der Pickel, ab und zu dem Kollern eines losgelösten Steins – dann standen sie vor dem Aufstieg in die Eisrinne, einer halbkreisförmigen, von hohen Wänden umschlossenen Mulde. Ihr ganzer Boden bestand aus einem losen, jetzt an der Oberfläche erstarrten Schneehaufen, der sich zu dem Couloir hin wölbte. Vereinzelte Steine lagen auf ihm und zahlreicher noch steckten festgefrorene Eisblöcke und -klumpen jeder Größe in der körnigen, weißen Hügelmasse.
„Das alles kommt nun in ein paar Stunden von da oben runter!“ Der Yankee wandte sich zu seinem Gefährten zurück. „Nette Gegend! Hier möcht’ ich mal ein Nachmittagsschläfchen in der Sonne halten! Sehen Sie nur diesen riesigen Eiswürfel vor uns am Eingang ins Couloir! Ein Vorposten von dem Gletscher hoch oben! Das Biest kauert wie ein Eisbär im Nebel!“
Der Hüne schob sich an ihm vorbei, übellaunig und mit gelbem Gesicht. „Lassen Sie uns vorbei!“ sprach er heiser. „Mein Berner Führer und ich gehen voraus und hauen die Stufen!“
Der junge schmächtige Berner Oberländer schlug mit unheimlicher Behendigkeit Stufen in das glasharte Eis. Fünfzig, sechzig mit voller Wucht geführte Schläge waren nötig, um nur einen schmalen Tritt herzustellen. Aber seine Arme, dünn und zäh wie Eisendraht, schienen die Mühe gar nicht zu empfinden. Sie hoben und senkten sich ohne Pause und stetig, schrittweise rückten hinter ihm die andern auf. Es ging verhältnismäßig rasch vorwärts. Schon sahen sie den großen Schneehaufen am Ende der Rinne nicht mehr, sondern nur noch Nebel unter sich und neben sich die zerklüftete Felswand, in deren Spalten sich die schräggehaltenen Aexte feststemmten, während die Füße unbeweglich in den Stufen standen. Dann ein leichter Ruck am Seil, ein vorsichtiger Schritt in die nächsthöhere Kerbe und wieder ein langer Halt, in den von oben das Klirren und Splittern der Eisarbeit tönte.
Da plötzlich pfiff einer leise durch die Zähne. Nun wurde es Ernst! Die bisher mäßig abfallende Eisrinne, in der sie emporklommen, bäumte sich jetzt auf einmal jäh vor ihnen auf und stürzte in fürchterlicher Steilheit, beinahe senkrecht, von oben aus dem Nebel herab. Daß der Nebel jeden Ausblick hinderte, daß man nicht erkennen konnte, wie lange diese bösartige Stelle dauerte, erhöhte das Unheimliche des Eindrucks. „Wer da den Halt verliert, dem gnade Gott!“ Ein jeder schämte sich, das vor den anderen auszusprechen, und fühlte es doch in seinem Herzen.
Sie standen beinahe übereinander in den Fugen des Berges, wie eine schwarze Riesenraupe, die, sich ruckweise zusammenziehend und streckend, an einer Wand in die Höhe kriecht. Keiner redete ein Wort. Sie atmeten schwer, mit gleichgültigem Gesichtsausdruck, als Männer, die sich vor ihresgleichen zu beherrschen wissen.
Einmal mußte ja doch diese entsetzliche Leiter, auf der sie in die Nebelwelt hinaufstiegen, wieder in eine sanftere Krümmung übergehen. Aber es hatte nicht den Anschein. Im Gegenteil, je höher sie kamen, desto jäher schien der Abfall der Rinne. Und zugleich schoben sich die Felsen von beiden Seiten heran, so daß der Eisriß schließlich kaum mehr als drei oder vier Fuß breit war, in dem sie, frei in der Luft auf den Stufen fußend, zwischen den senkrecht abfallenden Wänden staken.
„Halloh, Prinz!“ tönte es von unten.
Der Prinz drehte den Kopf nicht rückwärts. Er hätte den kleinen Amerikaner tief unter sich ja doch nicht gesehen. „Was ist denn los?“ frug er stumpfsinnig vor sich hin.
„Es ist halb Sieben! In einer Stunde fallen die ersten Steine! Wir müssen vorwärts um jeden Preis!“
„Eilen Sie sich, Josef!“ sagte der Prinz zu dem hageren jungen Stufenschläger. „Sonst fängt uns die Eislawine.“
Der Berner drehte sich um. Sein sommersprossiges Gesicht schimmerte feucht von der Anstrengung. Es hatte seinen gewohnten nichtssagenden Ausdruck. „Schneller geht’s nicht!“ sprach er kurz. „Das Eis ist hart!“
„Na, dann wird uns wohl der Teufel holen!“
Der schmächtige Geselle lachte beinahe mitleidig. Er schien sich in dieser beklommenen Lage hier oben so wohl zu fühlen wie zwischen seinen vier Wänden. „Da wär’ ich der Rechte!“ sagte er. „Bin ich der Josef oder nicht? In dreiviertel Stunden sind wir draußen!“
„Wahrhaftig?“
„Ich hab’s doch gestern geschätzt. Vierhundert Stufen sind’s. Dreihundert hab’ ich jetzt geschlagen!“
Noch war es totenstill in den Kaminen und Schründen. Die tückischen Kobolde der Hochwelt, die Steine und Eisbrocken, schliefen noch, als Spätaufsteher, die erst, wenn die Sonne schon hoch im Osten emporgestiegen ist, sich zu den todbringenden Sprüngen ins Thal rüsten. Die Steilheit des allmählich wieder breiter werdenden und an einzelnen Stellen von Felszacken durchbrochenen Couloirs blieb sich freilich immer gleich. Aber der Nebel änderte sein Aussehen. Er war nicht mehr gleichförmig grau, sondern bildete feine, weißliche Flocken, und dahinter leuchtete es goldig, in einem märchenhaften Schein.
„Juhu!“ der Gletschermann aus Grindelwald durchbrach plötzlich das Schweigen mit einem Jodler, daß die unter ihm erschrocken zusammenfuhren.
„Was giebt’s denn?“ erkundigte sich aus der Tiefe der Eisschlucht der Yankee.
„Hol’ der Herr seine Brille ’raus: die Sonne giebt’s! Und gleich da oben ist der Gletscher!“
Mann für Mann tauchte die ruckweise ansteigende Kette aus dem Nebelmeer in helles Licht und blauen Himmel hinauf. Hart über ihren Köpfen blinkte der hochgewölbte, von bläulichen Spalten durchsetzte Eiswall der Gletscherzunge. Die Rettung war nahe, aber die Gefahr größer als je. Stumm wie Soldaten in der Schlacht, die jeden Augenblick ein Geschoß treffen kann, standen sie unter dem Firnstrom. Und auf ihm lagen die mählich in der Sonne rutschenden Schneemassen, die im tauenden Eiswasser langsam abwärts gleitenden Steine. Was sich dort oben löste, riß sie im Bogen mit in den Abgrnnd …
In dem wurde es allmählich licht. Die Nebelschwaden zerrissen, und plötzlich leuchtete ganz unten, in schwindelnder Tiefe, ein kleiner grüner Fleck auf. Er vergrößerte sich rasch, kleine Sennhütten zeigten sich auf dem immer weiter werdenden Wiesenplan, und endlich lag das Arvethal mit seinen blühenden Matten und dem niedlichen, wie ein Spielzeug aus der Schachtel gepackten Städtchen Chamounix frei vor ihren Augen.
„Schade, daß wir sie nicht mit hier oben haben!“ sagte der Amerikaner.
„Angela?“
„Ja. Das wäre mir eine angenehmere Gesellschaft als Sie!“
„Mir auch! Aber in ein paar Stunden treffen wir uns ja und gehen zusammen auf den Montblanc!“
„Aber Sie sind immer dabei! Das stört mich!“
„Mich auch! Daß Sie da sind!“
Der Riese lachte. „Ich bin zu faul, Franklin’“ sagte er. „Schauen Sie doch mal nach, ob noch nichts von der Höhe kommt!“
„Leider nein!“
„Leider?“
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[841] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [842] „Ja, wenn Sie’s träfe!“
„Na …. wenn Sie so sind,“ der Riese war entrüstet, „dann wünsch’ ich Ihnen auch ein Eisstück an den Kopf.“
Dabei wiegte er den linken Arm hin und her. „Soll ich Ihnen einen Schubs geben, Franklin?“ frug er tückisch lächelnd.
„Thun Sie’s! Ich denunziere Sie noch im Herunterfliegen dem Friedensrichter. Die Führer sind meine Zeugen!“
Die Führer hatten nicht auf das Gespräch geachtet. Starr wie Steinsäulen in den Stufen stehend, folgten sie mit den Augen der Arbeit ihres schmächtigen deutschen Genossen. Jetzt schlug er die letzte Stufe, jetzt schwang er sich über den Rand auf die Oberfläche des Gletschers und aufmunternd tönte sein Halloh! herüber.
Nun ging es rasch. Einer nach dem andern stieg lachend herauf. Es war ihnen allen merklich leichter um die Brust, als sie im Halbkreis auf dem Gletscher saßen, der, immer noch steil genug und listig mit Schnee bedeckt, sich vor ihnen auftürmte. Das gab noch harte Arbeit und ebenso das Klettern über den nadelscharf aus den Firnschründen aufschießenden Felsgrat, der zur Spitze führte. Aber das Schlimmste war doch überstanden, der Lawinenschlag, der den Tollkühnen wie den Schwächling gleichmäßig in die Tiefe reißt.
Während sie im Schnee kauernd frühstückten, deutete der deutsche Führer Josef, mit beiden Backen kauend, auf den Gletscherhang. Ein zerfressener Eisblock, in dem ein Haufen Steine von allen Größen feststak, löste sich da im Sonnenschein ganz still und lautlos von seiner Unterlage ab und glitt gemächlich, schneckengleich, über den Rand. Im nächsten Augenblick krachte es unten auf, ein Sausen und Poltern, das sich allmählich verlor, begleitete die pfeilschnelle Fahrt des Eis- und Steinhagels auf der Rutschbahn des Couloirs hinab in die Mulde.
Franklin Moore zog die Stirne kraus und sah auf die Uhr. „Acht Uhr zwölf Minuten!“ verkündete er. „Die Steine sind unpünktlich. Jetzt geht die Geschichte aber los.“
Die Männer hatten sich ernst angesehen. „Wenn wir jetzt noch darin wären …“ sagte ein französischer Führer und strich nachdenklich seine Bartkoteletten.
„Man ist eben nicht mehr drin!“ erwiderte Franklin kaltblütig. „Was, Prinz … das ist die Hauptsache im Leben ... sich nicht erwischen lassen?“
„Ja,“ sagte der Recke und beide lächelten sich feindlich an.
„Dann auf!“ Der Amerikaner sprang elastisch empor. „Vorwärts, zum Gipfel!“ wandte er sich an die Führer und wies in die Höhe.
„Zum Gipfel!“ wiederholte die dumpfe Bärenstimme eines welschen Gletschermannes und die Führer rüsteten, einander stumme Blicke des Nationalitätenhasses zuwerfend, alles zum Weitermarsch.
„Valere aude!“ Wage es, gesund zu sein! – Werde, was du bist – oder vergehe! – Die Worte lagen stumm auf seinen Lippen, als der Afrikaner am selben Morgen vor das Hotel trat. Noch glitzerten überall nebelfrei die Sterne über und zwischen den in dämmerndem Weiß vom Himmel sich abhebenden Schneeflächen. Während sie im Morgengrauen erloschen, dampften alle Thäler von würzigkaltem, feinem Rauch, langgezogene weiße Dunststreifen schwebten wie ausgespannte Schleier vor den Flanken der Berge und vergingen langsam vor dem Hauch der Sonne, die in wolkenlosem Blaßblau über den goldig blitzenden Firnkämmen aufstieg.
Da stand der Montblanc, ein strenger Gebieter, ein Monarch, wie man früher seine Spitze nannte, als freier Herrscher der Alpenwelt. Sein weißes Haupt ragte über die Menge der Gipfel, von seinen mächtigen Schultern wallte im Faltenwurf des ewigen Schnees, von azurnem Gletschergefunkel gestirnt, der hermelinreine Krönungsmantel bis zum Fuß, dem die Thäler unten in schwarzer Tannenwildnis und mit lichtgrünen Matten als Schemel dienten. Alles umher war sein Reich. Was da war, kam von ihm: die Eisströme, die in erstarrten, hochaufgebäumten Wellen in die Tiefe flossen, die Meere von Steingeröll und Bergtrümmern, die ihrem Zuge sich voranwälzten, die schäumenden, grauen Wildbäche, die von den Gletscherthoren durch breite, von der Verwüstung geschaffene Kieselbetten waldabwärts brausten! Manch eingestürztes Haus, manches beharrlich neu aufgebaute Menschenwerk wies dort unten ihren verderblichen Weg, auf dem der weiße König da oben, achtlos, wie der Fuß des Wanderers das Leben unter sich zertritt, über die Ameisenhaufen im Thal hinweggeschritten war.
Aber heute hätte man das dem Gewaltigen kaum zugetraut! Er zeigte im Sommersonnenschein sein freundlichstes Gesicht, jene heitere, kraftgetragene Ruhe, die unseren Wanderer unwiderstehlich zu ihm emporzog.
Das Saussuredenkmal am Ausgang des Städtchens wies dem Afrikaner den Weg. Die Augen erhoben, blickte die Gestalt des Gelehrten nach dem Berge, neben ihm, tollkühn lachend [mi]t dem ausgestreckten Finger auf die höchste Spitze des Montblanc [we]isend, sein Führer Jacques Balmat. „Balmat de Montblanc“, wie der König von Sardinien auf Lebenszeit den verwegenen Savoyarden nannte, der als der erste Mensch und allein in dieser Höhenluft von fast 5000 Metern geatmet.
Der Afrikaner sah ihn nachdenklich an. Er kannte wohl sein Schicksal. Immer wieder hatte es den trotzigen Gesellen hinaufgelockt in die weiße Märchenwelt. Einsam, menschenscheu strich er dort umher und suchte und suchte … Gold, sagten die einen, neue Wege zum Gipfel, die andern. Schließlich war er nicht wiedergekommen … der Montblanc hatte seinen Bezwinger bei sich behalten. Er bettete den gealterten Mann da, wo unterirdisch die Gletscherwasser sprudeln und von obenher, ein schmaler himmelblauer Spalt, der Sonnenschein in azurner Finsternis leuchtet. Die Stelle weiß man nicht und die Gebeine bleiben verschwunden. Der Montblanc hat sich gerächt.
Aber andere folgen nach.
Die treibt auch die Sehnsucht nach oben, dem Himmel zu. Die suchen auch dort oben Schätze, verlorenes, geheimnisvolles Gut, und finden statt der Erkenntnis den Tod. Und damit wenigstens die Befreiung von allen Zweifeln!
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Empor über den Zickzackweg ewigen Tannenforstes, stunden- und stundenweit empor über kahler werdende Berghalden, über quelldurchsprudelte, blumenbesäte Grashänge, über Felsblöcke und Geröll – da schon über das erste kleine Schneefeld und unter einem neugierig von hoher Felswand herablugenden Gletscherwall hindurch bis zur Grenze des toten Reiches!
Da begann es: eine weite Ebene von graukörnigem Eis, durch klaffende, riesige Risse in Trümmer- und Bruchwerk, in hausgroße Würfel, in lange, chausseeartige Rücken geschieden.
Anfangs zahm und eben, gewann der Gletscher, wo er an der „Jonction“ mit seinem Nachbar zusammenstieß, das wilde, bizarre Angesicht der Hochwelt.
Wie durch die Gassen einer aus Firn und Eis erbauten und im Erdbeben wieder eingestürzten Stadt wandelte der Eindringling dahin. Ein Pompeji im ewigen Schnee. Steil ragende Glaswände und zerschellte, glitzernde Scherben, eingerutschte Hügel, schiefgeneigte oder abgebrochen am Boden schmelzende Krystallsäulen, Zacken und Zähne, Türme und Mauerreste überall, und als Bewohner des weißen Kirchhofs, da und dort aufstarrend, wunderliche, in der Sonnenglut triefende und schwitzende Eismänner; wie ein Koboldkönig unter ihnen ragend ein bogenförmig nach hinten in Art eines Walroßhauers gekrümmtes Firnhorn – das alles säumte den Weg ein, der sich durch lange, stille Gletschergassen, auf freiem Schnee, in Mulden hinab, über spröde Glasstufen zu schmalen Firndächern empor, die Séracs, aufwärts schlängelte.
Wie die Spuren jenes Erdbebens klafften überall zwischen den Trümmern die in unbekannte Tiefen führenden Spalten, die einen tückisch mit Schnee verklebt, der beim ersten Stich des Pickels in Brocken in den Abgrund fiel, die anderen mit offenen schwarzen Rachen zum blauen Himmel aufgähnend. Die größten von ihnen zu überspringen war unmöglich. Sie klafterten wohl 15, 20 Fuß, und schmale Leitern führten, den scheußlichen Abgrund überbrückend, von dem Thalhang eines [843] solchen Gletscherrisses zu dem ihn weit überhöhenden Bergrand empor.
Den Afrikaner durchfröstelte ein eigenes wollüstiges Grausen, während er, auf die Hände und Kniee gestützt, über die Leiter kroch und durch deren Sprossen unter sich, wo sich der bläuliche Metallglanz der Gletscherspalten in unergründliche Nacht und Tiefe verlor, die unterirdischen Ströme brausen hörte. Der alte Reiz kam wieder über ihn, dies Necken mit dem dumpf glotzenden und schwerfällig nach seiner Beute tappenden Tode. Der letzte dieser Uebergänge war bequemer: eine Art großer Laufbrücke mit Geländer, dahinter steil aufsteigend der schneebedeckte Gletscherhang, an dem oben seitlich ein rotgestrichenes Haus mit zwei niedrigen Stockwerken aus dem Eise aufwuchs und sich an eine Reihe Felsklippen lehnte. Unter dem neuen „Hotel des Grands Mulets“ stand wie ein Nebelstrich die grauverwitterte, halbzerstörte alte Steinhütte.
Auf der Galerie bewegten sich Punkte. Rufe und Juchzer tönten durch die dünne Luft und empfingen den vom Gletscher aufsteigenden Wanderer.
Einer der grauköpfigen Engländer vom „Alpine Club“ bog sich mit jungenhafter Behendigkeit über das Geländer und begrüßte den Ankömmling mit einem Scherz.
Die Führer hinter ihm lachten rauh wie die Bären, und auch der Afrikaner lachte, während er, am Ziele angekommen, die Schneebrille abnahm.
Jetzt erst sah er die volle Pracht der Umgebung. Blendendes, leuchtendes Weiß überall und strahlendes Tiefblau darüber. Es gab keinen Uebergang, keine anderen Farben. Nur an dem stumpfen Braun der Hüttenfelsen konnte sich das Auge ausruhen.
Diese Felsstufen waren mannigfach geschmückt. Die nassen Lappen der Flanell- und Seidenhemden hingen da mit beschwörend aufgereckten Aermeln zum Trocknen, die Unterbeinkleider flatterten, durch Steine beschwert und festgehalten, im Winde, die Bergstiefel standen gereinigt und frisch eingefettet auf den warmen Steinplatten, und dazwischen saßen, die mit Pantoffeln und Halbschuhen bekleideten Füße herabbaumeln lassend, die Briten und rauchten ihr Pfeifchen.
Die Führer trieben sich um sie her. Sie fühlten sich zu den erfahrenen Gletschermeistern des Londoner Alpenklubs vertraulich hingezogen und gingen erfreut auf deren trockene Witze und Späße ein, ohne doch die Ehrerbietung außer acht zu lassen. Besonders bewunderten sie den Matador der Gesellschaft, einen hageren Graukopf, um den seit Jahrzehnten sich der Nimbus alpiner Heldenthaten wob. Er kannte alle Führer bei Namen. Mit den älteren Männern, die unter den struppigen Bärten schmunzelnd ihm zuhörten, verkehrte er auf dem Fuß derber Kameradschaft. Die jungen Leute, die unter seinen Augen im Hochgebirge aufgewachsen waren, begönnerte er mehr väterlich, und als er dem einen einmal ein anerkennendes Scherzwort hinwarf, verklärte sich das magere Eulengesicht des Burschen förmlich vor Wonne.
Die beiden anderen Engländer – Vater und Sohn – schienen von einem merkwürdigen Thatendrang belebt, zu dessen Dämpfung die Ueberwindung von 2000 Metern Höhe zwischen Chamounix und den Grands Mulets offenbar nur wenig beigetragen hatte. Fortwährend waren sie unterwegs, auf Expeditionen, deren Zweck und Ziel keinem andern einleuchtete. Bald erklommen sie mit Hilfe der mit den Schultern sie stützenden Führer irgend eine steile Felsplatte, um sich dort gähnend und zum Himmel aufblinzelnd zu sonnen, bald wieder übten sie, von oben herabgeglitten, keuchend ihre Kraft im Emporheben schwerer, am Boden verstreuter Steinblöcke. Dann wieder waren sie wie Indianer auf dem Kriegspfad hinter die Hütte geschlichen, und wer ihnen dort folgte, konnte Vater und Sohn lautlos, nach allen Regeln der Kunst und finsteren Gesichts, mit markierten Schlägen aufeinander losboxen sehen. Zurückgekehrt, schlugen sie einen Gesang vor. Erst trällerte der junge Bursche einen Niggertanz und bemühte sich zugleich, halb in der Zerstreuung, das Holzgeländer der Galerie zwischen seinen Eisenfäusten entzweizuknacken, dann brüllte, als er sich enttäuscht abwendete, einer der Führer, ein baumlanger Cyklop, ein melancholisches Lied. Seine Stimme klang melodisch wie der Baß eines Kettenhundes. Aber er ließ sich nicht stören. Die anderen stimmten andächtig in den Kehrreim ein. Dann wurden sie nachdenklich. Man sah, wie sie über einen neuen Zeitvertreib grübelten, während sie ihre Pfeifen ausklopften und dem scherzenden Ringkampf zweier Führer folgten, die sich fluchend mit Bärengriffen umklammert hielten und wie Betrunkene hin und her taumelten.
Der lustige Graukopf schaute indessen durch sein Fernrohr nach dem Montblanc. „Sie sind Deutscher, Herr?“ frug er den neben ihm stehenden Afrikaner. „Eben kommt Ihr Landsmann, ein Offizier, über die ,Bosses du Dromadaire‘ herunter!“
Der andere nahm das Glas und prüfte die drei nachtschwarzen Schattengestalten, die sich riesenhaft, gleich gespenstischen Schornsteinfegern, von dem stahlblauen Himmel abzeichneten und in seltsamen, stelzbeinigen Bewegungen wie Marionetten die steile Eisschneide herabklommen.
Es ärgerte ihn, daß so viel Menschen auf den Bergen waren! Auch der Gletscher unten belebte sich immer mehr. Es war ein förmliches Getümmel von schwarzen Punkten, die, wie Perlen an einen Faden gereiht, langsam aufwärts krochen. Vor den Gletscherspalten stauten sie sich zu Klumpen. Man konnte deutlich die zweifelnden Handbewegungen, die ermunternden Winke der Führer, das ganze Gewirtschafte erkennen, bis endlich einer nach dem andern sich ein Herz faßte und wie ein Insekt über die Leiter krabbelte.
Bei den Trupps, die juchzend und jodelnd die obere Schneehalde erklommen, unterschieden sich bereits die Montblancbesteiger durch die Eisaxt und das Führerpaar von den zu dritt und viert an zwei Führern angeseilten, bergstockbewehrten Hüttengästen, und bald langten die vordersten Expeditionen schwitzend, aufgeregt und glückselig bei der Felseninsel an.
Die anderen tröpfelten im Laufe der Stunden hinterher, eine wahre Musterkarte aller Nationen. Zuerst ein holländisches Ehepaar, liebenswürdige junge Leute, die beinahe gleichzeitig nach drei Seiten hin deutsch, englisch und französisch plauderten, dann ein Magyare mit bräunlichem Gesicht und dunklem Spitzbart. Das ungewohnte Bergsteigen hatte den Sohn der Pußta mehr als die beiden Niederländer erschöpft. Er setzte sich still und melancholisch in die Ecke.
Die nächsten im Schnee anfwärtsstapfenden Gesellschaften verrieten schon von weitem durch ihr keuchendes Geplapper das gallische Blut. Monsieur L’Abbé geleitete mit Hilfe einiger Führer seine Schutzbefohlenen, drei schmächtige, verlebt aussehende junge Pariser, auf der Ferienreise zu dem Hotel des Grands Mulets. Sein glattes, römisches Priestergesicht schaute wunderlich aus dem Bergkostüm, wie der Fuchs aus dem Sack. Im übrigen war er ein liebenswürdiger Weltmann und plauderte in dem engen, gestopft vollen Wirtsstübchen wie im Salon.
Die hinter ihm waren Südfranzosen! Einer jener rundlichen, breitschulterigen Provençalen, die einen mit ihrem schwarzen Augengefunkel zu erdolchen scheinen und mit den Gesten eines Raubmörders um das Salzfaß bitten. Dieser lebendige Mann in den Vierzigern war eine Leuchte des Touristenvereins der Dauphiné. Morgen früh stand er auf dem Montblanc – „als der erste, Monsieur! Ich schwör’ es Ihnen! Es gilt die Ehre Frankreichs gegen Engländer und Preußen!“ – und unten von den Grands Mulets würde die ganze Gesellschaft, die mit ihm gekommen, dem kletternden Familienhaupt ihre Grüße zuwinken: die Gattin, eine fröhliche Dame zu Mitte der Dreißig, die beiden Knaben, der Onkel und der Schwager.
Und immer neue Trupps kamen in Sicht und krochen jodelnd auf dem Gletscher heraus. Bis zum Abend war unzweifelhaft das letzte Bett im Hause belegt. Schon jetzt war im Gastzimmer längst kein Raum mehr. In der Küche daneben, in der mit fliegendem Atem die freundliche Wirtschafterin hantierte, drängte sich die Elite der Chamounixführer, und der Platz vor dem Hause wie die Galerie daneben war dicht mit ihnen und ihren gedankenvoll rauchenden, plaudernden und gähnenden Touristen besetzt.
Nun kam auch noch Zuwachs von oben. Auf den steilen, weißen Hängen, die vor der Hütte sich zum „Petit plateau“ emporzogen, erschien hoch oben der Montblancbesteiger zwischen [844] seinen beiden Führern, drei dunkle sitzende Klumpen, die, rückwärts mit dem Pickel steuernd, blitzschnell über den weichen Schnee herabfuhren.
Vor einer Gletscherspalte bremsten sie, standen auf und schritten wie gewöhnliche Menschen weiter. Der Tourist stürzte dabei ein paarmal ohne Veranlassung lang hin und raffte sich mit einer ungeduldigen Bewegung wieder auf.
„Mein Gott, er ist krank!“ rief die Französin. Aber ihr Gatte, die Leuchte der Dauphiné, tröstete sie. Das sei nur die Ermüdung. Da setze man den Fuß schief in den Schnee und verliere so das Gleichgewicht.
Nicht lange dauerte es, so klomm der Mann vom Berge den kurzen Geröllpfad längs der Hüttenfelsen empor. Er nahm die Schneebrille ab und klappte die Mütze auf. Ein typisches preußisches Kavalleristengesicht mit scharfen sonnengebräunten Zügen und weißblondem Schnurrbart kam zum Vorschein.
„Uff!“ sprach er und ging schwer, mit krummen Knieen, wie eben aus dem Sattel gestiegen, auf die Thür zu. „Höllisch steile Chose! Spür’ den Montblanc förmlich in den Knochen!“
„Sie sind müde!“ sagte die holländische Dame. „Man sieht es Ihnen an.“ Sie wußte nicht, daß in dem rauhen Bergsport derartige Beobachtungen bei sich und anderen verschwiegen werden. Der Lieutenant zuckte denn auch die Achseln: „Gott, müde? … nee … das nu nicht! nur so’n bißchen dösig wie nach’m Distanzritt! War übrigens göttlich oben. Blick von Karlsruhe bis Marseille!“
„Das haben Sie wirklich gesehen?“
„Nee … ’s sind Wolken drüber,“ lachte der andere. „Sehen thut man bloß die Berge. Na, nu werd’ ich mich doch ein Viertelstündchen in die Klappe legen.“ Der deutsche Tourist verschwand in einer der Kammern, in die ihm die Wirtin einen großen Krug Selterswasser brachte.
Viel schlafen konnte er wohl nicht! Das ganze Haus zitterte vor Lärm. Die krachenden Tritte der Nagelschuhe auf den dünnen Dielen des Oberstocks, das Gepolter auf den Treppen und Fluren, das Lachen und Schwatzen der Führer in der Küche, die aufgeregten Stimmen der Südfranzosen, das Pfeifen der gelangweilten Engländer, das Juchzen und Jodeln auf der Galerie, das alles klang wirr ineinander und paßte so wenig zu den Bergen umher.
Die schwiegen in ihrer stillen Größe. Und in diesem kleinen Stall, der wie ein verlorenes Sandkorn in der unermeßlichen Gletscherwelt lag, da schrie und wirtschaftete diese Handvoll winziger Menschlein, rannte durcheinander, gestikulierte, beratschlagte und gebärdete sich, als seien sie und ihr Dasein in dieser weißen Ewigkeit von irgend welcher Bedeutung.
Allmählich war jetzt schon die Dämmerung hereingebrochen. Die Sonne stand als eine blutrote Dunstscheibe zwischen den violetten Schattenrissen der Berge im Westen. Bunte Farbentöne zitterten von dort aus gegen den im Grau ersterbenden Osten. Die Montblancspitze hoch oben und die ragenden Eisnadeln glühten im Gold zu dem blaßblauen, sonnenwärts seegrün leuchtenden Himmel, und ein rosenroter Schein belebte plötzlich weithin die weißen Schneefelder, über denen, noch kaum erkennbar, die Planeten als Vorläufer des Sternenheeres im Flimmerglanze aus dem Weltall traten.
Unten, jenseit der Schneegrenze, war schon vollständige Nacht. Nur die Gletscherzungen schimmerten noch matt, wie aus der Tiefe eines schwarzen, langsam steigenden Oceans herauf, und noch weiter unter ihnen blinkten, gleich einem feurigen, am Meeresboden festgekrallten Seestern, die strahlenförmig auslaufenden Laternenadern von Chamounix.
Ueber der lautlos schwellenden Flut der Nacht glühte noch ein Sonnenabglanz wie ein Streifen geschmolzenes Erz auf der breiten Schulter des Dome du Gouter. In seinem Schein sah man deutlich die Schneewirbel dort oben stäuben und tanzen und in sturmgeblähten Schleiern zu Thale wehen. Dahinter war der Himmel schmierig und trübe, von blauschwarzen Dunststreifen durchsetzt, von denen, wie riesige Fledermäuse, aschgraue abgerissene Nebelfetzen der Nacht entgegenschwammen.
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Er stand jetzt ganz allein in der zehnten Abendstunde vor dem Hause. Innen war es allmählich still geworden und die Fensterläden waren geschlossen. Alles schlief. Nur im Wirtszimmer lärmten noch die Südfranzosen und begrüßten mit Händeklatschen jede neue aus der Küche herbeigebrachte Platte. Dann gingen auch sie zur Ruhe. Ringsum war Abendkühle und Mondschein.
Ein märchenhaftes Schweigen lag über der Hochwelt, in deren verborgensten Schründen und Falten der einsame Wanderer am Himmel oben, der Mond, sein träumerisches Silberlicht sich widerspiegeln ließ. Der einsame Mann da unten auf der Erde schaute zu ihm auf. In ihm war alles feierlich und stumm. Hier war die Ruhe. Das Nichts.
Jenes Nirwana, das freudlos und leidlos den erkaltenden Erdball einst in weiße Gletscherlinnen betten wird, wenn die letzten lebenden Wesen da unten ausgeatmet und Liebe und Haß, Lachen und Weinen, Angst und Hoffnung mit sich ins Grab genommen haben. Dann ist der bunte Traum der Welt ausgeträumt. Tiefer Schlaf – selige Stille, in der Menschenbewußtsein und Menschenerkenntnis stumm versinken.
Aber noch leben die Menschen und lieben und hassen und lachen und weinen. Im Dämmern der Mondnacht trug das ewige Firnreich ihre Spuren; Fußstapfen im Schnee, die sich, als habe eine Riesenschlange des Mittags auf dem Gipfel rasten wollen, in vielfachen Windungen als festgetretener Pfad die Hänge hinaufzogen. Weiter oben wohl noch Stufentritte in blitzblanken Eiswänden und da und dort, in windgeschützten Kesseln, die Eindrücke schwer hingelagerter rastender Körper, leere Flaschen, und Papierfetzen, über denen jetzt im Wehen der Nacht leise und unermüdlich die Firnkörner zu einer neuen Decke zusammenstäubten und alles zu verwischen strebten, was an die verhaßten Eindringlinge, an den ewigen Kampf zwischen dem Menschen und dem Berg erinnerte.
Aber ganz gelang es den dahinwirbelnden Schneeschleiern in dieser heiteren Sommernacht doch nicht, den Kehricht des verflossenen Tages mit ihrem reinen Weiß zu überpudern. Es blieben noch, dem geübten Auge wohl kenntlich, Merkmale zurück, die dem einsamen, von keinem Führer und keinem Genossen begleiteten Bergsteiger den rechten Pfad zur Höhe wiesen. Brach er kurz vor Mitternacht auf, ehe da innen wieder das Kerzenlicht durch die Ladenluken flammte und in Gähnen, Seufzen und Fluchen, im Knattern des Küchenfeuers und dem Gepolter der Führerschuhe der neue Tag begann, so hatte er einen ungestörten Aufstieg vor sich und stand in der Morgensonne am Ziel.
Würde er die Sonne wieder untergehen sehen? Ganz plötzlich hatte er die ruhige Gewißheit: Nein. Heute war sie zum letztenmal vor seinen Augen im Abendgold versunken. Wenn sie morgen wiederkam, nahm sie ihn mit sich fort, in unbekannte Länder, die selbst er, der Weitgereiste, nie geschaut.
Was lag auch an einem Menschen, hier am Montblanc? Hier hatte schon mehr als einer seinen Tod gefunden. Wenn hier, vom Süden her donnernd, der Föhn dem Trotz der Gipfelriesen zu Hilfe kommt und das Chaos des Schneesturms über die erdverlorenen Höhen hinschüttet, daß der Fuß des Wanderers ermattet in den weichen Federn versinkt – nach solchen Tagen hatte das kalte Mondlicht schon ganze Reihen der kleinen schwarzen Insekten still und starr auf dem weißen Tuche liegen sehen. Und mehr noch waren es, die der Berg selbst in Verwahrung nahm, die er, mit einem eisigen Sarg umpanzert, tief in den Schlünden der Gletscher für lange, vielleicht für immer den Menschenaugen entzieht.
Morgen freilich lächelte der Berg. Aber auch das Lächeln der Riesen tötet, wenn der andere schwach ist. Und er fühlte sich matt und klein. Vergänglich gegenüber dieser ewigen Welt, hinschwindend wie ein Feuer, das schließlich in sich selbst erlöschen muß, wo das Todesschweigen des Eises die Jahrtausende überdauert. Verging dies Lichtpünktchen hier in der Wüste, so flammte unten im Thal ein neues auf. Starb er, so wurde anderswo ein anderer Mensch geboren. Das kam und ging und war nichtig unter der Unermeßlichkeit dieser Himmelswölbung, die in tausendfachem, unruhigem Gefunkel sich über dem sehnenden Auge spannte.
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[846] Er wendete den Blick ab und schaute nach unten, auf den Gletscher, dessen frosterstarrte Wogenkämme von drei Seiten die Schutzhütte umbrandeten. Es war ein Bild des Todes, diese weißen, im Mondschein dämmernden Flächen, diese wildgeschwungenen, wie aus stürmischer Bewegung heraus mit einem Zauberschlag zu bläulichem Glas versteinerten Wellenlinien des Eismeeres.
Und doch lebte es auf der zum Thal gesenkten Wüste von Firn und Schnee! Er trat zurück und fuhr mit der Hand über die Augen, wie um die Sinnestäuschung zu verscheuchen. Aber das Bild blieb! Da stand es, ganz dicht unter ihm, oder vielmehr, es bewegte sich – drei Gestalten, die durch ein pendelndes Seil verbunden, langsam und schweigsam in der Nacht emporstiegen.
Ein hagerer, knochiger Riese mit fuchsrotem Schnurrbart vorne, ein glattrasierter, lächelnder Zwerg hinten. Und zwischen ihnen eine mit weißen Schneeschleiern über und über verhüllte, gesenkten Hauptes in die Fußstapfen ihres Vorgängers tretende Erscheinung. Es sah aus, als hätten die beiden, der Riese und der Zwerg, auf einem gemeinsamen Raubzug irgend ein seltenes Gletschergespenst gefangen und schleppten es im Triumph mit sich fort.
Näher und näher kamen sie heran. Der oben stand gebannt und unbeweglich. Er hörte das Knirschen der Eispickel, das Schlürfen der Schuhe, wie die drei rastlos und stumm zu ihm heraufstiegen, als habe sie der über den Gletscherspalten brütende Eisdunst zu Nachtgebilden geformt. Jetzt klang schon ihr schweres Atemholen durch die stille Luft, es scharrte auf dem schneefreien Steingeröll an der Hütte und reckte und dehnte sich gähnend im Mondschein.
„Natürlich schläft schon alles,“ brummte der Riese, ohne die im Dunkel der Veranda stehende Gestalt des Afrikaners zu bemerken. „Kommen Sie, Franklin! Wir wollen drinnen Lärm schlagen und sehen, wie es mit dem Nachtquartier steht. Sie warten inzwischen besser draußen noch ein Weilchen, Frau Angela. Es ist stockdunkel in dem Gletscherstall!“
Er stieß mit seiner mächtigen Faust die Thür auf und tappte hinein. Der Kleine auf den Fußspitzen hinterher.
Die beiden anderen Gestalten blieben zurück. Die dunkle im Schatten, die weiße im bläulichen Mondschein. Die Gletscherschleier, mit denen die Alpinistinnen den Teint vor Sonnenbrand und Nachtfrost bewahren, umwallten sie in geisterhaften Falten. Darunter schimmerte ganz undeutlich ein menschliches Antlitz. Oder vielmehr das einer Statue, einer Leiche. Kalkfarben und starr. Er wußte, daß das nichts anderes als die zum Schutze der Gesichtshaut aufgetragene Creme war, die ihre Züge versteinerte. Und doch beschlich ihn, gerade weil er das Antlitz nur unbestimmt, in matten Umrissen, mehr ahnen als sehen konnte, ein unheimliches Gefühl.
Da trat sie plötzlich auf ihn zu. Sie hatte ihn erkannt und streckte ihm stumm die Hand hin. Er nahm sie. Sie ruhte, von den Tuchhüllen befreit, heiß in der seinen.
Eine Weile schwiegen beide. Womit beginnen in dieser geheimnisvollen, vom Rauschen der Gletscherwasser, dem Tuscheln des Windes durchflüsterten Mondnacht der Höhen?
Da ging die Thüre wieder auf. „Fertig,“ rief Franklin heraus. „Wo sind Sie, Frau Angela? Wir haben die Köchin geweckt. Sie kocht uns Kaffee, ehe wir nach Sibirien, ich meine, in unsere nahezu vereisten Betten kriechen. Der Prinz sitzt schon drinnen und schlingt pfundweise Cornedbeef direkt aus der Blechbüchse in sich hinein. Verbieten Sie ihm das! Er ist wirklich ein unästhetischer Geselle. Von Grazie keine Spur!“
Sie war um die Ecke des Hauses getreten, während der Afrikaner im Schatten stehen blieb.
„Ich komme gleich nach!“ sagte sie. „Ich bleibe noch ein Weilchen hier draußen!“
„Jetzt? Allein in der Nacht?“
„Das ist meine Sache! Gehen Sie, bitte, Franklin!“
Der kleine Yankee wagte nichts zu erwidern und schloß fügsam von innen die Thüre. Sie kehrte zu dem andern zurück.
„Ich habe gewußt, daß Sie hier sind!“ sagte sie rasch und beklommen. „Es hatte sich im Hotel und in ganz Chamounix verbreitet, daß Sie den Montblanc allein besteigen wollen. Die Aufregung ist groß. Die Fernrohrverleiher werden morgen einen guten Tag haben.“
Er sah die verschleierte Gestalt an.
„Sie wußten, daß ich hier bin?“ murmelte er. „Und sind trotzdem heraufgekommen?“
„Ja, zu Ihnen!“
Er lachte kurz auf. „Jetzt suchen Sie mich auf!“ sagte er und wandte sich ab. „Jetzt! Wozu?“
Sie folgte ihm. „Weil ich Sie um Verzeihung bitten möchte!“ Es war ein weicher Ton in ihrer Stimme, den er früher nie gehört hatte.
„Dafür, daß Sie mir neulich in Tetuan entwichen sind?“
„Ja.“ Sie stockte. „Dafür und mehr noch … in Gibraltar … als Sie an Bord der ,Liberty‘ kamen. Mein Vater hat Ihnen da auf meinen Wunsch die Unwahrheit gesagt. Ich war nicht drüben auf dem Dschib-el-Musa, sondern an Bord des Schiffes.“
Er sah sie nicht an. „Das hab’ ich wohl gewußt,“ sprach er. „Sie sind mir immer nah’ und doch fern. Sie spielen mit mir. Aber jetzt ist das Spiel zu Ende.“
Sie stand dicht neben ihm. Er glaubte zu erkennen, wie unter dem weißen Schleier ihre Augen sich bang zu ihm aufhoben. „Wenn es zu Ende wäre …“ sagte sie leise, „stünden Wir beide dann hier zusammen? Und würde ich Sie dann um Vergebung bitten? Sie kennen mich! Es war mir nicht leicht. Aber es kommt mir wirklich von Herzen!“
Er schüttelte den Kopf. „Es ist zu spät!“
„Zu spät, um uns wiederzufinden, hier auf den Bergen, wo wir zuerst Freundschaft geschlossen haben?“
„Ja.“
„Und warum?“
„Aus einem sehr einfachen Grunde.“ Er war ganz ruhig. „Weil ich morgen früh tot sein werde.“
Sie trat einen Schritt zurück. „Tot?“ stieß sie hervor.
„Nun ja! Was ist denn dabei? Einmal stirbt jeder! Die meisten in irgend einem dumpfen Kämmerchen, ich oben auf dem höchsten Gipfel von Europa … oder wenigstens auf dem Weg dorthin!“
„Tot?“ Sie rang immer noch nach Worten. „Ich verstehe gar nicht, was Sie meinen!“
„Ich meine einfach, daß meine Tage gezählt sind. Und da ich nicht gerne langsam hinsiechen will, so beschleunige ich den Ausgang. Das halte ich für erlaubt und für anständig. Man bleibt, auch in der angenehmsten Gesellschaft, nicht gerne der letzte Gast, sondern empfiehlt sich still, wenn es an der Zeit ist!“
„Aber woher glauben Sie denn, daß es an der Zeit ist?“
„Soll ich Ihnen eine Krankheitsgeschichte erzählen? Das werden Sie nicht von mir verlangen. Ich weiß, wie fatal Ihnen der Anblick menschlicher Leiden und menschlicher Schwäche ist! Ich werde Ihnen ganz gewiß ihn nicht bieten!“
„Hoffentlich darum, weil Sie sich über Ihren Zustand täuschen!“
„Frau Angela!“ sagte der Afrikaner trocken. „Sie kennen mich seit langer Zeit! Haben Sie je bemerkt, daß ich versucht hätte, mich interessant zu machen, mich anders zu geben wie ich bin und irgend eine Pose anzunehmen?“
„Nein, das gewiß nicht!“
„Nun also! Dann glauben Sie also, bitte, meinem einfachen Wort! Wenn ich sage: ich sterbe, so sterb’ ich! Und zwar morgen früh und mit leichtem Herzen, denn ich kenne den Tod. Ich habe ihn überall gesehen und weiß: Leiden und Kranksein ist schlimm, das Sterben aber eine Kleinigkeit!“
„Und nun,“ fuhr er nach einer Weile fort, während sie reglos und stumm neben ihm stand, „nun ist bald alles zu Ende. Ich habe nicht geglaubt, Sie vorher wiederzusehen! Da wir nun aber doch noch einmal und zum allerletztenmal beisammen sind, möchte ich Sie etwas fragen! Jetzt können Sie ja darauf antWorten!“
„Fragen Sie!“ Ihre Stimme bebte, und es zitterte unter den weißen Schleiern.
Er wandte sich ihr voll zu. „Warum flohen Sie mich [847] seit so vielen Jahren? Warum haben Sie in mir, seit Ihr Mann tot ist, immer wieder die Hoffnung erweckt und wieder ausgelöscht? Warum haben Sie mein Leben lang mit mir gespielt?“
Es dauerte lange, bis sie antwortete. „Sie sprechen von meinem Mann,“ sagte sie dann schweratmend wie ein Mensch, der eine lange zurückgehaltene Beichte ablegt. „Ich will auch von ihm anfangen. Sie haben ihn gekannt. Sie wissen: er hatte alle Eigenschaften, glücklich zu sein. Und nach außen hin schien er es ja auch zu sein! Und doch ging er, wenige Wochen, nachdem Sie uns auf dem Montblanc getroffen, hier in den Bergen abseits und stürzte sich über den Abhang. Alle Welt glaubte an einen Unglücksfall. Ich weiß es besser. Er hat mir einen Brief hinterlassen.“
„Ich habe es geahnt.“ Der Afrikaner blickte finster hinauf zu den gespenstig weiß im Mondschein durch die Nacht schimmernden Höhen. „Aber warum? Um Gottes willen warum?“
Die weiße Schleiergestalt neben ihm fröstelte. „Wegen mir!“ sprach sie halblaut. „Wegen mir, weil ich ihn nicht lieben konnte! Und er liebte mich so wahnsinnig. Ich war sein ganzes Glück und Leben. Und als er sah, daß ich es ihm nicht sein konnte, da hat er beides weggeworfen. Ich habe seinen Tod auf dem Gewissen – ich allein!
Und ich kann doch nichts dafür! Ich kann nicht lieben! Ich kann nicht! Sehen Sie meinen Vater an! Ich bin seine Tochter und habe sein Blut. Wir sind Menschen wie von Eis. Es ist nichts Lebendiges in unsern Adern.“
Ihre Stimme war stärker geworden. Leidenschaft und Verzweiflung klang durch. „Sie wissen nicht, wie ich darunter gelitten habe,“ fuhr sie fort. „Einen guten edlen Menschen neben sich leiden zu sehen, bitten und mit tausend Lockungen werben und endlich verzweifeln und mit einem Fluch über mich in den Tod gehen! Und dabei nichts ändern, nicht helfen zu können. Denn erzwingen läßt es sich ja nicht und jede Heuchelei wird bald durchschaut. Es ist mein Schicksal, daß ich nicht lieben kann. Ich muß es tragen. Aber als man die Leiche hinunter nach Chamounix brachte, da habe ich mir geschworen, keinem zweiten die Enttäuschung und mir die Qual einer neuen Ehe zu bereiten. Darum gehe ich einsam durch die Welt und werde einsam bleiben und bin tief unglücklich mit all meinen abenteuerlichen Fahrten und meinem abenteuerlichen Gefolge hinterher! Denn ich habe eben das Beste im Leben nicht!“
Er sah sie an. „Wenn dem so ist,“ frug er, „warum duldeten Sie mich dann nicht in Ihrem Gefolge? Warum flohen Sie denn gerade mich, wo jeder Mann Ihnen gleichgültig ist?“
„Weil ich mich vor Ihnen fürchtete!“ sagte sie, seinen Blick meidend, in die Nacht hinein, „oder vielmehr, weil ich mich davor fürchtete, daß Sie doch zu viel Macht über mich gewinnen könnten! Liebe war es nicht. Aber Sie waren der einzige, der Gewalt über mich hatte. Immer! Ueberall, wo wir uns trafen! Ich fühlte, daß ich in Ihrer Nähe willenlos wurde und vielleicht, wenn Sie den rechten Augenblick benutzten, das verhängnisvolle ,Ja‘ gesagt hätte, weil ich nicht mehr anders konnte. Darum floh ich stets noch im letzten Augenblick vor Ihnen. Und das war gut. Denn wir wären beide doch nur tief unglücklich geworden. Sie, weil Sie mich lieben, und ich, weil ich nicht lieben kann!“
Er schaute sie an. „Und doch stehen Sie jetzt neben mir!“ sagte er langsam. „Ringsum die Berge. Kein Mensch mehr wach! Wir beide allein! – Aber nun ist es zu spät! – Zu spät! Zu spät! Ich sterbe! Wir wollen Abschied nehmen! Geben Sie mir noch einmal Ihre Hand und lassen Sie mich Ihr Gesicht sehen. Ich hab’ es lange nicht geschaut!“
Sie schlug schweigend den Schleier zurück und zeigte die schönen, leichenweiß im Mondschein leuchtenden Züge. Ueber dem dunklen Haar lag ein feiner silberner Schein.
Sie lächelte trübe. „Sie haben mir neulich in Tetuan geschrieben: ,Wir werden alt und grau, Frau Aventiure!‘ Bald ist’s wahrhaftig so. Die Zeit der Abenteuer geht vorbei und unser ganzes Leben, und wir haben doch eigentlich so wenig davon gehabt. Ich weiß ja nicht, ob das Schicksal, von dem Sie sprachen, Sie wirklich oben auf dem Berg erwartet – aber ehe Sie hinaufsteigen, geben auch Sie mir noch einmal die Hand zum Abschied und sagen Sie mir, daß Sie mir nicht mehr zürnen!“
„Nein!“ Der Afrikaner hielt ihre beiden Hände und schaute ihr lange in das schöne, nur von dem geheimnisvollen Leuchten der Augen belebte Totengesicht. „Ich danke Ihnen, Frau Aventiure – trotz alledem! Die Sehnsucht nach Ihnen hat mein Leben groß und frei gemacht und giebt mir jetzt noch das Geleite auf meinem letzten Gang. Leben Sie wohl! Ich gehe jetzt allein hinauf auf den Montblanc. Vielleicht finden wir uns noch einmal oben auf dem Gipfel und in der Sonne.“
(Schluß folgt.)
Eisenbahnreformen.
Vor dreißig Jahren, im November 1868, erschien in der „Gartenlaube“ (Seite 735 u. 736) ein Artikel unter dem Titel „Der Mensch als Poststück“, in welchem die damals Aufsehen erregende Broschüre des Engländers Raphael Brandon „Eisenbahnen und Publikum“ (Railways and the Public, London 1868) sympathisch besprochen wurde. Sie schien einen ähnlichen Gedanken auszuführen und näher zu begründen, den zur selben Zeit ein origineller reicher Engländer in Paris praktisch erproben wollte: er kam nämlich auf ein Postamt und bat, daß man ihn mit Marken beklebe und zum postmäßigen Einheitsporto expediere.
Dreißig Jahre später, im August dieses Jahres, erschien die in der Mühlenstraße zu Rixdorf bei Berlin wohnende Frau P. eines Tages auf dem dortigen Postamt am Paketschalter in Begleitung ihres neunjährigen Knaben, überreichte dem Beamten eine vorschriftsmäßig ausgefüllte Paketadresse mit der Aufschrift: „Anbei ein Knabe und ein Bündel in grauer Leinwand“ und bat ihn, diese „beiden Gegenstände“ als Pakete nach Neuwedel in der Neumark zu befördern. Die Logik der sie belehrenden und sichtlich erheiterten Postbeamten, daß die Reichspaketpost wohl lebende Tiere, aber nicht lebende Menschen expediere, wollte der konsequent denkenden Frau aber nicht recht einleuchten, und kopfschüttelnd sowie anscheinend betrübt zog sie schließlich mit ihren beiden „Postkolli“ wieder von dannen.
„Der Mensch als Poststück“, zu einem billigen Einheitspreise frankiert und beliebig weit befördert, ist also immer noch ein unerreichtes Ideal geblieben, obwohl Brandon schon vor dreißig Jahren etwas Aehnliches wollte. In seiner erwähnten Broschüre schlug er nämlich vor, ohne Rücksicht auf die Entfernung für jede Eisenbahnreise in England nur den folgenden Einheitspreis – „Passagierporto“ nennt er ihn – zu erheben: III. Klasse 3 Pence (25½ Pf.); II. Klasse 6 Pence (51 Pf.); I. Klasse 1 Shilling (102 Pf.). Da 1865 jede Reise in England durchschnittlich 14 Pence (119 Pf.) kostete, so würde bei einer Verbilligung auf 3 Pence schon eine Verdreifachung des Verkehrs eine Mehreinnahme von 2 Millionen Pfund Sterling (40 Millionen Mark) ergeben haben; es sei aber mindestens eine Versechsfachung der Fahrten, folglich eine Mehreinnahme von 4 Millionen Pfund Sterling, oder bei Berücksichtigung dessen, daß 2/7 der Reisenden in der II. und 1/7 in der I. Klasse reisen, sogar eine Einnahmesteigerung von 143/4 auf 32 Millionen Pfund Sterling zu erwarten. Jener Artikel in der „Gartenlaube“ von 1868 schloß mit den Worten: „… Wir sehen keinen Grund, der eine Verwirklichung dieser Idee in anderen verkehrsreichen Ländern, speciell auf unsern deutschen Eisenbahnen, ausschlösse. Unbedenklich behaupten wir vielmehr: Brandons Plan ist der Kern des Eisenbahnwesens der Zukunft … Wer kann uns somit widerlegen, wenn wir in Raphael Brandon den Rowland Hill[1] der Eisenbahn weissagen?“
[848] Es hat nun einen gewissen Reiz, einmal zuzusehen, ob man in den letzten dreißig Jahren in diesem Sinne vorgeschritten oder im wesentlichen beim alten Zustande stehen geblieben ist. An weiteren Anregungen im Sinne Brandons hat es seitdem ja nicht gefehlt. Schon vor ihm hatte übrigens ein Däne, Dr. William Scharling, später Professor in Kopenhagen, einen zwei- bis drei- stufigen Zonentarif für die Eisenbahnen der Insel Seeland (damals etwa 175 km) angeregt. Seine Vorschläge blieben auch nicht ganz wirkungslos. In Deutschland war es dann zuerst Dr. Franz Perrot († 1891), der einen billigen zweistufigen Zonentarif in seiner Broschüre „Die Reform des Eisenbahntarifwesens im Sinne des Penny-Portos“ (Bremen, 1869) forderte, nämlich:
1. Zone (bis zu 75 km): III. Klasse 30 Pf.; II. Klasse 50 Pf; I. Klasse 3 ℳ. 2. Zone (über 75 km beliebig weit): III. Klasse 50 Pf.; II. Klasse 1 ℳ; I. Klasse 6 ℳ.
Später (1870–1872) befürwortete er auch einen Einheitstarif von 50 Pf. für die III. Klasse, 1 ℳ für die II. und 6 ℳ für die I. Klasse.
Der Wiener Schriftsteller Dr. Theodor Hertzka griff 1883 diese Ideen auf, und in seiner Schrift „Das Personen-Porto“ (Wien 1885) fordert er, unter Verschmelzung aller Wagenklassen in eine, einen Einheitspreis von 25 Kreuzern (421/2 Pf.) für alle Entfernungen über 30 km hinaus, während im Lokalverkehr bis zu 30 km nur 10 Kreuzer (17 Pf.) erhoben werden sollen. Perrot rechnete auf Verdoppelung, Hertzka auf Verfünffachung des Verkehrs.
Im Jahre 1888 endlich erschien ein Aufsehen erregendes, sehr geistvolles Buch, „Eisenbahnreform“ von Dr. Eduard Engel in Berlin, das die Tarifreformfrage wieder gründlich in Fluß brachte und in Deutschland zwar nur kleine Besserungen erreichte, dagegen im Auslande den Anstoß zu wichtigen Reformen gab.
Engel fordert einen dreistufigen Zonentarif. Die erste Zone sollte Entfernungen bis zu 25 km umfassen, die zweite von 25 bis 50 km reichen, während die dritte beliebig weite Entfernungen über 50 km einschließen würde. Die Fahrpreise III. Klasse für diese drei Zonen sollten je 25, 50 und 100 Pf. betragen. Für die II. Klasse bringt Engel das Doppelte und für die I. Klasse das Sechsfache des Fahrpreises der III. Klasse in Vorschlag; die IV. Klasse möchte er als „menschenunwürdig“ abgeschafft sehen. Im Lokalverkehr auf Entfernungen bis 10 km empfiehlt Engel noch billigere Sätze; hier sollte die Fahrkarte III. Klasse nur 10 Pf. und die II. Klasse 20 Pf. kosten. Für besonders schnelle Züge werden die doppelten Sätze gefordert. Auch für die Beförderung des Gepäcks der Reisenden wird ein einfacher Zonentarif vorgeschlagen; auf kürzere Strecken bis 50 km sollten für 50 kg nur 25 Pf. erhoben werden, während für alle weiteren Entfernungen der Satz von 50 Pf. in Anschlag gebracht wird.
In der Vereinszeitschrift „Der Zonentarif“ (Berlin W.) kämpft Engel schon seit 8 Jahren energisch und stets mit Geist und Witz weiter für diese und andere Eisenbahnreformen. Durch Aufrücken der Reisenden in höhere Wagenklassen erwartet er, außer der zweifellos eintretenden Verkehrssteigerung, eine Deckung der Einnahmeausfälle. Ueberdies würden großartige Ersparnisse an den Betriebskosten durch die weitgreifende Vereinfachung eintreten.
Engels Reformpläne gaben schon im Sommer 1889 der ungarischen Staatseisenbahnverwaltung die Anregung zur Einführung ihres 14stufigen und daher noch ziemlich komplizierten Zonentarifs, der von 226 km an zum Einheitstarif wird, da auch jede weitere Strecke, z. B. eine von 750 km, nicht mehr kostet als 226 km, nämlich 4 Gulden = 6 ℳ 80 Pf. in der III. Klasse eines Personenzuges.
Da in Ungarn infolge des Zonentarifs der Verkehr sich in etwa 6 Jahren fast vervierfachte und die Einnahmen aus dem Personenverkehr um 90 Prozent stiegen, die Mehrausgaben aber nur ganz gering waren, so folgten mehrere andere Lander wie Oesterreich, Rußland und Dänemark bald mit ähnlichen Reformen. In Deutschland dagegen ist im wesentlichen alles beim alten geblieben. Eine vergleichende Zusammenstellung der Fahrpreise ergiebt, wie weit jene Nachbarn uns in der Verbilligung der Tarife, besonders bei Fernreisen, schon überholt haben. 500 km III. Klasse im Schnellzuge kosten: in Preußen (oder Sachsen) 23 ℳ 35 Pf.; in Süddeutschland 22 ℳ 50 Pf.; in Belgien 15 ℳ 40 Pf.; in Oesterreich (Staatsbahn) 14 ℳ; in Rußland 10 ℳ 80 Pf.; in Ungarn 8 ℳ 20 Pf.; in Dänemark 6 ℳ 20 Pf.! Der Fahrpreis in Deutschland ist also fast drei- bis viermal teurer als in Ungarn oder Dänemark! 1000 km im Schnellzuge III. Klasse kosten in Preußen 46 ℳ 70 Pf.; in Süddeutschland 45 ℳ; in Belgien 30 ℳ 80 Pf.; in Oesterreich 25 ℳ 40 Pf.; in Rußland 17 ℳ 30 Pf.; in Ungarn 8 ℳ 20 Pf.; in Dänemark 7 ℳ 30 Pf.
50 kg Uebergewicht kosten auf 500 km Entfernung in Preußen 12 ℳ 50 Pf.; in Süddeutschland 8 ℳ 75 Pf.; in Oesterreich 7 ℳ 65 Pf.; in Rußland 6 ℳ 80 Pf. (IV. Klasse nur 2 ℳ 60 Pf.); in Dänemark 3 ℳ 35 Pf.; in Ungarn 1 ℳ 70 Pf. Preußen gewährt freilich 25 kg Freigepäck, Dänemark 20 kg., Rußland 16 kg. Wenn man in diesen Ländern also nach Abzug des Freigepäcks nur 25, 30 und 34 kg berechnet, so stellt sich der Gepäckspreis auf 500 km: in Preußen auf 7 ℳ 50 Pf.; in Dänemark auf 1 ℳ; in Rußland auf 4 ℳ 50 Pf.
Doch kehren wir zum Personenverkehre zurück! In Rußland kostet die 150. Zone (7693 km) nur 72 ℳ 60 Pf. (= 33 Rubel 60 Kopeken) III. Klasse, auch im Schnellzuge. In Preußen würden 7693 km im Bummelzuge 307 ℳ 80 Pf. kosten! Also mehr als das Vierfache!
20 km – um auch ein Beispiel für den Nahverkehr zu nehmen – kosten III. Klasse nach dem Normalpreis in Preußen und Sachsen 80 Pf., in Süddeutschland 70 Pf., in Belgien 65 Pf., in Rußland 60 Pf. (Lokalfahrpreis bei 75 Städten billiger, meist nur 40 Pf.), in Dänemark 55 Pf., in Oesterreich 45 Pf., in Ungarn 35 Pf. Die IV. Klasse in Norddeutschland, ausgezeichnet durch den Migräne erzeugenden gemeingefährlichen Tabaksqualm, kostet dagegen 40 Pf.; in Rußland 30 Pf. Nur Berlin erfreut sich in Deutschland eines wirklich billigen Lokaltarifs: 20 km kosten 30 Pf. im Vorortverkehr; im Stadt- und Ringbahnverkehr sogar nur 20 Pf., da hier ein zweistufiger Zonentarif herrscht (bis zur 5. Station 10 Pf., darüber hinaus 20 Pf.). Wie man sieht, ist also in den letzten 30 Jahren mancher große Schritt vorwärts gethan, wenn man auch von dem Brandonschen Ideal noch weit entfernt ist.
Eine großartige Verbilligung, welche die belgische Staatsbahn 1893 auf ihrem 3279 tun großen Bahnnetze einführte und die von Württemberg, Dänemark, Holland und der Schweiz bald nachgeahmt wurde, darf hier aber nicht vergessen werden: es sind das die 15tägigen Abonnementskarten für das ganze Staatsbahnnetz, mit denen man täglich beliebig weit überall fahren darf. In Dänemark und der Schweiz giebt es auch derartige Karten für beliebig viele Monate bis zu einem Jahre. Die belgischen Karten für 15 Tage kosten III. Klasse 23 Franken (18 ℳ 62 Pf.), die württembergischen 20 ℳ, die dänischen 20 Kronen (22 ℳ 50 Pf.), die schweizerischen 30 Franken (24 ℳ 30 Pf.). Durchschnittlich für 1 ℳ 25 Pf. täglich kann man in Belgien also das ganze Land befahren, soviel man nur will, und aus- und einsteigen, wann und wo es einem beliebt und so oft man nur mag! Diese Billigkeit, die bei den dänischen und schweizerischen Monatskarten noch weiter zunimmt, geht wirklich fast schon über alle vorgeschlagenen Zonen- und Einheitstarife hinaus, und für Touristen, Geschäftsreisende, Künstler, Kongreß- und Ausstellungsbesucher etc., welche die Gelegenheit benutzen, in kurzer Zeit möglichst viel von einem Lande anzusehen, kann man sich etwas Bequemeres und Wohlfeileres kaum denken. Und finanzielle Opfer hat diese Reform in keinem Lande erfordert! Es ist also doch einiges in den letzten 30 Jahren erreicht.
Hoffen wir, daß auch die anderen deutschen Bahnverwaltungen nicht gar zu lange mit Reformen im Hintertreffen bleiben, denn die zunehmende Befreiung des Menschen von Zeit und Raum ist ein Fortschritt, den man nur freudig im Interesse der Kultur begrüßen kann! A. Negronius.
[849]
Neapolitanische Straßenhändler.
Neapolitanische Straßenhändler! … Wenn wir sie gleich charakterisieren wollen mit dem ihnen eigensten, mit ihrer Stimme, so sind sie dem homerischen Helden
„Stentorn gleich, dem starken, an Brust und eherner Stimme,
Dessen Ruf laut tönte, wie fünfzig andere Männer.“
Mit zwanzigtausend, mit fünfzigtausend solcher eherner Stimmen zieht es jeden Morgen durch die Thore Neapels, wandelt und hastet durch alle seine Plätze, Straßen und Gassen – alles, was die Triften, die Gärten, die Weinberge, das Meer, die Hühner-, Schaf- und Kuhställe an eß- und trinkbaren Dingen liefern.
Der Verbreitung dieser Waren dienen die Schneckenhändler, Brotkuchenbäcker und Maccaroniköche, die Verkäufer von gesottenem Esels- und Pferdefleisch, von Lungen und Lebern unbekannter Tiere, Schafs- und Rindereingeweiden, die Lupinen- und Olivenhändler, Austräger von Pfefferfrüchten in Essigtunke, von Pinienkernen und gebackenen Kastanien, die Orangen-, Citronen- und Grünwarenverkäufer, Schwefelwasserträger, Lumpensammler, die mit Johannisbrot bezahlen, Fischer, Vertreiber von Garküchenresten, Blumenjungen und -mädchen, Bürsten- und Schwammindustrielle. Körbe, Tücher, Matten, Fässer, Bretter, ungekämmte Köpfe und zerschundene Eselsrücken, wenn’s hoch kommt Karren, dienen der Ware als Unterlage.
Und auf welchem Pflaster spielt sich das ab!
Die armen Straßenkehrer kommen nicht nach. Jeder der ambulanten Straßenhändler hinterläßt seine Spuren. Schreitet man über die immer nassen Steine, so kracht und knackt es von Muschelschalen und leeren Schneckengehäusen, von Kirsch- und Pflaumenkernen, so rutscht der oft strauchelnde Fuß unaufhörlich auf Krautblättern und Gemüsestrünken jeder Art, schlüpft auf Melonen- und Orangenschalen, auf ausgepreßten oder faulenden Citronen. Esel sodann, Ziegen, Schafe und ganze Kuhfamilien, die zur Milchabgabe vor die Thüren geführt werden, glauben natürlich auf solchem Boden sich zu jeder Verunglimpfung des Bürgersteigs berechtigt.
Es lebe die Reinlichkeit, es lebe Deutschland! Ich stand in Frankfurt am Fenster, brach einige welke Blätter von dem Epheu und warf sie auf die Straße hinab. Mit welchem Entsetzen fiel mir der Freund in die Arme! Und hier?
Kot und Kehricht überall, wie im dicksten Orient!
Dazu das dröhnende Tosen der Tausende von Stimmen, das Schlachtgeschrei im Kampfe ums Dasein, im Ringen des Erwerbs, das sich zu gewissen Stunden bis zur Unerträglichkeit steigert und deutschen Ohren so weh thut. Darüber aber der blaue reinliche Frühlings- oder Sommerhimmel, die sanften freundlichen Hügel, wo die Ruhe wohnt. Wie gern steigt man aus der Hölle empor zu Licht und Luft und steht mit Wohlgefühl atmend auf den Balkonen des Klosters S. Martino, hinabblickend auf die graue, in Dampf und Dunst gehüllte Häusermasse. Aber auch hier: wie das Brausen von hundert Eisenbahnzügen, wie ein Toben „derer, die obliegen und unterliegen,“ dringen gewaltige Tonwogen bis zu uns herauf, wie aus einer Stadt im tollen Aufstand, wie ein Riesenwasserfall. Das ist Stimmengebraus, das sind die zu einem riesigen Schall zusammenschwellenden Ausrufe des ambulanten Handels von Neapel, das ist die Musik der Stadt, der eine uralte überlieferte Partitur zu Grunde liegt. Tausende von Orchester-, Solo- und Chorstimmen.
Bei einer Wanderung durch die Gassen haben wir jetzt Gelegenheit, die einzelnen Stimmen und Rollen flüchtig zu überlesen. Wie eine Aufforderung zur Revolte, zum Bürgermord kommt es uns auf der nächsten Straße, dem breiten Corso Vittorio Emanuele, entgegen. Wüstes Geschrei in den höchsten Tonlagen aus einer wirbelnden Rotte von Straßenjungen, dazu eine herausfordernde heißatmige Pickelflötenmelodie auf der Basis einer zornigen Pauke, einer metallisch klirrenden Trommel mit Beckenbegleitung: ein toller Marsch! Und da kommt’s um die Ecke. Ein zerzauster barfüßiger Kerl, als General gekleidet, blauer reichgalonierter Rock mit hohen Aufschlägen, mit Goldpapierorden bedeckt, fettiger federgeschmückter Dreispitz – wie ein Tambourmajor schwingt er seinen langen Marschallstab und wirft ihn in die Luft, herablassend nach allen Seiten grüßend. In Lumpen folgt die von ihm befehligte Musikbande, folgen die hundert Gassenjungen, immer aufgeregter tobend. Da stockt der Zug. Tiefes Schweigen. Und jetzt hält der Bandenführer eine [850] 1 Oigiii^scl dy Ooo^le 850 Melonenhändler.
dickbauchige Weinflasche hoch empor, erhebt die Stimme zum höchsten Tenor und ruft: „Seht diesen Rotwein! Es ist das Beste, was das Jahr gebracht! Aber er fließt ausschließlich in den Kellereien (!) des weltbekannten Messer Gaetano, Corso Vittorio Emanuele – (folgt die Hausnummer), vier Soldi, fünf Soldi, sechs Soldi der Liter! Kommt und probt ihn, den Segen des Himmels!“ Nun drängt das Volk mit gespitzten Mäulern von allen Seiten heran und empfängt in einem rinnenden Strahl den Tau aus der Höhe, dazu klatschen die hundert Jungen und rufen ihr gellendes „Evviva“.
Diese Figur ist uralt und beliebt, es ist der Bacchusherold, der Banditore di Vino, der den Neuen Wein anpreist und Mohammeds Paradies verheißt. Ganz ähnlich tritt der „Banditore di Farine“ und „di Paste“ (der „Ausrufer von Mehl“, „von Nudeln“) auf. Der trägt oder läßt tragen gefächerte Kasten, in denen die ganze runde maccaronische Familie in Rangstufen verteilt liegt: Maccheroni, Maccheroncelli, Vermicelli, Vermicellini, Spaghetti und Fidelini, Lasagne, Lasagnelle, Tagliarelle, in mehr als fünfzig Abarten, die alle dem Volke mit geläufiger Zunge in plätscherndem Wortfall hergesagt und mit allen Gebärden des ausgelassenen Entzückens symbolisch vorgegessen werden.
Die Banditori treten also mit einem großen Apparat auf, einfacher ist die Sache bei den andern Händlern. Zu den Maccheroni gehört, wie die Wurst zum Sauerkraut, der Paradiesapfel, der Pomidoro oder die Tomate, wie die Frucht in Deutschland heißt. So sind im Sommer fünfzig Prozent der mit Körben springenden Händler Pomidoro-Verkäufer. Bis in das versteckteste Kämmerlein dringt der gellende Ruf: „Rot! Zwei Soldi! Rot!“ Hier steht die Farbe für die Frucht. Weiterhin heißt es: „Schwarz hab’ ich sie! Macht die Konserve! Ich brauche Geld!“
Um diese Zeit treten auch die Feigenhändler auf. An Beliebtheit steht die Feige dem Pomidoro am nächsten, und geradezu sinnbethörend vernimmt der Feigenlüsterne den Ruf: „Trojane!“, wie die goldige volle Frucht genannt wird. In den allerersten Morgenstunden tönt es: „Vor Tagesanbruch! Kalt! Eiskalt!“ womit die verlockende Frische der Frucht angedeutet wird. Werden sie im September reifer und reifer, wobei sie wie Rosinen zusammenrunzeln, so wird gerufen: „Kornschnaps braucht’s zu diesen Feigen, Kornschnaps“, denn die Süße ist zu groß. Oder: „Kaufmannsfeigen! Bringt Tüten herbei!“ Der Kaufmann nämlich wickelt die getrockneten Feigen in Papier, und diese hier sind so saftig überreif und süßwelkend, daß man sie wie getrocknete behandeln möchte. Im August blüht der Handel mit den frischen reifen Feigen. Geht es im Oktober mit dieser Lieblingsfrucht zu Ende, so vernimmt man häufig die Klage: „Wann werde ich mich wieder an Trojanen erlaben?“ Hörst du dann zu Winterszeiten „Pfefferkuchen! Pfefferkuchen!“ ausrufen, so wisse, daß es die durch den Backofen gegangene Erinnerung an die Trojane ist: die pfefferkuchenfarbige gedörrte Feige, die, auf Schilfstäbchen gereiht, in den Straßenhandel kommt und als „italienische Ware“ in Deutschland so beliebt ist.
In Neapel ist der Fruchthandel im höchsten Schwange und die Fruchthändler können, mit erfinderischem Geiste begabt, sich nie genug thun in rätselhafter Schönrednerei oder Singerei; denn gesungen, schreiend, brüllend gesungen wird alles, gesungen in ganz chinesisch versteinerten Melodien, die zweifellos schon vor Jahrhunderten dieselben waren und wie die neapolitanischen Volkslieder sich zumeist in Molltonarten bewegen. An diesen Melodien, auch wenn man die Worte nicht verstehen sollte, weiß [851] man, was da angeboten wird. Manchem dürfte auch der Rede Sinn sehr dunkel bleiben. Was verkauft jener Rufer im Streit, der auf den absonderlichen Text singt: „Schwarze! Schwarze! Der Tod der Schneider!“ Der Erklärer muß weit ausholen. Im Monat August, wo das Volk halbnackt einherläuft, „sterben die Schneider aus Mangel an Arbeit,“ zu dieser Zeit aber erscheint die gar absonderliche, bei Schleckmäulern in hohem Ansehen stehende Frucht des Eßbaren Nachtschattens, So1anum esculentum, die von schwarzvioletter Farbe ist. Auf Italienisch heißt sie „Melangiana“, der Neapolitaner nennt sie „Mulignana“ und entfernt sich dadurch von der italienischen Bedeutung des mela insana, Tollapfel, um ein Bedeutendes. Ruft der Bauer diese Frucht also mit kühnster Uebertreibung aus, so besingt er die süßen schwarzen Kirschen als „Mulignane von Ischia“.
Es ist eine eigenartige Erscheinung, wie der einfachste Bauer aus dem Sumpflande, der in der Stadt arg verspottete „Padulano“, mit der Sprache vertraut und zungenfertig ist.
Seine Rede trägt jeden nur möglichen Schmuck, so schmückt er auch seine Ware ganz kunstsinnig aus; er verschönert das Ekelhafteste durch Ornamente von Blättern, Blumen, buntem Papier, giebt den Dingen wie der Maler seinem Bilde einen goldenen Rahmen. Gaumen und Neugier werden angeregt, der Kauflustige sieht und hört Wunderdinge, und hat der Ausrufer über alles das noch eine schöne Stimme, so wird gekauft, besonders von den Frauen, auch ohne Bedürfnis. Man muß es gesehen haben, mit welchem Entzücken die Mädchen, die Mägde, ihre Arbeit unterbrechend, dem „Manne mit der schönen Stimme“ lauschen. „Signora, wir brauchen doch heute Sellerie oder Salat oder Radieschen oder dies und jenes?“ Und der Korb tanzt aus dem zweiten, dritten, vierten Stockwerke hinab, tanzt wieder hinauf, nochmals hinab, der Handel dauert oft lange, jeder Kauf ist eine kleine unterhaltende Komödie. Und diese Komödien vor den Hausthüren hat sich das Volk Neapels nicht nehmen lassen. Die Väter der Stadt wollten, wie in der ganzen civilisierten Welt, den Handel mit Nahrungsmitteln in große, schöne, luftige Hallen bannen. Die Hallen wurden gebaut, Millionen dafür ausgegeben, nie aber ist ein ambulanter Händler in ihnen seßhaft geworden; wenn man den Handel unter Dach und Fach bringen will, müßte man ein Dach über die ganze Stadt bauen, die inzwischen den orientalischen Namen der „Mutter des Schmutzes“ behalten wird.
Scharen von Fruchthändlern sind inzwischen vorübergeeilt, wir wollen die interessanten Rufe nicht verlieren. Die Maiskolben, in Salzwasser abgekocht oder über dem Kohlenbecken gebraten, sind „Hühnchen“. „Warme Hühnchen, Hühnchen mit dem goldenen Dotter! Zart, ach wie zart, Hühnchen!“ Die aus Maismehl gebackenen Brötchen werden angezeigt durch die Worte: „Komm und wärm’ dir den Bauch, Junge!“ Der Apfelhändler nennt seine Ware „Gewürznelken“, der Orangenhändler „Ananas“, der Händler mit kleinen frischen Quarkkäsen, die meist von Massa Lubrense auf der Sorrentohalbinsel kommen, „Zucker von Massa“, der Bauer mit den Artischoken „Mütterchen aus den Sümpfen“; so werden die Aprikosen zu „Zimmet“, die ausgeschälten Nüsse zu „Wachteln“, weil die halbe Nuß einer gebratenen Wachtel ähnelt.
„Zehn Farben, zehn Geschmäcke!“ schreit der Austräger der bunten, in ihrer Buntheit auf den lebhaften Farbensinn der Jugend berechneten „Konfekte“, die, genau besehen, nichts anderes als gebackene Haselnüsse sind. Die gewürzige Frühbirne wird verstanden unter der Sangstrophe: „Ei, wie duften sie dir aus dem Munde!“ Auf den Geruchsinn sollen die Worte des Waffelbäckers und des Schneckenkochs abzielen: „Ich geh’ vorüber und du riechst nichts?“ Charakteristisch ist die „voce“, Stimme, wie der Ausruf genannt wird, des Kirschenverkäufers: „Sie sind ohne Passagiere, zwei Bissen eine!“ Das bezieht sich auf das Freisein von Maden, auf die Härte der Frucht und ihre münchhausensch aufgefaßte Größe. Die „Corvine“, rabenschwarze Hartkirschen, werden als „Chokolade“ ausgesungen. Aus der „Grotta del Sole“, der Sonnengrotte, kommen die goldfarbenen Pfirsiche nach der Versicherung ihrer Verkäufer, pures Gold sind die edelfaulen Weintrauben, und der weiße, aus diesen Trauben gepreßte sogenannte Asprinowein braucht silberne Becher.
Wer nicht die landläufige Gepflogenheit kennt, die unreifen Melonen zur Nachreife für den Wintergebrauch an der Außenseite der Häuser aufzuhängen, würde nimmer den Ruf verstehen: „Hänge sie auf! Hänge sie auf! Ich geb’ dir den Nagel dazu!“ Das sind die Sumpfmelonen; die Wassermelone, jene, die drei Farben Italiens aufweisende immer dunkelrote hochbeliebte Frucht, wird von buntbemalten Ständen aus verkauft. Für wenig Geld stillt sie der Bedürfnisse drei, denn „für einen Soldo eß ich, trink ich und wasch’ ich mir das Gesicht“. Haben zwei dieser Melonari durch Zufall ihre Stände nebeneinander, so steigern sie gegenseitig ihre Anpreisungen bis zur Raserei, und dies zum höchsten Gandium des dicht gedrängten Publikums.
Da schreit der eine: „Von Castellammare! Welches Wunder, schaut! Von Castellammare sind sie!“
Der andere übertönt ihn: „Jetzt, jetzt eben sind sie aus der Grotte des ewigen Eises gekommen und sind doch voll Feuer!“
Nun geht der Wettstreit erst los. Eine Meloue wird auseinandergeschnitten, [852] geschnitten, die Schnittflächen werden vorgezeigt: „O, welche Pracht! Welche Ware, welche Ware ist das! Seht, da geht die Sonne auf!“
„Nein, nein! Hier sind die wahren Melonen! Der dort hat nur den Mond, die wirkliche Sonne seht ihr hier! Acht Soldi die ganze, vier die halbe, wer sie hier ißt, drei!“
Der Widersacher spaltet nun auf dem Haupte eines Buben gewandt mit einem Messerstreiche eine andere der gepriesenen Früchte, staunt selbst und ruft: „Ah! Das achte Wunder der Welt! Blickt her, wenn ihr Augen habt! Welcher Glanz: Feuer! Feuer!“
„Vesuv! Vesuv!“ tönt es vom Gegenüber.
„Aetna und Mongibello (Volksname des Aetna). Aetna hier!“
Aber auch damit ist die höchste Steigerung noch nicht erreicht, denn der Nebenbuhler spielt den letzten Trumpf aus mit dem Schrei: „Hier habt ihr die Hölle mit allen Teufeln!“
Da legt denn der Kollege Messer und Melone hin, stemmt die Arme in die Seiten und spricht ironisch resigniert: „Jetzt woll’n wir doch mal sehen, was du uns noch zu sagen hast!“
Mit diesem Wort geht das Wortgefecht von neuem los.
In gleicher Weise schreit daneben der Pizzajuolo, der Brotkuchenbäcker, der fetttriefende Zeppolajuolo, der seine Waffeln oder Zeppole (die den Namen vom S. Giuseppe, dem heiligen Josef, haben) auf kleinem Tuffsteinherde in Fett oder Oel bäckt und zum „Schwelgen“ auffordert: „Schwelgt, schwelgt, jetzt ist es Zeit zum Schwelgen!“ Zwischen diese Händlergruppen drängen sich Leute, die allerlei Hausgeräte, Körbe, Bürsten u. dergl., zum Verkauf anbieten; und auch in den Straßen Neapels fehlt nicht der Mann mit alten Sachen, der Trödler. Unermüdlich durchwandert er die Straßen, Käufer und Verkäufer in einer Person.
Der allerneapolitanischste Typus, der am meisten hervorstechende, ist der „Pescivendolo“, der ambulante Fischhändler. Bronzefarben, schlank und hager, aber voll Federkraft, in seinen Zügen ein Gemisch von Verschlagenheit, Geldgier und Mißtrauen, stürzt er an heißen Tagen, wo seine Ware gar bald verderben könnte, mit Tigersprüngen durch die Straßen. Seine Kleidung ist ein Hemd und eine Halbhose, zu der sich manchmal noch das „phrygische“ Barett gesellt.
Er hat hundert Variationen in seinen Rufen, allen aber liegt das Leitmotiv unter: „Jetzt, jetzt eben hab’ ich sie aus dem Netze genommen, seht, sie zappeln noch! Sie springen von selbst in die Pfanne!“ Beinn Feilschen um den Preis geht es bei diesem Händler oft recht schlimm zu, und wütend läuft er die Treppen hinab, um doch zwei-, dreimal zurückzukehren.
Ihm verwandt, aber ruhiger und geduldig wie seine Ware ist der „Ostricaro“, der Austernhändler, der seinen Stand mit seinen Konkurrenten in langer Reihe dereinst in dem berühmten Santa Lucia hatte, von wo die Neuzeit ihn bald ganz vertreiben wird.
Das Meer bietet den Küstenbewohnern noch andere Genüsse. Dazu wird auch der Tintenfisch gerechnet, der im Volke noch immer den Namen „Polyp“ führt. Ihm ist in den Straßen Neapels ein eigener Verkaufsstand gewidmet. In der Nähe des „Ostricaro“ sitzt auch die Verkäuferin der „Purpetielle“, der Meerpolypen, die als Speise vom kleinen Volke sehr geschätzt werden, weil sie lange im Magen zu spüren sind. Der Polyp wird in seinem eigenen Safte gekocht und mit etwas Salz und Citronensaft verschlungen.
Die Maccheroni! Wollte man alle ihre Sorten, ihre Herstellung und Bereitung genauer beschreiben, so würde das ein Kapitel für sich erfordern. Neapel steht in dem Rufe, mit besonders guten Maccheroni versorgt zu sein. Nicht weit von der Stadt liegt Amalfi, das erst vor kurzem in der „Gartenlaube“ (Jahrgang 1896, S. 173) ausführlich geschildert wurde. Von dort kommen seit lange nach Neapel die herrlichsten Nudeln. die in den Trattorien von italienischen Leckermäulern „versponnen“, d. h. in langen unzerschnittenen Fäden bündelweise verschlungen werden. Pomidorosauce und feingeriebener Käse erhöhen den Wohlgeschmack. Der Feinschmecker denkt dabei nicht, mit welcher Mühe die armen Amalfitaner den Teig geknetet haben. Einfacher bereitet und geringerer Güte sind die Nudeln, die in der Maccheroniküche auf der Straße feilgeboten werden. Aber sie finden begeisterte Liebhaber. Wohl dem jungen Diogenes, der des Luxus der Gabel entbehren kann und sie, die „göttlichen“, „in aria“, d. h. in der Luft, von der emporgehobenen Hand in den Mund herabhängend, verzehren gelernt hat!
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Alle Rechte vorbehalten.
Max von Pettenkofer.
Die leidige Wahrheit, daß niemand Prophet in seinem Vaterlande sein könne, läßt doch manchmal Ausnahmen zu. Eine solche schöne, glückliche Ausnahme ist Max von Pettenkofer, der in diesen Tagen sein achtzigstes Lebensjahr vollendet hat, in ungebrochener geistiger und körperlicher Kraft, geschmückt mit allen Ehren, welche Heimat und Fremde einem hochberühmten Gelehrten, einem rastlosen Bahnbrecher auf dem Pfade des menschlichen Fortschritts zu verleihen vermögen.
Wo die schwäbisch-bayrische Hochebene zur Donau sich abdacht, in der Nähe des Städtchens Neuburg, liegt ein einsames Gehöft Namens Lichtenheim. Ehedem war hier eine Zollstation zwischen den herzoglich neuburgischen und den kurbayrischen Landen; und auf ihr saß Pettenkofers Großvater als Zollbeamter. Als mit der Einverleibung Neuburgs in Bayern die Zollschranken fielen, kaufte der Großvater das Zollhaus vom Staate und gestaltete es zu einem landwirtschaftlichen Besitztum. Die Ackergründe dazu sollte das Donaumoos liefern, eine meilenweite Oedung, die den Lauf der Donau in Bayern auf lange Strecken hin begleitet. Es ist eine freudlose Gegend, das Donaumoos: einsame Moorlandschaft, von fernen finstern Wäldern gesäumt, mit seltenen Städten und Dörfern.
Hier wirtschaftete als Kolonist Pettenkofers Vater, Johann Baptist, im Schweiße seines Angesichts, um dem kargen Moorboden die Ernten abzugewinnen, die nötig waren, wenn er seine acht Kinder großziehen wollte. Johann Baptist aber hatte einen älteren Bruder, den Dr. Xaver Pettenkofer. Diesem war es bestimmt, entscheidend in das Leben des jungen Max Pettenkofer einzugreifen. Onkel Xaver, der in jungen Jahren als Feldapotheker den unglücklichen Zug der bayrischen Armee nach Rußland begleitet hatte und einer der wenigen gewesen war, die aus den Eisfeldern an der Moskwa zurückkehren durften, war 1823 Leiter der königlichen Hofapotheke in München geworden. Als kinderloser Mann nahm er nach und nach vier von den Kindern Johann Baptists in sein Haus, um ihnen den Weg durchs Leben zu erleichtern.
So kam auch der junge Max Pettenkofer, der am 3. Dez. 1818 zu Lichtenheim geboren worden war, in seinem achten Lebensjahre aus dem einsamen Donaumoose nach München, wo er zuerst die deutsche Schule und dann das Gymnasium besuchte. Längere Zeit blieb es ziemlich unentschieden, welche Laufbahn der junge Mann einschlagen sollte. Während er selber der Philologie zugeneigt war, wünschte Onkel Xaver, daß er sich den Naturwissenschaften und der Pharmacie zuwenden solle. Konnte doch da der Lebensweg des jungen Pettenkofer am leichtesten geebnet werden und der Oheim einen hoffnungsvollen und tüchtigen Nachfolger sich heranziehen. So trieb er denn an der Universität zumeist Naturwissenschaft und trat hernach als Lehrling in die Hausapotheke ein.
In diese Lehre fällt ein eigentümliches Ereignis. Der junge Apotheker ward es plötzlich überdrüssig, sich seinen Lebenspfad vollständig von einem wenn auch gütigen, doch immerhin recht strengen und eigenwilligen Oheim vorzeichnen zu lassen. Hart neben der königlichen Hofapotheke erhebt sich der Prachtbau des Münchner Hoftheaters; und mancher Abend, den Max in der seinem pharmaceutischen Laboratorium so völlig fremden Welt der dramatischen Muse verleben durfte, reifte einen Entschluß in ihm, den kaum jemand erwarten konnte. Er verließ die Apotheke, um sich der Bühne zu widmen.
Es war seine Sturm- und Drangperiode. Der tolle Streich seines Lebens. Daß dieser Streich nicht imstande war, der Wissenschaft eine so glänzende Kraft für immer zu entfremden: dafür sorgte ein liebenswertes Mädchen, Pettenkofers Cousine Helene. In herzlicher Zuneigung wußte sie ihn wieder auf den ernsteren Weg der Wissenschaft zurückzuleiten. Nach einem halben Jahre kehrte er zu seinem Oheim zurück, mit Freuden wieder aufgenommen. Rückhaltlos warf er sich wieder auf die pharmaceutischen Studien und erhielt im Jahre 1843 nicht bloß seine Approbation als Apotheker, sondern auch nach einer ausgezeichneten Prüfung das Diplom als Doktor der Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe.
Damals lehrten an der Münchner Universität der Mineraloge J. N. v. Fuchs und der Chemiker und Technologe C. Kaiser. Ihrer Anregung ist es wohl zum Teil zu verdanken, daß Pettenkofer den Entschluß faßte, sich für das akademische Lehramt vorzubereiten. Die Universität Würzburg, deren medizinische Fakultät damals fast unerreicht stand, hatte einen Schüler Liebigs, Scherer, berufen mit der Aufgabe, chemische Untersuchungen zu medizinischen Zwecken zu machen. In dessen Laboratorium zu Würzburg arbeitete Pettenkofer sich ein Semester lang in diese Untersuchungen ein; dann aber wandte er sich gleich nach Gießen, um auch in Justus Liebigs Laboratorium zu lernen.
Hier betrat er einen Boden, auf dem das regste und erfolgreichste Streben naturwissenschaftlicher Forschung sich rührte. Er fand begeisternde Anregung und befreundete sich mit den Assistenten Liebigs, mit H. Will, H. Kopp, R. Fresenius; auch mit A. Bardeleben, dem Assistenten Bischoffs – Leuten, die später alle berühmte Männer wurden.
Im Herbste 1844 kehrte er nach München zurück. Man war unterdes auf ihn aufmerksam geworden. Der Obermedizinalausschuß beantragte beim Ministerium, für Pettenkofer, der mittlerweile schon einige glückliche Entdeckungen auf dem Gebiete der medizinischen Chemie gemacht hatte, eine älmliche Stellung an der Münchner Universität zu schaffen, wie sie Scherer in Würzburg bekleidete. Der Leiter des damaligen Ministeriums, v. Abel, hatte jedoch zu wenig Verständnis für Fortschritt und Aufgaben der Naturwissenschaft; der Antrag des Obermedizinalausschusses blieb unberücksichtigt. Pettenkofer sah sich nach einer anderen Stellung um; und da gerade eine Assistentenstelle beim königlichen Münzamte frei war, bewarb er sich um diese. Konnte er doch hoffen, da wenigstens auf einem Gebiete der Chemie fortarbeiten zu können. Um so mehr, als das Münzamt damals mit umfangreichen Aufgaben beschäftigt war. Es galt die Umprägung älterer Münzsorten in neuere. Bald zeigte der Chemiker Pettenkofer, wie wertvoll sein Wissen auch in diesem Berufe sein konnte, indem er einen Platingehalt in den Kronenthalern nachwies. Eine dauernde Stellung bei der Münzverwaltung war ihm gesichert, nun konnte er auch daran denken, seine Helene an den Altar zu führen. Sie ward ihm eine treue und glückliche Lebensgefährtin.
Indessen traten Ereignisse ein, die ihn wieder auf sein eigentlichstes Arbeitsgebiet zurückführten. Das Ministerium Abel war gestürzt; Abels Nachfolger kam auf den obenerwähnten Antrag des Obermedizinalausschusses zurück, und man fing neuerdings an, sich mit der Errichtung eines Lehrstuhles für medizinische Chemie an der Münchner Universität zu beschäftigen. Als die Anfrage an Pettenkofer erging, ob er diesen Lehrstuhl annehmen wolle, zögerte er, denn er war in seiner Stellung am Hauptmünzamte sehr glücklich gewesen. Der Rat seines alten Lehrers J. N. v. Fuchs aber veranlaßte ihn, sich schließlich doch für die akademische Laufbahn zu entscheiden. So erhielt er denn im Jahre 1847 die neugegründete Professur für „pathologisch-chemische Untersuchungen“ mit dem bescheidenen Jahresgehalt von 700 Gulden. Er richtete sich in einem Laboratorium der Universität ein und hielt Vorlesungen. Insbesondere solche über diätetische Chemie; aus ihnen ging die spätere Vorlesung über Hygieine hervor.
Aber auch der Pharmacie, die seine erste Lebensaufgabe gewesen war, sollte er nicht ganz entsagen. Denn als 1850 sein Oheim, der Hofapotheker, starb, ward Max Pettenkofer mit der Oberleitung der Hofapotheke betraut. Es war das eine dankbare Stellung, die den Gelehrten nicht an seiner Aufgabe als Universitätslehrer und Forscher hinderte; um so weniger, als ihm sein Bruder Michael als Oberapotheker zur Seite gestellt ward. Die Münchner Hofapotheke, schon unter dem älteren Pettenkofer vorzüglich geleitet, erhob sich im weiteren Verlaufe der Zeit zu einem Musterinstitut ersten Ranges, das auch in der Geschichte des Liebigschen Fleischextraktes eine entscheidende Rolle spielt.
Pettenkofer war seit seinem Gießener Aufenthalt mit Justus v. Liebig in Fühlung geblieben. Er ward auch die Ursache, daß der berühmteste Chemiker seiner Zeit für München gewonnen werden konnte. Liebig hatte bis zum Jahre 1852 alle Berufungen an andere Universitäten ausgeschlagen, weil er sich von dem von ihm gegründeten Gießener Laboratorium nicht zu trennen vermochte. König Max II von Bayern, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, die hervorragendsten wissenschaftlichen Berühmtheiten an die Münchner Universität zu ziehen, bedauerte in einem Gespräch mit Pettenkofer, dem er am Münchner Hofgarten begegnet war, daß es nicht möglich sei, Liebig zu gewinnen. Damals sagte Pettenkofer: „Majestät, jetzt geht es vielleicht!“ Er konnte dies sagen, denn er hatte kurz vorher einen Brief von Liebig erhalten, in welchem dieser eine starke Mißstimmung über gewisse Gießener Verhältnisse aussprach. Der König schickte sofort Pettenkofer in vertraulicher Sendung nach Gießen, um Liebig zu bewegen, einem Rufe nach München zu folgen. Liebigs Verstimmung über Gießen war zwar schon wieder behoben; aber er ließ sich doch von Pettenkofer bereden, nach München zu kommen, um dem Könige zu danken. Pettenkofer brachte ihn nach Schloß Berg am Starnberger See, wo der König residierte. Der Liebenswürdigkeit des Königs und der Königin gelang es, den berühmten Gelehrten zu überreden; und im Herbste des Jahres 1852 siedelte Liebig nach München über – wohl das entscheidendste Ereignis für das ganze wissenschaftliche Leben Münchens im Laufe vieler Jahre.
Und nun fand das von Pettenkofer in Angriff genommene Wissensfeid, sowie seine Thätigkeit auf demselben von Jahr zu Jahr steigende Aufmerksamkeit von seiten der Gelehrtenwelt wie auch der Staatsregierungen, der städtischen Verwaltungen, aber auch des großen Publikums.
Dieses Wissensfeld war die Hygieine oder – wie Pettenkofer es mit einem deutschen Ausdruck bezeichnet – die Gesundheitswirtschaftslehre. Wenn auch einzelne Seiten und Aufgaben der Hygieine längst bekannt waren und die Aufmerksamkeit weiter Kreise auf sich gezogen hatten, so ist es doch Pettenkofers großes und verehrungswürdiges Verdienst, auf den inneren Zusammenhang aller einzelnen hygieinischen Ziele hingewiesen, sie auf experimentellen Boden gestellt und ihnen durch die Art seiner Behandlung die Würde eines selbständigen Wissenszweiges erkämpft zu haben, eines Wissenszweiges, der von tiefgreifendem Einfluß auf das Wohl und Wehe der Kulturvölker ist, der in innigem Zusammenhange steht nicht bloß mit den übrigen medizinischen Wissenschaften, sondern auch mit der staatlichen und städtischen Verwaltung, sowie mit den wichtigsten Gebieten der modernen Technik.
Von dem Gedanken ausgehend, daß die Gesundheit eines der höchsten Güter der Menschen ist, stellte Pettenkofer die Aufgaben der Hygieine fest. Während die mehrtausendjährige medizinische Wissenschaft von dem Gedanken ausging, Krankheitszustände zu bekämpfen und zu diesem Zwecke die Natur des menschlichen Körpers zu erforschen, will die Hygieine den Wert aller jener Einflüsse untersuchen, welche die natürliche und künstliche Umgebung auf den menschlichen Organismus [855] nimmt, um dadurch dessen Wohl fördern zu können. Die Gegenstände der Hygieine sind also hauptsächlich: die Luft mit ihrer physischen und chemischen Veränderung; Kleidung, Wohnung, Beheizung und Ventilation, Beleuchtung, die Beschaffenheit und Lage der Bauplätze; der Boden mit seinem Gehalt an Luft und Wasser und dergleichen; das Trinkwasser und die Wasserversorgung; Nahrungsmittel und Viktualienpolizei; Genußmittel und Kostregulative; die Abfälle des Haushalts und der Gewerbe; Kanalisierung und Desinfektion; Leichenschau und Beerdigungswesen: die gesundheitsschädlichen Gewerbe; die Beschaffenheit der Schulen und Kasernen etc.; die Gesundheitsstatistik.
Es war nur zu natürlich, daß derartige Forschungen den Gelehrten veranlaßten, vor allem die grimmigsten Feinde der menschlichen Gesundheit, die großen epidemischen Krankheiten vor den Gerichtshof der Wissenschaft zu ziehen. Und das that Pettenkofer mit einer unübertroffenen Energie, mit rücksichtslosem Heldenmute, aber auch mit beispiellosem Erfolge. Zwei furchtbare Choleraepidemien, welche München in den Jahren 1854 und 1873 heimsuchten, gaben ihm reichliche Gelegenheit, seine Untersuchungen über diese todbringende Seuche anzustellen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen waren epochemachend in der Geschichte der Medizin. Sie führten Pettenkofer zur Erkenntnis von der entscheidenden Bedeutung der Bodenbeschaffenheit für diese Krankheit. Heute steht Pettenkofer an der Spitze jener Hygieiniker, welche die Kontagiosität der Cholera und damit die Wirksamkeit der Sperr- und Isoliermaßregeln bestreiten. Die Beobachtungen der Hygieine über die Cholera wurden durch Pettenkofer sofort auch auf den Typhus ausgedehnt. Und auf diesem Gebiete ward seine Thätigkeit überaus segensreich. Zur Zeit, als er seine Untersuchungen begann, galt München für eine der ungesundesten Städte Europas. Namentlich war es der Typhus, der jahraus jahrein zahllose Opfer forderte, insbesondere junge Leute im blühendsten Alter. Nachdem Pettenkofer aber aufgedeckt hatte, daß diese Krankheit im innigsten Zusammenhange mit der Beschaffenheit des Bodens, mit den in ihm und im Trinkwasser enthaltenen Krankheitskeimen steht, und nachdem auf seine Anregung hin die einichtsvolle Münchner Stadtverwaltung die größten Anstrengungen gemacht hatte, um durch Kanalisation und Beschaffung eines reinen, vorzüglichen Trinkwassers ihre Stadt zu sanieren, wich der Typhus aus den Münchner Spitälern in wahrhaft erstaunlicher Weise.
Die Anerkennung solcher Verdienste ließ nicht auf sich warten. Schon im Jahre 1865 hatte Pettenkofer die Genugthuung, daß an den bayrischen Universitäten Lehrstühle für Hygieine errichtet wurden. Andere Hochschulen folgten. Im Jahre 1872 erhielt Pettenkofer einen höchst ehrenvollen Ruf an die Wiener Universität, wo er ein eigenes hygieinisches Institut errichten sollte. Die Lockung war glänzend. Als aber die bayrische Regierung, um den Gelehrten zu halten, fragte, welche Bedingungen er stellte, um in München zu bleiben, forderte er für sich selbst nichts, nur die Mittel zur Errichtung eines hygieinischen Instituts. Diese Mittel wurden gewährt, und Pettenkofer blieb. Das Institut ist seit 1878 in Betrieb und hat seitdem schon oft als Muster für die Einrichtung von ähnlichen Instituten an anderen Universitäten gedient.
Eine Reihe von städtischen und staatlichen Behörden wandte sich seitdem an Pettenkofers Autorität, wenn es galt, in wichtigen hygieinischen Fragen zu entscheiden. Das deutsche Reichsamt des Innern rief ihn l873 nach Berlin als Vorsitzenden der Cholerakommission des Reiches; und als in Berlin das Reichsgesundsheitsamt errichtet ward, sollte er dessen Direktion übernehmen. Er lehnte dankend auch diesen Ruf ab. Dagegen zögerte er nicht, wenn sich die Gelegenheit ergab, Studien über Epidemien an Ort und Stelle zu machen. So reiste er 1865 zu Cholerastudien nach Altenburg und Sachsen, 1868 nach Frankreich, Spanien und Malta – mit rücksichtslosem Opfermute die eigene Gesundheit preisgebend, um für die Gesundheit der ganzen Kulturwelt zu arbeiten.
Es ist unmöglich, in kleinem Raume alles zu nennen, was Pettenkofer geleistet und geschaffen hat. Ueber hundert teils größere, teils kleinere Schriften enthalten die Ergebnisse seiner Forschungen, zu denen sein rastloser Spürsinn ihn führte. Und wie entlegen waren mitunter die Gebiete, auf denen er sich bewegte! Da sehen wir ihn die Beschaffenheit der vom Menschen einzuatmenden Luft in geschlossenen Räumen auf experimentellem Wege untersuchen und prüfen, wie weit die Luft in solchen Räumen abgenutzt und auf welchen Wegen sie erneuert werden kann; wir sehen ihn den Wassergehalt von Wänden in Neubauten untersuchen, um die Bewohnbarkeit solcher Bauten zu beurteilen. Dann wieder beobachtet er die gesundheitlich wichtigen Eigenschaften der Kleiderstoffe; er erfindet einen großen kunstvollen Respirationsapparat, der die Beobachtung der vom Menschen ein- und ausgeatmeten Stoffe ermöglicht. Jahrelange Arbeiten, die er mit seinem Freunde Voit mittels dieses Apparates macht, führen zu den wertvollsten Ergebnissen. Dann sehen wir ihn wieder, wie er Schächte in den Boden der Städte graben läßt, um in dem felsigen oder kiesigen, sandigen oder lehmigen Grunde nach den kleinsten Feinden des Menschengeschlechts zu fahnden. Und während er jedes Kapitel der Hygieine entweder selbst begründet oder bereichert, findet er noch Zeit, ein berühmtes Verfahren zur Wiederauffrischung trüb gewordener und rissiger Oelbilder zu entdecken und auszubilden.
Ihm war eben jener Meisterblick gegeben, der das sieht, was andere nicht sehen, und jene Phantasie, die bei jedem Ereignis oder Gegenstand die verursachenden Gründe der Reihe nach dem prüfenden Verstande vorführt, damit er sie würdige. Diese schöpferische Phantasie im Zusammenwirken mit der reifsten Erfahrung und überlegender Beobachtung: sie sind das große Geheimnis der Erfolge Pettenkofers.
Als Knabe war er oft mit nackten Füßen hinter der Herde seines Vaters durch das braune Rohr des Donaumoors gelaufen. Erdrückend häuften sich späterhin von allen Seiten her die Ehrungen auf den anspruchslosen Mann. In Bayern ward er Geheimrat und Präsident der Akademie der Wissenschaften; er erhielt den Adelsstand und das Prädikat Excellenz; zahllose Akademien, wissenschaftliche Verbände und Institute wählten ihn zum Ehrenmitgliede; alle Dynasten überschütteten ihn mit dem funkelnden Regen ihrer Orden. Aber auch schwere Schicksalsschläge blieben ihm nicht erspart; er mußte den Verlust zweier Söhne und einer blühenden Tochter, endlich auch noch den seiner treuen Gattin Helene ertragen. Seine eiserne Natur trotzt heute noch den Stürmen des Alters.
Nun ist ein halbes Jahrhundert vergangen, seit er mit seinen bahnbrechenden Untersuchungen auf dem Gebiete der Hygieine begann. Was in diesem halben Jahrhundert die Gesundheitspflege an Hochschulen, in der Gesetzgebung, in den Staats- und Gemeindeverwaltungen geworden ist: das meiste davon ist Pettenkofers mächtiger Anregung zu verdanken.
Und wie der hochbetagte Gelehrte zeitlebens nicht aus Büchern längstgedachte Gedanken zusammenzutragen und zu sichten liebte, sondern mit spürender Phantasie, mit dem packenden Griffe des Experiments in die tausendfältig versponnenen Thatsachen und Ereignisse des Lebens eindrang; wie er hineinforschte in die Grundfesten unserer Häuser, in die über uns schwankende Luftsäule, in das fließende Wasser der Ströme und in die Glut unserer Herdfeuer, überall Feindliches und Freundliches scheidend: so steht er auch in seiner persönlichen Erscheinung vor uns, als eine markige kraftvolle Gestalt, ein greiser und furchtloser Pfadfinder und Entdecker, dessen scharfes Auge heute noch den ganzen Kreis des von ihm erschlossenen Wissenszweige beherrscht. Und – was schwerer wiegt als dieses – als ein ratender Freund und Wohlthäter des leidenden Menschengeschlechts!
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Alle Rechte vorbehalten.
Die Volkstribunen von Hamburg.
Es war im März 1685 – eine fieberhafte Unruhe hatte sich aller Bewohner der Elbe- und Alsterstadt bemächtigt, ein unerhörter Vorgang die Gemüter aufs tiefste erregt: einer der angesehensten Bürger der Stadt, der Kaufmann Hieronymus Snitger, ein eifriger Vorkämpfer für die Rechte des Volkes, war von lüneburgischen Reitern in Hamm vor den Thoren der Stadt aufgegriffen und fortgeschleppt worden.
Das war ein Hinundherwogen in den Straßen; Meister und Gesellen kamen frisch von der Arbeit, in Haus- und Arbeitskleidern, mit dem Schurzfell, ihre Werkzeuge in der Hand, manche nicht bloß mit Hammer und Schlägel, sondern auch mit Waffen gerüstet. Frauen lugten aus allen Fenstern, rufend und fragend, oder drängten sich in das Getümmel. Galt doch Snitger für den „Vater des Vaterlandes“, und es war, als ob der Stadt Hamburg die tüchtigste Wehr und Waffe entrissen worden wäre.
Vor dem Rathause versammelte sich das Volk. Mochten seine Bilder, Wappen und Statuen, seine gemalten Fenster im Sonnenschein des Vorfrühlings blitzen – die Stimmung des Volkes war trübe, gedrückt, verbittert.
Mit freudigem Zurufe wurde nur ein Mann begrüßt, der mit einem großen Gefolge erregter, lärmender Anhänger auf dem Marktplatze erschien, ein hochgewachsener Mann, hager, düstern Blickes, mit scharfgeschnittenen Gesichtszügen.
„Da kommt ja Koordt Jastram,“ sagte der Oberalte Möller zu seinem Nachbar, dem greisen Mohrmann, dessen glühendes Gesicht infolge der Aufregung einen Schlagfluß anzudrohen schien und der mit Fragen auf ihn einstürmte, „das ist ja Snitgers bester Freund, und da werden wir leicht erfahren, wie die Sachen stehen.“
Und er wandte sich mit einer Anfrage an Jastram, der im Ausschuß der Bürgerschaft das Amt des Kriegskommissars bekleidete.
Hastig und ungeduldig wie seine Art war, erwiderte Zastram: „In Hamm, dicht bei seinem Besitztum, haben sie Snitger in dem Wagen überfallen, worin er mit seiner jungen Frau saß, den Kutscher vom Bock geworfen, beide mit der Pistole bedroht, wenn sie sich regen und um Hilfe rufen würden. Und dann ging’s wahrscheinlich an die Elbe, um hinüber ins Lüneburgische zu gelangen. Die Schurken – doch wir kennen sie! Der Kutscher, der zur Stadt zurückfloh, hat sie uns beschrieben, Soldatengesindel, aus dem Dienst entlassene Offiziere, Kornetts, Sergeanten – und dahinter steckt der Resident des Kaisers, von Rondeck. Ich gehe aufs Rathaus, um dessen Verhaftung zu beantragen: der abgesetzte und flüchtige Bürgermeister Meurer hat die Hand mit im Spiel. Mir wollen sie ja auch an den Kragen: Snitger und ich – wir gelten für die Urheber aller Bosheit in dieser Stadt, weil wir getreulich die Gerechtsame derselben wahren; doch man muß aufräumen mit den langfingerigen Hansen, die Stunde dazu hat geschlagen.“
„Aber Snitger, unser Snitger,“ rief der Oberalte, und die Bürger, die mit besorgten Mienen umherstanden, stimmten ein, „wird er denn bald wieder freikommen?“
„Das laßt meine Sorge sein – schon sind die reitenden Diener aus dem Steinthor galoppiert, mit ihnen Schweder von Brüllen, Snitgers Neffe. Ein Preis von tausend Thalern ist der Mannschaft ausgesetzt, welche Snitger lebendig wiederbringt. Die Elbübergänge werden bewacht – unsere Musketiere patrouillieren die Elbe entlang. Wir werden den Raubgesellen ihre Beute abjagen – zweifelt nicht!“
Darauf begab sich Jastram in den Ratssaal, um dort im Namen der Dreißiger zu sprechen, eines Ausschusses aus der Bürgerschaft und den Oberalten, dessen Macht in den jetzigen bedrohlichen Zeitläufen dem Rat über den Kopf zu wachsen drohte. Die Ratsherren waren einstimmig in der Verurteilung der schnöden Gewaltthat; mancher hegte Furcht, des stillen Einverständnisses mit den Thätern beschuldigt zu werden, und schrie um so lauter gegen sie. Der Anhang des vertriebenen Bürgermeisters Meurer war noch groß im Rat und daß Snitger niemals nach Hamburg zurückkehren möge, das gehörte zu den frommen Wünschen, die unter dem Beichtsiegel nicht verhehlt worden wären.
„Dahin ist es gekommen,“ rief Jastram, mit der nervigen Faust auf den Ratstisch schlagend, „niemand ist mehr seines Lebens sicher – gedungene Banditen verbergen sich in unsern Mauern und kriechen hervor zu schurkischer That. Warum das alles? Weil der Rat hier zwei Gesichter hat, mit dem einen den Bürgern zulächelt, wenn sie die Freiheit der Stadt vertreten, mit dem andern nach dem Kaiser und dem Lüneburger schielt! Da war der Bürgermeister Meurer doch noch ein ganzer Mann. Festnageln wollt’ er dies Hamburg an Kaiser und Reich; er glaubte an diese Herrlichkeit, die von den Franzosen und Türken in Fetzen zerrissen wird, während die Fürsten sich in selbständigen Bündnissen von dem Reiche loslösen; er glaubte daran, und wenn ein güldenes Gnadenkettlein für ihn abfiel, er hätte sich damit nicht erdrosselt. Doch er wußte, was er wollte – er hat es geduldet, daß des Kaisers Strafmandate an Rathaus und Börse angeschlagen wurden, er hat den Receß mit dem Fürsten Windischgrätz, der sich hier als prunkvoller kaiserlicher Satrap aufspielte, mit all den 71 Punkten durchgesetzt – und die Bürger ließen sich über das Ohr hauen; er hat insgeheim mit den Kaiserlichen sich verschworen – die Briefe sind ja in unsere Hände gefallen! Wir haben ihn abgesetzt, er ist flüchtig geworden und hat seinen Eid gebrochen. Das mag ihm der Himmel anschreiben und wir werden’s thun, wenn wir ihn einmal packen; aber solche Eide bricht man, solange die Welt steht – und kann dabei ein ganzer und großer Mann sein!“
Ein Murren über die Gottlosigkeit des Volksmannes ging durch die Ratsversammlung; doch Jastram fuhr unbeirrt fort: „Ich weiß, Meurers Geist spukt noch bei euch!“
Abermaliges Murren – einige sprangen mit drohenden Gebärden gegen den verwegenen Sprecher auf, doch Jastram sagte mit verächtlicher Handbewegung: „Laßt es gut sein, würdige Herren! Ihr wachst doch nicht, wenn ihr euch auch auf die Zehen stellt! Der Meurer sitzt im Lüneburgischen, daher der ganze Jammer; der Herzog ist entrüstet, weil wir seine Räte bei der letzten Gesandtschaft nicht mit dem nötigen Respekt behandelt haben; er hat unsere Waren mit Beschlag belegt, unsere Briefe erbrechen, unsere durchreisenden Kaufleute verhaften lassen – und jetzt – ein räuberischer Anfall vor den Thoren unserer Stadt! Da gilt es, mit dem eisernen Besen alle fortzufegen, die unsere Gerechtsame kränken. Was Kaiser und Reich – wir sind eine freie Stadt – zum Teufel mit allen Abmachungen und Recessen, die uns die Hände binden! Kein Kaiser soll den Verbrecher schützen, der sich an unsern Bürgern vergreift – auch den Rondeck nicht! Ihr ruft: ‚ein Gesandter‘, ihr schreit: ‚Völkerrecht!‘ Das Recht des Volkes ist heiliger als alles Völkerrecht.“
Doch auch der gemäßigte Bürgermeister Schlüter widersprach:
„Und wenn wir uns auch vor des Kaisers Zorn nicht fürchteten, wir würden verurteilt werden in deutschen Landen von allen, welche das gute Recht kennen und achten. Gesandte sind unantastbar.“
„Nun,“ rief Jastram aufbrausend, „wenn ihr denn glaubt, man könne Politik treiben wie weißgekleidete Mädchen, die nirgends anstoßen wollen vor Furcht, es könne ein böser Fleck hängen bleiben – meinetwegen! Doch dann stellt dem Residenten wenigstens eine Wache vor die Thüre, damit er nicht entkommt. Kann man ihn nicht packen als den Hauptschuldigen: er ist wenigstens der Hauptzeuge – und den dürfen wir nicht freigeben!“
Darüber entspann sich lebhafte Beratung. Die Mehrzahl der Ratsherren war geneigt, dem Vorschlag Jastrams beizutretcn.
Da trat ein Dragonerkapitän säbelklirrend in den Saal und flüsterte dem Bürgermeister etwas ins Ohr.
[857]
[858] Resident Rondeck hat die Stadt verlassen!
Der Bürgermeister teilte es der Versammlung mit.
„Während wir beraten, handeln die andern“, rief Jastram vorwurfsvoll, „nun seht zu, wie ihr das aufgeregte Volk beruhigt! Hätten wir den Rondeck festgehalten – man hätte wenigstens unsern guten Willen gesehen. Jetzt geht’s euch an die Perücken, würdige Herren!“
Der Abend glomm indes durch die bunten Fensterscheiben des Rathauses; bei der drohenden äußeren und inneren Gefahr beschloß der Rat, die Nacht hindurch Sitzung zu halten – und bald fielen die Lichter der angezündeten Lampen auf die bekümmerten, faltenreichen Gesichter.
Ganz Hamburg war nun im Fieber und schlummerlos; heftige Windstöße fuhren durch die Luft, rüttelten an den alten Patrizierhäusern und schaukelten die kupfernen Laternen mit den erst seit kurzem eingeführten Straßenleuchtern; der Mond warf durch zerrissenes Gewölk seinen rasch wieder verdunkelten Lichtstreifen auf das breite Alsterbecken und die masten- und flaggenreiche Elbe. In den Hafengassen drängten sich die Schiffsleute, die Barken- und Schonerführer und sprachen tapfer in den Matrosenschenken dem Branntwein zu; dann zeterten sie auf der Straße gegen den Rat; in den Brauhäusern saßen die zünftigen Bürger beratend beisammen und mancher Faustschlag erdröhnte auf den Tischen. Spät am Abend noch waren Trommler durch die Straßen gezogen, begleitet von einer bunten, lärmenden Volksmenge; sie trommelten den Rittmeister Hertwig aus, einen der Entführer Snitgers, auf dessen Haupt ein Preis von hundert Thalern gesetzt war. Lichter brannten in allen Häusern und wanderten hin und her. Die Soldaten der Nachtwache mit ihren siebzehn Schuh langen Spießen, in ihren „unsträflich gemachten“ Rüstungen hatten diesmal das Zusehen und beteiligten sich an den erregten Gesprächen der Bürger, die in Gruppen beisammen standen, statt für die Nachtruhe zu sorgen und die Störenfriede in die Häuser zu jagen. Ueber die Wälle aber, vom Millernthor zum Dammthor, vom Dammthor zum Steinthor eilte der Kriegskommissar Koordt Jastram, sprach bei den Wachen vor und musterte sorgsam ihren Stand, denn es lag viel Unheil und Kriegsgefahr in der Luft.
Der anbrechende Morgen zeigte ein freundlich Gesicht – und schon in der Dämmerung hatten sich die Straßen gefüllt. Noch keine Nachricht von Snitger – die Erbitterung wuchs; man zeigte schon auf die Häuser der Landesfeinde, die man niederreißen müsse. Große Massen wälzten sich nach dem Steinthor. Dorthin mußte die erste Kunde gelangen, ob es den Nachreitenden gelungen war, die Räuber einzuholen.
Die Thore aber blieben geschlossen – und Jastram hatte Mühe, die ungestüme Volksmenge am Steinthor im Zaum zu halten. Die Sonne stieg höher, die Ungeduld der Menge wuchs – schon mußte Jastram fürchten, daß sie, in die Stadt zurückstauend, Verwüstung anrichten und Unheil bringen würde über alle, an deren Schuld sie glaubte.
Da dröhnte Hufschlag draußen vor der Brücke; man kannte den Reiter, der auf atemlosem Roß angesprengt kam, und öffnete ihm das Thor: es war Schweder von Brüllen.
„Snitger ist befreit,“ rief er, sich den Schweiß abtrocknend – und das hallte mit tausendfachem Echo weit stadteinwärts. Die aber am nächsten standen, erfuhren die Kunde, welche der Reiter noch stockend mit sparsamem Atem vorbrachte: „Sturmschnell ging’s auf die wilde Jagd, wir hatten uns mit den Reitern verstärkt, welche der Hammer Vogt uns stellte – wir konnten die Spuren der Räuber verfolgen auf allen ihren Zickzacklinien. Sie hatten inzwischen den Landungsplatz der Artlenburger Fähre an der Elbe erreicht – da hofften sie, bald ihren Raub auf einer Lüneburger Festung zu verbergen, wo es Herrn Snitger gegangen wäre wie einst dem Lübecker Wullenweber – man hätte ihm auf der Folter Geständnisse abgepreßt, ihn gemartert und gerichtet; doch der Himmel hatte ein Einsehen. Die Artlenburger Fähre, die am jenseitigen Ufer der Elbe lag, ging nicht bei Nacht und regte sich nicht, trotz aller Zurufe. In einem naheliegenden Armenhäuschen wurden die Gefangenen untergebracht. Fluchend und schimpfend ging der Rittmeister hin und her, der Kornett von Gehlen, ein sauberer Bursche, verhöhnte Snitger und führte unziemliche Reden gegenüber seiner Frau, so daß sie Thränen vergoß und ihr die Schamröte in die Wangen stieg. Mit dem ersten Morgengrauen kam die Fähre herüber; der Rittmeister mahnte, die Pferde zu besteigen; der Wagen rasselte eben schwer über die Bohlen – da wie der Blitz kamen wir den Berg herunter – Knall auf Knall, der Rittmeister verfehlte mich – ich schlug ihm mit der Pistole ins Gesicht und meine Reiter faßten ihn. Nach kurzem Kampfe wurden alle bewältigt – Snitger ist frei, er weilt noch mit seiner Frau in Bergedorf; doch in einigen Stunden kommt er nach der Stadt.“
Das war ein grenzenloser Jubel, der sich von Straße zu Straße fortpflanzte; nun regte sich alles, den Heimkehrenden einen festlichen Empfang zu bereiten. Könige und Fürsten hatten Hamburg besucht im Laufe des Jahrhunderts, aber noch keinem war solcher Empfang zu teil geworden.
Von dem Rathausplatz bis zur Grenze des Hamburger Gebietes Kopf an Kopf, alt und jung, Weiber und Männer, Vornehme und Geringe, bis hinauf zu den Firsten der Dächer, den Zinnen der Mauern, den Wipfeln der Bäume. Aus den Turmluken und Fenstern wehten Gewerks- und Schiffsflaggen; Freudenschüsse ertönten und alle Glocken läuteten. Mit lautem Jubelruf wurden die Geretteten begrüßt, Zuckerwerk und Südfrüchte, Lorber- und Myrtenkränze ihnen in den Wagen geworfen, Wimpel und seidene Bänder daran geheftet, und ringsum ertönte der Ruf: „Heil dem Vater des Vaterlandes!“
Jeronimo Snitger winkte abwehrend zur Rechten und zur Linken; er hatte solchen Triumph nicht ersehnt; zu unverdient erschien ihm diese Huldigung; im stillen fürchtete er, daß auf so maßloses Glück ein böser Rückschlag folgen werde. Er hatte etwas freundlich Leutseliges, Gewinnendes in seinem ganzen Wesen; seine Herzlichkeit entzückte das Volk, für dessen Rechte er stets mit Wärme eingetreten war. Er war in Spanien geboren, wo sein Vater längere Zeit seßhaft gewesen, und hatte auch dort seinen Vornamen Jeronimo erhalten; in der Welt war er viel herumgekommen auf Geschäftsreisen, als ein angesehener Kaufmann mit weitreichenden Verbindungen; selbst wohlhabend, ja vermögend, hatte er doch nie die Partei der Reichen genommen, sondern war stets ein Anwalt der armen Leute gewesen. Sein großes, sanftes Auge wandte er bisweilen seiner jungen Frau zu und drückte ihr herzlich die Hand – ihr gönnte er alle die Ehren, den schönen Triumph nach überstandenem Herzeleid. Und die strahlend hübsche Katharina war heute ganz Sonnenschein; sie dankte mit Kußhand und Kopfnicken. Solch ein Glück hatte sie nicht geträumt, als sie vor kurzem ihre Hand dem braven stattlichen Manne reichte.
Der Rat empfing Snitger und seine Frau feierlich mit herzlichem Glückwunsch; das Volk geleitete sie nach Hause, ihnen Schutz gelobend bei künftigen Fährlichkeiten. Hohe Freudenfeuer durchleuchteten des Nachts die Gassen; das Volk tanzte fröhlich um dieselben beim Klange der Musik; alle Fenster waren erleuchtet; ganz Hamburg schwamm in einem Lichtmeer: es war ein seltenes Freudenfest.
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Einige Zeit nach diesem Triumphzug war Snitger in seinem Garten in Hamm mit Hacke und Spaten beschäftigt, die Erde für neue Anpflanzungen aufzugraben. Seine Gattin trat hinzu, als er gerade eine Ruhepause machte; beide erfreuten sich an dem üppigen Tulpenflor, den Snitger durch seine Handelsverbindungen mit Holland erhalten hatte. Katharina schmiegte sich liebkosend an ihn und sagte dann mit der Herzenswärme, die in ihrem Wesen lag:
„Sieh, lieber Mann – wie schön ist’s bei unseren Blumen, so friedvoll alles, und im Schatten dieser Linden ist ein freundlich Ruheplätzchen, wie sich’s schöner nicht denken läßt! O zieh’ dich doch hier aufs Land zurück, laß das ganze städtische Treiben im Stich! Dort im Armenhäuschen an der Elbe haben wir ja in jener entsetzlichen Nacht darüber nachdenken können, wohin es führt!“
„Es ist unmöglich! Ich bin Mitglied der Dreißiger, ich muß für das Wohl der Stadt sorgen; man glaubt an mich, man vertraut mir in diesen schwierigen Zeiten. Ich habe vieles begonnen, was ich zu Ende führen muß.“
„Ueberlaß doch das dem Jastram! Dem ist nur wohl, wenn alles drunter und drüber geht; glaube mir’s, das ist kein Mann [859] für dich! Und wenn etwas mir unsere junge Ehe verbittert, so ist es diese Freundschaft. Er ist wild und grausam und hat es durchgesetzt, daß unsere Entführer ihr Haupt auf den Block legen mußten. So häßliche Leute diese Soldknechte waren – man hätte doch mit ihnen ein christlich Erbarmen haben müssen. Und auch sonst hetzt er fortwährend zum Krieg drinnen und draußen; er kommt mir vor wie der Klöppel einer Sturmglocke, ich aber höre noch immer unsere Hochzeitsglocken läuten, die uns ein friedlich Glück versprachen.“
Snitger, auf den Spaten gestützt, sah auf sein Weib mit fast andächtigem Blick, als wäre sie in der That eine Botin des Friedens in dieser von Kämpfen arg zerrütteten Welt.
„Ich wäre am liebsten,“ sagte er, „ein unter Blumen wandelnder Weiser, wie jene frommen Männer von Hindostan, welche in den Kelchen der Lotosblumen die Wiege ihrer Götter sehn; oft scheint es mir sündhaft, zu zerstören, was lebt und atmet, und ich gönne jedem Wesen seine Art und sein Recht; doch hier ist nichts als Kampf und Notwehr ringsum und wer das Gute will, muß zertreten, was ihm feindlich ist; und unser friedliches Heim, wo wir so glücklich sein könnten, wird umspannt von einem andern größeren Heim, der Vaterstadt; da gilt’s zu sorgen für die vielen, die Hilflosen zu schirmen, dem Unrecht zu wehren; da sind die Stürme zu Hause und die Unwetter und da muß der Mann seine Kraft bewähren und den tödlichen Blitz nicht fürchten. Ja, liebe Käthe – glücklich bin ich, daß ich bei dir eine Zufluchtstätte finde, wo ich rasten kann, wenn ich müde und zerschlagen und oft lahm in meiner Lieb’ und meinem Glauben an den Herd des eignen Hauses flüchte.“
Eine Thräne glänzte im Auge der Hausfrau: sie wollte ja nichts als sein Glück! So lebte sie stets still zu Hause, mit Nähen und Spitzenanfertigen beschäftigt, besuchte nicht die Lustbarkeiten, die damals im Schwang waren, putzte sich nicht aus wie die üppigen Ratsdamen mit Sammet und Taft, Gold und Silber. Und wie einfach war nicht ihre Hochzeit gewesen, auf ihren Wunsch, obschon Snitger reicher war als die Graduierten, die mit ihren Aemtern und Würden protzten, und auch sie eine stattliche Mitgift hatte. Nur ein kleiner Kreis von Gästen war zur Hochzeit versammelt, obschon eine Verordnung des Rates doch 240 erlaubte, eine Zahl, die sonst von den prahlerischen Hansen oft überschritten worden war.
Ehe Käthe noch einmal ihrem Gatten sagen konnte, was sie auf dem Herzen hatte, knirschte der Kies unter den Tritten eines Gastes und das düstere Gesicht Jastrams zeigte sich hinter den Taxusbüschen. Frau Snitger ging seiner Begrüßung aus dem Wege; sie konnte ihm jetzt kein freundlich Gesicht zeigen; er war ihr gerade jetzt zuwider wie kein zweiter, und heucheln konnte sie nicht.
Koordt Jastram kam in gewohnter Hast; ihn kümmerte es nicht, daß er den Blumenflor auf den Beeten niedertrat, um rascher zu Snitger zu gelangen. „Die Lüneburger haben gesiegt – Gott verdamme sie! Seitdem wir ihnen den Fang abgejagt haben, ist der Herzog ungnädiger als je, und weil wir seine Gesandten damals despektierlich behandelt, weil wir den Meurer abgesetzt haben, der drüben in ihrem Lager spukt, weil wir die Räuber gerichtet, die zu seinem Nutz und Frommen geraubt, schickt er seine Truppen in die Vierlande und auf die Elbinsel und deckt den Friedensbruch mit des Kaisers Majestät, die zu allem herhalten muß! Das weißt du ja, aber man muß dir’s ins Gedächtnis zurückrufen; denn du bist sanft wie ein Lämmlein, wo es gilt, den Feinden wie ein brüllender Löwe entgegenzutreten. Doch was du nicht weißt: die Lüneburger haben den Moorwerder erobert; Oberst Meinecke hat sich überraschen lassen! Vors Kriegsgericht mit ihm!“
„Ein Fehler in der Kriegsführung –“
„Ist ein Verbrechen!“ rief Jastram, dem Freunde ins Wort fallend; „mit dem Schrecken müssen wir herrschen; denn überall lauert der Verrat; wir sind in einem verzweifelten Kampfe begriffen.“
„Das hab’ ich mir anders gedacht,“ sagte Snitger nachdenklich, „ich wollte der freie Bürger einer stolzen Stadt sein, in deren Ratschlüsse sie nicht alle hineinreden, nach der sie nicht alle die Hände ausstrecken dürfen. Und Meurer wollte unser freies Hamburg dem Kaiser in die Tasche praktizieren! Deshalb stand ich gegen ihn auf. Denn was hilft uns Kaiser und Reich? Was sind sie den Fremden draußen jenseit der Meere? Sie kennen nur Hamburg und seine Flagge. Kein Kaiser schützt uns vor den Piraten; wir selber säubern die Meere. Fest ragt die dreitürmige Burg in unserem Wappen, und das wilde Getier in dem Wappen der Fürsten mag in seinen Käfigen bleiben. Stolz wehn die Wimpel und Segel unserer Seeherrschaft in allen Meeren; sturmfest und wetterfest sind unsere Seeleute – was soll uns das seekranke deutsche Reich? Wir wollen selber bestimmen, was uns notthut, uns selbst regieren nach eigenem Gewissen, ohne Vermerk und Verbesserung von draußen und freche Strafandrohung – eine freie Stadt, unantastbar, ein Hort des Handels im Norden, jeder Bürger ein König! Und daß sie alle uns das neiden und hindern sollten, die Nahen und die Fernen – das hätt’ ich nicht geglaubt!“
„Weil dies aber so ist,“ versetzte Jastram, „so gilt es, jeden Vorteil zu nützen und gelegentlich den einen Bedränger gegen den andern auszuspielen. Wir brauchen einen Rückhalt gegen Kaiser und Reich und die Lüneburger. Der Kurfürst von Brandenburg ist ein wackerer und hochgesinnter Herr; aber er will sein Land und seinen Namen groß und herrlich machen. Seine Diplomaten vermitteln zu unsern Gunsten; doch er will’s mit den andern Reichsfürsten und auch mit dem Kaiser nicht verderben; darum ist er zaghaft und vorsichtig und dabei auch auf seinen Vorteil bedacht; denn er hofft auf einen günstigen Handelsvertrag. Es giebt nur eine Macht, die unsere Rechte energisch schützen will –“
„Du meinst – den dänischen König?“
„Ja, unsere Unabhängigkeit wäre ihm willkommen; er würde in einer freien Stadt Hamburg einen sehr erwünschten Bundesgenossen sehn; da hörten des deutschen Reichs Chikanen auf und blühen würde Handel und Verkehr zwischen Sund und Belt und unserer Elbe. Ich habe eben wieder mit dem Residenten Paulli verhandelt und ihn gebeten, zu dir herauszukommen – natürlich durchs Seitenpförtchen; denn solche Besuche dürfen nicht an die große Glocke gehängt werden.“
„Jastram,“ sagte Snitger, den warnenden Finger erhebend, „daß du nicht Staatsangelegenheiten und Herzenssachen vermengst! Die schöne Jngeborg, des Residenten Tochter, hat dir es angethan.“
„Sie liebt mich, den älteren Mann, und ich bin glücklich durch diese Liebe; sie ist ein feurig Mädchen, für Großes empfänglich, und sie glaubt an den Sieg unserer guten Sache.“
„Wir müssen genau prüfen und erwägen,“ versetzte Snitger, „ich um so mehr, als Dänemark bei dir einen zu wichtigen Stein im Brette hat: eine Dame, eine Königin! Doch auch mir erscheint es vorteilhaft, mit den Dänen Hand in Hand zu gehn.“
Inzwischen regte sich das im Laubwerk versteckte Gartenpförtchen und gleich darauf erschien der dänische Resident Paulli bei den Hamburgern.
Paulli war ein feiner Herr mit höfischen Manieren, einer Denkerstirn und einem scharf ausgeprägten Profil. Er nahm mit Jastram in der Laube Platz, und Snitger sorgte für feurigen spanischen Wein; ein reiches Lager von Malaga, das Erbe seines Vaters, füllte seinen Keller.
„Solch ein trautes Plätzchen im Grünen,“ sagte Paulli, sich behaglich die Hände reibend, „das fehlt uns in der Stadt, und wir Diplomaten können nicht aufs Land gehen; denn die königlichen Ordres können uns nicht nachlaufen und verlangen rasche Erledigung, zumal in so bewegten Zeitläufen. Die Lüneburger regen sich ja, wie ich höre.“
„Und haben,“ rief Jastram, „leider! einen kriegerischen Erfolg gehabt.“
„Und wenn sie weiter vorrücken, da geht’s der guten Stadt Hamburg an Hals und Kragen,“ sagte Paulli, „und auch den Dreißigern, denn die haben vor allem das Heft in Händen, und besonders auch hier meinen guten Freunden, auf deren Wohl ich jetzt trinke.“ Und über das Glas hinüber den beiden mit freundlichem Augengruß zuwinkend, fuhr er fort: „Mein König hat stets das Wohl eurer Stadt im Auge; wir wollen nicht, daß ihre Gerechtsamen gekränkt werden; die Meurerischen wollen die Gewalt einigen wenigen in die Hände spielen, die Bürgerschaft und ihre Aemter auflösen, eine dem Kaiser und dem Reichshofrat dienstbare Behörde schaffen. Wir aber halten’s mit der Bürgerfreiheit; Wir wünschen nicht, daß Fremde nach ihrem Gefallen die Commercia [860] der Stadt hemmen, der Bürgerschaft wohlhergebrachte Freiheiten kränken und sich zu ihren Obern und Richtern aufwerfen.“
„In der That,“ sagte Snitger, „Hamburg hat sich nie besser gestanden als in Freundschaft mit dem Hause Holstein; der Kaiser aber strebt nach dem Umsturz der Verfassung und der Privilegien.“
„Der dänische König,“ fügte Jastram hinzu, „ist der natürliche Schiedsrichter des Nordens; er hat uns im Pinneberger Vergleich unsere Neutralität, unseren Kommerz, unsere hergebrachten Rechte und Freiheiten gewährleistet.“
„Und steht dafür ein zu jeder Zeit,“ versetzte Paulli, und die Gläser klangen wieder fröhlich zusammen.
Jetzt nahm der dänische Geschäftsträger eine besonders wohlwollende Miene an, wie ein Preisrichter, der eine Prämie oder eine Belobigung erteilt, und zog zwei wohlversiegelte Dokumente aus der Tasche.
„Ich freue mich, für des Königs Freundschaft und guten Willen einen greifbaren Beweis erbringen zu können. Bei den bösen Anzettelungen gegen die besten Bürger Hamburgs stellt ihnen unser Herr und König hiermit zwei Schutzbriefe aus und hält damit seine mächtige Hand über sie.“
Paulli sah die beiden Volksführer prüfend an, doch sie griffen nicht freudig zu, wie er hoffte: sie zögerten und ihre Mienen verdüsterten sich.
„Viel Dank dem König für seine Gnade,“ sagte dann Snitger, „doch zunächst schützt Hamburg seine Bürger selbst und wir würden in große Fährlichkeiten kommen und man würde sagen, daß uns des Königs Gunst mehr gezeichnet als ausgezeichnet hat.“
„Viel Dank,“ sagte auch Jastram in seiner kurz angebundenen Weise, „doch wir sind noch nicht bankerott.“
„Für später dann,“ sagte Paulli mißmutig, indem er die Dokumente zusammenrollte, „doch daß ihr von den Lüneburgern arger Dinge gewärtig sein müßt, das habt ihr ja wohl erfahren; ich glaube, Herrn Snitger wird es nicht wohl zu mute gewesen sein, als er da gefangen im Armenhäuschen an der Fähre saß.“
Dann aber leerte Paulli wohlgefällig sein Glas und sagte mit schadenfrohem Lächeln: „Und auch die Herren Diplomaten von Celle-Lüneburg gehen nicht gerade fein säuberlich zu Werke – haha, davon wissen ja eure Herren Deputierten zu erzählen, die nach Wien gegangen sind, um die Sache beim Kaiser ins reine zu bringen. Mein liebwerter Kollege Mahrenholz, der beim Reichshofrat den Lüneburger Herzog vertritt, hatte ja kaum vernommen, daß eure Deputierten in Wien eintreffen würden, als er ihnen in Leopoldstadt entgegenritt mit vier Dienern, welche alle spanische Rohre trugen, und dann durch die Fenster der Karosse auf eure Abgesandten losschlug, während seine Diener die Bedienten derselben durchprügelten. Kaum mit dem blauen Auge sind die Herren davongekommen, und es wäre noch schlimmer abgelaufen, wenn das Volk sich nicht dazwischen gedrängt hätte. Das müssen wir Auswärtigen allerdings sagen, kunterbunt genug geht es im deutschen Reiche zu, und wir Diplomaten könnten etwas lernen, wie man seine Sache mit schlagenden Beweisen führt.“
Rat Paulli rieb sich vergnügt die Hände, dann nahm er wieder den Faden der Verhandlung auf:
„Seht, Freunde, das beste Mittel, die Ruhe der Stadt gegen schädliches Parteiwesen und fremde Intriguen zu sichern und ihr unnütze Ausgaben für Befestigung und Rüstung zu sparen, bleibt doch immer, das gute Vernehmen mit Dänemark zu unterhalten und dessen Gefallen zu suchen. Wir delogieren euch die Lüneburger aus dem Moorwerder und aus den Vierlanden!“
„Wenn Ihr das thut,“ sagte Snitger, „seid Ihr unseres Dankes gewiß, noch mehr: wenn Ihr die früheren Privilegien wegen des Sundzolles, wie sie jetzt Schweden und Holland haben, unserer Stadt einräumen wollet!“
„Da läßt sich viel thun, wenn wir überhaupt Hand in Hand gehn, ich habe ja schon den Hamburger Kaufleuten beim König die Befreiung vom Glückstädter Zoll erwirkt!“
„Doch wir müssen erst bei den Dreißigern fragen,“ sagte Snitger, „wir sind nicht allein die Herren, wenn auch der Rat jetzt nach unserer Pfeife tanzen muß: wir müssen sorgfältig die Gemüter stimmen und vorbereiten, denn das Volk ist mißtrauisch auch gegen Dänemark.“
„Da seid ihr Herren ja die besten Bürgen unserer wohlmeinenden Gesinnung,“ versetzte Paulli, indem er aufbrach, „aber zögert nicht zu lang’, bis euch das Messer an der Kehle sitzt. Ihr würdet mir ein hochwillkommener Gast sein, Herr Snitger, auch setzt mein Weinkeller mich in die Lage, mich für Euren Malaga zu revanchieren. Freund Jastram ist schon lange heimisch bei mir und mein Hauswesen läßt nichts zu wünschen übrig – dafür sorgt meine Jngeborg – nicht wahr, mein alter Freund? Mein Wagen hält weitab von hier; ich muß mich zwischen den Gartenmauern dahinschleichen. Wir müssen eben auf Schleichwegen gehn, wir Diplomaten, denn das ist unseres Amtes.“
Und Paulli verabschiedete sich mit dem überlegenen Lächeln des Weltmannes, der gelegentlich auch sich selbst zu verspotten weiß – er steht ja zu hoch, als daß dies bei anderen verfangen könnte.
Zu Hause angekommen, fand er sein Mädchen, die hochgewachsene, blondgelockte Jngeborg, in peinlicher Besorgnis um den Erfolg seiner Bemühungen; sie hatte etwas von einer Walküre und erschrak nicht vor Kampf und Schlachtentod; aber wenn ein Zerwürfnis eintrat zwischen dem Vater und den Hamburgern – was sollte dann aus ihrer Liebe zu Jastram werden? Und sie liebte ihn heiß, diesen Volksmann; er hatte es ihr angethan mit seinem unerschrockenen Sinn, seinem wilden Feuer, seiner ganzen trotzigen unerbittlichen Männlichkeit. In seinem Wesen war leidenschaftliche Glut, und mit feuriger Erwiderung gab sie seinen Küssen und Umarmungen sich hin. Ihre Mutter war längst gestorben, dem Vater war ihre stürmische Neigung nicht fremd; doch er sprach kein Wort der Mißbilligung. Wenig gelegen wäre dem königlichen Rat zwar an einem Schwiegersohn wie Jastram gewesen, der aus den Kreisen des Hamburger Gewerbes hervorgegangen war. Ein Färber seines Zeichens, der früher mit Indigo, Blauholz und Cochenille, den damals aus den anderen Weltteilen herübergekommenen Farbstoffen, hantierte, war Jastram neuerdings durch Erbschaft ein vermögender Schiffsreeder geworden; doch Paulli sah ihm noch immer auf die Finger, ob dort nicht blaue und gelbe Farbstoffe haften geblieben. Für die Zukunft hoffte er den Emporkömmling schon zu beseitigen und auch von seiner Tochter wegzudrängen; jetzt war ihm die Liebe willkommen, die den Volksführer an sein Haus band. Er sah in seiner Tochter eine Delila und kümmerte sich nicht darum, was sie dabei empfand; sie war edlen und stolzen Sinnes und würde sich nicht wohlfühlen im Dunstkreis des gewöhnlichen Bürgertums. Selbst auf ein Verlobungsringlein wäre es ihm nicht angekommen, wenn man nur Fäden hindurchziehen konnte, die Hamburg und Dänemark verknüpften. Jastram stand überdies auf einem sehr gefährdeten Posten und war nichts weniger als ein feuersicherer Bräutigam – da konnte man blinder Lieb’ etwas zu gute halten und getrost das Ende abwarten.
Er beruhigte die Tochter, alles gehe aufs beste und sie würden bald einig werden. Doch Jngeborg harrte tagelang auf Jastrams Besuch; er hatte draußen in den Vierlanden zu thun oder vor dem Moorwerder und Billwerder nach dem Rechten zu sehn. Ihrer Ungeduld konnte sie nicht Herr werden: sie eilte oft mit ihrer Magd auf die Straße und fragte diesen oder jenen, besonders die bewaffneten Bürgerführer, nach dem Stand der Dinge. Was sie da hörte, war zerstreute Kunde, und sie mußte sich’s mühsam zusammensetzen; sie wagte sich sogar in die neu eingerichtete Kaffeeschenke an der Zollerbrücke, wo die Avise des Herrn Thomas von Wieringen auslagen; aber die waren so vorsichtig redigiert, daß das Neueste nur schüchtern kundgethan war. Ueber die Scharmützel mit den Lüneburgern schwiegen sie sich aus, und vergeblich suchte Jngeborg Jastrams Namen. Dann aber, wenn der Mond über das Alsterbecken sein Licht ergoß, glitt sie über die Silberfläche im Kahn dahin: das Rudern war ihre Lust, und wie schön träumte es sich nicht von dem Geliebten, wenn sie in den Duft der Ferne sah, der über den Waldwipfeln der Außenalster schwebte.
Endlich, eines Tages erschien Jastram wilderregt, wie fast immer in dieser Zeit, wo ein so gewagtes Würfelspiel um Hamburgs Glück und Ehre gespielt wurde.
„Wir haben mit Lüneburg verhandelt,“ sagte er, „und es wäre zum friedlichen Abschluß gekommen, wenn nicht wieder Meurer mit einem kaiserlichen Mandat dazwischen gefahren wäre. Da giebt’s keinen Frieden, ohne daß er wieder in sein Amt
[861][862] eingesetzt wird. Das wünscht der Rat im stillen, das wünschen die Vornehmen in der Stadt, doch die Dreißiger und das Volk hassen den Intriganten und Friedensbrecher. Wir aber sollen ausgeliefert werden als die Aufhetzer der Bürgerschaft, Snitger und ich: das verlangt Lüneburg und Celle, das verlangen die Herren in Wien, die den Meurer sogar zum Reichshofrat gemacht haben, zum Hohn für unsere Stadt und ihre Beschlüsse. Und jetzt hält er sich schadlos an unsern von den Lüneburgern mit Beschlag belegten Waren für seine von der Stadt eingezogenen Besitzungen.“
„Darf ich dir etwas beichten?“ fragte Jngeborg und sagte dann, als Jastram ihr freundlich zugenickt hatte: „Es thut mir weh, daß gerade Meurer euer Feind ist. Ich habe ihn oft gesehen und gesprochen; er ist ein stattlicher würdevoller Mann und wohl geeignet, das Haupt einer großen Stadt zu sein. Seine Rede hat schönen Klang und es ist ein großer Zug darin; er gewinnt und reißt fort – es fehlt ihm auch nicht an verständiger Erwägung. Solche Männer sollten auf Denksäulen stehn, er hat etwas von Erz und Marmor; doch den widrigen Zeitläufen konnte er nicht standhalten.“
„Weil es ihm an der Liebe zu seinem Volke fehlte,“ brauste Jastram auf, „er wollte nur die eigene Macht und Herrlichkeit, er wollte ein hoher Staatsbeamter werden – und wenn er ganz Hamburg hätte im Staub nachschleifen lassen von den kaiserlichen Karossen! Das Liedlein aber, das du von meinem Todfeind singst, will mir nicht sonderlich behagen; es klingt mir wie Mißlaut ins Ohr, doppelt mißlautend, denn der Mann gefällt dir – und das ist ja Frauenart – danach messen sie seinen Wert. Hüte dich, daß ich in meinem Erzfeind nicht meinen Nebenbuhler sehen muß!“
Da warf sich Jngeborg mit heißen Küssen an seine Brust: „Und wär’ er herrlich und schön vor allen Menschen – was ist er mir? Du bist mir alles!“
Und überflutet von dem blonden Gelock des schönen Mädchens, hatte Jastram ein so volles Liebes- und Lebensgefühl, daß er den grimmen Haß gegen den Verbannten und jede eifersüchtige Anwandlung vergaß.
„Wann werden wir uns endlich angehören?“ fragte Jngeborg.
„Wenn die Luft rein ist in Hamburg – ein freier Mann in einer freien Stadt wird sein herrlich Mädchen heimführen.“
In der Rosenlaube seines Gartens in Hamm saß Snitger mit seiner Katharina zusammen, die ihm die Sorgenfalten von der Stirn strich. Milder Abendschein lag auf dem schönen Rosenflor und vergoldete die silbern schimmernden Stämme der Hängebirken, die mit ihrem flüsternden Laubwerk in einem kleinen Rondell dicht vor der Laube standen. Finkenschlag tönte aus dem Gezweig, und der Pfingstvogel, der Pirol, sang sein schmetternd Lied in den Wipfeln.
„Wie freundlich, rosig, goldig ist alles ringsum,“ sagte Katharina seufzend, „und ihr habt keinen Frieden!“
„Der Friede da draußen ist auch nur Schein,“ versetzte Snitger nachdenklich. „Diese Finken, die so schön singen, verfolgen einander aufs feindlichste und zerbeißen sich. Als Knabe habe ich einmal ein zahmes Buchfinkenmännchen freilassen wollen und es in den Wald hingesetzt. Freudig hüpfte es in dem frischen Grün, sobald es aber seinen Lockton ertönen ließ, fielen aus allen Lüften die Finken über den Genossen her, um ihn zu zerfetzen. Daran muß ich jetzt oft denken. So ergeht es unserer guten Stadt Hamburg. Die Welt ist einmal ein großes Raubnest! Sieh doch unsere schönumblühte Laube, in welche die vollen Centifolien von rechts und links hereinnicken. Da oben hat eine Spinne ihr großes Netz ausgespannt, und schon zappeln die armen Gefangenen darin. Eine solche Spinne ist die Diplomatie, die hat uns jetzt von allen Seiten eingesponnen. Und wir Hamburger sind schlechte Diplomaten!“
„So laß doch die Hand davon,“ sagte Katharina mit einem Lächeln, das ihren Zügen einen lieblichen Ausdruck gab, „wir sind uns ja selbst genug. Dein Tagewerk ist der Handel, der will ja auch gepflegt sein – und abends haben wir ein holdselig Ausruhen hier im Garten.“
„Ich hoffe,“ sagte Snitger, „daß bald die Stunde schlägt, wo ich die Last der Aemter von mir schütteln kann; jetzt aber bin ich’s dem Vertrauen der Bürger schuldig, nicht zu wanken und zu weichen. Jetzt sieht’s so schlimm aus wie noch nie – das muß sich klären. Du hast ja ein kluges Köpfchen, Käthe, sich doch, wie die Dinge stehen! Mit den Lüneburgern ist’s ein Hinundher, Kämpfe, dann wieder Waffenstillstand und Verhandlungen. Der Rat zögert immer, und wenn wir, die Dreißiger, nicht auf dem Platze stünden und für die Bürgerschaft Einspruch erhöben, so wär’s schon längst zu einem schimpflichen Ende gekommen. Doch der Lüneburger ist unser schlimmster Feind, der am meisten der Stadt inneren Frieden bedroht. Seine Räte waren in der kaiserlichen Kommission, der wir damals die Wege wiesen; hinter ihnen lauert Meurer, und in der Tasche haben sie das kaiserliche Drohdekret, welches Sühne verlangt für die Aufhebung des Windischgrätzer Recesses, die Amtsentsetzung Meurers, das Abfangen der Relationen des Residenten Rondeck, die wir damals der Bürgerschaft vorlasen, und des Strafgerichts über unsere Entführer, Käthe.“
„O, das war grausam und hat mir sehr wehgethan!“
„Ich hatte nicht meine Hand im Spiele, doch Jastram war unerbittlich. ‚Krieg mit Lüneburg!‘ ist unsere Losung. Man will uns ja helfen: da bieten die Brandenburger uns ihre Reiter an, doch unsere jetzt ausgesogenen Marschlande haben kein Futter für sie, und sie wollen sich dann gut bezahlt machen mit allerlei Zollermäßigungen. Die Hannoveraner möchten zwischen uns und Lüneburg vermitteln; doch die stehen auf der Seite der Fürsten und des Reichs. Nur eine annehmbare Hilfe ist bereit – das ist die dänische. Da werden der Stadt Freiheiten und Gerechtsame geschützt, des Reiches Eingriffe zurückgewiesen, die Blüte unseres Handels durch Zugeständnisse gefördert – geht doch unser Handel mit dem dänischen Hand in Hand! Käthchen, wir sind schlichte Kaufleute, darum wissen wir auch, was uns Nutzen bringt!“
„Gebe Gott,“ sagte Käthchen, „daß diese Wirren enden zum Heil unserer Stadt und du endlich mir ganz zurückgegeben bist.“
Und so saßen sie zusammen wie ein junges Liebespaar und gingen noch lange im Mondschein zwischen den Rosen spazieren. Noch nie hatte Snitger ein so heißes Sehnen empfunden nach stiller Zurückgezogenheit, nach einem häuslichen Herd, der sicher war vor den Wetterschlägen, die draußen im Land umher zünden mochten.
Am nächsten Tage war Sitzung der Dreißiger, zu welcher Snitger in aller Frühe aufbrach. Die Dreißiger waren eine Macht geworden, gegen welche der Rat in Schatten treten mußte; sie vertraten die Bürgerschaft, doch befragten sie dieselbe selten; es war ein Sicherheits- und Wohlfahrtsausschuß – und Snitger und Jastram waren seine Seele.
Die Versammlung war in großer Erregung; der Rat riet dazu, den Wünschen Lüneburgs nachzugeben, da der Kaiser, die Kurfürsten und die auswärtigen Mächte darauf drängten. Darüber waren die Volksmänner entrüstet; wenn Lüneburg nicht nachgebe, müsse man Volk anwerben und in Feindes Land einrücken; die Sache müsse zu Ende; man habe die Dreißiger bisher weidlich genasführt. Wenn man erst die fremden Minister befragen solle, wie der Rat meint, so brauche man überhaupt keinen Rat mehr; man müsse annehmen, daß er im geheimen Bündnis mit Lüneburg stehe, wie er auch früher mit dem Hofe dort geliebäugelt habe. Der Rat möge dem Beschluß der Dreißiger zustimmen und die Sache nicht länger hinhalten.
Das war eine herbe Spannung, die sich nicht lösen wollte, und die feindselige Gärung der Parteien fand im stillen neue Nahrung. Sendboten der Kabinette, scheel angesehen von der Bürgerschaft, zogen durch die Thore der Stadt ein, um mit dem Rate zu verhandeln; dieser aber kam zu keinem Entschluß. Die Dreißiger nahmen eine immer drohendere Stellung ein; ihre Kriegskommissare hatten die bewaffnete Macht in der Hand; Jastram befehligte auf den Elbwerdern, Snitger in der Stadt, und wenn es zu Gewaltmaßregeln kam, waren die Stunden des Rates gezählt.
Da, an einem schwülen Augusttag erschien der Bürgermeister Schlüter selbst bei den Dreißigern. Er war keiner von den Meurerischen, ein unbefangener Herr, aber doch bestrebt, des Rates Ansehen zu wahren; er verlangte im Namen desselben, daß die Truppen von den Elbwerdern in die Stadt zurückgezogen würden, um so mehr, als der Obrist dort bezweifle, sich und die Reiter salvieren zu können. Stürmischer Widerspruch ertönte von allen Bänken. „Krieg mit Lüneburg!“ riefen die Vordersten.
[863] „Hört mich, Mitbürger,“ sagte Schlüter gelassen, „und dann entscheidet! Es droht ein Anschlag gegen unsere Stadt, und sollten auch die Zeichen trüglich sein – wir müssen uns auf alle Fälle sichern. Ich habe mannigfache Kunde von hier und dort – und was ich daraus schließen muß, ist ernster Art. Auf der Elbe geht etwas vor – es geschehen Ueberfahrten von Altona nach Grefenhof; dort wird von dänischen Offizieren ein Blockhaus mit Schanzen errichtet. Dänische Schiffe gehen nach Glückstadt, Schanzzeug und Granaten zu holen. In Othmarschen und Ottensen ist Belagerungszeug angekommen. Im Holsteinschen ist an 1800 Höfe Befehl erlassen worden, je einen Schanzarbeiter mit Gerät zu stellen; dänische Truppen ziehen an die Elbe und gegen Itzehoe; Dragoner zeigen sich bei Oldesloe. Vierzehnpfündige Kanonen mit Munition gingen nachts durchs Holsteinsche, niemand weiß wohin, und hinter Ottensen stecken sie ein Lager ab: all das muß gerechte Bedenken erregen und es gilt vor allem, die Stadt selbst zu sichern.“
Es trat eine Pause ein; alle gingen mit sich zu Rate, und es gab manche Frage- und Ausrufungszeichen in den Gesichtern. Der Nachbar flüsterte dem Nachbar zu; dann heftiges Mienen- und Gebärdenspiel. Der Bürgermeister blickte prüfend auf die Versammlung; er schien seiner Sache sicher zu sein; endlich würden der Rat und die Dreißiger zusammenstimmen.
Da rief Jastram, in der Mitte der Bürgerschaft, unter der Krone des Saales, wolle er sich henken lassen, wenn Dänemark Hamburg feindlich überziehe, und trete der Däne kriegerisch auf, so sei es nur zu gunsten der Stadt. Auch Snitger versicherte, es sei unmöglich, dergleichen hätten nur die Meurerischen ausgedacht. Da regte sich der alte Groll gegen die vornehmen Geschlechter, die stets im Rücken der Stadt für das abgesetzte Oberhaupt Ränke spannen, und mit großer Mehrheit wurde beschlossen, die Truppen auf den Werdern zu lassen zur Abwehr gegen Lüneburg und nicht in die Stadt zu ziehen.
Doch in diesen heißen Augusttagen lastete der dänische Alp auf allen Gemütern, und es schien, als ob der Hundsstern droben sie in Verwirrung brächte – es war ein Horchen und Lauschen überall; jede neue Kunde wurde aufgegriffen, weitergetragen, von der einen oder der andern Partei zu Nutz und Frommen gedeutet. Furcht und Zweifel sind zwei Schlangenköpfe, die stets einen langen Leib und Schwanz hinter sich haben, und so wuchs die Meurerische Partei und zeigte überall ihre Giftzähne.
Jastram aber stürzte in das Haus des dänischen Residenten. Jngeborg kam ihm liebevoll entgegen; doch finster drohend sah er sie an. Ein schreckhafter Argwohn regte sich in ihm – wenn die Gerüchte Wahres kündeten, so war sie ja nichts als eine hinterlistige Buhlerin. Doch nein, es konnte nicht sein – edle Offenheit lag ja in ihren Zügen, und ihre Seele kannte kein Arg. So grüßte er sie mit Kuß und Umarmung, teilte ihr in aller Kürze die bedrohlichen Gerüchte mit. Sie schrak zusammen, legte die Hand aufs Herz; allein es war nicht der Schreck des Schuldigen, es war die grenzenlose Angst, irgend ein Unerhörtes könne zwischen sie und ihr Glück treten. Dann schob er sie sanft beiseite und stürzte hastig in das Gemach des Diplomaten. Paulli bot ihm gelassen einen Stuhl an und eine Pfeife, hörte achselzuckend die Kunde von den merkwürdigen Dingen, die da im Holsteinischen vorgehen sollten, und sagte dann, sich die Hände reibend: „Wenn die Klatschbasen das große Wort haben, dann sieht’s schlecht aus um das Werk der Männer. Wenn die guten Hamburger Gespenster sehen, so mag man das ihnen nicht verargen; denn sie sind seit einiger Zeit im Fieber, werfen sich rechts und links auf ihrem Lager hin und her und finden doch keine Ruhe, bis man ihnen den Teufel an die Wand gemalt hat. Dann sehen sie seine Klauen und schaudern zurück davor. Ihr aber, Jastram, der Ihr ja seit langer Zeit wißt, daß Dänemark nur Gutes sinnt – Ihr solltet doch so thörichten Gerüchten nicht Gehör schenken, sondern der Bürgerschaft die Ohren verstopfen, wenn dergleichen durch die Luft fliegt. Wenn wir einige Truppen heranziehen, so geschieht’s doch nur, um euch, sobald ihr’s verlangt, gegen Lüneburg helfen zu können. Im Holsteinschen aber können wir marschieren lassen, soviel es uns gefällt, und die Truppen verlegen, je nach Bedarf – darüber braucht sich niemand ein graues Haar wachsen zu lassen.“
Das sagte Paulli mit vornehmer Haltung, im Gefühl seiner Amtswürde; so durfte der große Staat Dänemark sprechen mit der Handelsstadt Hamburg, deren Ländereien nicht über die Elbinseln hinausreichten. Dann schlug er aber einen warmherzigen Ton an, dem sich Jastram ganz gefangen gab; denn der wilde Volksmann war gemütlicher Regungen fähig. Und um so lieber glaubte er dem wohlmeinenden Diplomaten, als ja seines Lebens Glück davon abhing, daß er die Wahrheit sprach.
Jngeborg bemerkte mit Freude, daß der düstere Ausdruck aus Jastrams Zügen verschwunden war, als er aus dem Kabinett ihres Vaters heraustrat. Er näherte sich ihr zärtlich und herzlich.
„Das war ein böser Schatten, der auf unsern Weg fiel,“ sagte das Mädchen, „zeigen wir der Welt, daß wir zusammengehören. – Voll steht der Mond über dem Turm der Nikolaikirche und die Alster hat sein Spiegelbild erhascht und schaukelt es in ihren Wellen. Du weißt, wie leidenschaftlich gern ich rudere – ich bin ein Mädchen aus dem Land der alten Wikinger und auf dem Wasser zu Hause. Komm, Geliebter!“
Und bald glitt der Kahn, der beide trug, über die Silberfläche der Alster hin; über die Häusermassen ragten die Türme der Hauptkirchen in den noch nicht ganz verdunkelten Himmel – und von allen klang ein abendlich Geläute, den morgenden Ruhetag verkündend. Bisweilen überließ Jngeborg, des Ruderns müde, den Kahn dem Spiel der Wellen. Dann konnte Jastram glühende Küsse auf ihre Lippen drücken. Das geschah draußen, wo nur die verschwiegenen Bäume und keine neugierigen Stadtfenster auf die Alster hinabsahen.
Als sie, zurückfahrend, zu den belebteren Ufern gelangten, da erkannte dieser oder jener den gefeierten Volksmann.
„Es muß gut stehen um unsere Stadt,“ sagte der eine zum andern, „wenn Jastram mit seiner Liebsten solche Mondscheinfahrten macht,“ und getrösteter gingen sie nach Hause.
Doch die unberechenbare vulkanische Natur des Volkstribuns wollte noch ihr Recht; der hastige Wechsel seiner Stimmungen hatte noch einen stürmischen Ausbruch zur Folge. Sie waren aus dem Kahn getreten. Als Jngeborg so vor ihm stand in Silberschleiern mit den großen blauen Nixenaugen, da kam es über ihn wie eine Vision. „Und wenn es wäre – wenn es doch wäre – wenn du eine Wasserfee wärest mit dem feuchten Saum am Gewand –“ Jngeborg faltete flehend die Hände. „Wenn deine Küsse Verrat wären und mich hinabziehen wollten in die Tiefe! Doch nein, nein, es kann nicht sein! Das eine aber sage deinem Vater: wenn Dänemark Arges gegen uns im Schilde führt, so schließen wir Frieden mit Lüneburg und lassen den roten Hahn über Altona krähen.“
„Und wieder siehst du Gespenster – und so sollen wir scheiden?“
„Vergieb! vergieb!“ versetzte Jastram, „mein Blut, meine Sinne sind in Aufruhr! Bleibe die Meine, was kommen mag – und ich will’s gern tragen!“
Und nach einer innigen Umarmung im Vorgarten des Hauses, aus dessen Fenstern auf sie der Lichtschein fiel, der die Akten des fleißig arbeitenden Residenten erhellte, trennten sie sich.
Einige Tage vergingen, schwerer Nebel war aus den Niederungen aufgezogen und hüllte die Stadt in ein sackartig Gespinst. Straßen und Häuser waren wie vermummt – und auch in den Gemütern der Menschen herrschte eine unbehagliche Finsternis: unschlüssiges Hin- und Hertappen – nur der Rat und die Dreißiger traten sich immer schroffer gegenüber.
In einer stürmischen Sitzung der letzteren waren gerade die Gemüter aufs höchste erregt, als die Thürhüter eine Botschaft des dänischen Königs ankündigten. Sogleich trat tiefe Stille ein, dumpfes schwüles Schweigen – die Ahnung einer großen Entscheidung.
Da trat Paulli ein mit zwei Sekretären … Snitger, der seiner Bestürzung kaum Herr werden konnte, eilte ihm entgegen und hielt sich in seiner Nähe, wie um ihn zu schützen; Jastram saß totenblaß mit geballten Fäusten … warum wußte er von nichts? Was bedeutete der feierliche Aufzug? Wie im Krampf der Erwartung saß er da: er war bereit, dem Verräter den Dolch in das Herz zu bohren.
Mit geschäftsmäßiger Kühle erklärte Paulli, er komme als Gesandter Seiner Majestät und stehe unter dem Schutze des Völkerrechts, dann las er geruhig, wie man ein Protokoll verliest: „Seine Majestät, nachdem er, um seinen Rechten auf [864] Hamburg nichts zu vergeben, mit 14000 Mann und 2500 Reitern und Belagerungsgeschütz in das Lager von Ottensen eingerückt, verlangt die Erbhuldigung, die Stadtschlüssel, die Aufnahme einer Besatzung von 2000 Mann und die Zahlung von 400000 Mark und wird im Weigerungsfalle die Stadt mit Feuer und Schwert verwüsten lassen.“
Eine kleine, schwüle Pause … dann tönte es wie der Todesschrei eines getroffenen Tieres von den Bänken der Dreißiger, es war Jastrams Stimme – und Snitger, in maßloser Entrüstung, faßte den Rat Paulli und stieß ihn zur Thür hinaus.
„Alles bewaffnete Volk auf die Sternschanze,“ brüllte Jastram, „Kampf mit den Schurken, mit den Dänen bis aufs Messer!“
Snitger stand wie betäubt, das Haupt auf die Hände gestützt, in der Fensternische und starrte auf den Marktplatz hinab, wo es sich unheimlich zu regen begann; denn wie die Splitter einer platzenden Bombe hatten sich die Gerüchte von der Botschaft im Volk verbreitet und die neugierigen Gaffer ins Herz getroffen.
Die große Mehrheit der Dreißiger hatte auf Snitger und Jastram geschworen; sie kannten ihre Verhandlungen mit den Dänen; jetzt standen sie tiefbetroffen und wußten nicht, was sie davon denken sollten. Doch stürmisch regte sich jetzt die kleine, sonst stets unterliegende Partei der Meurerischen; mit lautem Gezeter machte sie ihrem Ingrimm Luft; gegen Snitger und Jastram erhoben sich geballte Fäuste und das Geschrei von Verrat erfüllte die Luft: „Reißt ihnen den Bürgermantel herunter, den Verrätern! Nieder mit den Volksverführern!“ erklang es drohend von der rechten Seite, wo der Anhang des Meurer, die Oberalten und die wenigen Patrizier, die seinerzeit in den Ausschuß gewählt worden waren, so lange unter dem Drucke der Mehrheit geseufzt hatten.
Da trat der Bürgermeister Schlüter, begleitet von zwei Ratsmännern, in den Saal. Auch dem Rat war die Botschaft mitgeteilt worden und in ihm war es zu schleuniger Beschlußfassung gekommen. Die Anträge der Lüneburger, der Hannoveraner, der Brandenburger, mit ihren Truppen die Stadt zu schützen, wurden angenommen; die jetzt verschlossenen Thore sollten ihnen weit aufgethan werden. Die Dreißiger hörten schweigend, was der Rat ihnen verkündete, fügten sich in das Unvermeidliche und gaben einmütig ihre Zustimmung.
Nicht lange währte es, so donnerten die Geschütze von der Sternschanze und die dänischen Kanonen erwiderten. Jastram kämpfte wie ein Verzweifelter in den vordersten Reihen der Verteidiger und half die dänischen Sturmkolonnen von den Wällen abwehren. Doch bald ward ihm und Snitger kundgethan, daß sie ihrer Aemter im Kriegsrat entsetzt seien, und so ward ihr Arm gelähmt, wo es die Verteidigung der Stadt galt. Doch die Bürger wehrten sich tapfer auch ohne ihre Führung; der Kanonendonner um Altona her, von dem die Fenster klirrten, hatte alles Schreckhafte verloren; denn immer von neuem kam die frohe Botschaft, daß die stürmenden Dänen zurückgeschlagen wurden.
Noch fürchtete man einen Volksaufstand, wenn man die Hand an Snitger und Jastram legte; man wartete, bis die fremden Hilfstruppen herein waren. Das war Trommelschlag und Trompetengeschmetter von morgens bis abends; bunte Fahnen und Fähnlein und allerlei Rüstungen und Waffen. Lustig wehten die Federn von den breitkrempigen Filzhüten der Offiziere; mit herausforderndem Wesen, auf den Lippen ein übermütiges Lachen, mit keckem Marschschritt und jubelnder Musik rückten die Lüneburger ein wie im Triumph, als hätten sie das trotzige Hamburg in den Staub geworfen, und hinter ihnen kamen die brandenburgischen Reitergeschwader, einige von denen, die bei Fehrbellin des Kurfürsten Banner siegreich getragen und den Schweden aus dem Lande gejagt hatten. Jetzt hatte der Rat freies Spiel; wenn die Kanonen durch die Straßen rasselten, da war’s zu Ende mit dem Volkswillen, mit allem Gerede und allen Abstimmungen; mächtig hob die Ratspartei ihr Haupt. Schon trug das Nikolaikirchspiel darauf an, die Dreißiger zu kassieren; vor allem wurde kurzer Prozeß mit den Rädelsführern gemacht, Snitger und Jastram in ihren Wohnungen verhaftet und nach dem Winserbaum gebracht. Das war ein mildes Gefängnis; hier durfte auch Katharina den Gatten sehen und sprechen – doch kein Strahl der Hoffnung drang herein, man wußte, die Machthaber waren unerbittlich. Auch Meurer regte sich jetzt von draußen und verlangte Genugthuung und strenge Befragung und Bestrafung seiner Feinde. Milder Sinn war ihm fremd; er war ein stolzer rachsüchtiger Mann; grausam war die Parteiwut, die alle wilden Gelüste der Gemüter entfesselte. Und so ohnmächtig zu sein mit all ihrer innigen Liebe, mit der heißen Sehnsucht nach Rettung! – das brach dem jungen anmutigen Weibe das Herz. Sie log dem Geliebten noch einige Hoffnungen vor, an die sie selbst nicht glaubte: es werde zum Vertrag mit dem Dänenkönig kommen und der Dänenkönig werde seine guten Freunde schützen. Snitger dachte gering von der Dankbarkeit der Menschen und der Könige und seine Stirn entwölkte sich nicht. Unter Thränen nahmen sie Abschied voneinander. Noch an diesem Tage wurden die Gefangenen aus dem Winserbaum in die Fronerei geführt, in deren elenden Kojen man sie an Ketten legte. Da wurde niemand mehr zu ihnen gelassen, kein Zeuge einer so erbarmungslosen Behandlung, eines so bemitleidenswerten Zustandes.
Inzwischen bombardierten die dänischen Geschütze die Stadt, die auf der Sternschanze blieben nicht müßig und die Ausfälle der starken Hamburger Garnison thaten den Dänen großen Schaden. Es kam zu Verhandlungen, die sich in die Länge zogen, da der König eigensinnig bei seinen Bedingungen verharrte; doch er wurde andern Sinnes, als er erfuhr, der Kaiser habe Brandenburg, Hannover und Celle-Lüneburg die Exekution gegen ihn aufgetragen und die Schweden sammelten ein Heer; auch England und die Generalstaaten rüsteten, um die Stadt zu retten, durch deren Umschließung und Bedrohung ihre Handelsbeziehungen großen Schaden litten. Da stellte der König die Belagerungsarbeiten ein und schloß einen Vergleich mit der Stadt: sie mußte um Verzeihung bitten und die Kriegskosten bezahlen; alle Schiffe, Güter, Waren und Effekten, die er mit Beschlag belegt, gab er wieder frei. So groß war der Stadt Hamburg Geltung im Weltverkehr, daß aus den Stadthändeln Welthändel wurden und zuletzt die großen Mächte Europas den Ausschlag gaben.
Rat Paulli hatte inzwischen die Stadt verlassen mit des Rats Verwilligung; doch da er bald wiederkehren wollte, war Jngeborg mit ihren Mägden zurückgeblieben, um des Hauses Aufsicht zu führen – Jngeborg, die nordische Walküre – jetzt nur ein Schatten der stolzen kampfmutigen Jungfrau, aber bereit, zum Todesritt ihr Roß zu zäumen. Der Donner der Geschütze hatte aufgehört – schon hatte sie im Geiste ihre Landesgenossen mit siegenden Fahnen in die Stadt einrücken sehen – das war der Tag der Befreiung, der Rettung, des Glückes für Jastram und sie! Doch jetzt – diese durch die Straßen ziehenden buntfarbigen Söldnerrotten, aus allen Winkeln des Deutschen Reiches zusammengelesen. Feinde Dänemarks, Feinde ihres Jastram! Vergebens hatte sie versucht, zu dem Geliebten zu gelangen, die Wache des Winserbaums hatte sie zurückgewiesen! Sie hatte ja kein Recht auf ihn, und die Tochter des dänischen Residenten war böser Zettelungen verdächtig, wenn sie sich zu ihm drängte.
In stiller Verzweiflung hing sie ihren Gedanken nach – vor ihren Augen stand schwarzumhangen das Blutgerüst – und neben Jastram der Henker. Oft um Mitternacht noch schritt sie ruhelos durch das Haus, durch den Garten im leichten Nachtgewand, trotz der empfindlichen Kühle. Die Nachbarn glaubten ein Gespenst zu sehen und die Mägde baten sie fürsorglich, ins Haus zurückzukehren. Auf ihrer Lagerstatt hatte sie wüste Fieberträume – einmal erschien es ihr, als grüben die Totengräber tief und immer tiefer in die Erde, und da holten sie etwas heraus, eine Kiste – sie konnte nicht recht sehen, was sie enthielt: es funkelte darin wie Edelsteine – da tönte aber ringsum von Himmel und Erde der Ruf: „Jastram ist unschuldig!“
Ein sinnloser Traum ein wüstes Gebild der Phantasie! Sie erzählte ihn ihrer treuesten Magd Dagmar, welche aufmerksam zuhörte und dann ihre Herrin betroffen anstarrte. „Das ist nicht so tolles Zeug, wie Sie glauben. Das kann seinen rechten Schick haben, wenn man’s gehörig anpackt. Ich habe ja selbst gesehen, wie der Resident, Ihr Vater, dort unter der Linde im Garten eine Kiste vergrub – und vorher hatte ich ihn droben Akten und Papier einpacken sehen.“
Jngeborg stand wie im Bann ihrer Träume; sie hörte nichts als den Ruf: „Jastram ist unschuldig!“ Gewiß, in der Kiste lagen die Beweise seiner Unschuld! Das kam über sie wie eine Offenbarung. Sie raffte sich auf aus ihrer verträumten
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Versunkenheit und stürzte auf die Straße; Dagmar suchte vergeblich sie zurückzuhalten.
Es war Abenddämmerung – Arbeiter zogen vorüber mit allerlei Gerät, mit Hacke und Spaten, sie drängte sich in ihre Reihen.
„Kommt, Leute, kommt! Jastram ist unschuldig, Snitger ist unschuldig!“
Das war dem Volk eine genehme Kunde, sie standen still, und von allen Seiten drängten andere nach.
„Ich bin des dänischen Residenten Tochter, mein Vater hat seine Papiere im Garten vergraben. Ich weiß, daß Jastram kein Verräter ist – kommt herein alle, alle, um seine Unschuld aus der Erde zu graben!“
Und sie folgten ihr mit jubelndem Zuruf – die Beete im Garten mit den bunten Herbstblumen wurden von der eifrigen Menge achtlos niedergetreten. Bald klirrten die Spaten – und die Kiste kam zu Tage.
Als Ingeborg, den Männern mit warmem Händedruck dankend, sie an sich nahm, unschlüssig, wohin sie sich damit wenden sollte, da trat ein ungeladener Besuch in den Garten, der Prätor Röver mit seinen Ratsmannen. „Ich ging vorüber – welch ein Tumult? Was geht hier vor?“
Der Prätor war ein roher Gewaltmensch, ein erbitterter Gegner der Volksmänner, obschon mit Snitger nahe verwandt. Als er den Stand der Dinge erfuhr, legte er sofort Beschlag auf die Kiste – das Volk murrte, doch Ingeborg beruhigte die Menge. Das alles gehörte ja in die Hände der Richter, damit sie Jastram freisprechen konnten.
Der ungeduldige Prätor ließ sogleich die Kiste öffnen, und während ihm die Ratsmannen mit ihren Laternen leuchteten, entfaltete er ein Papier Nach dem andern.
„Ei, ei – Abschriften der Relationen nach Kopenhagen – sieh, sieh, da spielen die Verräter ja eine herrliche Rolle! Und hier die Antworten von dort – man rechnet mit festem Vertrauen auf sie und auf die Uebergabe der Stadt. Und hier auch Briefe an Snitger und Jastram – das stimmt, das stimmt!“
Es dauerte geraume Zeit, ehe er manches entzifferte, was ihm lesenswert erschien – die Menge harrte aus, schweigend, regungslos! Er schimpfte auf das schlechte Licht der Laternen und die ungeschickten Träger derselben.
Mit vollem Behagen über den schönen Fund wandte sich der Prätor dann zu Jngeborg: „Schönes Fräulein! Das habt Ihr gut gemacht – wir vom Rat und Gericht sind Euch dankbar; denn wäre der Strick für Snitger und Jastram nicht schon so fest gedreht – jetzt gäb’ es ganz sicher kein Entrinnen mehr! Uns fehlten für vieles noch immer die Beweise – die Stadt Hamburg wird Euch eine Ehrensäule errichten, liebe Jungfer! Ihr habt Euch um sie verdient gemacht. Bisher wär’s beim Köpfen geblieben – Ihr habt für das Vierteilen gesorgt!“ Und hohnlachend schritt der Prätor mit den die Kiste tragenden Ratsmannen seines Wegs.
Ein lauter Aufschrei – krampfhaft sich den Weg bahnend, teilte eine lichte Gestalt die Menge – gespenstig im Mondschein schwebte das weiße Gewand durch die dunklen Reihen; dann flog’s durch die Gartengänge dem Pförtchen zu, welches hinaus nach der Alster führte. Die Menge blickte verständnislos auf das Mädchen – doch der Ruf: „Hilfe, Rettung!“ ertönte hinter ihr. Dagmar folgte in größter Erregung, allein das Volk machte ihr nicht so bereitwillig Platz; einige von ihr beiseite geschobene Arbeiter versperrten ihr ärgerlich den Weg.
„Rettet das Fräulein!“ rief sie angstvoll, „seht ihr denn nicht, daß sie sich ein Leids anthun will?“
[866] Jetzt endlich lockerten sich die Reihen und eine Schar von Männern stürmte der Zofe nach.
Ingeborg hatte inzwischen den Kahn vom Ufer gelöst, das Ruder ergriffen, und bald glitt sie dahin durch die von dem aufgehenden Mond versilberte Flut der Alster.
Diesmal allein – nicht an seiner Seite! Er war verloren; doch die Wellen rauschten wie damals um den Kiel des Bootes – das Mondlicht flimmerte darüber hin wie damals – die Erde regte sich nicht und löste nicht Stein auf Stein von den Bauten dieser undankbaren Stadt und schüttelte nicht die Kirchtürme, daß sie schwankten und sich zur Erde neigten!
Kalt, starr, erbarmungslos alles – was ist ein Menschenleben – ein verrinnender Tropfen im Meer!
Die Ruder waren der Hand entfallen; kurze Zeit glitt der Kahn, sich selbst überlassen, über die Wellen. Dann richtete sich eine schlanke hohe Gestalt auf und stürzte sich, nach einem letzten Blick auf den Sternenhimmel, in die Flut. –
Inzwischen bereitete sich ein grausam Werk, grausamer als selbst der „Karolina“ blutige Paragraphen zuließen; denn man hatte den Angeklagten keine Abschrift der Indicien zukommen lassen zu ihrer Verteidigung und zur Abwendung der Tortur. Die Anklagen gegen Snitger lauteten, er habe schon im Februar 1686 vom Anrücken der Dänen gewußt, es beschleunigt, ihnen Unterhalt zugesagt, Paulli die Zugänge der Stadt gewiesen, bei Verurteilung seiner Entführer einen Pöbelhaufen zusammengebracht, um sie niederzumachen und das Volk gegen den Rat zu führen, wenn das Urteil zu gelinde ausfalle, die Bürgerschaft zum Komplott gegen den Rat verhetzt. Gegen Jastram lautete die Anklage ähnlich. Was half es den Beklagten, daß sie das leugneten? Mußten sie doch zugeben, daß sie die Verträge mit Lüneburg nicht gebilligt, weil sie ohne Konsens der Bürgerschaft abgeschlossen worden, und daß sie mit den Dänen verhandelt hätten; Jastram räumte ein, er habe die Hilfe derselben nachgesucht, damit sie die Lüneburger vertrieben, doch verlangt, daß der König sein Vorhaben der Bürgerschaft anzeige. Durch solche Zugeständnisse wurde indes die Tortur nicht ausgeschlossen, welche die Rachegelüste der jetzt siegreichen Partei über ihre Opfer verhängten. In der Marterkammer mochten die Frevler, die an dem Ansehen des Rates gerüttelt hatten, für ihr schändliches Gebaren büßen! Kein Grad der Folter ward ihnen erspart; doch wurde das kostbare Leben geschont, das ja für ein öffentliches Schauspiel aufgespart blieb.
Das Urteil über die Vaterlandsverräter stand fest von Hause aus: es lautete auf Tod, auf Enthauptung; die Körper sollten dann gevierteilt und die Köpfe auf Pfähle gesteckt werden am Millern- und Steinthor.
Die unglückliche Katharina hatte doch gewußt, Zutritt zu ihrem verstümmelten Gatten zu erhalten, und als er heraustrat aus der Fronerei, erwies sie ihm den letzten Dienst, indem sie ihm den Bürgermantel umhing; aber beim Abschiedskuß an der Schwelle sank sie ohnmächtig zusammen, von endlosem Jammer überwältigt.
So endeten Hamburgs Volkstribunen auf dem Schafott.
Bezahlte Schmähschriften, zu deren Abfassung sich auch feile Gelehrte hergaben, besudelten das Angedenken der wackeren Männer, die, allzu leichtgläubig, der Diplomatie und ihren Schlangenwindungen nicht gewachsen waren; doch anders urteilten über sie die unbefangenen Geschichtschreiber, anders auch hervorragende Zeitgenossen, vor allem der Große Kurfürst von Brandenburg, dessen Truppen und Kanonen mit den Hannoveranern und Lüneburgern aufmarschiert standen, um die Ausführung der Blutsentenz, die Hinrichtung, zu decken. Doch das beirrte nicht sein Urteil über die Blutthat; er schrieb an den Rat, er wolle nicht erörtern, was ihn zu so großer Strenge bestimmt habe, doch er könne es dem Könige von Dänemark nicht verdenken, wenn es ihm nahe gehe, daß die armen Leute wegen eines Stadtverrats, welcher doch nach dem beständigen Vorgeben Ihrer Majestät und anderer verschiedener Umstände halber ihnen wohl niemals in den Sinn gekommen, um Blut, Ehre und Gut gebracht wurden. Und an seinen Gesandten in Wien schrieb der Fürst: obschon von dem Magistrat die wider diese Leute gebrauchten harten Proceduren beschönigt wurden, mit ihrer Respektwidrigkeit dem Kaiser gegenüber und ihrer dänischen Verräterei, so sei doch nichts gewisser, als daß dieselben mehr von der Rachgier und der Begierde herrührten, diejenigen von den Dreißigern und auch andere aus dem Wege zu räumen, welche bei dem jüngsten verworrenen Zustande sich zu einer Opposition wider den Rat hinreißen ließen.
Der Große Kurfürst traf den Nagel auf den Kopf, scharfblickend wie immer. Snitger und Jastram fielen als Opfer der Parteiwut und des auf unantastbare Vorrechte eifersüchtigen Patrizierhochmuts. Wie der Lübecker Wullenweber, der gleich ihnen gefoltert und hingerichtet wurde, kämpften die Hamburger Volkstribunen gegen die aristokratische Regierung an; doch wenn jener daran zu Grunde ging, daß er, die Macht der Hansa überschätzend, den Königen des Nordens das Gesetz diktieren wollte, so unterlagen die Volksmänner der Elbestadt, weil sie dieselbe frei und unabhängig machen wollten von der habsüchtigen und herrschsüchtigen Einmischung der Nachbarfürsten und den von ferne wirkenden kaiserlichen Machtbefehlen, die keine Regung des Bürgertums aufkommen ließen. Den braven, treuherzigen Männern gebührt ein ehrendes Angedenken!
Blätter und Blüten.
Vermißten-Liste. (Fortsetzung aus Halbheft 6 des Jahrgang 1897.)
442) Gesucht werden von ihren Angehörigen zwei Brüder Sauter (auch Souther), Karl Friedrich Erwin, geb. in Ann Arbor in Michigan am 2. Juni 1859, seines Zeichens Lehrer, und Friedrich Franklin, geb. ebenda am 6. April 1861, Bäcker und Konditor; von Franklin kamen aus Albany Linn Co. Oregon und von Karl, der als Steward auf einem Schiffe diente, aus Toledo, Ohio, die letzten Nachrichten.
443) Nach seinem letzten Brief vom April 1890 aus Chicago war der am 20. Mai 1869 zu Braunschweig geborene Arbeiter Konrad Ferdinand Hentis in einem Cirkus bedienstet. Alle dorthin gerichteten Briefe kamen aber als unbestellbar zurück.
444) Von ihren Nichten wird gesucht die Lehrerin Emilie Ehrenberg, geb. Isenhut, die im Jahre 1833 zu Bockenem in Hannover zur Welt kam und zuletzt Inhaberin einer Schule im Staate New York gewesen sein soll.
445) Seit seiner letzten Nachricht aus San Francisko ist der am 26. Juni 1841 zu Braunschweig geborene Schneider Karl Ernst Wilhelm Christian Müller verschollen.
446) Die Brüder Claus Hinrich Wittrock (auch Baumann genannt), geb. am 16. Aug. 1848 zu Hamburg, und Emil Christian Daniel Wittrock, geb. am 11. Dezember 1858 ebenda, die von New York und Charlestown bei Boston zuletzt Nachricht gaben, werden von ihrem alten Stiefvater gesucht.
447) Von seinen Geschwistern wird um ein Lebenszeichen gebeten der am 23. März 1856 zu Bolkenhain in Schlesien geborene Weißgerbergeselle Gustav Adolph Wilhelm Mücke, der im Jahre 1888 aus San Francisko schrieb.
448) Der Friseur Friedrich Sexauer, geb. am 26. Oktober 1863 zu Ihringen in Baden, der im Jahre 1892 noch in New York, 422, III. Ave., wohnte, wird von seinem Bruder dringend aufgefordert, Nachricht zu geben.
449) Carl Johann Wilhelm Gustav Schütt, geb. 28. April 1861 zu Stralsund, teilte im Februar 1888 seinen Angehörigen mit, daß er 28 km von New York am Bau eines Tunnels beschäftigt sei, die an ihn dorthin gerichteten Briefe kamen jedoch als unbestellbar zurück.
450) Der am 22. April 1852 zu Heiligenhafen in Holstein geborene Barbier Wilhelm Friedrich Markus Valentiner ist nach New York gereist, dort aber trotz angestellter Nachforschungen nicht aufzufinden.
451) Seit September 1889 ist der am 27. Aug. 1851 zu Grönenbach in Bayern geborene Dekorationsmaler Carl Felicitas Böckeler verschollen. Sein letzter Aufenthaltsort war Philadelphia.
452) Von seinen Geschwistern wird der am 30. April 1847 zu Samotschin in Posen geborene Apotheker Adolf Friedrich Herrmann um ein Lebenszeichen gebeten. Herrmann schrieb zuletzt im Mai 1892 aus New York, daß er zur Ausstellung nach Chicago gehen wolle.
453) Von seiner Mutter, die schon manche Thräne um ihn vergossen hat, wird Franz Robert Julius Klein, der am 18. Febr. 1872 zu Muskau i. d. Lausitz geboren ist und im Jahre 1888 in Kansas lebte, aufgerufen, seinen Aufenthaltsort anzugeben.
454) Seit seinem letzten Briefe aus dem Hotel Alms in Cincinnati hat der am 16. April 1861 zu Bregenz a. Bodensee geborene Kellner Alexander Kemter seinen Eltern nicht mehr geschrieben.
455) Der Wachszieher Franz Norbert Bauer, der am 17. Aug. 1862 zu Prag geboren ist und noch im April 1895 in Los Angeles, Cal., wohnte, wird, nachdem der Vater gestorben, von seiner Mutter herzlich um ein Lebenszeichen gebeten.
Das deutsche Kaiserpaar auf den Wege nach Jerusalem. (Zu dem Bilde S. 840 und 841.) Unter dem Donner der Kanonen hatte das [867] deutsche Kaiserpaar am 28. Oktober Jaffa verlassen, um den Weg nach Jerusalem über die Ebene Saron zum Gebirge Juda zu Pferde zurückzulegen. Der Zug, der zu seiner Entwicklung gegen 3 km brauchte, bot ein überaus malerisches, farbenprächtiges Bild; die flatternden Standarten, die blitzenden Uniformen, die wallenden Staubmäntel und wehenden Tropenschleier gaben dem Ganzen ein ungewohntes Ansehen und erinnerten lebhaft an alte Zeiten, da Kreuzritter durch dieselben Gefilde zogen. Leibgendarmen eröffneten den Zug; in geraumem Abstande folgte die kaiserliche Gruppe, die unser Bild wiedergiebt. Der Kaiser auf dem prächtigen Schimmel trägt die Tropenuniform, die Kaiserin reitet neben ihm; ihnen schließt sich zu Roß und zu Wagen der glänzende Zug der Begleiter an.
Der „Gartenlaube-Kalender“ für das Jahr 1899. Als ein schmuckes Bändchen ist wiederum der „Gartenlaube-Kalender“ erschienen, der im Laufe der Jahre die Gunst weitester Kreise gewonnen hat. In einer leicht übersichtlichen Zusammenstellung bringt er alle die praktischen Notizen, die man von einem Kalender erwartet; er bietet eine chronologische Charakteristik des Jahres 1899, astronomische Nachrichten für dasselbe, giebt einen Handelskalender der wichtigsten Messen und Märkte, statistische Notizen für das Deutsche Reich, Post- und Telegraphentarife u. a. m. Nicht minder mannigfaltig ist der unterhaltende und belehrende Teil gestaltet. Unsere allbeliebte W. Heimburg erfreut die Leser mit der spannenden Erzählung „Korl Lorensen“, die Fritz Bergen mit trefflichen Bildern geschmückt hat. Daran schließen sich „Freund Zufall“, eine reizende Humoreske von Hans Arnold, mit Illustrationen von Rudi Rother, und „Tante Rhabarber“, Erzählung von Gertrud Franke-Schievelbein, illustriert von G. Mühlberg. Sehr nützliche gesundheitliche Belehrungen erteilt Dr. med. F. Dornblüth in dem Artikel „Etwas vom Wandern“, während die auf dem Gebiete der Hauswirtschaft rühmlichst bekannte Schriftstellerin Luise Holle über „Die Gewürze und ihre richtige Anwendung“ praktische Auskunft giebt. – Ueberaus reichhaltig sind die kleinen Mitteilungen vertreten; Belehrendes und Praktisches wechselt darin mit Humorvollem ab. Ziehen wir noch den reichen und künstlerisch wertvollen Bilderschmuck in Betracht, zu dem hervorragende Künstler wie Fritz Reiß, H. Knoechl, C. Reichert, H. Lüders u. a. Beitrage geliefert haben, so können wir nicht zweifeln, daß der neueste Band des „Gartenlaube-Kalenders“ sich derselben Beliebtheit wie eine Vorgänger erfreuen wird.
Reinekes Ende. (Zu dem Bilde S. 845.) Der Winter hat seinen Einzug gehalten; tiefer Schnee deckt Feld und Au. Oede und leer sind die im Herbst noch so reichen Jagdgründe Meister Reinekes geworden; aber der Schlaue leidet keine Not wie die anderen Tiere des Waldes. In den langen Nächten umschleicht er die Gehöfte der nahen Dörfer, findet in den Thüren und Mauern der Geflügelställe Spalten und Löcher, durch die er sich einschleichen kann, um Hühner, Enten und Gänse zu rauben. In dem tiefen Bau am Rande des Waldes verzehrt er die Beute und erfreut sich eines tiefen Schlafes, während im Dorfe die bestohlenen Bäuerinnen den frechen Räuber verwünschen. Aber auch den schlauesten Bösewicht erreicht die Strafe. Eines Morgens wird Reineke in seiner Burg Malepartus arg aus seinen Träumen geweckt. Durch den Haupteingang dringt sein grimmigster Feind, der Teckel, in die unterirdische Röhre. Nach einem kurzen Widerstand giebt der überraschte Fuchs Fersengeld und sucht durch eine Nebenröhre in den Wald zu flüchten. Aber hier ist der Schlaue erst recht in sein Verderben gerannt; hier harrt seiner der Jäger mit anderen Teckeln. In wenigen Augenblicken vollzieht sich das Strafgericht. Hinter dem Busche blitzt es auf, und während der Getroffene zusammenbricht, packen ihn schon die grimmen Hunde. Vergeblich ist die letzte verzweifelte Gegenwehr, die Uebermacht der Feinde trägt nach kurzem Ringen den Sieg davon.
Der erste Schnee. (Zu dem Bilde S. 853.)
„Isch ech da obe Bauwele[2] feil?
Sie schicken eim e redli Teil.
In d’ Gärten abe und ufs Hus,
Es schneit doch au, es isch e Gruus!
Und ’s hängt no menge Wage voll
Am Himmel abe, merk i wohl“ …
So ungefähr denken die Alten seit Hebels Zeit immer noch, aber die Jungen! … Die kleinen Schulbürschlein und rotbäckigen Mädeln, die haben einen Hauptspaß und können’s nicht erwarten, bis sie mit den Schlitten hinaus dürfen. Selbst die kleinen Hündchen im Korb möchten gleichfalls in den Schnee hopsen und ein bißchen mittollen.
Und die Mutter, das frische junge Weib, obgleich ihr der Sturm den Schirm nicht übel zaust, sie lacht auch in das lustige Flockentreiben und beeilt sich nicht mit dem Heimweg. Nasse Füße fürchtet sie weder für sich, noch für die Kinder: die sollen nur ebenso frisch und fest werden, wie ihre Mutter es ist! Wartet dann zu Hause eine warme Stube auf sie, so können sie sicherlich mehr von Winterfreude als von Winterleid erzählen. Bn.
Die Kerkafälle bei Scardona in Dalmatien. (Zu dem Bilde S. 861.) Dalmatien, das südlichste Kronland der österreichisch-ungarischen Monarchie, ist erst in jüngster Zeit dem Touristenverkehr erschlossen worden. Sowohl seine Küste wie sein wildzerklüftetes, zumeist den Karstcharakter aufweisendes Gebirge bieten viele landschaftliche Sehenswürdigkeiten. Berühmt ist namentlich der Wasserfall bei Scardona, der zu den schönsten Europas zählt. Der Kerkafluß entspringt in einer Felsenhöhle unweit der bosnischen Grenze und mündet bei Sebenico ms Meer. Auf seinem 60 km langen Laufe stürzt er in mehreren Absätzen ins Thal und zeigt eine mannigfaltige Gestaltung. Bald bildet er Sümpfe, bald rauscht er bei durchschnittlicher Breite von 40 m zwischen Felsen dahin; 5 km oberhalb Scardona erweitert er sich zu einem See. Bei Milanovac bildet er den ersten großen, bei Scardona den zweiten 16 m hohen Wasserfall, den unser Bild wiedergiebt. Der Fluß ist hier etwa 100 m breit; oberhalb des Falles steht eine Mühle und daneben sind die Maschinengebäude der Wasserleitung für Sebenico sichtbar. Das Wasser stürzt hier über staffelförmige Felsstufen herab; zwischen den einzelnen Fällen gestaltet sich der Fluß zu kleinen Seen mit fast ruhigem Spiegel; meilenweit hört man in der fast ganz einsamen Gegend das Donnern und Brausen der Katarakte. Zwischen Scardona und Sebenico ist der etwa 300 m breit gewordene Fluß schiffbar und wird auch von Lokaldampfern befahren.
Der Albatros. (Zu dem Bilde S. 865). Zu den Erscheinungen, welche dem von Norden kommenden Reisenden auf den Meeren der südlichen Erdhälfte besonders auffallen, zählen vor allem die Albatrosse. Riesenvögel, die wie diese in vertikaler Flügellage sich fortbewegen, d. h. den einen Flügel geradeaus zum Himmel gerichtet tragen, während sie mit dem andern gleichsam die Meeresfläche abzutasten scheinen, giebt es bei uns nicht. Ohne einen Schlag mit den Flügeln auszuführen, schwebt der Albatros weit eleganter und majestätischer dahin als irgend ein Raubvogel, und wer ihn einmal gesehen, findet es begreiflich, daß ihn der Seemann den „König des Meeres“ nennt. Das Meer ist das Element des Albatros. Nur solange das Schiff sich auf hoher See befindet, folgt er ihm durch die weiten Wogenfelder: lange bevor es sich auf Sehweite der Küste nähert, ist er verschwunden. Auf den einsamen, von heftiger Brandung umtosten Felseneilanden der Südsee brütet er, und sobald sein Junges – er legt jährlich nur ein Ei – flügge ist, begiebt er sich auf die Wanderung. Man will beobachtet haben, daß die Albatrosse häufig in verhältnismäßig kurzer Zeit die Erde umfliegen, was bei der Ausdauer und Schnelligkeit ihres Fluges nicht unmöglich erscheint. Die höhere Temperatur scheint dem Albatros unangenehm zu sein; daher zieht er sich im Sommer tiefer ins Eismeer zurück. Der Seesturm berührt ihn nicht
[868] im geringsten; über die hochaufspritzenden, brandenden Wellenberge schwebt das Tier mit derselben Ruhe und Stetigkeit, wie der Adler am hellen Sommertage in den blauen Lüften kreist. – Wie die meisten fleischfressenden Seevögel schließt sich auch der Albatros oft in Scharen den größeren Schiffen an. Besonders die mächtigen Passagierdampfer, die einen Streifen fetter Abfallbissen hinter sich lassen, haben stets ein reiches Gefolge, und an Bord eines deutschen Postschiffes, der „Habsburg“, wurde die unserm Bilde zu Grunde liegende Skizze aufgenommen. Sie zeigt die Vögel in ihrer sonderbaren Haltung auf und ab schwebend, und zugleich, wie sie, beim Umwenden einen Bogen nach oben beschreibend, die Flügel wechseln, d. h. scheinbar umkippen. Beim Niederlassen auf die Wasserfläche hat der Vogel große Mühe, die überlangen Flügel unterzubringen, und damit ist auch sein majestätisches Aussehen geschwunden: in der Ruhelage selbst gleicht er vielmehr einer großen Gans. Dr. Adalbert Seitz.
Thomasnacht im Böhmerwalde. (Mit Abbildung.) Mit der zwölften oder spätestens mit der ersten Stunde schließt das Volk gewöhnlich die Feier der „heiligen Nächte“, welche sich durch das ganze Jahr zerstreut finden. Nur der Thomastag, der kürzeste Tag des ganzen Jahres, macht hiervon eine Ausnahme. Im Böhmerwald ist oft schon die vierte Morgenstunde angebrochen, ehe man sich zur Ruhe legt. Später als sonst wird Abendbrot gegessen, und kurz vor zehn Uhr finden sich alle in der großen Familienstube zusammen. Mutter und Tochter lassen das Spinnrad schnurren. Der Vater schnitzt und lehrt den Sohn das gleiche. Auf dem Herde hängt der Kessel, worin das Wasser siedet, von dem noch in spater Stunde ein Festkaffee gebraut werden soll. Der große Tisch ist dicht an die Ofenbank geschoben, die sich rings an den Wänden fortsetzt, und die kleine Lampe erhellt das berußte Zimmer nur halb. Unverwandt die Augen auf den Becher gerichtet, an dem er arbeitet, erzählt der Vater, wie sein Großvater den heiligen Thomas auf einem feurigen Wagen vom Osser nach dem großen Arber habe fahren sehen, und wie das Feuer doch noch niemals einen Waldbrand verursacht habe. Sein verstorbener Vater habe heute im Grabe eine unruhige Nacht: denn er habe auch Thomas geheißen, und alle Toten dieses Namens müssen diese Nacht auf dem Friedhofe die Ankunft ihres Schutzheiligen erwarten. Sie helfen ihm dann aus dem Wagen und begleiten ihn zu dem Kreuze, das plötzlich wie von Feuer zu strahlen anfange. Dort kniee der Heilige nieder, bete, gebe allen seinen Segen und verschwinde unter dem Kreuze. Erst jetzt dürfen die Thomasbrüder wieder ihre Gräber aufsuchen, um ein Jahr darin zu schlummern, bis die gleiche Stunde sie wieder zu dem gleichen Dienste rufe. – So lehrt der alte Aberglaube der Böhmerwaldbauern. Um Mitternacht erwarten sie den Wagen. Jetzt hebt die Glocke zum Schlage aus und die erregte Einbildungskraft vermeint, wirklich den Wagen rasseln zu hören: lauter, weit lauter als im Vorjahre donnert er durch die Luft hin. Da ist große Gefahr. Alles kniet nieder, spricht das Thomasgebet, und der Hausvater ruft andächtig aus: „Heiliger Thomas, beschütze uns vor allen Uebeln!“ Unter Zittern und Zagen betet alles ein Vaterunser. Der Mutter stehen die hellen Thränen in den Augen. Unterdessen ist’s spät geworden. Der heiße Kaffee und die Wecken stärken und ermuntern wieder die gedrückten Gemüter. Jetzt ist’s zwei Uhr. Da endlich tönt das Horn des Nachtwächters, und gleich darauf erklingt sein Lied:
„Meine lieben Männer und Frauen, laßt euch sagen,
Die heilige Glocke hat grad zwei Uhr geschlagen,
Nehmts ench in acht vor Feuer und Licht,
Daß euch durch deu heiligen Thomas nichts geschicht!“
Altem Brauche gemäß trägt der Nachtwächter jedes Jahr in dieser Nacht einen langen weißen Bart, eine schwarze Kutte und auf dem Haupte eine mächtige Bischofsmütze. Der Hausvater geht an die Thür, um dem Nachtwächter dem Herkommen gemäß einige Kreuzer zu geben, und nun erst geht’s zu Bett, nachdem noch einmal das Haus durchsucht ist und die beiden Kühe im Stalle mit Dreikönigswasser und geweihtem Salz besprengt sind. Denn auch sie sind in Gefahr vor den Schrecken der Thomasnacht. A. T.
Des Knaben Berglied. (Zu dem Bilde S. 857.) Hoch oben auf freier Bergeshöh’ steht der Hirtenknabe, wie ihn Ludwig Uhland besungen hat, und jauchzt hinab ins Thal. Im frohen Genuß seiner Freiheit sieht er Schlösser und Dörfer unter sich liegen, grüßt er die Sonne, die ihm freundlich noch scheint, wenn unter ihm die Gewitterwolken sich ballen. Er möchte mit niemand tauschen, der kräftige gesnnde Gesell, der sich glücklich fühlt in seinem Berufe: „Ich bin vom Berg der Hirtenknab!“ – was könnte es Schöneres geben? Wie in kraftvoller Jugendlichkeit ihn Meister Knaus vor uns hingestellt hat, so hat ihn ähnlich gewiß die Dichterphantasie des jungen Uhland geschaut, als ihm auf einem seiner Heimatberge „Des Knaben Berglied“ in der Seele erklang. In der neuen kritischen Ausgabe, die soeben J. Hartmann und Erich Schmidt herausgaben, findet sich die Entstehungszeit auch dieses Gedichts bis auf den Tag festgestellt. Uhland schrieb es noch als Student in seiner Vaterstadt Tübingen im Sommer 1806, in dem Jahre von Deutschlands tiefster Erniedrigung unter dem Joche Napoleons. Und in dem nach des Dichters Tod von seiner Witwe zusammengestellten Buch „Ludwig Uhlands Leben“ lesen wir, daß es auf der Höhe des heimatlichen Oesterbergs entstand, wo der Dichter schon als Knabe gern weilte, lesend und sinnend, oder die Natur beobachtend, die ziehenden Wolken, das Herannahen der Gewitter. Wie die meisten seiner Jugendgedichte, entkeimte auch das Berglied bestimmten Eindrücken der Wirklichkeit, die er in der schönen Welt seiner Heimatberge empfing. Ein Gewitter, das sich über einem Thal entlud, während er selbst auf einer seiner Wanderungen noch auf freier Höh’ sich befand, war hier die Anregung. In seinem patriotischen Gemüte verschwisterte sich das Bild des Gewitters mit dem Gedanken an die der Heimat drohende Kriegsgefahr, an den von ihm ersehnten Kampf fürs Vaterland im Donner und Blitz der Schlachten.
„Sind Blitz und Donner unter mir
So steh’ ich hoch im Blauen hier;
Ich kenne sie und rufe zu:
Laßt meines Vaters Haus in Ruh!
Ich bin der Knab vom Berge!
Und wenn die Sturmglock’ einst erschallt,
Manch Feuer auf den Bergen wallt,
Dann steig’ich nieder, tret’ ins Glied
Und schwing’ mein Schwert und sing’ mein Lied:
Ich bin der Knab vom Berge!“
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
[868 a]
Wäschesack aus gemustertem Cretonnestoff. Aus farbigem Cretonne- oder Piquéstoff schneidet man zwei gleiche Blätter, 98 cm lang und 70 cm breit. In die Mitte jedes dieser Blätter, angefangen von etwa 3 cm unter dem Rande bis hinab zur Hälfte, schlitzt man mit der Schere eine Oeffnung und umnäht die Ränder derselben sorgfältig mit schmalem farbigen Bande. Dann legt man beide Blätter aufeinander und zwischen sie noch ein drittes, genau passendes Blatt aus Futtersatin oder ungebleichtem Leinen, worauf alle drei Teile zusammen festgestochen und rings mit Band umnäht werden. Am oberen Rand läßt man vermittelst einer zweiten Quernaht etwas unterhalb der ersten einen kleinen Hohlraum entstehen, in welchen ein schmales Fischbein zum Straffhalten des Ganzen eingeschoben wird. An die Enden dieses Fischbeins sind je zwei Bänder (oder Litze) von 29 cm Länge befestigt, die man durch zwei rechts und links auf jeder Seite angebrachte Knopflöcher durchzieht, um daran den Sack im Schlafzimmer aufzuhängen. In den Schlitz der einen Seite kommt die feine, in den der anderen die gröbere Wäsche; die Scheidewand aus Futtersatin verhindert praktischerweise ein Durcheinandergeraten.
Auflagearbeit von Seidenstückchen. Die Arbeit erfordert außer genauer Ausführung nur Geschmack bei der Auswahl des Materials, der fast in jedem Hausstande aufzufindenden alten Seidenreste und -Fetzchen. Aus denselben werden die einzelnen länglichen oder eckigen Teile des Musters, welches man nachbilden will, ausgeschnitten – am besten schneidet man sich für jede Sorte vorher eine Schablone aus steifem Papier – nachdem man die Konturen des Musters selbst mittels Speckstifts auf den die Unterlage bildenden, nicht zu dünnen Stoff übertragen hat.
Die Seidenstückchen werden alsdann so glatt als möglich aufgelegt, zuerst nur mit Heftstichen befestigt, hierauf aber mit Goldfaden oder dicker glänzender Seide zugleich umstochen und dem Grundstoff angenäht. Diese gleichmäßige Umrandung läßt die Zeichnung klar hervortreten und verhindert das Ausfransen der Seide. – Die Büffetdecke, deren Abbildung hier als Beispiel folgt, besteht aus olivgrünem Tuch, auf welches die länglichen Palmetten des Musters mit hell nilgrünen Seidenstückchen aufgelegt sind, während die dazwischen befindlichen Sterne aus Teilchen von altrosa Seide, alles mit Gold umrändert, gebildet werden. H. R.
Licht- und Lampenschirm. Sehr häufig will ein Familienmitglied die Lampe nicht so hell sehen wie die übrigen; dem ist leicht abzuhelfen, indem man einen leichten Gaze- oder Papierfächer aufgespannt in eine Klammer steckt und beliebig an der betreffenden Seite der Lampe befestigt. Diese Klammern sind jetzt in fast jedem Lampen- oder Haushaltungsgeschäft zu haben. Den Fächer können geschickte Hände leicht bemalen, doch ist sehr darauf Bedacht zu nehmen, daß die Farben auch transparent wirken müssen, also keine Deckfarben sein dürfen.
Auch für Lichter namentlich in den Schlafstuben sind Schirme gut zu gebrauchen. Der nebenstehend abgebildete ist aus Pergamentpapier gefertigt, wie man es vielfach zum Zubinden der Einmachgläser nimmt. Zuerst schneidet man das Papier zu, wie es die kleine Schnittübersicht zeigt. Dann feuchtet man es gut an, legt es einfach etwas ins Wasser, trocknet es ein wenig mit einem Tuch ab und faltet es sofort, da es schnell trocken und steif wird. Jede Falte 1 bis 11/2 cm tief. Danach klebt oder näht man die mit A bezeichneten Ränder auf ein Fischbein, indem man aber die ganze mit B bezeichnete Länge des Papiers fest gefaltet die Mitte bilden läßt, also auch in der Mitte des Fischbeins befestigt: dasselbe ist 20 cm lang. Dann bemalt man das niedliche Fächerchen mit Aquarellfarben – bunte Tinten sind noch vorzuziehen. Das Malen ist etwas schwer, da es in den Falten geschehen muß.
Gehäkelter Rockbesatz. Trotz Monopol- und Plüschborte stoßen die Kleiderröcke sehr häufig nach längerem Tragen am unteren Rande durch; die Stopfstellen sehen häßlich aus, aber Besatzborte möchte man nicht erst kaufen. Da kann in sehr einfacher Weise geholfen werden, indem man von der leicht drellierten nordischen Wolle, die genau zu der Farbe des Rockes passen muß, ein schmales Picotbörtchen häkelt und dieses, mit den Zacken nach oben gerichtet, unsichtbar aufnäht. Mit einer kräftigen Stahlnadel sind, etwas fest, stets fünf Luftmaschen und eine feste Masche in die erste Luftmasche zurück zu häkeln; wird die Borte etwas breiter gewünscht, so ist längs des geraden Randes eine Tour aus festen oder Kettenmaschen hinzuzufügen. Wie stets bei gehäkelter Passementerie, näht man die Borte mit ihrer linken Seite nach oben auf.
Winke für die Hausbäckerei. Es sind alles nur Kleinigkeiten, von denen ich hier reden will, und doch setzt sich aus ihnen ein Großes: der Erfolg der ganzen Bäckerei zusammen. Soll das Backwerk gut geraten, müssen alle Zuthaten tadellos sein, Mehl und Zucker dürfen keine Klümpchen zeigen, beides muß vor dem Gebrauch gesiebt werden. Für Hefenbackwerk ist die Güte der Hefe von größter Bedeutung. Eine Erprobung ist in allen Fällen anzuraten, zumal sie leicht gemacht werden kann. Man löst 25 g Zucker in 1/2 l lauwarmem Wasser auf, thut 20 g Hefe hinein, vermischt sie mit der Lösung und stellt sie warm. Zeigt sich in 15 Minuten leichter Schaum auf der Oberfläche, so ist die Hefe gut, fehlt er, so muß man sie fortthun, sie ist alsdann völlig untauglich. – Um die für Stollen, Striezel etc. nötigen Rosinen und Korinthen ohne Wasser rasch zu reinigen, das ihnen bekanntlich Süße entzieht, ist Weizenmehl trefflich. Man schüttet etwa zwei Löffel davon in die Ecke eines reinen Tuches, thut die Beeren hinzu und reibt sie mit der anderen Ecke gut in Mehl ab. Sie sind dann völlig sauber geworden. – Für alle Mandelbäckerei ist die schneeige Weiße der Mandeln von Wichtigkeit. Man darf daher in diesem Fall die Mandeln nicht wie sonst abbrühen, um sie zu schälen, da in dem heißen Wasser der Farbstoff sich löst und die Weiße der Mandeln trübt; man legt vielmehr die Mandeln einige Tage in kaltes Wasser und zieht sie dann ab. Auch muß man die Mandeln gut trocknen, sie zu diesem Zwecke mit leinenem Tuch abreiben und darauf etwa 36 Stunden auf einem mit Löschpapier bedeckten großen Brett im warmen Raum nachtrocknen. – Bei Schmalzbäckerei kann das zu rasche Bräunen des Backfettes das Gelingen des Gebäcks in Frage stellen. Um dies Bräunen zu vermeiden, giebt man einfach einige frische, geschälte Karotten ins Schmalz.
Vorhang für den Besenschrank. In den engen Stadtwohnnngen und namentlich in den Zinsburgen der Großstadt wird es der Hausfrau selten so gut, daß sie ein eigenes Besenkämmerchen besitzt; meist muß sie sich mit einem Besenschranke, oftmals mit einem Eckchen, das die Schränke des Vorzimmers freilassen, oder mit einem Plätzchen an der Wand eines Korridors begnügen. In den beiden letzten Fällen ist ein verhüllender Vorhang sehr am Platze; aber auch im Besenschrank bringt man ihn gerne an. Man fertigt denselben in entsprechender Höhe und Breite aus naturfarbigem oder grauem Trell, den man am hübschesten
mit einem dreifingerbreiten Rande von rotem Schweizer Kattun an allen vier Seiten besetzt. Am oberen Rande sind Beinringe angebracht, durch die eine kräftige rote Schnur geht, mittels welcher der Vorhang an zwei Nägeln befestigt wird. Auch kann eine Eisen- oder Messingstange durch die Ringe geleitet werden, die dann mit ihren Haken in zwei an den Seitenwänden des Schrankes angebrachte Oesen greift, und an welcher sich der Vorhang gut beiseite schieben läßt. Der Vorhang kann mit leichter Stickerei in türkischrotem D. M. C.-Garn verziert werden. Als Mittelstück empfiehlt sich eine weibliche Figur, mit dem Besen in der Hand, darunter etwa der Spruch: „Des Hauses Zier ist Reinlichkeit – sie schaffet Segen allezeit,“ oder: „Willst du dein Haus in Ordnung wissen – laß Besen und Schippe nirgends vermissen.“ Die Figur wird mit Stiel- oder Tambourstich, der Spruch in Hochstickerei ausgeführt. Der Besenschrank enthält alle zum Aufräumen notwendigen Utensilien, wie Besen, Schippe, Flederwisch, Möbelklopfer und -Pinsel etc., ein Fach nimmt die im Gebrauch befindlichen Wischtücher, die Fußbodenbürste und das Putzzeug für die Thürbeschläge auf; auch das Putzkistchen für die Lampen kann daselbst Unterkunft finden. R. U.
Palos, Moral, Eidam, Salat, Mauer, Birma, Tadel, Laden.
Aus jedem dieser Wörter ist dadurch ein neues Wort zu bilden, daß man einen Buchstaben durch einen andern ersetzt und die übrigen vier Buchstaben anders ordnet. Die neuen Wörter bezeichnen 1. eine Stadt in Pommern, 2. eine Prosadichtung, 3. einen mythischen König von einem Lande in Kleinasien, 4. einen Nebenfluß der Donau, 5. eine Stadt in Tirol, 6. eine Gebirgskette in Asien, 7. eine Stadt in Hannover, 8. einen Baum.
Die mittelsten Buchstaben der richtig gefundenen Wörter nennen zusammen einen aus den letzten Kämpfen gegen die Mahdisten bekannten Ort. A. St.
Rätsel.
Mit Hang verdeckt es;
Mit Wand versteckt es.
Scherzrätsel.
Dem Leser fällt mein Rätselwort nicht schwer
L kommt zuerst, dann es, zuletzt folgt er.
1. D e 4 – f 1 K e 5 – f 6: 2. L a 3 – b 2 ≠.
A. 1. . . . K e 5 – f 4 2. L a 3 – d 6 ≠.
B. 1. . . . S f 3 – d 4 2. S e 7 – g 6 ≠.
C. 1. . . . K e 5 – d 4 2. S e 7 – c 6 ≠.
(S beliebig)
Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 26.
Lampe, Ampel.
Auflösung des Bilderrätsels „Der Weihnachtsengel“ auf dem Umschlag von Halbheft 26.
Man liest zuerst alle Buchstaben, die unter den großen Sternen stehen, dann erst jene, die unter den kleinen Sternen sind. Es ergiebt sich der Text:
1. Sei uns willkommen,
2. heil’ger Christ!