Die Gartenlaube (1899)/Heft 25
[772 c]
25. Heft. | Preis 10 cents. | 28. November 1899. |
Inhalt.
Seite | ||
Der König der Bernina. Roman von J. C. Heer (6. Fortsetzung) | 773 | |
George Washington. Ein Gedenkblatt zur 100. Wiederkehr seines Todestages. Von Rudolf Cronau. Mit Abbildungen | 780 | |
Gefälschte Briefe. Ein Bild aus deutscher Geschichte. Von Rudolf von Gottschall. | 784 | |
Verwandtenbesuch. Skizze von Karl Wolf. Mit Abbildung | 792 | |
Eine Ballonfahrt im Sternenschein. Von J. C. Heer. Mit Initiale | 794 | |
Blätter und Blüten: Die Baumhäuser der Eingeborenen von Britisch-Neu-Guinea. (Mit Abbildung.) S. 802. – Der Krieg in Südafrika. (Mit Abbildungen.) S. 802. – Das Denkmal für in der Völkerschlacht 1813 gefallenen Krieger auf dem Leipziger Nordfriedhof. (Mit Abbildung.) S. 803. – Mistelgauerin im Brautschmuck. (Zu dem Bilde S. 773.) S. 803. – Verwendung von Aluminiumplatten in der Lithographie. S. 803. – Das neue Flußwasserwerk der Stadt Hannover. (Mit Abbildung.) S. 804. – Samariter. Von Karl Brandt. (Zu dem Bilde S. 789.) S. 804. – Der Hexentanzplatz vom Hirschgrund aus. (Zu dem Bilde S. 797.) S. 804. – Die Rivalinnen. (Zu dem Bilde S. 800 und 801.) S. 804. – Penelope. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 804. | ||
Illustrationen: Mistelgauerin im Brautschmuck. Von Heinr. Stelzner. S. 773. – Der Löwe kommt! Von St. Grocholski. S. 777. – Abbildungen zu dem Artikel „George Washington*. Von Rud. Cronau. Mount Vernon, der Wohnsitz Washingtons. Washingtons Begräbnisstätte zu Mount Vernon. S. 781. Zum Gedächtnis George Washingtons. S. 785. – Samariter. Von G. Wolters. S. 789. – Verwandtenbesuch. Von Franz v. Defregger. S.793. – Initiale zu dem Artikel „Eine Ballonfahrt im Sternenschein“. S. 794. – Der Hexentanzplatz im Harz, vom Hirschgrund aus gesehen. S. 797. – Die Rivalinnen. Von Eugen v. Blaas. S. 800 und 801. – Ein Baumhaus auf Neu-Guinea. 802. – General Crouje. General Kock †. Generalmajor Symons †. S. 802. Gepanzerter Eisenbahnzug der Engländer in Südafrika. Artillerie der Buren im Feuer. S. 803. – Das Denkmal für in der Völkerschlacht 1813 gefallene Krieger auf dem Nordfriedhof zu Leipzig. S. 803. – Das neue Flußwasserwerk der Stadt Hannover. Das Maschinenhaus mit dem Wasserturm. Treppenaufgang. S. 804. |
Reibung und Abnutzung. Nach siebenjährigen Beobachtungen und Messungen wurde eine mit den schwersten bis jetzt gewalzten Schienen ausgerüstete Strecke einer englischen stark benutzten Eisenbahn an den Schienenköpfen innerhalb dieses Zeitraums um 2,4 mm, d. h. jährlich um 0,34 mm abgenutzt. Die Strecke hat jährlich den Uebergang von 1 Million Tonnen an Wagen, Gütern und Menschen auszuhalten und wird im ganzen 35 bis 40 Jahre dem Verkehr dienen können, bevor die Schienen der Erneuerung bedürfen. Dieselben werden alsdann 12,5 mm ihrer Kopfhöhe durch die rollende Reibung der Radreifen verloren haben. – Schneller vollzieht sich die Abnutzung der festen Landstraßen, die in dem Musterlande des deutschen Straßenbaues, im Königreich Sachsen, auf 6,7 mm jährlich, für das festgewalzte Schottermaterial berechnet, festgestellt wurde. Alle elf Jahre bedürfen die Straßen hier einer aufgeschütteten Steinschlagschicht von 9,25 cm im ungewalzten oder 7,4 cm im gewalzten Zustande. – Ein trotz seiner Weichheit wenigstens gegen die rollende Reibung sehr widerstandsfähiges Material ist der Gummibelag der Pneumatikreifen unserer Fahrräder. Der Laufmantel eines solchen Reifens ist 3 bis 4 mm stark an der Lauffläche, wovon etwa die Hälfte auf den Gummibelag, die Hälfte auf das untergelegte sehr feste Gewebe kommt. Nach anderthalbjährigem Gebrauch war die Gummischicht eines solchen Reifens trotz schlechter Straßen kaum merkbar beansprucht. Die 2 mm hohen Nonslipping-Wulste eines Hinterradreifens hatten nach der Zurücklegung von 5000 km noch fast ihre volle Stärke, andererseits kann durch anhaltendes Bergabfahren und Bremsen der Gummibelag des Vorderrades sehr viel schneller zerstört werden, und am meisten leiden darunter die leicht zu ersetzenden Gummiflächen der Bremse selbst. Verfasser hat den 20 mm hohen Bremsklotz eines Rades bei einer nur zehntägigen Gebirgsreise bis auf einen verschwindenden Rest abgenutzt. – Es braucht nicht immer der weichere von zwei Körpern zu sein, der sich beim Vorgange der Reibung am meisten abnutzt. Steter Tropfen höhlt den Stein, heißt es im Sprichwort und in der Wirklichkeit. Die eisernen Becher oder Schraubengewinde von Kornelevatoren werden durch die bloße Bewegung oder den schärferen Anprall der Getreidekörner so stark abgenutzt, daß sie verhältnismäßig häufig ersetzt werden müssen, und selbst harte Mühlsteine nutzen sich durch die Reibung des Getreides und Mehles verhältnismäßig sehr schnell ab. – Besonders zerstörende Wirkungen bringt die Reibung eines Wasserstrahles hervor. Bei dem kalifornischen Elektricitätswerk zu Fresno, dessen Peltonräder durch den Druck einer 427 m hohen Wassersäule gespeist werden, wird das verbrauchte Wasser mit einer solchen Gewalt umhergespritzt, daß die Cementwände der Turbinenkammern schon nach den ersten Tagen des Betriebs die Spuren einer furchtbaren Zerstörung aufwiesen. Man kleidete sie durch dreizöllige mit Eisenblech bekleidete Bohlen aus, aber das Eisen zeigte nach wenigen Stunden ein Aussehen, als ob es durch Säurestrahlen angegriffen worden wäre. Jetzt sind die Kammern durch 4 cm dicke Gußeisenplatten geschützt, welche häufig ausgewechselt werden. – Tägliche Beweise der Abnutzung durch Reibung liefert uns das durch unsere Hände gebende Geld. Ein seit 1859 im Umlauf befindlicher Kreuzer hat seit dieser Zeit fast den vierten Teil seiner Dicke und seines Gewichtes verloren. Die im Umlauf befindlichen Goldmünzen der Erde nützen sich durch das bloße Angreifen so stark ab, daß der damit verbundene Verlust sich jährlich auf 1100 kg Gold oder 3 Millionen Mark beläuft. Bw.
Stand der Kleinbahnen in Preußen. Alles, was sich Straßenbahn, Pferdebahn, Trambahn, elektrische Straßenbahn, Industriebahn oder Gütereisenbahn, Schmalspurbahn, Kreisbahn, Gebirgsbahn, Drahtseilbahn, Bergbahn, Zahnradbahn oder gar Schwebebahn nennt, wird amtlich in der Regel als Kleinbahn bezeichnet. Nach dem Januarheft der „Zeitschrift für Kleinbahnen“ ist die Zahl der bereits vorhandenen und konzessionierten Kleinbahnen im Königreich Preußen auf 274 angewachsen, ihre Gesamtlänge beträgt 5673 km, d. h. mehr als diejenige der bayerischen Staatsbahnen, die ständige Arbeiterzahl ist gleich 13 681 Köpfen. Zwar herrscht, wie der betreffende Bericht ausweist, im allgemeinen das Bestreben, die tierische Kraft (Pferde) durch Elektricität zu ersetzen, noch immer aber behauptet die Lokomotive den Vorrang, da sich von den 274 Bahnen ihrer immer noch 156 Unternehmungen bedienen. Von dem verbleibenden Reste haben 67 elektrischen Betrieb, 37 haben Pferdebetrieb, worunter eine Bahn, die sich nebenbei auch der Ochsen als Zugtiere bedient, 4 Seilbetrieb, die anderen haben gemischten Betrieb mit Pferden und elektrischen Maschinen oder mit Lokomotiven und Pferden.
Die meisten Kleinbahnen, nämlich 26, befinden sich im Regierungsbezirk Düsseldorf; dort ist auch die erste Schwebebahn, eine neue Form des Personentransports zwischen Barmen-Elberfeld und Vohwinkel, im Bau. Je 19 Unternehmungen befinden sich in den Regierungsbezirken Potsdam und Schleswig, Köln hat 16, Wiesbaden 15, Magdeburg 13 etc. Je nur eine Kleinbahn haben die Bezirke Lüneburg und Münster i. W.
Frauen und Männer in Europa. Die beiden Geschlechter halten sich, was die Kopfzahl anbelangt, nicht die Wage. In verschiedenen Ländern ist die Zahl der Frauen größer als die der Männer; in anderen wieder sind die Männer in der Majorität. Einen interessanten Einblick in diese Verhältnisse gewähren uns Otto Hübners „Geographisch-statistische Tabellen aller Länder der Erde“, herausgegeben von Prof. Fr. v. Juraschek (Verlag von Heinrich Keller, Frankfurt a. M.). In der soeben erschienenen Ausgabe für das Jahr 1899 sind die neuesten statistischen Ermittelungen berücksichtigt und nach ihnen erscheint als das frauenreichste Land Europas Portugal, denn dort stehen 1000 männlichen Einwohnern 1078 Frauen gegenüber. Diese Verhältniszahl beträgt für Großbritannien 1048, für Österreich 1044; Deutschland hält mit 1037 Frauen auf 1000 Männer unter den Ländern mit Frauenüberschuß die Mitte. Dann kommen Rußland mit der Verhältniszahl 1028, Ungarn mit 1015 und Frankreich mit 1014. In Italien ist die Zahl der Frauen geringer als die der Männer; 1000 Männern stehen hier nur 995 Frauen gegenüber; noch niedriger ist das Verhältnis in Serbien, nämlich 948; in Griechenland stellt es sich sogar nur auf 919, und über den größten Mangel an Frauen kann sich Bosnien beklagen, denn dort finden sich auf 1000 Männer nur 894 Personen des schöneren Geschlechtes. *
Aus der „guten“ alten Zeit. Kurfürst August von Sachsen rechnete seinen Jägern die „Erlegung“ eines Wilddiebes hoch an und ließ ersteren hierfür öfters eine Prämie von 100 Gulden ausbezahlen, obwohl er sich sonst nicht durch besondere Freigebigkeit auszeichnete. Augusts Sohn und Nachfolger Christian I erhöhte diese „Schießprämie“ in einem Reskripte vom 2. Februar 1588 sogar auf 100 Thaler, „damit die Pirschmeister auf dergleichen Wildpretsbeschädiger künftig desto besser Aufachtung geben und denselben mit desto mehrerem Fleiße nachtrachten, auch ihrer deshalb ausstehenden Gefahr Ergötzlichkeit erlangen mögen.“ Sehr erfreut war Kurfürst Christian I, als ihm Graf Philipp von Hohenlohe im Jahre 1590 aus den Niederlanden, wo sich dieser Fürst aufhielt, zwei Hunde zum Geschenk machte, „deren der eine nur für einen Bluthund, der andere aber die Wildpretschützen oder andere Menschen in den Waldungen und Hölzern aufsuchen könne, aus England zugeschickt und berühmt worden.“
Von einer Menschenjagd, die mit diesen Hunden angestellt worden wäre, fand sich in den Akten erfreulicherweise nichts vor. H. B.
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Halbheft 25. | 1899. |
Der König der Bernina.
(6. Fortsetzung.)
Es ist Spätherbst. Im Thal von Pontresina ächzen die Arven im Sturme; er rüttelt an den mit Brettern vernagelten Fenstern der Häuser, deren Bewohner in die Ferne gezogen sind.
Nur wenige Lichter schimmern.
Durch das Grauen der Sturmnacht schleppt sich ein Mann zu Thal – wo ein Lattenzaun ist, hält er sich daran und stöhnt – und neben ihm wartet geduldig sein Wolfshund.
„Malepart,“ keucht der Mann, „das war kein leichter Tag – es ist doch ein Unterschied – ein Mensch ist kein Bär!“
Er wankt hinkend vorwärts; er tritt wie ein Trunkener in sein Haus.
„Markus!“ – Und Frau Pia, die ihm mit dem Lichte entgegenkommt, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.
Ihr felsenfester Mann ist blaß wie der Tod.
„Still, Pia, still!“ stöhnt er, sich mit der letzten Kraft an den Wänden vorwärts tappend. „Ich bin angeschossen, das Blut rinnt mir am Bein.“
Und die Zähne des Erschöpften klappern – eine weitere Auskunft erhält die erschrockene neugierige Pia nicht. Sie jammert, sie hilft dem Verwundeten; sein düsterer Blick schließt ihr den Mund. Doch hätte auch sie ihm etwas zu erzählen, was ihre Gedanken gefangen hält! Ihr Bruder Orland hat ihr geschrieben und ihr ein buntes Tuch geschickt.
Das beschäftigt sie ebenso stark wie die Wunde ihres Mannes. Er sagt ja selbst, es sei nur ein Streifschuß, gefährlich bloß durch den Blutverlust auf mehrstündigem Weg.
Aber Markus hat sich kaum niedergelegt, so verwirren sich seine Gedanken, die Fieberrosen treten auf die bleichen Wangen. Und mitten in der Nacht beginnt er zu reden.
„Malepart, faß an!“ ruft er schweißgebadet.
Der treue Hund kommt ans Bett geeilt und beschnuppert seinen Herrn. Markus Paltram erwacht, er streichelt das struppige Tier. „Du hast den rechten Namen,“ stöhnt er finster. Da sieht er sein Weib an seinem Lager. „Pia, du darfst nicht hören, was ich rede!“
„Du hast ja noch gar nichts gesagt, als dem Hund gerufen,“ erwidert sie mit jener Sanftmut, die an ein glattes Raubtier erinnert.
Da rollt er seine brennenden Augen. „Doch, doch – aber der Schuft hat mich von hinten angeschossen!“
Die folgenden Tage bebt er im Fieber, der Schweiß perlt an seiner Stirn, unablässig geht seine Rede – doch nur das wenigste versteht die horchende Pia, die eine bessere Krankenpflegerin ist, als man von der ehemaligen Ziegenhirtin
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„Mutter,“ keucht der Fiebernde, „die Schmerzen stillen, ist nichts – aber töten, Mutter – töten in der großen Gletschereinsamkeit – doch hat er zuerst und hinterhältig geschossen!“
„Wer hat auf dich geschossen?“ flüstert ihm Pia zu.
Aber die Gedanken des Fiebernden gehen einen anderen Weg.
„Ja, ja, ich spüre es, wer getötet hat, ist ein starker Mann – stark bin ich wie der Ritter von Guardaval, stark wie ein Berg – ich hole für sie die Flamme vom Piz Bernina!“
„Für wen?“ flüstert ihm Pia mit lauernden Augen zu.
Es ist, als merke der Kranke, daß ihn sein Weib ausfragen will; er fährt mit der Hand über das Gesicht, als ob er etwas wegwischen wolle, seine Rede stockt – dann beginnt er wieder: „Das Geschlecht Paltram muß untergehen – im Gletscher untergehen – was thut’s? – ein treuloser Camogasker! – Nein, ein Camogasker ist stark genug – ich erlöse das Engadin – die Berge flüstern es mir nicht zu, aber auf der Spitze der Bernina hört man es von der Sonne! – Man kann nicht hinaufsteigen – aber im Wagen kann man fahren – es sinken die Gipfel – – Horch, horch! – Nein, Sonne, du erzählst nicht gut! – Einen Tag, einen ganzen Tag haben Aratsch und seine Geliebte zu wandern – dann erst stürzt die Bernina ein. – Doch sage, warum friert der schöne Jägerknabe und die Pia liegt, auch im Schnee – und die vielen Flocken fallen – ich aber verbrenne vor Durst.“
Und der Fiebernde fährt erwachend auf: „Pia, Wasser – Wasser!“
Er schlürft den Trank gierig.
Pia aber, wie sie diesen Fieberreden lauscht, schleicht das Grauen in Knochen und Gebein.
Und wieder fabelt er in langen Selbstgesprächen.
Da reicht sie ihm die kleine Jolande ins Bett – und siehe da, das Kind schlummert ein an der Brust des Vaters, und bei den regelmäßigen Atemzügen des süßen Mündchens findet er selber das Glück eines friedlichen Schlafs.
Es ist, als würde die Kleine mit ihrem Geplauder sein Arzt. – – –
In diesen Tagen – der erste Schnee ist eben im Thal gefallen – erschreckt eine merkwürdige Kunde das Bergland.
Sigismund Gruber, der reiche Saumhalter, ist geheimnisvoll am letzten schönen Herbsttag verschwunden – auf offener Straße, am hellen Tage verschwunden.
Er begleitete in erster Morgenfrühe einen Saum aus den Thoren von Bormio, ein Stück gegen das Stilfserjoch. Plötzlich trennte sich der etwas verdüsterte Mann ohne ein Wort des Abschieds von seinen Säumern, stellte zu Bormio das Pferd ein und ward nicht wieder gesehen.
Erst am dritten Tage vermißte man ihn eigentlich – es lag in der Art seines Geschäftes, daß er oft ein, zwei Tage ausblieb – und bis man Nachforschungen begann, war Schnee gefallen, der sie erschwerte.
Acht Tage blieb man im Unsichern – von da und dort kamen Gerüchte, man habe ihn erst noch kürzlich getroffen, sie machten sein Verschwinden nur geheimnisvoller.
Tage kamen, Tage gingen und Vermutungen bildeten sich. – Er hat sich aus dem Staube gemacht, weil ihn das Gewissen wegen Pejder Golzi quälte. – Aber glaubwürdig war das nicht! Gruber war kein Abenteurer, und ein so blühendes Geschäft, eine so herrliche Frau, einen so prächtigen Buben läßt man nicht leichten Herzens im Stich. – Zuletzt bildete sich die bestimmte Annahme, er sei einer Rachethat des fahrenden Volkes zum Opfer gefallen, und es liefen Sagen genug, mit was für furchtbaren Eiden die fahrenden Leute aller Länder verbunden seien, wenn es sich darum handle, eine Missethat, die an einem der Ihrigen begangen worden sei, zu vergelten.
Selbst die Behörden suchten hier die Spur.
Das Ereignis erschütterte – aber die Nachreden auf Sigismund Gruber waren kühl – nur das Mitleid mit seiner Frau und seinem Knäblein groß – die Familie hatte ja, so bezeugten alle, die sie kannten, in innigstem Glück gelebt.
In dieser schweren Zeit war Pfarrer Taß häufig zu Puschlav.
„Wie erträgt Frau Cilgia den Schlag?“ fragten die Freunde.
„Stolz wie immer – sie führt das Geschäft weiter, damit die Knechte nicht auf den Winter brotlos werden – sie ist blaß, sehr blaß – aber gefaßt.“
„Hat sie keinen bestimmten Verdacht?“
„Keinen!“
„Und die Knechte?“
„Sie trauen es dem langen Hitz zu. Doch dagegen spricht Cilgia mit aller Festigkeit und die war seine Freundin nie.“
Und das Rätsel blieb – die Untersuchungen gingen ihren Weg. – – –
Langsam erholt sich Markus Paltram, und wie er sein Weib fieberfrei anblickt, da fragt er verwundert: „Was ist das?“
Er meint das bunte Tuch, das sie um die Schultern geschlungen hat.
„Es ist ein Geschenk von meinem Bruder Orland, es ist das Zeichen, daß ich zu ihm gehen muß!“
Pia sagt es so überzeugungsvoll, daß Markus Paltram sie erstaunt ansieht.
„Warst du krank?“ sagt er, „hattest du das Fieber, nicht ich? Sei kein Narr, Pia!“
„Aber ich habe es ja immer gesagt, daß ich einmal zu meinem Bruder gehe,“ versetzt sie ruhig, fast demütig.
„Und unsere kleine Jolande?“ fragt er mit finsterm Hohn.
„Ja, unsere kleine Jolande!“ erwidert sie gedankenvoll. „Aber ich muß doch zu meinem Bruder gehen.“
Und der Trotz schürzt ihre Lippen.
„Pia, du bleibst da!“
Markus Paltram sieht sein Weib mit einem seiner gewaltigen zwingenden Blicke an. Sie krümmt sich unter diesem Blick, zieht aber ihr Tuch enger zusammen, als finde sie darin Schutz und Kraft gegen ihn.
Nach einiger Zeit kann er wieder auf die Jagd gehen, und die immer noch hübsche Pia hausiert mit dem Fleisch der Gemsen in den Dörfern.
Neugierig fragten die Leute: „Warum kommt Ihr erst jetzt wieder?“
Da sagte sie wohl: „Der Husten hat halt Markus für eine Weile gelegt“, aber sie ließ dabei einen Blick ihrer schönen Raubtieraugen mitgleiten, der zu sagen schien: „Das glaubt ein Narr!“ Und manchmal fügte sie bei: „Ich gehe im Frühling zu meinem Bruder Orland!“
Da und dort erkundigte sie sich um den Weg nach Hamburg – und die Leute schüttelten hinter ihr die Köpfe. Ihren Plan nahm niemand ernst als sie selbst.
Wo die Straße einsam ist, prägt sie sich an Fingern zählend die Namen der Städte ein, die zwischen dem Engadin und Hamburg liegen, und jeder Finger ist eine Stadt, und wenn sie über zehn gezählt hat, beginnt sie von neuem.
„Die verrückte Pia!“ sprechen die Leute und lachen. Aber ein sonderbares Gerücht entsteht: sie fürchtet ihren Mann so gräßlich – sie wird wie ihre Großmutter – sie hat einen Sparren im Kopf!
Aus ihrem verschlagenen Wesen wurde niemand klug. Oft schien es, sie habe einen unbändigen Stolz auf Markus Paltram, oft blitzte etwas wie Rachsucht hervor – eine Empörung, weil er ihren Willen fesselte – und es ging keine tolle Nachrede über ihn, die sie nicht bestätigte.
„Es ist, wenn er am Abend in seiner Werkstatt die Kugeln gießt, ein anderer bei ihm. Sie zählen die Kugeln und je die siebenundsiebzigste legen sie auf die Seite. Die ist schwerer als die andern. Die muß einem Jäger in die Brust. So lange, als das dauert, hat er Glück in den Bergen.“
Sie versicherte es allen Ernstes.
Man ist im Engadin nicht abergläubisch. Man lachte zu den Aufschneidereien der Frau Pia. Man sagte: „Markus Paltram giebt es ihr selber so an.“ Je geheimnisvoller er andern erscheint, um so weniger wagen sie es, in der Bernina zu jagen – aber etwas davon bleibt, und als Pia lange genug solche Dinge erzählt hatte – glaubte sie selbst daran.
„Hat er denn schon einen getötet?“ fragen neugierige Weiber.
„Er sagt es mir nicht,“ versetzt sie unschuldig, „aber er [775] träumt immer so schwer von einem Tiroler. Dann muß ich ihm das Kind ins Bett geben.“
Lügt sie oder redet sie die Wahrheit? – Allmählich horchen auch die ernsthafteren Leute darauf. – Wie man aber Pia einmal ernsthaft ausforschen will, da ist sie verschwunden, da wandert sie schon über die Berge, folgt sie dem einzigen holden Gedanken, der in ihrer niedern Stirne Raum gefunden hat: der Liebe zu ihrem Bruder – sie hat um seinetwillen selbst ihre abergläubische Furcht vor Markus Paltram besiegt.
„Mutter – wo?“ fragt ein kleiner Plaudermund – die entzückende kleine Jolande. – Das zierliche, schmale Gemschen mit den Gliederchen wie biegsamer Stahl und den Augen wie Licht, mit dem Stimmchen wie Silber.
Markus Paltram ist wütend auf sein Weib, das von diesem lieblichen Schwarzköpfchen ohne eine Regung der Mutterliebe hat weglaufen können.
Aber auch das hat er wohl um Cilgia verdient!
Er geht nicht auf die Jagd, bis er eine rechtschaffene Frau als Hüterin für Landola, wie er Jolande kosend nennt, gefunden hat. Nein, dem Haupte der Kleinen, die er mehr liebt als einst Märklein, darf kein Leid geschehen!
Mit allen Fasern hängt er an dem feinen Kind, und ebenso hängt es an ihm.
Wo aber ist Pia? – Eines Tages traf der Brief eines St. Moritzers ein, der zu Köln ein Café besaß: die ehemalige Geißhirtin von Pontresina, die er als Junge gekannt, sei auf einem Rheinfloß angekommen und ihm zugeführt worden. Mit einem Warenfuhrwerk habe er sie nach Bremen geschickt, dort werden Bündner weiter für sie sorgen.
Sicher und unbeirrt geht dieses merkwürdige Weib seinen Weg.
Um Markus Paltram aber weben sich die Gerüchte, die Sagen, die Anklagen dichter und dichter.
Er ist im Herbst angeschossen aus den Bergen zurückgekommen. Man spricht jetzt überall davon.
Wer kennt die Geheimnisse des großen Gebirgs? – Jahr um Jahr gehen in seinen Stürmen Menschenleben verloren, man weiß nicht, wie! – Jägertragödien, für die es keinen Richter giebt, weil kein Kläger da ist, weil die Felsen und Gletscher nicht reden, hat es, wo die Jagdreviere der Länder zusammenstoßen, immer gegeben. Sie leben in der Ueberlieferung des Volkes und werden sich ereignen, so lange die Büchse dem Wiederhall in den Felsen ruft.
Im blutigen Schein einer Jägertragödie steht Markus Paltram vor der Witterung des Volkes.
Aber niemand wagt es, das Verschwinden Grubers mit dem Gerücht, daß Markus Paltram einen Jäger erschossen habe, zu verbinden.
Gruber verschwand in Bormio – er trug kein Gewehr – er ging, da er kein Recht dazu besaß, nie auf die Jagd – und sein Fall ist ja durch die Missethat, die er an Pejder Golzi verübt hat, erklärt.
Ja, vielleicht ist alles, was man über Markus Paltram sagt, nur üble Nachrede – und er hüllt sich nur in das verachtungsvolle Schweigen, damit er um so mehr der gefürchtete Herr der Bernina sei!
Und andere Dinge geben den Leuten des Engadins mehr zu sprechen als Markus Paltram.
Es ist eine bewegte Zeit der Bündnerpolitik. Eben haben es die Abgesandten des Engadins, vor allem der jugendliche Staatsmann Luzius von Planta und der stille, zähe Saratz, vor dem Rat in Chur durchgesetzt, daß man eine Fahrstraße von Chur über die Berge ins Engadin und von da nach Italien bauen will.
Ein Hoffnungsstrahl durchfliegt das sich entvölkernde Thal.
Dem Beschluß zu Ehren will man ein kleines Schützenfest veranstalten und die übliche Kehrfolge trifft Madulein, den Heimatsort Markus Paltrams.
Eines Sommertags kommt er, eine Gemse auf dem Rücken, nach Samaden. Er tritt auf den Vorplatz des Gasthauses zur Krone, wo eine kleine Gesellschaft von Bürgern Kegel schiebt, und trinkt etwas Wein, den er stark mit Wasser mischt.
Da meint einer: „Markus, Ihr kommt doch auch zu dem Schießen nach Madulein; ehe wir alle aus dem Engadin wandern, wollen wir noch prüfen, wie die Stutzen gehen.“
„Ich komme,“ antwortet er gut gelaunt und ruhig.
Da fängt Doktor Troll, einer der Kegler, an zu spitzeln, denn er hat den alten Zusammenstoß am Lager Pias nicht vergessen – ein Wort ruft das andere.
„Paltram,“ höhnt der Doktor, „ehe Ihr Euch mit uns zusammensetzt, reinigt Euch vor Gericht – man sagt, es klebe Blut an Euch!“
„Doktor,“ lächelt Paltram, mit einem sonderbaren Aufleuchten der Augen, „dieser Schimpf bleibt nicht ungestraft – verlaßt Euch drauf!“
„Habt Ihr keinen getötet?“ hßhnt der Doktor.
„Doktor,“ antwortet Markus Paltram ernst, „das ist zwischen Gott und mir!“
Damit geht er und läßt die andern in grenzenloser Verblüffung, denn seine Worte klingen wie ein Bekenntnis. Aber wen hat er getötet? – wo? – wann?
Wenn er nicht selber spricht, wird es niemand erfahren – niemand wird seine Schuld, seine Verantwortung kennen.
Aber das Gerücht ist wieder frisch, und schon gellt seinetwegen wieder ein Schrei der Entrüstung durchs Thal.
Doktor Troll fährt in halbdunkler Nacht von St. Moritz nach Samaden. Er raucht und leitet sein Pferd.
Da kracht, wie er an den Häusern von Celerina vorüberfährt, ein Schuß.
Der Kopf der Pfeife ist hinweg.
Der erschrockene Doktor bändigt mit Mühe sein Roß.
Markus Paltram tritt mit höflichem Gruß auf ihn zu: „Guten Abend, Herr Doktor. Es ist nur die Quittung für Samaden – jetzt Frieden!“
Die Leute des Dörfchens aber, die den Schuß gehört haben, eilen herbei.
„Ich habe ein Käuzchen schießen wollen,“ erzählt Markus Paltram, der finstere Mann, mit schalkhaftem Lächeln, „da kam gerade das Fuhrwerk dazwischen – das Pfeifchen des Doktors ist hin.“
Dann geht er.
Ein unglaublicher Schuß im nächtlichen Dunkel! Die Leute schütteln die Köpfe: es kann nicht sein! – Aber hat Markus Paltram als Junge zu Madulein nicht oft genug seinem Bruder in brüderlichem Scherz das Thonpfeifchen vom Munde mit der Kugel hinweggeblasen?
Wer ist er, der so ein sträfliches Spiel mit dem Menschenleben treiben darf und den Gerichten mit den Worten trotzt: „Bringt Zeugen“?
Im Volke gärt es gegen Markus Paltram.
Da kommt das Schießen von Madulein, und hoch aufgerichtet, eine männlich schöne Gestalt wie die eines Helden der Vorzeit, erscheint der graue Jäger und tritt unter sein Volk.
Da gehen ihm die Leiter des Festes, seine Heimatsgenossen, entgegen: „Markus Paltram, du bist ausgeschlossen vom Schuß!“
„Mir das?“
Er wird blaß und seine Augen haben den camogaskerhaften Glanz.
Man fürchtet ein Unglück.
„Du weißt warum – die andern verlassen das Fest, wenn du nicht gehst.“
„Ich gehe – ich gehe!“ schreit er, „auf Wiedersehen in der Bernina!“
Das tönt, wie wenn er sprechen würde: „Tod euch allen!“ Das tönt finster und schrecklich.
„Bist du der Herr der Bernina – ihr König?“
„Das werdet ihr sehen!“ knirscht er, richtet sich hoch auf und sieht sich mit kaltem Zorne um – mit einem Blick, der die harten Männer erschüttert.
„Ja, ich bin der König der Bernina,“ sagt sein Auge.
Mitten in einer unheimlichen Stille geht er. Das Band zwischen ihm und seiner Heimat ist zerrissen, und in dumpfen Lauten und Wogen rollt der Zorn der Zurückgebliebenen, siedet das schwer erregbare Bündnergeblüt.
[776] „Der König der Bernina! Nun, auch wir werden sehen!“ Das Volk grollt in Drohungen.
Aber wohl ist keinem dabei, und das Schießen von Madulein ist ein Trauerfest. Das Lachen, das da und dort ertönt, erschreckt.
Vom Schießen zu Madulein an ist Markus Paltram der Herr, der König der Bernina, und nur ein Tollkühner wagt sich in sein Gebiet.
Er schaltet und waltet darin wie der Ritter von Guardaval – und er scherzt nicht; er sucht nach jedem Gewehr in den Hütten der Bergamasken und nimmt es an sich. Er geht mit denen furchtbar ins Gericht, die Freundschaft mit den Tieren halten und ihm die äsenden Gemsen, die kurzweiligen Spielgenossen ihrer Einsamkeit, nicht verraten wollen. Er zwingt sie, daß sie ihm dienen und das Wild zu Thal tragen, und wehe dem, der nicht gehorcht oder schwatzt – wie ein böser Geist erscheint Markus Paltram nachts in seiner Hütte.
Und dunkle Sagen gehen, daß ihn auch die Sennerinnen und Wildheuerinnen zu fürchten haben – nicht seine Gewalt, aber sein Lächeln, seine weiche Rede, das hinreißend Traurige in seinem Gesicht.
Er ist wahrhaft der Ritter von Guardaval – wer mag ihm widerstehen, der Glut seiner Leidenschaft?
Und immer neu erheben sich die Gerüchte von unbekannten Jägern aus Italien und Tirol, die als Wilderer unter seinem Gewehr gefallen seien – gefallen, wo es weder Zeugen noch Richter giebt.
Seine Hütte, sagt der Volksmund, sei voll von Trophäen, die er erschossenen Jägern abgenommen habe, und mit Grauen gehen die Leute an seiner Wohnung vorbei, wo doch das lieblichste Kind, die kleine Landola, aus hellen Fenstern schaut.
„Vater, komm heim!“ ruft es freudvoll in die weißen Berge.
Und bei diesem Kinde lächelt Markus Paltram, der Menschenfeind, der wie eine Zuchtrute über dem Bergland ist.
Die Seinen hassen ihn, den Uebergewaltigen, den keine That der Milde schmückt.
Soll ihn aber sein Volk nie lieben lernen? – ihn, den einst eine Cilgia Premont geliebt hat?
Aus Mangel an Anhalten schlief die Untersuchung über das geheimnisvolle Verschwinden Sigismund Grubers ein. Hauderer um Hauderer, die man verhaftete, brachten den Nachweis, daß sie sich zu der verhängnisvollen Zeit in anderen Teilen des Landes aufgehalten hatten.
Niemand war darüber froher als Cilgia. Länger als üblich ist, trug sie um den Toten Trauerkleider; sie wollte zeigen, daß sie sein Andenken in Ehren halte, und die stolze ernste junge Frau und ihr Knabe, das blonde Bürschchen voll lachender Frische, erfuhren zahlreiche Zeichen der Teilnahme.
War sie verdient?
Cilgia selbst dachte manchmal schwer und anhaltend darüber nach – ja in tiefer Unruhe, mit Gewissensvorwürfen, denn mit tödlichem Erschrecken spürte sie, wie leicht sie Sigismund aufgegeben hatte. Gewiß hatte sie ihm ehrliche, herzliche Thränen nachgeweint, oft in die stille Gebirgsnacht gelauscht, ob er nicht doch noch geritten komme. Und wäre er dahergesprengt, so hätte sie ihm freudig das Haus aufgeschlossen.
Sie hatte gezögert, ihr Geschäft aufzulösen; sie hatte länger, als die Wahrscheinlichkeit erlaubte, gehofft, daß er wirklich wiederkäme.
Aber alles doch mehr um des vaterlosen Bübchens als um ihrer selber willen.
Hätte ihre Ehe nach dem Ereignis von Campocologno, nach dem Zusammenstoß Markus Paltrams mit Sigismund Gruber, nach der Beichte des alten Thomas noch irgend ein Glück bergen können? Sie war ehrlich genug, vor sich selbst mit „Nein“ zu antworten. Sie war die Natur nicht, die einen Mann ertrug, auf dem in der Oeffentlichkeit oder im stillen ein Makel haftete. Zwischen ihr und Sigismund Gruber wäre es zu Kämpfen gekommen, die schlimmer gewesen wären als das Sterben. Sie konnte, davon war sie im Innersten überzeugt, an den toten Sigismund freundlicher denken als an den lebendigen. Und es jammerte sie um den stattlichen Mann, der nicht stark genug gewesen war, Fehler seiner Jugend zu besiegen, und deswegen in der Blüte der Jahre hatte zu Grunde gehen müssen.
Herzlich konnte sie um ihn weinen.
Oft und oft prüfte sie ihr Gewissen, sprach sie sich in schlaflosen Nächten mit dem alten Lorenz Gruber, dessen Andenken sie heilig hielt, über ihre kurze Ehe mit Sigismund aus.
Sie sah ihn leibhaftig, den rechtschaffenen schwerfälligen Alten, mit den klugen Augen, mit dem wallenden Bart, mit den silbernen Knöpfen am Rock und dem breiten gestickten Gurt.
Und siehe da – ihr war, der alte Gruber verstehe sie und billige es, daß sie keinem Menschen mit einem Wort oder mit einer Miene den gräßlichen Verdacht verrate, wie Sigismund untergegangen sei. Nicht einmal Pfarrer Taß, dem herzlieben Freund und Berater in der schweren Zeit!
Lange wies sie den Gedanken weit von sich, daß Markus Paltram Sigismund getötet haben könnte. Sie besiegte ihn aber nicht, besonders nicht, seit sie von dem Gerücht hörte, der graue Jäger sei im Herbst angeschossen aus dem Gebirge zurückgekehrt.
Und – sie spürte es wider Willen – es war auch eine Stimme in ihr, die Markus Paltram verteidigte. War Sigismund Gruber durch seine Hand gefallen, so hatte es Markus Paltram doch nicht ohne Not gethan! Sigismund Gruber hatte den Tod gesucht!
In herben Schmerzen schweigt sie – sie schweigt um ihres sonnigen Buben willen.
Durfte sie sprechen: „Ihr alle wißt nicht, was ich weiß – ihr habt die Beichte eines unglücklichen Mannes nicht gehört, der vor mir auf den Knieen lag, der in entsetzlichen Selbstvorwürfen sein Leben verfluchte.“ Durfte sie sagen, was ihre innerste Gewißheit war: „Sigismund hat dem Leben Markus Paltrams viele Wochen nachgestellt. Ich halte meinen Mann für den Schuldigen!“ Durfte sie das erzählen – auch nur ihrem Oheim?
So litt und stritt Cilgia.
An reichem Trost im schweren Jahre fehlte es ihr nicht – sie brauchte nur den blonden Lorenz mit den blauen Augen, ihren verständigen, frohsinnigen Buben anzusehen, so war ein Sonnenstrahl schon da. Oft kam der gemütliche Pfarrer. Selbst das eisgraue alte Meßnerlein sprach einmal vor. Der Landammann, der alte feine, etwas eigensinnige Herr, ritt nie nach Tirano, ohne daß er zu einem Gespräch hereingetreten wäre, und einmal hing es an einem Haar, daß er bei ihr Melcher, dem Händler, begegnet wäre. Selbst Lorsa mit seiner jungen Frau war einmal da. Luzius von Planta schrieb dann und wann – sie lebte mit dem Engadin.
Aber freilich – die Freunde alle meldeten nicht viel Erfreuliches – Niedergang, überall Niedergang – und die Straße, die man baut, kommt zu spät.
Doch regt sich etwas im schweren Engadinergeblüt!
Und plötzlich ist ein wundersamer Gruß aus fernem Süd erklungen: „Lieder von der Bernina!“
Das kleine hübsche Buch liegt auf ihrem Schoß. „Romanische Gedichte von Konradin von Flugi“ heißt der Untertitel. – Der Druckort ist Chur.
Luzius von Planta hat die Herausgabe besorgt.
Ein verträumtes Lächeln gleitet über das kleine Buch – die Gedanken Cilgias gehen zurück nach Fetan, wo der unbehilfliche Herr Konradin die ersten unbehilflichen Verse stammelte und sie die einzige Vertraute seiner geheimen Kunst gewesen war. Was ist aus dem unreifen, zagenden Herrn Konradin geworden? Von seinem Bruder, der in Paris in diplomatischen Diensten stand, ist er auf eigene Füße gestellt worden, und seit drei Jahren ist er der Privatsekretär des Königs von Neapel.
Herr Konradin ist am Hofe ein einflußreicher Mann und das Volk Neapels schätzt den schlichten Bündner, der es wagen darf, der Verschwendungssucht des Königs mit freimütigen Vorstellungen entgegenzutreten.
Sein Herz aber ist im Engadin geblieben.
O, man spürt es den Liedern schon an, wie sie entstanden sind – aus tiefem Heimweh, das dem Dichter alles, was Engadin heißt, mit Sonne überstrahlt! Und doch sind es nicht die Strophen einer müden Seele, sie sind voll tapfern Glaubens, daß der Heimat wieder hellere Tage aufgehen. In reizenden
[777][778] Bildern schildert Konradin, der liebeglühende Sohn der hohen Berge, die Spiele der Jugend, die gehaltvollen Sitten und Bräuche des Volkes, seine Bursche und Mädchen, seine stolzen Männer, seine verschwiegenen Frauen, er singt vom jungen Inn, vom Heimatdörfchen über dem See, von den Gletschern und ihren Sagen, vom Schneelicht der Bernina, das in alle Kammern leuchtet, aber er findet auch heiße Worte der Mahnung, daß sein Völkchen sich aufraffe und im Thal selbst in Bescheidenheit ein thätiges Leben ergreife!
Ein Klang und Ton ist in den Liedern, der die Herzen des sonst so nüchternen Volkes erregt. Wie wenn die Flamme in dürres Laub fällt, zünden sie in das Leben des Engadins – sie sind, wie Pfarrer Taß sagt, ein „Trostbüchlein zur rechten Zeit.“
Nur einer behauptet mit Festigkeit, er habe die Phantastereien Konradins nicht gelesen.
Das ist der alte feine, strenge Herr Landammann.
„Das ist nicht väterlich,“ sagt ihm Cilgia. „Ihr solltet Euch doch überzeugen, daß die Traube reif geworden ist!“ Und mit dem alten Edelmanne durch den blühenden Garten schreitend, sagt sie ihm Lied um Lied Konradins aus freiem Gedächtnis her. Sie spricht sie mit warmer, silberklarer Stimme – und dann und wann lächelt der Alte und nimmt schmunzelnd eine Prise aus silberner Dose.
„Er setzt den Leuten die Fliegen gut hinters Ohr!“ sagt er einmal – aber bald darauf: „Eben, eben. – Da hat er in diesen Versen wieder an Melchers Aelteste gedacht – er soll in Neapel bleiben!“
Und ein verdrießlicher Schatten geht über sein feingefälteltes Gesicht. Cilgia aber legt ihren Arm in den des alten Herrn und bittet und bettelt für Konradin und Menja.
„Rührt sie Euch nicht, Eure blonde Nachbarin hinter den Blumen – wie ein Mütterchen hat sie die Schwestern aufgezogen und hat sie im Brautkranz gehen sehen. Sie aber wartet. Sie giebt gegen den Willen ihres Vaters ihre Jugend an ihre Treue – sie bleibt heiter dabei. Sie erfüllt ihr Tagewerk mit stillem Fleiß – sie pflegt ihre Blumen, und jede Knospe ist eine Hoffnung und jede, die abfällt, ein verlorner Tag.“
„Ich habe nichts gegen Melchers Aelteste,“ erwidert der alte Herr kühl. „Aber Konradin ist ein Narr!“
Da wird Cilgia eifrig. „Vergeßt nicht, Herr Landammann, die Lieder Herrn Konradins werden im Engadin zu Bibel und Chronik gelegt und im Schatzkämmerchen des Büffetts aufbewahrt – er lebt noch in seinen Liedern, wenn wir alle vergessen sind!“
„Ich sage nur, er ist ein Narr,“ lächelt der Landammann über ihren Eifer. „Hört, Cilgia – ich habe keine Freude an seiner Wahl. Aber ich sollte so jung sein wie Konradin und ich liebte ein Mädchen! – glaubt Ihr, ich würde danach fragen, ob sie meinem Vater gefällt oder nicht? Nein, ich führte die ich liebte, und wäre die ganze Welt dagegen, zum Altar – so thäte ich!“
„Und so soll Konradin thun,“ jubelt Cilgia. „Herr Landammann, Ihr verdient eine Rose ins Knopfloch!“
„Ich gebe ihm diesen Rat natürlich nicht,“ lächelt der alte Diplomat. „Man hätte ihn mir auch nicht geben müssen – aber ich hätte die Folgen auf mich genommen.“
„Ihr habt Konradin zu sehr in der Ehrfurcht vor Euch erzogen – er hängt ja an Euren Augen.“
„Er ist jetzt dreißig – er soll die Kraft zu einer Wahl haben – den Vater um des Weibes willen aufgeben – oder das Weib um des Vaters willen!“
Diese Anschauungen hat Cilgia hinter dem strengen Herrn Landammann nicht vermutet. Er grollt zwar wegen der unnützen Poeterei – er sagt, er mache sich noch alle Vorbehalte – aber sie hat doch den Eindruck, daß zwei treue Herzen glücklich werden können.
Das giebt Sonne in die trüben Tage.
Und dann und wann sendet sie aus ihrem Garten einen Strauß köstlichster Blumen an den alten Landammann.
Die kleine Schwäche, die der stolze, aufrechte Greis für sie hat, gefällt ihr über die Maßen gut.
Und eines Tages trägt sie keine Trauerkleider mehr um Sigismund. Sie geht im hellen Sommergewand – sie ist beinahe die ehemalige Cilgia Premont – etwas sinnend zwar – etwas ernster und vornehmer – aber voll glücklicher Einfälle und Pläne.
Am Tag, wo sie die Trauer ablegt, ist Melcher, der Händler, da, dessen kräftige Gestalt nun auch schon leicht ergraut.
Ein festlicher, sonntäglicher Hauch geht durch das Haus, neben den Gedecken des Tisches stehen frische Blumen – man spürt, daß das Leben in dem verödeten Haus wieder Einzug halten will.
„Warum so viele Umstände, Frau Cilgia?“ lacht Melcher trocken, „doch nicht, weil der Hauderer frei ist? – es hat ja genug gekostet!“
„Nein – obwohl ich auch das als ein großes Glück betrachte und wir darüber heute noch sprechen müssen – oder eigentlich jetzt! Also, ich danke Euch, Melcher, dafür, daß Ihr so unter der Hand die Angelegenheit ins reine gebracht habt – es ist mir wohler, seit Pejder Golzi nicht mehr zu Bormio sitzt.“
„Aber über Campocologno hinaus darf er nicht wieder – sonst stecken ihn die Gendarmen wieder ein. Das haben sie ihm bei Himmel und Hölle angedroht, und ich habe eine gewisse Bürgschaft übernommen – wenn er nur Wort hält, sonst komme ich selber in Verlegenheit!“ Und Melchers Gesicht ist ernst.
„Eben das ist’s,“ erwiderte Cilgia. „Darum will ich ihn binden. Nach allen Diensten, die Ihr mir schon erwiesen habt, bitte ich Euch nur noch um diesen: Kauft ihm eine Hütte zu Strada, stellt ihm ein Kühlein und zwei Geißen hinein, und nahe dabei erwerbt etwas Wiese und eine Scholle Acker!“
„Ihr glaubt doch nicht, daß ein Hauderer seßhaft werde?“ wandte Melcher ein.
„Seine Frau hat es mir versprochen,“ erwidert Cilgia schlicht, „ich traue ihr – ich möchte es versuchen.“
Während die beiden den Plan erwägen, schaut sie mit merkbarer Ungeduld aus dem Fenster. „Wen erwartet Ihr denn?“ fragt Melcher.
„Pfarrer Taß – und noch einen!“ Das letzte sagt sie mit einem geheimnisvollen Lächeln.
Sie plaudern eine Weile – sie plaudern von Menja – und Cilgias Wangen röten sich in verhaltener Spannung.
Da hört man Pferdegetrappel, und „Hoch Engadin!“ jauchzt eine Stimme.
Melcher kennt sie. „Das ist der junge Flugi – ich reite!“
Und die Ader des alten Familienhasses schwillt an der starken Bauernstirne.
„Ihr könnt nicht,“ lacht ihn Cilgia aus, „ich habe Thomas Euer Pferd vor den Flecken auf die Weide führen lassen.“
„Dann habt Ihr mir also eine Falle gestellt,“ knirscht er.
„Nein, Konradin nur eine Gelegenheit verschafft, sich mit Euch auszusprechen! Ich möchte zweie glücklich sehen!“
Da führt Pfarrer Taß auch schon Konradin von Flugi herein. „Da bringe ich den Dichter und Tröster des Engadins,“ lacht der Pfarrer gemütlich.
Groß war die Freude Cilgias und Konradins – Melcher aber hielt sich abseits, mißtrauisch betrachtete er den Ankömmling.
Die Züge Konradins von Flugi waren von männlicher Reife, die nachlässige Haltung von ehemals nicht mehr an ihm, seine Gestalt hatte sich aufgerichtet, das Gesicht verfeinert, aber was er auch in den diplomatischen Kanzleien von Paris und Neapel erlebt haben mochte – er war jeder Zoll ein Engadiner geblieben.
Etwas Gesundes, Braves, Treuherziges strömte aus Auge, Wesen und Wort des Mannes.
Das spürte Melcher mit wachsender Achtung. Er reichte ihm aber die Hand nur kühl und fragte fast gleichgültig: „So, Ihr kommt also wieder in unser menschenleeres St. Moritz?“
Es lag wie eine Anspielung, wie ein Vorwurf gegen den Landammann, darin. Im Gesicht Konradins zuckte es, und er hielt die Hand Melchers fest.
„Zwei Dinge haben mich heimgetrieben – die Sehnsucht nach den Augen Eurer Menja – und die Not des Engadins.“ sprach er ruhig. „Melcher, ich bitte um die Hand Eurer Menja!“
Das klang so warm und ehrlich – aber Welcher antwortete düster: „Damit der Landammann sie beleidigen kann!“
Eine dunkle Röte flog über das Gesicht Konradins – erst nach ein paar Augenblicken sagte er bewegt:
[779] „Ich verdiene diese Antwort nicht – seid sicher, ich weiß Menja zu schützen. – Melcher, Euere Pläne für das Bad St. Moritz – ich nehme sie auf – ich verteidige sie – ich führe sie durch! Hier habt Ihr mein Ehrenwort – es ist, weiß Gott, Zeit, daß wir handeln. Wir bauen im nächsten Sommer das Bad!“
Mit einer warmen Bitte in den Augen streckte er ihm wieder die Rechte hin.
Es wand sich etwas in Melcher, als er den Sohn seines Gegners in männlicher Kraft als einen Bittenden und Versprechenden vor sich stehen sah.
„Denkt an Menja,“ bat Cilgia.
Da schlug Melcher in die dargebotene Hand ein.
„Gut,“ sagte er, „hat mein Kind so lange auf Euch gewartet – so nehmt es! Ich hoffe nur, daß Euer Vater so rechtlich ist wie ich. Sonst – – –“
Das klang schwer und sorgenvoll.
Doch der Pfarrer fiel ein: „Ein Brautpaar! Das bedeutet Freude für das Engadin. Man hat es so lange nicht erlebt!“
Und er hob sein Glas.
Es war ein glücklicher Tag im Hause Cilgias. Aber er verdeckte die Sorge nicht ganz.
„Vom Maloja bis Zernetz kann man gehen, man findet keinen neuen Ziegel auf einem Dach,“ klagte der Pfarrer. „Die Häuser der Ausgewanderten, die niemand pflegt, stürzen ein und jedes Dorf hat seine Ruinen, die wie Untergang thalauf, thalab schauen. Es ist zum Thränenvergießen, wie wertlos alles geworden ist!“
Ihm aber antwortete der in Liebe und Heimatglück aufwallende Herr Konradin:
„Auf das Wohl unseres Freundes Luzius von Planta, der uns im Ratsaal zu Chur den Bau der Alpenstraßen erobert hat! Es lebe die Zeit, wo man mit Wagen und Post über die hohen Berge fährt! Ich sehe sie an den grünen Hängen niedersteigen – sie bringen Gäste zum Sauerquell von St. Moritz!“
Mit der Bedächtigkeit des lebenserfahrenen Mannes dämpfte Melcher seine Begeisterung: „Wir sind ein halbes Jahrhundert zu spät – der Weltverkehr geht nie wieder über die Bündnerpässe. Schaut Euch vor, daß nicht die Spötter recht behalten – daß das Bad St. Moritz gebaut wird und dann – keine Gäste kommen!“
Als sie am Abend die drei Männer zu Pferde gegen die Bernina traben sah, dachte Cilgia an einen, der einst auch wie Herr Konradin in heißlodernder Begeisterung es vor ihr und dem Himmel versprochen hatte, daß er die erlöschende Ampel des Engadins füllen werde.
Sie dachte an Markus Paltram – und erschauerte bei dem Namen.
Dennoch war ihr, als könnte nach den großen Stürmen auch ihr wieder die Sonne lächeln.
Sie betrachtete ihren prächtigen Buben. Es fiel ihr ein, daß bald die Zeit komme, wo Lorenzlein Lesen und Schreiben lernen sollte.
Und sie dachte an die Schulpläne ihres Vaters. Einige Tage später ging sie zum Podesta, sie sprach: „Es war immer der Stolz von Puschlav, daß wir ein aufgeklärtes Völkchen sind; um es aber zu bleiben, sollten wir einen Lehrer, einen tüchtigen Pestalozzianer haben. Ich thue das meine.“ – „Was wollt Ihr thun?“ fragte der Podesta. – „Ich richte der Gemeinde unentgeltlich ein Schulzimmer in meinem Hause ein. Ich will es nicht so tot bleiben lassen, wie es jetzt ist.“
Der Plan gefiel in Puschlav. „Ihr Mann, der verschollene Gruber,“ sagten die Leute, „hat immer ein saures Gesicht gemacht, wenn er mit seinem großen Umtrieb zu den öffentlichen Lasten hat beisteuern müssen – sie aber ist wie ihr Vater, der zu früh gestorbene Podesta – sie hat die Ader für das öffentliche Wohl!“
Gegen den Herbst kam noch einmal Pfarrer Taß geritten.
„Es geschehen noch Zeichen und Wunder,“ erzählte er fröhlich. „Der Aristokrat, ich meine den Landammann, hat sich mit dem Volkstribunen halb und halb versöhnt. Aber gekracht hat es in St. Moritz, als müßte das ganze Dörfchen auseinander gehen. Herr Konradin saß mit Menja schon zu Pferd, um in die weite Welt zu reiten. ‚Was soll nun dieses junge, schöne Paar wegen der Hartköpfe fort?‘ so murrte das Volk, ,wir sehen doch auch lieber etwas Junges als nur unsere alten, streitbaren Herren!‘ – Ich kam dazu – und siehe da, der Landammann brach seinen Starrsinn – er ging zu Melcher – und jetzt ist großer Waffenstillstand – sie haben beide mit mir eine Flasche getrunken. Aber das Bad – das Bad – das kommt nicht – das ganze Dorf ist dagegen!“
„Es kommt,“ sagte Cilgia fest, „nur ist der Feldzugsplan ein Geheimnis!“
Allmählich wurde es Herbst.
Es war an einem trüben Oktobertag, der Schnee fiel dicht und schwer, es herrschte Wetter wie damals, als Sigismund verschwand, und der Sturm geigte an den Ecken des Hauses.
„Mutter,“ bettelte der kleine Lorenz, der mit ihr in die Flockenjagd hinaussah, „erzähle mir eine Geschichte – erzähle mir vom König der Bernina! Ist es wahr, daß er auf einen Berg steigen will, den niemand ersteigen kann?“
„Bist ein thörichter Bub,“ sagte sie heftig und wandte den Kopf gegen das Fenster, damit er sie nicht sehen könne. Der Name traf sie wie ein stechender Schmerz.
Da sah sie auf der Straße eine weibliche Gestalt, die, in ein großes dunkles Tuch eingeschlagen, fast wie eine Nonne aussah und sich durch den mit den Winden wogenden Schnee kämpfte. Das Weib schritt den Flecken aufwärts und entschwand rasch im dichten Wirbel der Flocken.
Wäre Cilgia nicht so stark von ihren Gedanken befangen gewesen, so hätte sie die wie ein Schatten vorüberhuschende Gestalt erkennen müssen.
Der Sturm nahm zu – ein wilder, schrecklicher Spätabend folgte dem Tag.
Sie wachte noch. Da ging durch den Flecken der Ruf: „Ein Unglück!“ – Er kam von veltlinischen Säumern, die sich durch den Schnee der Bernina gekämpft hatten und erst gegen Mitternacht, selbst zum Sterben erschöpft, Puschlav erreichten.
Cilgia war eine der ersten bei den lärmenden vermummten Männern, bei den Pferden, die voll Eiszotteln hingen, und die Laterne des alten Thomas leuchtete in die Schneenacht. Auf einem der Pferde saß halb, lag halb mit einem schwarzen Tuch umhüllt ein Weib – die Gestalt, die Cilgia wie einen Schatten durch den Schnee hatte gehen sehen, und zwei Männer hielten sie.
„Eine Wegstunde oberhalb des Fleckens haben wir sie gefunden,“ erzählten die Säumer, „es ist ein Roß an ihrem Leib gestrauchelt. Da haben wir sie aufgehoben – sie lebte noch und atmete, aber wir konnten uns nicht weiter um sie kümmern, denn wir hatten genug mit uns und unsern Rossen zu thun.“
„Bringt sie in mein Haus,“ sagte Cilgia erbarmungsvoll.
Als man aber im Zimmer die Tücher zurückschlug, in die die Verunglückte eingehüllt war, sank Cilgia vor Schreck fast zu Boden, und jede Farbe wich aus ihren Zügen.
„Gott, das ist Pia! Das ist das Weib Markus Paltrams!“
Die Leute aber, die sie begleitet hatten, um die Wiederbelebungsversuche anzustellen, erklärten bald: „Da ist jede Mühe umsonst – sie ist tot! Sollen wir sie in die Gemeindescheune bringen, oder wollt Ihr sie hier behalten?“
Tieferschüttert antwortete Cilgia: „Laßt sie hier!“ Ein Weib aus dem Flecken schloß die gläsernen Augen der Toten und wachte bei ihr.
Am folgenden Tag hatte der Sturm nachgelassen und das Wetter war so leidlich, daß man es wagen durfte, einen Boten mit der Unglücksmeldung nach Pontresina zu schicken.
Im Lauf dieses Tages wurde auch einiges aus den Schicksalen der wandernden Pia bekannt, denn der Fuhrmann, auf dessen Warenwagen sie von Mailand an mitgefahren, hielt sich noch in Tirano auf. Wie sie ihm erzählt, hatte sie ihren Bruder in Hamburg erreicht; nach einiger Zeit aber hatte sie das Heimweh nach Mann und Kind und den Bergen überfallen, Orlando hatte sie dann auf einen Segler gegeben, sie war von Schiff auf Schiff gekommen, immer hatte sie gute Menschen getroffen, die einen in mehreren Sprachen abgefaßten Geleitbrief ihres Bruders lasen und weiter für sie sorgten, bis sie in Genua landete.
[780] „Sie war zuerst ganz still,“ erzählte der Fuhrmann, „als sie aber aus der Ebene die Berge sah, kam es wie eine Art Tollheit über sie und ihr Vorwärtstrieb war kaum mehr zu bändigen.“
In acht Tagen, mit vielen Unterbrechungen, die das Aus- und Einladen der Waren erforderte, war er mit ihr von Mailand nach Tirano gelangt.
Zuletzt sprach sie nur noch von ihrem Kinde in Pontresina, sprach wirres Zeug, als ob sie nicht ganz gut im Kopf wäre, und machte sich trotz aller Abmahnungen auf den schwer verschneiten Weg. – –
Am Morgen betrachtete Cilgia noch einmal die blasse Tote.
Die wilde Pia, die heimtückische Pia – eine seltsame, in ihren dunklen Gängen nicht leicht verständliche Seele war zur Ruhe gekommen.
Nun war Cilgia doch, es liege ein Glanz auf der niedrigen Stirne des Weibes. Die unwandelbare Schwestertreue – das erwachte Heimweh nach dem Kinde!
Sie legte frische Rosen und Nelken, die sie von den Stöcken zwischen den Fenstern schnitt, auf die Brust der Leiche.
O wie hatte sie diese geringe Pia gehaßt! Aber das Sterben im Schnee löschte die Bitterkeit hinweg.
Schrecklicher war ihr der Gedanke, daß nun Markus Paltram kommen würde, die Verunglückte abzuholen – daß sie ihm gegenübertreten – daß sie ihm ihre Teilnahme bezeigen müßte. Sollte sie ihn fragen: „Wißt Ihr, wo mein Mann Gruber geblieben ist?“
Um Lorenzleins willen verwarf sie in herbem Kampfe den Plan. Wie wenn Markus Paltram bekennen würde: „Ich habe ihn erschossen!“ – dann müßte sie die Leiche suchen und beerdigen lassen, dann sah das Volk klar in den schmachvollen Untergang des reichen Saumhalters.
Das durfte wegen ihres Buben nicht sein! – –
Die Stunde kam, wo Markus Paltram seinem toten Weib die Hand reichte, würdig, feierlich. – Da trat auch Cilgia im Trauerkleid herzu – von eigenem Leid umhüllt wie eine, der niemand nahen darf – in unzugänglicher Vornehmheit, fremd und kühl, mit wenigen, fast trockenen Worten des Mitgefühls grüßte sie ihn.
Als er aber die Rosen und Nelken auf der Brust der Leiche sah, fragte er Cilgia: „Habt Ihr sie daher gelegt?“
Sie nickte nur mit dem stolzen, blassen Haupt.
Da sank der gewaltige Mann neben die Bahre und schluchzte.
War es doch etwas Liebe zu seinem toten Weib? – schluchzte der selsenstarke Jäger unter der Gewalt der Geschicke?
Cilgia und der Säumer Tuons, der Markus Paltram auf dem schweren Gang begleitet hatte, zogen sich zurück.
Markus Paltram war mit seinem toten Weibe allein.
Cilgia hatte seine Erscheinung doch in allen Tiefen ihrer Seele ergriffen. Sie spürte es wohl, sie stand einem Ebenbürtigen gegenüber.
Aus ihrem Sinnen erweckte sie ein Klopfen an der Thür.
Markus Paltram trat nochmals ins Zimmer – gemessen – feierlich. „Das Nötige ist geschehen – wir können uns auf den Weg begeben. Ich komme, Euch für den großen Liebesdienst zu danken und Abschied zu sagen.“
„Erquickt Euch auf den weiten Weg!“ versetzte Cilgia in voller äußerer Ruhe. „Da stehen Wein, Brot und Fleisch.“
Und eine Weile schien es, als ob sie nur von den Dingen sprechen wollten, die der Traueranlaß bot. Sie redeten wie zwei Fremde – dann wurden sie still.
Da fiel der Blick Markus Paltrams auf das Bild Paolo Vergerios und Katharina Diantis, er blieb in dunkler Träumerei daran hängen. Dann glitten seine Augen hinüber zu Cilgia, die sich um ihre Blumen mühte.
Es war ein langer, dürstender Blick, unter dem sie erbebte.
Sie war in ihrem dunklen Kleid nicht mehr die wundersame, jugendduftige, strahlende Gestalt von Pontresina. Aber sie war mehr! Sie besaß den Adel eines Weibes, das gekämpft hatte, und etwas Klares, Schönes, in sich Einiges stand in dem Gesicht und dem braunen Goldglanz der großen Augen; um die frischen roten Lippen spielte ein ungemein feiner und lieblicher Zug, als wären sie immer noch bereit, froh ins Leben zu lachen. Und das kastanienbraune Haar schmiegte sich weich und schön um das beredte Gesicht.
Was ging in Markus Paltram vor?
„Cilgia Premont!“ löste es sich von seinen Lippen, als bräche etwas in seinem Innersten. „Ihr habt wohl wie kein Mensch auf der Welt das Recht, mich zu verdammen, und wegen der Sünde an Euch muß ich schweifen wie der ewige Jude. Aber Ihr seid besser als Katharina Dianti – gebt mir ein gutes Wort auf den Weg – ein einziges gutes Wort!“
Wie nach ferner verlorener Heimat suchend, sah er sie mit flehenden Augen an und seine Stimme klang voll Demut.
Flehend und demütig – der König der Bernina – herzbezwingend demütig.
In heißer Bewegung stand er auf, sie aber kämpfte in Verlegenheit und Purpurglut.
Eine lange, bange Stille. – Da flüsterte sie mit abgewandtem Haupt: „Markus Paltram – ich habe Euch vergeben! Doch jetzt geht!“
Er aber taumelte, als wollte er im Dank vor ihr niederknieen. „Cilgia Premont!“ stammelte er, und das Wasser stand in seinen Augen.
Da riß sie die Bewegung des Mannes wider Willen fort. Glutrot und verwirrt, mit bebender Stimme sprach sie:
„Ich sage Euch mehr als ich darf. Wenn Ihr Euern Namen mit dem Ruhm einer einzigen guten That umgebt, so wird sich kein Mensch mehr freuen als ich. Jetzt geht! Lebt wohl, Markus Paltram!“
Sie sah ihn an – und unendliche Trauer zuckte durch die Worte: Jetzt geht! Lebt wohl, Markus Paltram!
In den schönen, warmen Augen Cilgias sah er, daß sie ihm wirklich und wahrhaftig verziehen hatte – verziehen wie Katharina Dianti ihrem Peiniger Paolo Vergerio.
„Ihr werdet von mir hören,“ erwiderte er in herzlicher Bewegung. (Fortsetzung folgt.)
George Washington.
Es war am 14. Dezember 1799, als die Bewohner der erst seit anderthalb Jahrzehnten bestehenden Republik der Vereinigten Staaten von Nordamerika ganz unerwartet in eine Trauer versetzt wurden, deren Tiefe und Allgemeinheit sich mit derjenigen vergleichen läßt, die Alldeutschland im vergangenen Jahre beim Hingang seines Einigers Bismarck erfaßte. George Washington, der Held des amerikanischen Freiheitskrieges, der Gründer des heute so mächtigen Staatenbundes, war nach nur eintägiger Krankheit zu Mount Vernon in Virginien aus dem Leben geschieden! – Die Kunde von diesem Ereignis pflanzte sich in jenen Tagen mangelhafter Nachrichtenverbreitung nur langsam fort, und Washington war bereits beigesetzt, bevor die Bewohner New Yorks die düstere Botschaft empfingen.
Mit ihr senkte sich tiefe Bekümmernis über das ganze Land. Keine Kirche, kein Versammlungshaus gab es, wo nicht ein Katafalk zu Ehren des Toten aufgeschlagen wurde, wo nicht dumpfe Trauergesänge ertönten und dem Andenken des Dahingeschiedenen ergreifende Nachrufe gewidmet wurden. Und wohin die Kunde weiter drang, in jedem Teile Mittel- und Südamerikas, in jedem Reiche Europas wurde der Hingang Washingtons von allen Edelgesinnten als ein schwerer Schlag empfunden, der nicht das Volk der Vereinigten Staaten allein, nein, der die ganze Menschheit getroffen hatte. –
Genau 100 Jahre sind seit jenem Trauertage verflossen, und es ziemt sich darum wohl, nochmals jene Thaten und Tugenden zu skizzieren, durch welche George Washington unter [781] allen seinen Zeitgenossen den ersten Platz gewann. – Um die Ereignisse, die seine ruhmvolle Laufbahn möglich machten, würdigen zu können, ist es notwendig, auf die Besiedelungsgeschichte Nordamerikas zurückzugreifen. Die Europäer, welche während des 17. und 18. Jahrhunderts sich an der Ostküste niederließen, waren zum großen Teil Personen, die entweder vor dem Druck der mit absoluter Gewalt regiereudcn Herrscher ins Exil geflohen oder ihres Glaubens wegen argen Verfolgungen ausgesetzt gewesen waren und nun in dem neuen Lande ungestört ihren Anschauungen leben wollten. Diesen an die engen Verhältnisse Englands, Hollands und anderer Teile Europas gewöhnten Leuten offenbarte sich die Neue Welt als ein Land von der ungebeuersten räumlichen Ausdehnung, und ihr Erstaunen wuchs, je weiter sie in das unbekannte Innere gelangten und dort allenthalben unermeßliche Wälder und Prairien, majestätische Ströme und Gebirge fanden.
Diese großartige Welt mußte notwendigerweise die in ihr sich Ansiedelnden mächtig beeinflussen. Die unbeschränkte Freiheit, das Fehlen jedes Zwanges stachelte unwiderstehlich die Thatkraft an, weckte die schlummernden oder unterdrückt gewesenen Fähigkeiten und verlieh vielen einen Weitblick und Wagemut, wie man sie früher nicht an ihnen wahrgenommen hatte.
Besonders der die wichtigste Einnahmequelle der Kolonien bildende Pelzhandel rief eine neue, eigenartige Klasse von Menschen hervor, die kühn sich von den an den Küsten entstandenen Ansiedelungen loslösten und mit der Büchse in der Faust abenteuernd in die geheimnisvolle amerikanische Wildnis eindrangen. Schon während des ersten Viertels des 17. Jahrhunderts erschienen derartige Pelzhändler und Jäger an den Gestaden der großen Binnenseen. Wenige Jahrzehnte später durchstreiften sie Wisconsin, um von dort aus ihre Jagdzüge zum Mississippi und über denselben hinaus bis zu den Felsengebirgen auszudehnen.
Diesen Pionieren der Kultur folgten später Ansiedler, welche in der endlosen Wildnis die ersten festen Wohnsitze schufen. Ihr Los war ein nicht minder hartes; erforderte ihr Vormarsch doch ebensoviel Mut, Ausdauer, Körperkraft und Entsagung, als je von den abenteuersuchenden Helden der Vorzeit aufgewendet werden mußte. Für jene kühnen Naturen lag aber gerade ein Zauber in dem Gefährlichen ihrer Lage, in dem Bewußtsein, daß ihr Leben einzig und allein von der Schärfe ihrer Augen, der Schnelle und Festigkeit der Hand und von der Richtigkeit des Urteils abhing. Dies Gefühl ist es ja, was den echten Mann mit Stolz und Selbstvertrauen erfüllt und ihm fort und fort neue Thatkraft verleiht. Und so war die amerikanische Wildnis das Reich, in dem die Trapper und Ansiedler sich zu jenem wahren Heroengeschlecht ausbildeten, das von Cooper und anderen Romandichtern mit so viel Liebe verherrlicht worden ist.
In der Mitte dieser Leute, die sich alles selber schaffen, erbauen und schützen mußten und deren Geist nicht durch Ueberlieferungen und Gewohnheiten aus vergangenen Jahrhunderten beirrt wurde, mußte das Verlangen nach Selbstverwaltung, nach Selbstregierung notwendigerweise entstehen. Und in der That, die Geschichte jeder an den Grenzen der Civilisation und inmitten der Wildnis entstandenen Niederlassung berichtet, wie die Ansiedler zusammentraten, sich selbst ihre Beamten wählten und Gesetze gaben. Von diesen freien Gemeinwesen aus verbreitete sich der Geist der Unabhängigkeit über alle an der Ostküste gelegenen Kolonien, wo viele Abkömmlinge alter europäischer Geschlechter saßen, die sich durch Ahnenstolz, hohes Selbstbewußtsein, waffenkundiges Wesen und die Eifersucht kennzeichneten, mit der sie über ihre alten Rechte wachten. Mit tiefem Unmut sahen diese Leute, wie die englische Regierung allen Bemühungen der Kolonien um Selbstverwaltung hindernd in den Weg trat, während sie die Ortschaften mit Schwärmen von Beamten überschwemmte, von denen die meisten, infolge verschwenderischen Lebens in der Heimat bankerott geworden, nur herüberkamen, um ihre zerrütteten Finanzen wieder aufzubessern und sich auf Kosten der Ansiedler zu bereichern.
Die letzteren hatten triftige Gründe zu noch anderen Beschwerden: die von den englischen Beamten geübte Rechtspflege war höchst willkürlich, die Steuern äußerst drückend und insofern ungerecht, als den Kolonien die beständig nachgesuchte Vertretung in der gesetzgebenden Körperschaft, dem Parlament, verweigert wurde. Als die englische Regierung schließlich in thörichter Selbstsucht dazu schritt, gar die Verfassungen und Freiheiten der Kolonien zu bedrohen, schlugen die schon lange glimmenden Funken zu hellen Flammen empor. Es kam, als alle schriftlichen und mündlichen Proteste unbeachtet blieben, zu blutigen Zusammenstößen, zur Rebellion.
Das ganze heiße Verlangen der Amerikaner nach Selbständigkeit fand seinen Ausdruck in Patrik Henrys trotzigem Ruf: „Give me liberty or give me death!“ „Gebt mir Freiheit oder den Tod!“ Derselbe fand einen mächtigen Wiederhall in den Herzen sämtlicher Kolonisten. Die große Zeit erzeugte große Gedanken und große Männer. Sie brachte neben vielen anderen einen Henry Lee, Benjamin Franklin, Roger Sherman, John Adams, Robert Livingstone und Thomas Jefferson hervor, die gemeinsam den Ruf „Los von England!“ erhoben und am 1. Juli 1776 im Staatshause zu Philadelphia dem dorthin einberufenen Kolonialkongreß die Unabhängigkeitserklärung unterbreiteten, dasjenige Dokument, welches unter allen jemals geschriebenen politischen Schriftstücken von der machtvollsten Wirkung auf die Zustände und Fortschritte der Kulturvölker [782] gewesen ist. Gleich die zu Anfang desselben niedergelegten Erklärungen waren von einer alle bisherigen Anschauungen umstoßenden Bedeutung: Es sei eine erwiesene Wahrheit, daß alle Menschen gleich geschaffen und von ihrem Schöpfer mit gewissen unantastbaren Rechten ausgestattet seien. Unter diesen befinde sich das Recht zum Leben, Freiheit und das Streben nach Glück und Zufriedenheit. Zur Sicherung dieser Rechte seien Regierungen unter den Menschen eingerichtet, welche ihre rechtmäßigen Befugnisse von der Zustimmung der Regierten ableiten. Und weiter wurde erklärt, daß, wenn immer irgend eine Regierungsform diesen Endzwecken nachteilig werde, das Volk das Recht habe, die Regierung zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und deren Grundlagen auf solche Grundsätze zu legen und ihre Gewalt in solcher Form zu organisieren, wie sie dem Volke zur Herbeiführung seiner Sicherheit und Wohlfahrt am geeignetsten und wahrscheinlichsten dünken.
Die Verhandlungen über dies denkwürdige Schriftstück währten mehrere Tage. Draußen drängte sich ungeduldig eine tausendköpfige Menge und richtete die Blicke erwartungsvoll nach dem Turm des Staatshauses, ob nicht bald der Klang der dort hängenden Glocke gemäß ihrer prophetischen Aufschrift „Proclaim liberty throughout the land unto all the inhabitants thereof!“ dem Lande und seinen Bewohnern die Freiheit verkündigen werde.
Stunden auf Stunden verrannen. Als endlich aber, am 4. Juli zwei Uhr nachmittags, die Glocke mächtig ertönte, da ging ein Brausen und Frohlocken von Massachusetts bis hinab nach Georgia, und jedermann fühlte: der Tag der Freiheit war gekommen!
Hatte die Unabhängigkeitserklärung in Thomas Jefferson einen an Schärfe des Geistes nicht zu übertreffenden Verfasser gehabt, so fand sie in dem am 22. Februar 1732 geborenen George Washington einen ebenso bedeutenden Vollzieher. In ihm, der zeitlebens die Freiheit der Berge und Wälder Virginiens geatmet, der im Kampf mit wilden Tieren und Indianern groß geworden, konzentrierte sich der ungestüme Drang seiner Landsleute nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Pflanzer von Beruf, wurde er jetzt durch die Macht der Umstände ein Soldat, ein Führer im Kampf, der dem ihm übertragenen Werk in glanzvoller Weise zum Erfolge verhalf.
Die ersten Proben seiner kriegerischen Tüchtigkeit hatte Washington bereits während des Krieges von 1755 bis 1763 gegeben, der von den Engländern und Franzosen zum großen Teil auch in Amerika ausgefochten wurde und daselbst einen geradezu grauenhaften Charakter annahm, als die Gegner die ihrem Einfluß zugängigen Jndianerstämme zur Anteilnahme an dem Kampfe aufhetzten. In jenen schließlich mit dem Untergang der französischen Herrschaft in Nordamerika endigenden Kämpfen hatte Washington es zum Befehlshaber der von der Kolonie Virginien gestellten Truppen gebracht und sich so ausgezeichnet, daß, als der Kolonialkongreß zu der Ueberzeugung gelangte, nur ein Appell an die Waffen könne die Selbständigkeit der Kolonien herbeiführen, sich aller Augen auf Washington richteten. Als dieser den ihm angebotenen Oberbefehl über die von den gesamten Kolonien aufgebrachte Armee übernahm, betonte er, daß er sich der gestellten Aufgabe keineswegs gewachsen fühle, die Annahme des hohen Postens aber als Pflicht betrachte, da die Wahl einstimmig auf ihn gefallen sei. Das vom Kongreß bewilligte Gehalt von 500 Dollars monatlich schlug er aus und beanspruchte nur die Rückerstattung seiner direkten Auslagen.
Während des acht Jahre währenden, außerordentlich wechselreichen Krieges kamen die Vorzüge Washingtons zu vollster Geltung. Gab er sich während der Belagerung von Boston, der Verteidigung von New York und während seines durch kühne Schläge gegen den verfolgenden Feind ausgezeichneten Rückzugs durch New Jersey als einen Meister in militärischen Schachzügen zu erkennen, so zeigte er sich während der trübsten Epoche des ganzen Krieges, dem im Lager zu Valley Forge verbrachten Winter 1777 auf 1778, als ein Mann, der sich weder durch Mißgeschick noch Ungemach entmutigen läßt.
Kaum ein zweiter hätte es vermocht, die Waffen der jungen Republik durch eine solche Fülle von Widerwärtigkeiten und Gefahren zum Siege zu führen. Er vor allen anderen besaß die notwendige Festigkeit des Charakters, den sorgfältig erwägenden und praktischen Verstand, die absolute Selbstverleugnung, den Adel der Gesinnung, den hohen Mut und das nie verzagende Vertrauen auf das schließliche Gelingen des großen Werks. Und nicht zuletzt auch das gänzliche Verzichten auf persönliche Vorteile, auf Befriedigung des eigenen Ehrgeizes. Wäre Washington von letzterem erfüllt gewesen, so hätte er sich ohne einen Gewaltstreich zum Diktator, ja zum König machen können. Dafür war gegen Ende des Krieges die Lage die denkbar günstigste. Der Krieg hatte dem Lande nicht bloß 70000 Mann gekostet, sondern auch eine Schuldenlast von 135 Millionen Dollars aufgebürdet. Es fehlte dem Kongreß an Geld und Kredit, um selbst die dringendsten Verpflichtungen zu erfüllen. Infolge der unvermeidlichen hohen Besteuerung herrschte allenthalben Notstand und Mißmut; unter den Truppen, die seit Monaten keinen Sold erhalten hatten, sogar Erbitterung gegen den Kongreß. Ueberall sehnte man sich nach einer starken Hand, welche das Steuer übernehme und den ungeregelten Zuständen ein Ende mache. In jener Zeit entstand in der Armee eine von vielen hervorragenden Offizieren unterstützte Strömung für den Plan, an Stelle der aussichtslosen Republik eine Monarchie aufzurichten und Washington die Königswürde anzubieten. Dieser aber wies, als die Offiziere ihm ihren Plan schriftlich unterbreiteten, das Angebot in der nachdrücklichsten Weise zurück und erklärte, daß man ihm, nachdem er jahrelang für die Unabhängigkeit des Landes gestritten, keine schmerzlichere Ueberraschung als diese habe bereiten können. Man könne keine Person finden, die weniger geneigt sei, auf ein solches Anerbieten einzugehen, und er vermöge nicht zu verstehen, wie irgend eine seiner Handlungen die Offiziere dazu habe ermutigen können, ihm mit einem solchen Vorschlage zu nahen.
Eine solche Denkweise konnte ihre Wirkung nicht verfehlen. Als endlich 1782 der langwierige Krieg beendet war und Washington nach Rückgabe seines Oberbefehles sich auf den von seinem älteren Bruder geerbten Landsitz Mount Vernon am Potomac zurückzog, hatte er sich im Herzen seines dankbaren Volkes einen unerschütterlichen Platz erobert.
Trotz der Abgeschiedenheit seines Wohnsitzes blieb Washington der Mittelpunkt des damaligen politischen Lebens innerhalb der Union. Fast mit allen einflußreichen Persönlichkeiten stand er in Briefwechsel, und sein stattliches Haus, in welches er im Jahre 1759 Martha Custis, eine junge Witwe, als Ehegemahl eingeführt hatte, wurde nie leer von Gästen, die in diesen oder jenen Angelegenheiten seinen Rat suchten. Infolge dieses beständigen Gedankenaustausches mit den hervorragendsten Männern des Landes erlangte er eine solche Vertrautheit mit allen Vorgängen auf dem Gebiete der Politik, daß sein Urteil für immer weitere Kreise maßgebend wurde und oft den Ausschlag gab. Als der Anstoß zur Revision der Bundesverfassung gegeben wurde und im Mai 1787 die Abgeordneten der Einzelstaaten in Philadelphia zusammentraten, um die noch heute gültige Verfassung festzusetzen, erschien es aller Welt natürlich, daß Washington den Vorsitz über jene wichtige Versammlung führe. Sein Name schwebte auch auf jedes Mannes Lippen, als man zur Errichtung einer Nationalregierung schritt, die aus einem aus Abgeordneten aller Staaten zusammengesetzten Bundeskongreß und einem die vollziehende Gewalt darstellenden Präsidenten bestehen sollte. Grenzenloser Jubel erscholl, als die vom Volke erkorenen Wahlmänner im Februar 1789 zusammentraten und aus ihrer Wahlurne der Name George Washingtons mit Einstimmigkeit als derjenige des ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika hervorging.
Die Kunde seiner Erwählung empfing Washington in Mount Vernon. Er hatte das hohe Amt keineswegs gesucht und seinen Freunden gegenüber oft den Wunsch ausgesprochen, daß es nicht auf ihn fallen möge. Nachdem dies dennoch eingetreten war, hielt er es zum zweiten Male für seine Pflicht, dem dringenden Rufe der Nation zu folgen. Bevor er sich zur Reise nach New York anschickte, wo die Einführung in das Amt erfolgen sollte, lenkte er noch einmal seine Schritte nach der einfachen Witwenklause seiner von ihm hochverehrten Mutter. Es war ein Abschied [783] für immer, denn wenige Monate darauf erlag sie einem langwierigen Leiden.
Washingtons Reise nach New York gestaltete sich zu einem förmlichen Triumphzuge. Von nah und fern strömten die Bewohner des Landes herbei, um den „Vater des Vaterlandes“ zu begrüßen. Ueberall ertönte bei seinem Einritt feierliches Glockengeläute; überall bestreuten liebliche Mädchen und Frauen seinen Pfad mit duftenden Blumen. Von Elisabethtown brachte ihn endlich eine reich geschmückte Staatsbarke nach New York, wo am 30. April angesichts einer gewaltigen Menge auf dem Balkon des Bundeshauses die feierliche Ceremonie seiner Vereidigung erfolgte.
Was Washington in jener Stunde gelobte: dem Lande mit ganzer Kraft, nach bestem Wissen und Vermögen zu dienen, das hat er während der acht Jahre seiner Amtswaltung getreulich gehalten. Sein Kabinett bildete er aus Männern von bewährtem Verstande, unantastbarem Charakter und erprobter Vaterlandsliebe, in einträchtigem Zusammenwirken mit ihnen entfaltete er eine Staatskunst, daß die Blicke der ganzen civilisierten Welt sich voll Erstaunen auf das unter so schweren Kämpfen aus dem Boden gesprungene neue Staatengebilde richteten.
Vertieft man sich in die Einzelheiten der damaligen Geschichte der jungen Republik, so kann man sich der Ueberzeugung nicht verschließen, daß der Triumph des neuen Systems wesentlich auf dem Vorhandensein eines so glänzenden Charakters wie Washington beruhte. Der zwingenden Macht seiner Persönlichkeit gelang es, die drohenden Kämpfe der verschiedenen, um die Herrschaft ringenden Parteien so lange niederzuhalten, bis die gefährliche Periode überstanden war und sich aus dem gärenden Chaos die neue Regierungsform fest und sicher gegründet hatte.
Während dieser oft genug von heftigen Stürmen durchtobten Zeit fehlte es nicht an gehässigen Angriffen der gegnerischen Presse auf Washingtons Person; aber dieselben vermochten das Vertrauen und die Ergebenheit des Volkes niemals zu erschüttern. Ohne jede Frage würde, als sein zweiter Amtstermin zu Ende ging, seine Wiederwahl mit der gleichen Einstimmigkeit wie in den Jahren 1789 und 1793 erfolgt sein, hätte er nicht den bestimmten Wunsch geäußert, den Rest seiner Tage auf Mount Vernon zu verleben. Die Abschiedsbotschaft, welche er bei seinem Rücktritt vom Amte an das Volk der Vereinigten Staaten richtete, war ein kostbares Vermächtnis, das bis in die neueste Zeit als die goldene Richtschnur für das politische Leben des Staatenbundes gegolten hat.
Hatte Washington im Kriege und im Rate seiner Nation als erster gegolten, so suchte er in der Zurückgezogenheit des bürgerlichen Lebens eine Ehre darin, der erste Landwirt Amerikas zu sein. Beständig war er auf die Verbesserung seiner Güter bedacht. Unter den vielen Schätzen des Hauses befand sich ein silberner Becher, den er mit besonderem Stolze zeigte: der ihm zugefallene, von einem Verein von Landwirten ausgesetzt gewesene Ehrenpreis für die Züchtung des größten Maulesels.
Washington war einer der bedeutendsten Landeigentümer seiner Zeit. Seine Besitzungen umfaßten weit über 51000 Acres (1 Acre = 40 Hektaren). In Mount Vernon allein beschäftigte er über 300 Personen, darunter zahlreiche Sklaven, die, wie von dem edlen Menschenfreunde nicht anders zu erwarten ist, sich der humansten Behandlung erfreuten. Washington war der Beibehaltung der Sklaverei durchaus abgeneigt und vermied es ängstlich, die Zahl seiner Sklaven zu vermehren. Die Aufhebung der Sklaverei war bereits im Jahre 1688 von den deutschen Bewohnern der bei Philadelphia gelegenen Ortschaft Germantown (vgl. S. 629 dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“) angeregt und später von den mit ihnen in Verbindung stehenden Quäkern aufgenommen worden. Aber die Frage war für die Kolonien von so tief einschneidender Wichtigkeit, daß die gesetzgebenden Körperschaften nicht wagten, an dieselbe heranzutreten. Als am 11. Februar 1790 im Kongreß eine von den Quäkern eingereichte und die Abschaffung der Sklaverei befürwortende Denkschrift aufgenommen wurde, entstand im ganzen Lande die ungeheuerste Erregung. Würde man dem Willen der Antragsteller entsprochen haben, so wäre schon damals ein verhängnisvoller Konflikt zwischen dem Norden und dem Süden die unausbleibliche Folge gewesen; aus diesem Grunde wurde der Antrag im März abgelehnt und dem Kongreß die Befugnis abgesprochen, sich vor dem Jahre 1808 nochmals mit der Sklavenfrage zu beschäftigen. Dieser Entschluß war nicht zum geringsten dem Einfluß Washingtons zuzuschreiben, welcher die Union noch zu wenig gefestigt glaubte, um einen solchen Konflikt überstehen zu können. Er sah die furchtbaren Reibungen, die wegen der Sklavenfrage zwischen dem Norden und Süden entbrennen mußten und siebzig Jahre später den entsetzlichen Bürgerkrieg verursachten, voraus. Mehr als einmal äußerte er sich: „Ich wünsche aus dem tiefsten Grund meines Herzens, daß Virginien dazu gebracht werden könnte, die Sklaverei aufzuheben, weil dadurch viel späteres Unheil vermieden würde.“ Selber jene Frage aufzurollen, dazu hielt er sich für zu alt, hatte er doch, als er sich vom Amte zurückzog, bereits das 65. Lebensjahr überschritten.
Washingtons damalige persönliche Erscheinung war nach Aussage aller seiner Zeitgenossen höchst imposant. Sechs Fuß und 31/2 Zoll messend, breitschulterig und athletisch gebaut, kam seine Gestalt in dem von ihm mit Vorliebe getragenen Gewand aus schwarzem Sammet aufs vorteilhafteste zur Geltung. In dem edelgeschnittenen Gesicht bekundete ein Paar großer, ausdrucksvoller blaugrauer Augen Milde, die festgeschlossenen Lippen hingegen einen energischen Charakter. Das Haar trug er nach der Sitte damaliger Zeit in einen Zopf gebunden und gepudert. Weißseidene Kniestrümpfe, ein dreieckiger, mit Federbesatz geschmückter Hut, gelblederne Handschuhe und ein langer Stoßdegen mit feingearbeitetem Stahlgriff und weißlederner Scheide verliehen ihm einen echt ritterlichen Anstrich. In der kleidsamen Uniform der Revolutionsarmee kamen die Vorzüge seines Körpers fast noch mehr zur Geltung, wofür ein von John Trumbull im Jahre 1790 gemaltes Porträt, das Washington im Kriegsgewande an den Sattel seines weißen Schlachtrosses gelehnt darstellt, den besten Beleg bietet.
Eine über das Elementare hinausgehende Schulbildung hatte er nie genossen. Verhältnisse nötigten ihn bereits in seinem 14. Lebensjahre, den Schulbesuch aufzugeben. Den größten Teil seines Wissens verdankte er eifrigem Lesen und eigenem Nachdenken. Welchen Eindruck Washington auf seine Zeitgenossen machte, geht am besten aus einer Schilderung des französischen Schriftstellers Chastelluz hervor, der als Offizier an den amerikanischen Freiheitskämpfen teilnahm und 1788 in Paris starb. Er schrieb: „Wenn man uns Medaillen von Cäsar, Trajan oder Alexander vorlegt, so untersuchen wir die Gesichtszüge dieser Kaiser, fragen aber dann wohl noch, wie ihre Gestalt beschaffen gewesen, ob sie groß gewachsen waren, und dergleichen mehr. Finden wir dagegen, unter Schutt versteckt, den Kopf oder irgend ein Glied Apolls, so halten wir uns überzeugt, daß die übrigen Teile ebenfalls die Vollkommenheit besaßen, welche das Bild eines Gottes haben muß. Damit will ich ohne Uebertreibung den Eindruck bezeichnen, welchen Washington auf mich gemacht hat. Er erschien mir als ein vollendetes Ganzes, und dies sage ich ohne Schwärmerei, welcher die Untersuchung der einzelnen Teile eines Gegenstandes immer entgegenwirkt.“
Ein längerer Lebensabend war Washington leider nicht beschieden; seine Ehe war kinderlos geblieben. Während eines am 12. Dezember 1799 unternommenen Rittes trug er, von einem schrecklichen Unwetter überfallen, eine Erkältung davon, der er keine genügende Beachtung schenkte. Das Unwohlsein verschlimmerte sich schnell und führte zu krampfhafter Zusammenschnürung der Luftröhre. Die bis zum Uebermaß angewendete Blutentziehung durch Aderlässe, sowie andere primitive Mittel damaliger Zeit brachten keine Linderung. Zusehends verschlechterte sich das Befinden des Leidenden, und bereits am Nachmittage des 14. Dezember fühlte er, daß ihm nur noch eine kurze Frist auf Erden gegeben sei. Nachdem er die letzten Anordnungen getroffen hatte, erwartete er das Ende voll Fassung und wehmütiger Resignation. Mit stillem gütigen Lächeln, das sein Gesicht verklärte, reichte er seiner Gattin und allen um sein Sterbelager Versammelten die Hand zum Abschiede und traf dann noch die Anordnungen für seine Beerdigung. Zwischen 10 und 11 Uhr abends wurde sein Atem leichter. Er lag friedlich da, zog die Hand aus der seines Privatsekretärs Lear und [784] fühlte nach seinem Puls. Wenige Minuten später schlummerte er ohne Kampf, ohne Seufzer in die Ewigkeit hinüber.
In dem heute noch unverändert erhaltenen Sterbezimmer auf Mount Vernon hängt an der Wand ein unscheinbares Zeitungsblättchen, eine Nummer des New Yorker „Mercantile Advertiser“ vom 21. Dezember 1799, welcher den Tod Washingtons mit folgenden erschütternden Worten beklagt: „Wir empfinden eine Trauer, die unsere Sprache nicht beschreiben kann, wenn wir auf die bedrückende Nachricht zurückblicken, daß am Sonnabend, dem 14. dieses Monats, auf seinem Sitze Mount Vernon in Virginien plötzlich starbGeneralleutnant und Oberbefehlshaber der Armeen der Vereinigten
Staaten von Amerika.
Eine korinthische Säule im Tempel der Unsterblichkeit.
Reif an Jahren, bedeckt mit Ruhm, reich an Zuneigung des amerikanischen Volkes.
Leser, wo immer du bist, in welchem Teile der Erde du wohnst, beweine mit uns den Tod des Freundes der Freiheit, des Erlösers unseres Landes, des Verteidigers unserer Rechte, des Kriegers, des Staatsmannes und des bescheidenen Bürgers, welcher niemals in seiner Pflicht abwich vom Pfade der Wahrheit, niemals sich ungebührende Macht anmaßte in den Stellungen, die ihm gegeben waren; dessen Handlungen stets zum allgemeinen Wohle beabsichtigt waren von seinen frühesten Tagen bis zum Ende seiner Zeit …. Im Felde, im Kabinett, als einfaches Glied der Gemeinde – überall gebot er Achtung und Bewunderung; in jedem Sinne des Wortes war er ein Mann, wie ihn ähnlich wieder zu sehen uns niemals erlaubt sein wird; ein Mann, dessen Tugenden in immerwährender Erinnerung bleiben werden.“
Mit diesen letzten Worten hat die Zeitung nicht zu viel gesagt. Mit seinem Namen wurden die Bundeshauptstadt, sowie einer der herrlichsten Staaten der Union und zahlreiche Grafschaften benannt. Washingtons Geburtstag ist der erste der vier nationalen Feiertage. Zu seinen Ehren wurden die stolzesten Denkmäler errichtet und mit einem Motto geschmückt, wie es schöner nie ein König empfing: „First in war, first in peace, and first in the hearts of his countrymen“ – „Der Erste im Kriege, der Erste im Frieden und der Erste im Herzen seiner Landsleute“.
Gefälschte Briefe.
In dem roten Zimmer, dicht beim weißen Saal des Berliner Schlosses waren die Mitglieder des Tabakskollegiums versammelt. König Friedrich Wilhelm I hatte die Sitzung verlassen, um bei der Königin das Abendessen einzunehmen. Das dauerte nicht lange – Schinken und Grünkohl, sein Lieblingsgericht, war rasch verspeist, und wenn die Königin Sophie Dorothea ihre hoffärtige Laune hatte, so flüchtete der König bald vor den Nadelstichen, mit denen dann die Hannoveranerin ihrem ehelichen Tyrannen zuzusetzen pflegte.
Im Tabakskollegium herrschte aber nicht die übliche Lustigkeit, wenn auch die große silberne Bierkanne, aus welcher das Bier mittels eines Hahns in die Krüge und Deckelbecher eingelassen wurde, heute wie immer ihre Schuldigkeit gethan hatte.
Der Generalleutnant von Grumbkow stand nachdenklich und musterte die blauen Teller, die auf hohem Gestell in holländischer Sauberkeit blinkten, dann sagte er zu seinem am Tische sitzenden Nachbar, dem Herrn von Blankensee:
„Der König ist heute sehr verstimmt, was mag vorgefallen sein?“
„Er ist’s schon seit mehreren Tagen,“ erwiderte dieser; „Kammerdiener Eversmann, den ich darüber befragte, natürlich mit dem nötigen Nachdruck, meint, er hätte einen sehr unangenehmen Brief erhalten, und dabei thue er so geheim, man könne nichts ausspionieren!“
„Ei, der Blitz, wenn schon Eversmann nichts weiß, dann ist’s ein Staatsgeheimnis, das keiner von uns herausgraben wird.“
„Ist auch nicht nötig, Blitzpeter,“ sagte mit rauher Stimme der riesige Obrist und Hofjägermeister von Haake, „man muß seine Nase nicht in alles stecken!“
„Wer aber vom Wetter abhängig ist,“ versetzte Buddenbrock, ein freundlicher Herr mit sanften Zügen, „der sieht doch nach, wo die Laubfrösche sitzen. Das ist sicher, der König ist in diesen Tagen sehr streng und verdrossen, und es ist nicht ratsam, ihm in den Weg zu kommen. Heute schon hat er in aller Frühe den verschlafenen Thorschreiber des Potsdamer Thors aus dem Bett geprügelt, weil dieser die Bauern vor dem Thore lange warten ließ. Wenn er so früh aufsteht, da hat er keine Ruhe, da ist’s nicht geheuer! Und später hat er, wie Eversmann erzählt, einen Juden auf der Straße durchgeprügelt, der vor ihm Reißaus genommen hatte, weil er gar so grimmig aussah. Der König setzte ihm nach, holte ihn ein, und als der Handelsmann erklärte, er habe sich vor dem König gefürchtet, erhielt er die Stockschläge und zu diesem Rezept zugleich die Gebrauchsanweisung: ,Lieben, lieben sollt ihr mich, nicht fürchten!‘ Uns hier in der Tabagie ist es ja leicht gemacht, ihn zu lieben. Doch draußen auf der Straße geht er umher wie ein brüllender Löwe und suchet, welchen er verschlinge.“
„Sie sprechen sich um den Kopf,“ sagte Derschau mit seiner lauten, soldatischen Kommandostimme. „Sie haben zuviel in der Bibel gelesen; dergleichen liebt der König nur, wenn er in die Kirche geht.“
Jetzt trat zu Grumbkow ein stattlicher Kriegsmann mit feurigem Blick und Wesen, zu dem die anderen mit einem gewissen Respekt aufsahen: es war der Feldmarschall Fürst Leopold von Dessau, der sich in den Franzosenkriegen reiche Lorbeeren geholt hatte, ein Held wie Prinz Eugen, mit dem er zusammen die großen Schlachten geschlagen, ein Heeresmeister wie kein zweiter, Erfinder des eisernen Ladestockes und des Gleichschritts der Kolonnen, doch nicht allzu beliebt in diesem Kreise.
Sein barscher, soldatischer Ton übertrumpfte noch die rauhe Kasernensprache eines Derschau und Haake, und außerdem konnten es ihm viele nicht verzeihen, daß er als Fürst eine Bürgerliche, eine Apothekerstochter, geheiratet hatte.
„Schwere Not,“ sagte der Dessauer zu Grumbkow, dem treuherzig dreinblickenden, schlauen Berater des Königs, „ich möchte nur wissen, wer meinem Vetter das Konzept verrückt hat! Vorgegangen ist da etwas; doch wenn man anklopft – er muckt gar nicht auf! Bin doch ein alter, lustiger Kamerad von ihm; haben manche tollen Streiche zusammen gemacht in früheren Tagen! Heut’ möcht’ ich ihn nicht daran erinnern; doch hab’ ich mir einen Spaß ausgedacht! Wenn der Gundling kommt, um aus den Zeitungen vorzulesen, da wollen wir dem einen Streich spielen, der die üble Laune des Königs verscheuchen soll – oder – er ist unheilbar!“
Laut schwirrten die Gespräche durch das Zimmer, doch als der König eintrat, verstummten sie. Das war sonst nicht der Brauch; im Gelärme und in dem Tabaksqualm fühlte sich der König wohl, wie ein Soldat im Pulverdampf und Kanonendonner der Schlacht. Das wußte seine Umgebung, und die Herren ließen sich vor ihm gehen! In der That beunruhigte das ungewohnte, ehrfurchtsvolle Schweigen den König und er warf, ehe er sich setzte, einen mißtrauischen Blick auf seine Tischgenossen.
König Friedrich Wilhelm I war damals dreißig Jahre alt; er hatte noch nicht die unförmige Dicke, wie in seinen letzten Lebensjahren; er war ein stämmiger Herr, sein Kopf steckte etwas in den Schultern, seine Züge zeigten oft einen raschen Farbenwechsel; vorherrschend war die dunkle Röte, das Zeichen eines zornigen Temperaments. Das Bambusrohr in seiner Hand war
[785][786] die Zuchtrute des Herrn, die oft genug seinen Unterthanen den nötigen Respekt einprügelte, ohne Unterschied der Person, denn auch die Kammergerichtsräte wurden gelegentlich nicht damit verschont.
Als der König sich niedergesetzt und seine Thonpfeife ergriffen hatte, beeilte sich der Dessauer, der bisweilen aus der rauhen, soldatischen Hülle auch den glatten Hofmann hervorkehrte, den Tabak in der Pfeife des Königs mit einem Fidibus zu entzünden, wozu mit glühendem Torf gefüllte Pfannen dienten. Doch der König riß dem Feldmarschall unwillig den Fidibus aus der Hand, zündete sich selbst die Pfeife an und sagte mit feindlichem Spott:
„Rauch’ Er nur selbst, Dessauer!“
Fürst Leopold war nämlich kein Raucher, doch im Tabakskollegium wäre es ein Verbrechen gewesen, ohne eine Pfeife im Munde dazusitzen. Der Fürst mußte daher kalt rauchen, wie sein Schicksalsgenosse, der österreichische Gesandte von Seckendorf, der gegen das verwünschte Kraut den größten Abscheu hegte, aber als Diplomat es für geboten hielt, des Königs Gunst nicht zu verscherzen, und daher mit der Pfeife im Munde durch fortwährendes Blasen mit der Oberlippe sich den Anschein eines recht wohlgeübten Rauchers gab.
Die ablehnende Bewegung des Königs war Grumbkow nicht entgangen; als der Dessauer ihn fragend ansah, zuckte er mit den Achseln.
In der That, der König war verstimmt, aber nicht bloß das, er war verstimmt gegen sie, seine besten Freunde! Sie fanden keine Erklärung dafür. Das Rätsel war um so unlösbarer, als der König nicht zu den Geheimthuern gehörte, sondern das Herz auf der Zunge zu haben pflegte.
Der Kommandant von Berlin, Quirin de Forçade, aus einer französischen Emigrantenfamilie, wollte den Marquis de la Chétardie, einen Freund, der zum Besuche in Berlin war, in das Tabakskollegium einführen; doch die Stimmung des Königs war so ungünstig, daß er die Bitte kopfschüttelnd ablehnte. „Sie sagen drüben im Reich, ich sei ein Franzose – und ich kann die Kerls kaum ausstehen! Unser Ducksteiner Bier würde mir im Kruge sauer werden, wenn so einer sich hier eindrängte; er würde die Nase rümpfen, als käme er in eine Bauernschenke, wenn er sich auf einen von diesen harten, hölzernen Stühlen setzen müßte! Solch ein Monsieur ist an Polster gewöhnt!“
Die Generale und Obristen lachten herzhaft; es schien, als ob das Eis im Gemüt des Königs aufgetaut sei; doch dann saß er wieder stillbrütend da.
Fürst Leopold hatte seine Hoffnung auf Gundling gesetzt, den Hofgelehrten und Hofnarren, der soeben in die Würde eines Oberceremonienmeisters, eines vor längerer Zeit abgeschafften Postens, eingesetzt worden war. Gundling hatte vom König den Staatsanzug geschenkt erhalten, den sein Vorgänger beim Ordensfest getragen hatte. So erschien er in der Tabagie; ein roter, mit schwarzem Sammet ausgeschlagener Leibrock mit großen französischen Aufschlägen und goldenen Knopflöchern war das Hauptstück; die mächtige Staatsperücke mit herabhängenden langen Locken von weißen Ziegenhaaren, ein großer Hut mit weißen Straußenfedern, strohgelbe Beinkleider, rotseidene Strümpfe mit goldenen Zwickeln, und Schuhe mit roten Absätzen vollendeten die Garderobe.
Der Hofgelehrte mußte im Tabakskollegium in Gala erscheinen; saßen doch auch die Generale in Uniform und mit ihren breiten Ordensbändern am Tisch.
Unter dem Arm brachte Gundling einen Stoß von Zeitungen mit, die er dann vor sich auf dem Tische ausbreitete.
„Les Er, Gundling,“ sagte der König, „aber zuerst, was über Ihn selber gedruckt ist!“
Gundling ergriff ein holländisches Blatt; es enthielt einen Artikel, in welchem er als Hans Narr und Hofspaßmacher verspottet wurde. Der König wußte solche Artikel in die Blätter zu befördern, und es war ein großes Gaudium der Tabagie, wenn Gundling dieselben vorlas; doch dieser blieb ruhig und gleichgültig, Wie wenn er auf dem Katheder stände. So las er auch heute den Schmähartikel auf sich und übersetzte ihn dann ins Deutsche für alle die Hörer, welche der fremden Sprache nicht wie der König mächtig waren.
Ein Bravo, begleitet von Säbel- und Sporengeklirr, belohnte den Vortragenden dafür, daß er so selbstlos den anderen den Zerrspiegel vorhielt, in welchem sein eigenes Gesicht die tollsten Grimassen schnitt.
Auch der König schmunzelte und that ein paar behagliche Züge aus seiner Pfeife; dann aber versank er wieder in düsteres Sinnen, als Gundling eine Menge politischer Artikel vorlas und den Generalen erläuterte. Da zeigte der kleine geputzte Mann, der vielverspottete Hofnarr, eine geistige Ueberlegenheit, welche die Männer des Säbels widerwillig anerkennen mußten. Es herrschte damals in Europa eine Stickluft, schwül und niederdrückend, und keiner der versammelten Kriegsherren vermochte klar in die Zukunft zu sehen. Man hatte gegen die Schweden gekämpft; jetzt aber schien es, als würde Preußen mit ihnen und Rußland gemeinsame Sache machen. Da war die Mecklenburgische Frage: der Kampf des Adels gegen den Herzog Karl Leopold, bei welchem Kaiser und Reich und die andern deutschen Fürsten für den Adel, Preußen und Rußland für den Herzog Partei nahmen. Wie aber würde sich der neue Polenkönig, Kurfürst August von Sachsen, stellen, wenn Schweden und Preußen Hand in Hand gingen? Im Süden regte der spanische Minister Alberoni, die Ansprüche der Königin Elisabeth Farnese vertretend, Italien gegen Oesterreich auf, gleichwie er dem Prätendenten Jakob Stuart in England seine Unterstützung lieh.
In dieses Bild des zerrütteten Europa war ein kleineres eingefügt, dasjenige des bedrohten Preußens. Die Generale dachten nur darüber nach, wohin ihre Regimenter marschieren würden; doch die sorgenvolle Stirn des Königs zeigte, daß Gundlings Berichte großen Eindruck auf ihn machten. Der kleine Mann drängte sich nicht vor mit eigenen Meinungen, aber er wußte doch allem, was er las, eine bestimmte Färbung, eine deutliche Richtung zu geben, und es klang aus seinem Vortrag heraus: „Das Vaterland ist in Gefahr! Mögen die Minister und Generale zusehen, daß es keinen Schaden erleide!“
Fürst Leopold merkte, daß des Königs Stimmung durch dergleichen Zeitungsberichte nur noch mehr verdüstert werden müsse. Deshalb war er darauf bedacht, sie mit den starken Mtteln die er vorbereitet hatte, wieder aufzuheitern. Er verließ das Zimmer und kam bald darauf zurück mit einem fragwürdigen kleinen Geschöpf, das denselben roten Leibrock wie Gundling, dieselbe riesige Perücke mit den Ziegenlocken, denselben Hut mit den Straußenfedern trug. Ein wohlerzogener Affe gab sich Mühe, seinem Vorbilde Ehre zu machen.
Der Fürst stellte ihn als Gundlings Sohn vor und verlangte, daß der Vater ihn in Liebe umarme, ein Verlangen, welches durch den einstimmigen Zuruf der Tischgenossen unterstützt wurde. Gundling spielte nicht lange den Spröden, es würde ihm wenig genützt haben; er umarmte den neuen Gast der Tabagie und mußte es sich gefallen lassen, daß dem jüngeren Gundling neben dem Vater ein Platz auf einem Stuhle eingeräumt wurde.
Ein schallendes Gelächter der Tabagie belohnte diese Familienscene. Doch der König blieb ernsthaft. In Gedanken versunken, hüllte er sich in Rauchwolken ein.
Die Nachbarn fuhren fort, den Oberceremonienmeister und den verheißungsvollen Sprößling desselben zu necken.
„Wird auch zu hohen Ehren gelangen, der junge Gundling! Er hat das Talent von seinem Vater geerbt – sauf Er einmal, junger Bursch’! Der Alte versteht das auch. Trink’ Er den Papa untern Tisch.“
Da erhob sich plötzlich der König.
„Laßt das – bin mit Gundling zufrieden – hat gesunden Menschenverstand – und das ist viel wert; will ihn belohnen! Noch morgen soll er sein Diplom erhalten als Präsident der Berliner Akademie der Wissenschaften. Der Leibniz ist abgegangen – der dumme Kerl, der mit meiner seligen Mama zu meiner größten Langweile über hundert Dinge gesalbadert hat, von denen beide nichts wissen konnten! Gundling zerbricht sich und anderen nicht den Kopf über dergleichen – er wird seine Sache besser machen.*
Der König verließ das Zimmer – die Sitzung war aufgehoben. Alle schritten mißvergnügt zur Thüre hinaus. Nur Gundling und der Affe, den niemand mehr beachtete, blieben am Tische sitzen.
[787] Die Laune des Königs verbesserte sich in den nächsten Tagen nicht; er blieb mißmutig und mißtrauisch, besonders dem Dessauer und dem Grumbkow gegenüber, die ihm am nächsten standen. Wieder traf ein geheimes Schreiben ein, wie Eversmann mitteilte, und wieder waltete darüber das tiefste Geheimnis. Der Domprediger Jablonski, zugleich der Bischof der Reformierten in Böhmen und Ungarn, hatte es in geheimer Audienz überreicht, doch es war gewiß nicht geistlichen Inhalts. Seit Empfang dieses Briefes mischte sich in den Ernst des Königs unverhohlene Aufgeregtheit.
Am Tage darauf fuhr er mit dem General Forçade und zwei Pagen spazieren; zuerst in der Neustadt „Unter den Linden“; dann ließ er nach dem Weidendamm umlenken, stieg aus und ging allein in einen der benachbarten Gärten. Es war nicht die Zeit der Rosen und der Nachtigallen, auch ging der König nicht auf geheime Liebesabenteuer aus.
General von Forçade war nicht ohne Neugier; doch aus der Kutsche konnte er das Terrain nicht übersehen. Der Weg machte weiterhin eine Biegung und die Eingänge zu den Gärten waren dadurch verdeckt.
Der König fand sich zurecht, die Thüre war ihm genau bezeichnet worden. Er trat in den Garten, wo er den Domprediger Jablonski traf, der mit ehrfurchtsvoller Verbeugung ihn fragte, ob er den angemeldeten Fremden zu sprechen wünsche. Auf ein ärgerliches „Ja, was frägt Er denn?“ ging der Prediger nach dem benachbarten Pavillon und holte einen jungen Kavalier herbei, den der König soldatisch kurz begrüßte. Er wollte nicht neugierig scheinen, nicht den Anschein erwecken, als ob er irgend welches Gewicht lege auf diese Begegnung; darum beachtete er ihn zunächst nicht weiter, sondern wandte sich dem Domprediger zu.
„Hat Er meine Ordre erhalten?“
„Erhalten und pünktlich befolgt! Ich selbst habe ihn in meinem Wagen auf der nächsten Post abgeholt und insgeheim zur Nachtzeit in meine Wohnung gebracht.“
„Daß Er mir ihn dort wohl verwahrt und nicht etwa den Leuten zeigt! Ich werde über ihn befinden, wenn ich ihn gesprochen habe. Darauf hat Er weitere Ordre zu erwarten und zu respektieren. Und jetzt laß’ Er uns allein!“
Der Domprediger trat zurück und spazierte in den abgelegenen Gängen des Gartens auf und ab.
Jetzt faßte der König den jungen Mann ins Auge: dieser hatte etwas Sympathisches in seinem Wesen, angenehme Züge, feurige Augen, eine schlanke, biegsame Gestalt. Seine Stirn war wie von Gedanken herausgemeißelt, um seine Lippen spielte ein feines Lächeln.
„Wie heißt Er?“ fragte der König.
„Johann Michael von Clement.“
„Wie alt ist Er?“
„Neunundzwanzig Jahre.“
„Und wo geboren?“
„In Ungarn, in dem Flecken Neusohl.“
„Er hat mir Briefe zugeschickt, lebensgefährliche, halsbrecherische Briefe. Doch der Inhalt ist von äußerster Wichtigkeit. Wie kommt Er dazu, solche Dinge zu wissen?“
„Durch meine ganze bisherige Laufbahn, Sire.“
„Erzähl’ Er!“
„Ich begann meine diplomatische Thätigkeit im Kabinett des Fürsten Ragoczy von Siebenbürgen und war im Kriege gegen Oesterreich stets an seiner Seite. Als er, besiegt, die Amnestie verschmähte, folgte ich ihm nach Frankreich.“
„Zuviel Feuer! Doch in Seinem Land wächst ja der edle Tokayer. Was wurde dann aus Ihm?“
„Beim Frieden von Utrecht war ich der Abgesandte meines Fürsten, doch da endeten alle seine Hoffnungen. Auch die meinigen; ich hatte indes Glück, der österreichische Resident im Haag nahm sich meiner an und vermittelte meine straffreie Rückkehr nach dem Vaterlande, wo ich noch einiges Vermögen zu erwarten hatte. Er hatte mich brauchbar gefunden und empfahl mich dem Prinzen Eugen, den ich durch allerlei Schriftstücke von den Intriguen seiner Feinde unterrichten konnte: ich stieg in seiner Gunst, und er vertraute mir alle seine Geheimnisse an.“
„Kein Diplomat der Prinz,“ sagte der König, „der mußte dergleichen im Verschluß halten!“
„Ich weiß viel, sehr viel, Majestät, von allem, was zwischen den Höfen verhandelt wurde, und auch ich selbst wußte von Ragoczys Plänen viel zu erzählen. Mein Gönner war der Sekretär des Prinzen, Langedel, doch der gab ihm selbst bisweilen die Richtung und ich mußte im Einverständnis mit ihm handeln.“
„Große Generale,“ brummte der König, „doch sonst wie die Kinder! Lassen sich am Leitseil führen – pah, das sollte einer wagen hier in Berlin oder Potsdam!“
„Doch es gab in Wien verschiedene Hofparteien, dem Prinzen feindlich; sie hatten ein Auge auf mich geworfen, machten allerlei Versuche der Annäherung. Der Prinz erfuhr davon, und als mein Gönner, Langedel, gestorben war, verlor ich das ganze Vertrauen des Prinzen und wurde beiseite geschoben. Meine Rechtfertigungen, meine Bitten, nichts fand mehr Gehör! Darauf gewann ich das Vertrauen des Grafen Flemming, des kursächsischen Ministers, und meine Mitteilungen über die Wiener Verhältnisse und aus dem Kabinett des Prinzen setzten ihn in stand, bei seinem Könige die Rolle eines kundigen, tiefeingeweihten Diplomaten zu spielen.“
„Und warum ist Er nicht bei Flemming geblieben?“
„Majestät, mein Gewissen regte sich. Die Ehrerbietung vor Ihnen, Sire, der Abscheu vor dem Verbrechen, das in Dresden und Wien angezettelt wurde, mein Widerwille gegen die römische Religion, welche siegreich aus diesen Händeln hervorgehen mußte – alles das bestimmte mich, das einzige zu thun, was einem Ehrenmann unter solchen Umständen übrig blieb, und den schändlichen Plan zu verraten!“
Dem König schoß die Glut ins Gesicht.
„Man dachte daran, man wagte daran zu denken! Sind gekrönte Häupter nicht mehr ihres Lebens sicher vor solchen Kanaillen in den Kabinetten? Doch red’ Er, red’ Er!“
„Zuvor geruhen Majestät mir die huldvolle Zusicherung zu geben, daß mein Aufenthalt hier geheim bleiben, daß ich einzig und allein mit Ihnen zu thun haben werde und daß es mir freisteht, jederzeit wieder abzureisen, sobald es mir nötig dünkt.“
„Das hab’ ich Ihm schon schriftlich zugestanden – es bleibt dabei!“
„In Wien und Dresden betrachtet man mit Neid den Aufschwung der preußischen Königsmacht, welche unter Eurer Majestät glanzvoller Regierung durch die Siege über Schweden und das Bündnis mit Rußland an Ansehen so gewachsen ist. Man weiß sehr wohl, daß Sie es selbst sind, Sire, mit dem Preußen steht und fällt! Und deshalb richtet sich eine verräterische Politik mit verbrecherischen Anschlägen gegen Ihre Person.“
Der König erblaßte; er ging unruhig hin und her. Clement machte eine Pause, um ihn nicht in seinen unheimlichen Gedanken zu stören. Friedrich Wilhelm warf einen mißtrauischen Blick auf den Unterhändler. „Mord also?“ – Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück.
Doch Clements Wesen hatte etwas freundlich Harmloses, sein Feuerauge einen sanften Glanz, und soweit sich ein zutraulicher Ton mit einer unterthänigen Haltung vertrug, wußte Clement ihn geschickt anzuschlagen. Der König blickte ihn beruhigter an; er wurde bestochen durch diese gewinnende Persönlichkeit, durch das Liebenswürdige und Ritterliche ihrer Erscheinung und die siegreiche Überredungskunst, mit der Clement ihm die bösen Pläne seiner Feinde auseinandersetzte.
„Nicht ans Leben will man Ihnen, Majestät; das würde doch die anderen Höfe zu sehr verstimmen.“
„Verstimmen – wenn man die Kugel im Leibe hat – das ist wohl Wiener Kanzleistil? Danke für die Bescherung!“
„Es sind die glatten diplomatischen Phrasen, die ich eben getreulich wiederhole, denn so spricht man in den Kabinetten. Man hat dort Pläne von der Umgegend von Berlin, von Wusterhausen, wo Euer Majestät oft sorglos ohne die nötige Schutzwache weilen, nur eine Meile von der sächsischen Grenze. Es ist die Absicht, Sie dort aufzuheben und in sicherem Gewahrsam festzuhalten, dann den Kronprinzen in Wien katholisch erziehen zu lassen und unter Vormundschaft des Kaisers auf den preußischen Thron zu setzen; man schwankt noch, ob man nicht dem Markgrafen von Schwedt Kurbrandenburg überlassen soll.“
„Schöne Dinge das! Sakramentsche Teufeleien! Man vergißt mein Heer, meine Generale!“
[788] „Die vornehmsten Generale und Minister, Sire, sind schon für den Anschlag gewonnen, besonders Grumbkow und der Fürst von Dessau, der ja seit langer Zeit ein intimer Freund des Prinzen Eugen ist!“
Der König sagte nichts; er versank in tiefes Schweigen; man sah es ihm an, daß es mächtig in ihm arbeitete; seine Brust hob sich, seine Nasenflügel zitterten; tiefe Falten durchfurchten seine Stirn. Dann schüttelte er wie mit einem Ruck alles von sich ab.
„Das ist unglaublich, das sind Märchen – wie darf ich mich dadurch verblüffen lassen? Lug und Trug ist alles!“
„Geruhen Euer Majestät nur diese Aktenstücke näher anzusehen. Es sind Briefe des Prinzen Eugen an Graf Flemming!“
Der König griff hastig danach. „Doch es ist heute schon zu dunkel hier draußen und in mir. Komm’ Er morgen wieder hierher um die gleiche Stunde – vorher will ich die Dokumente prüfen.“
„Schenken Sie mir Ihr volles Zutrauen – ich werde es zu verdienen wissen! Man wünscht für den Plan die Zustimmung der Seemächte; darum hat man mich beauftragt, nach dem Haag zu reisen; ich hoffe dort noch mehr thun zu können, um die Gewitterwolken zu zerteilen, die über Ihrem Haupte schweben. Sie erlauben mir gewiß, Sire, bald dorthin zu reisen.“
„So bald noch nicht; erst müssen wir im klaren sein!“
„Und dann bitt’ ich Eure Majestät um das tiefste Geheimnis!“
„Das versprech’ ich Ihm, Monsieur! Das paßt mir selbst! Ich werde alles prüfen, genau prüfen – sei Er versichert! Also – bis auf weiteres!“
Der König kehrte zu seinem Wagen zurück in einem Zustand tiefster Niedergeschlagenheit. Ein Landmann, dem die ganze Ernte verhagelt wurde, könnte nicht in ein trostloseres, dumpferes Brüten versenkt sein. General Forçade fragte anteilvoll, ob dem Könige etwas Widriges oder Unheilvolles begegnet sei. Doch dieser schüttelte bloß mit dem Kopfe. In der Nähe des Schlosses ließ er halten; er befahl den Insassen des Wagens, dem Kutscher und den Bedienten, bei ihrem Leben niemand mitzuteilen, daß er auf einige Zeit den Wagen verlassen habe; alle verneigten sich in tiefem Respekt.
Im Schlosse angekommen, begab sich der König in sein Kabinett, befahl aufs strengste, ihn nicht zu stören, und legte vor sich auf den Tisch die verhängnisvollen Briefe. Er griff danach – und, doch zog er wieder die Hand zurück, stand auf und ging mit unruhigen Schritten auf und ab. Dann blieb er vor dem Tische stehen. „Man muß zugreifen – in die Brennesseln hinein – wenn’s auch juckt und brennt!“
Vorsichtig griff er nach dem obenauf liegenden Briefe, wie man nach einem häßlichen Insekte greift, dem man giftige Eigenschaften zutraut.
Es war ein Brief des Prinzen Eugen an Clement. Der König kannte die Handschrift des Prinzen. Der Inhalt des Briefes bestätigte alle Aussagen des ungarischen Edelmannes. Es handelte sich in der That um einen Anschlag auf die Person des Königs; auf Grumbkow und den Fürsten von Dessau fielen verdächtigende Schatten. Dem König schoß das Blut ins Gesicht – er knöpfte sich den Rock auf – welch beklemmendes Gefühl! Seine besten Freunde! Und der berühmte Feldherr war solcher niedrigen Anschläge fähig! Erregt las er weiter: zwei Briefe des sächsischen Ministers Flemming an die Vertreter der Seemächte im Haag! Nun, der Kursachse war ein bitterböser Feind – dem konnte man eher dergleichen freundnachbarliche Liebesdienste zutrauen. Auch ließen die Briefe keinen Zweifel: man wollte mit den Seemächten gemeinsam handeln, wenn nur erst der preußische König beiseite geschafft wäre. Die Sache selbst sei nicht schwer! König August hatte ja schon früher einmal die Fürsten Jakob und Konstantin Sobieski auf der Jagd, einige Meilen von Breslau, gewaltsam entführen lassen! Nun kamen Briefe der kaiserlichen Kanzleien, Briefe untergeordneter Geister, aber sie alle waren eingeweiht in den verwegenen Plan! Und was durfte Preußen vom Kaiser in Wien erwarten? Hatte der Hof doch bei jedem Anlaß feindliche Gesinnung gezeigt, den Magdeburger Adel in Schutz genommen, als er sich heftig über die königlichen Lehnsverordnungen beschwerte. Ja, so empörend das alles war, so glaubwürdig war es! Die Welt war voll von Feinden, das aufstrebende Preußen war allen verhaßt, ein Eindringling in den Kreis der Großmächte, ein Staat von gestern, der das Morgen für sich haben wollte!
In so düstere Gedanken versenkte sich des Königs Gemüt. Der Schlaf floh ihn die ganze Nacht; oft stand er auf und trat ans Fenster. Es war eine rauhe Dezembernacht. Der Wind jagte die Wolken und schüttelte die Bäume; sie hatten ihm nichts mehr zu geben, kein fröhliches Rauschen, keine wehenden Blätter zum Spiel; nur die kahlen Reiser knackten und fielen herunter, nur die alte Eiche am Parkthor raschelte noch mit ihrem gebräunten Blätterwerk und ließ sich aus ihrer Krone ein paar welke Zierden ihrer längst aufgegebenen sommerlichen Pracht rauben.
Ein schwermütiges Wetter! – Da schlich das Mondlicht aus den Wolken hervor, um sich bald wieder dahinter zu verstecken, und die Baumschatten glitten gespenstisch über die Wiesen – waren es schleichende Raubgesellen? Das dunkle Gebüsch dort war voll von Hinterhalten wie die ganze Welt! Doch das sind nicht die schlimmsten, die dort hinten im Versteck lauern – nein, die anderen, die neben uns sitzen, die uns freundlich anlächeln, die treuen Waffenbrüder, die nichtswürdigen Halunken! Und hatte der König mit einem kräftigen Fluch so den Spuk verscheucht, dann legte er sich müde zur Ruhe; doch in seinen Träumen sah er, wie ihm der Dessauer den Degen in den Leib stieß, Grumbkow mit einem ermutigenden Lächeln ihm zurief: „Nur tiefer!“
Am nächsten Tage war der König in der übelsten Laune; er ließ niemand vor in sein Kabinett. Er konnte es kaum abwarten, bis der Abend herankam, die Stunde, für die er Clement in den Garten bestellt hatte. Was wollte er von ihm? Die schriftlichen Beweise lagen ja in seiner Hand! Doch es drängte ihn, darüber zu sprechen. Wem konnte er sonst sein Herz ausschütten? Doch nicht den Verrätern, die ihn umgaben? Und mit seinem Königswort hatte er Verschwiegenheit gelobt.
Diesmal dauerte die Begegnung noch länger als das erste Mal. So gläubig und abergläubisch der König auch war, so war er doch auch dem Fremden gegenüber voll Mißtrauen. Manche Zweifel tauchten in seiner Seele auf, und doch schämte er sich derselben wieder gegenüber einem Manne, der aus eignem Antrieb zu seiner Rettung aus verräterischen Schlingen gekommen war. Und wie glänzend widerlegte nicht Clement alle Bedenken, auch die unausgesprochenen, die er aus des Königs Mienen herauslas! Wie war er bewandert in der Politik des Tages, in allen Geheimnissen der Kabinette! Er schien sie zu erhaschen, ehe sie noch aus den Tintenfässern der Diplomaten herausgekrochen. War er allgegenwärtig in Europa? Er wußte, was Alberoni in Spanien wollte und der Prätendent in Schottland! Vollends die Wiener Politik, die Politik des heiligen römischen Reiches, verstand er zu des Königs besonderem Vergnügen wunderbar zu zergliedern! Und eine große Schadenfreude bereitete es diesem, als er erfuhr, wie der Prinz Eugen, der ihm selbst nach der Krone trachtete, dort an der Donau von erbitterten Feinden verfolgt wurde, die ihm sogar Ruten banden aus seinen Lorbeerreisern.
Clement bat den König jetzt wieder, nach dem Haag reisen zu dürfen, wie es dem Auftrag von Wien und Dresden entspräche. Wenn er nicht bald dort erschiene, so würde dies Befremden erregen bei den sächsischen und österreichischen Diplomaten, und das wäre noch zu früh für seinen Plan, den König zu retten; er müßte erst auch im Haag den Seemächten an den Puls fühlen!
„Weiß am besten, wie dies geht!“ sagte der König lächelnd. „Mein lieber Schwager, der König von England und Kurfürst von Hannover, haßt mich mehr als sein abgedanktes, treuloses Weib, das hinter Schloß und Riegel sitzt. Er, Monsieur, wird da nicht viel thun können zu meinen Gunsten; aber er wird sehen, daß die Schubjacks von Diplomaten sich überall gegen mich verschworen haben! Ehrliche Kerle können sie nicht brauchen in dem heutigen grundfaulen Europa!“
„Also, darf ich reisen?“
Der König zögerte.
„Nicht so rasch, ich brauch’ Ihn noch hier. Möcht’ mit Ihm plaudern, sonst erdrückt es mich! Nach einigen Tagen – ja! Werd’s überlegen!“
[789]
[790] Jablonski, der im Pavillon wartete, erschien auf einen Wink des Königs.
„Sorg’ Er aufs beste für Seinen Gast! Er bleibt noch einige Tage bei Ihm. Wenn er sich langweilt, mag er die Bibel lesen; das können wir alle brauchen, denn der Teufel streckt überall seine Krallen aus nach den Seelen!“
Der König fuhr diesmal in einer noch trüberen Stimmung als das letzte Mal in sein Schloß zurück. Das Stückchen blauer Himmel, das er noch in sich trug, verdunkelte sich immer mehr.
Die Hoffnung, es möchten Irrtümer, Mißverständnisse den Enthüllungen Clements zu Grunde liegen, auch der leise Zweifel, ob dieser die volle Wahrheit sage, schwanden immer mehr. Keiner hatte die ganze Weltlage so durchschaut wie dieser Fremde, keiner so einleuchtend den unheimlichen Zusammenhang der Vorgänge auf der Weltbühne ihm nachgewiesen.
Eversmann, der getreue Kammerdiener, erschrak aufs heftigste, als der König von ihm zwei Pistolen verlangte, die er unter sein Kopfkissen legen wollte – sonst könne er nicht ruhig schlafen! Zwei geladene Pistolen! Und doch schlief der König auch in dieser Nacht nicht. Oft stand er auf, trat wieder ans Fenster, blickte auf die Verstecke im Park, befühlte die Waffen.
Und wenn er dann einzuschlafen versuchte, so griff er danach zwischen Schlaf und Wachen, denn ihm war’s, als sähe er im Mondlicht Gestalten durch die Thür ins Zimmer huschen.
Am nächsten Tage aber begab sich das Unerhörte. Der König konnte sein Tabakskollegium nicht entbehren und doch wollte er nicht mit seinen Todfeinden zusammensitzen. Da wär’ er seines Mißmutes, seiner Erbitterung nicht Herr geworden! Und eine Maske vorzunehmen, das mochte sich für andere Leute passen, aber nicht für den König von Preußen! Als die Stunde schlug, wo die Tabakspfeifen im traulichen Kreise angezündet wurden, kam über ihn das Gefühl größter Vereinsamung. Schon einen Abend war das Kollegium ausgefallen; ihm war zu Mute, als ob ihm ein Glied amputiert worden wäre. Nachdenklich aus seiner Pfeife qualmend, schritt er in seinem Kabinett hin und her. Da kam er auf einen guten Gedanken: er brauchte ja nicht immer mit seinen alten Haudegen zusammenzusitzen, er konnte ja auch einmal ein behaglich Pfeifchen mit seinen guten Bürgern rauchen!
Er beriet sich mit Eversmann, wen man dazu einladen sollte. Die Liste wurde entworfen. Darauf standen einige Herren vom Rate der Stadt Berlin, der sonst unter dem neuen Steuerrat eine sehr gedrückte Stelle einnahm, einige Fabrikherren von Tuchmanufakturen, die Leiter des neueingerichteten Lagerhauses, ein früherer Minister, der Generalempfänger Kraut, ein Günstling des Königs, doch nicht zum Tabakskollegium gehörig, einige reiche Bürger – und auch Gundling durfte nicht fehlen, denn wie er, der König, den gelehrten Herrn aufziehen würde, das sollte auch den nicht hochgeborenen und nicht hochwohlgeborenen Herren von Berlin und Cölln Spaß machen! Pünktlich stellten sich die Gäste ein – die Lakaien machten große Augen, als sie dieser nicht hoffähigen Gesellschaft die Flügelthüren öffneten; es geschah mit ärgerlichen Mienen, als ob ihnen der Schmutz von der Straße ins Schloß gefegt worden wäre.
Doch nicht weniger erstaunte Gesichter machten die Gäste selbst, die sich in die Gebräuche der „Tabagie“ nicht finden konnten und nur zaghaft und ungeschickt ihren Fidibus und ihre Pfeifen anzündeten. Die Nähe des gefürchteten Königs machte auf sie einen beängstigenden Eindruck, und doch zwangen sie ihre Züge zu einem vergnügten Lächeln; sie wollten ihre Furcht nicht zeigen, sie dachten an die beherzigenswerte Lehre, die der König denen, die ihm auf der Straße ausweichen wollten, mit dem Stocke eingeprügelt hatte: „Lieben sollt ihr mich, nicht fürchten!“
Doch der König hatte sich geirrt, als er glaubte, er könne den Gundling diesen Gästen als ein leckeres Mahl servieren, an dem sie ihre helle Freude haben würden. Als dieser mit seiner Allongeperücke und in dem glänzenden Kostüm erschien, flößte er ihnen tiefen Respekt ein, und dieser Respekt wuchs, als er die neuesten Zeitungsnachrichten im Hinblick auf die Weltlage erläuterte. Sie vergaßen keinen Augenblick, daß sie einen der gelehrtesten Herren Preußens, den neuen Präsidenten der Akademie der Wissenschaften, vor sich hatten. Und als der König nach Art und Weise seiner Generale dem guten Gundling etwas am Zeug zu flicken suchte, da lachten sie wohl pflichtgemäß, weil sie den Gestrengen bei so guter Laune sahen; aber es war doch mehr ein gehorsames und verlegenes Lachen und ihrer Ehrerbietung vor Gundling that es kaum Eintrag. Der König merkte sogleich, daß diese Leute noch nicht reif seien für die Späße seiner täglichen schnauzbärtigen Genossen, und schlug bald einen anderen Tön an, der ein lebhaftes Echo erweckte; er sprach über seine Manufakturen, über die feinen und wohlfeilen Tuche, die jetzt erzeugt würden, über sein Verbot der ausländischen Baumwolle und die Kattunkleider, über das Verbot der Wollausfuhr, und da entwickelte sich ein lebhaftes, ernstes Gespräch, das den König von der Intelligenz seiner Unterthanen überzeugte. Sein landesväterliches Herz fühlte sich davon wohlthuend berührt; was er wollte, wurde verstanden und anerkannt.
Ihm wurde so behaglich zu Mute, daß er in dieser bürgerlichen Tabakswolke auf einige Zeit das Unwetter vergaß, das sich für ihn in der Welt draußen zusammenzog. Erst als er in sein Schlafgemach zurückgekehrt war und die auf dem Nachttisch liegenden Pistolen erblickte, da stieß er wieder einen Seufzer aus und dachte der kommenden schlaflosen Nacht.
Clement saß am Schreibtische des Dompredigers, welcher in der Regel gegen Abend zu Sitzungen mit seinen Amtsbrüdern ausging. Auf dem Tische und auf den Stühlen umher lag eine große Zahl von Aktenstücken und Briefen. Clement selbst aber konnte die Gänsefeder nicht rasch genug ins Tintenfaß tauchen, so eilig war er bei der Arbeit. Und er legte bald dieses bald jenes vollgeschriebene Blatt Papier beiseite, unter andern auch ein zierliches Blättchen, wie es in die Boudoirs der Damen zu flattern pflegt. Wer aber näher hingesehen und diese Schreiben geprüft hätte, der würde über die Unähnlichkeit der Schriftzüge auf den verschiedenen Blättern gestaunt haben – es waren fast so viele Handschriften wie Briefe! Das mußte eine wunderbare Gänsefeder sein, welche von der niedlichen Perlschrift bis zur breitspurigen Kanzlei- und Frakturschrift Buchstaben in jeder Größe und Gestalt aus dem Tintenfaß hervorzuholen wußte!
Clement schrieb Adressen mit ebenso voneinander abweichenden Handschriften und stempelte mit mehreren verschiedenen Petschaften.
Dann klingelte er. Sebaldus erschien, schwarz und geistlich von Kopf zu Fuß, Haus- und Kirchendiener zugleich, des Dompredigers Faktotum, von oft erprobter Treue, aber nicht unempfänglich für eine Vermehrung seiner Bezüge und eine Ergänzung seiner frommen Groschen mit fremdartigen Goldmünzen, deren aufgeprägte Souveraine sehr verschiedene Gesichter hatten; derartiges Gold, gut und echt, erhielt Sebaldus von dem Gast des Hauses, und zwar in reichem Maße. Er sollte ja dafür keine Unthat begehen, seinen Herrn weder berauben noch töten, nicht seine Kirche anzünden, nicht Landesverräter in der Krypta verbergen; er sollte nur ganz harmlose Dinge thun: die Briefe auf die Post besorgen, ohne daß sie jemand anders sah, auch selber nicht ihre Adressen lesen. Und harmlos war ja auch das andere, was er zu besorgen hatte, mußte er dabei auch ein Geheimnis wahren! Doch was ging es die Leute an, was Herr von Clement that? Seinen Brotherrn freilich, und – das war ein kleiner Stachel in seinem Gewissen – auch ihm mußt’ er’s verschweigen, daß er mit dem in seiner Hand befindlichen Schlüssel das kleine Gartenpförtchen öffnete, welches hinten auf einen schmalen, sich zwischen zwei Gartenmauern hinschlängelnden Weg führte, und daß er das Pförtchen offen ließ, bis Herr von Clement zurückgekehrt war! Das war immer nach einer Stunde und noch ehe der Domprediger von der Sitzung kam. Ein Geheimnis war das allerdings, aber ein ganz unschuldiges! Daß auch die anderen Hausbewohner nichts davon erfahren durften, war ganz in der Ordnung und gab Sebaldus ein besonderes Gefühl seiner Wichtigkeit. Wenn aber dennoch sein Gewissen ein wenig unruhig war – nun, für jedes Oeffnen des Thürchens erhielt er ein blankes Goldstück, und damit konnte er schon einige nicht allzu lebhafte Gewissensbisse besänftigen.
Heute machte Clement sehr sorgfältig Toilette – und Sebaldus bewunderte das ritterliche Aussehen des jungen Mannes, der mit seinem bräunlichen Teint und seinen Feueraugen etwas Zigeunerhaftes hatte, aber doch den Eindruck eines hochstehenden Kavaliers machte. Mit einem tiefen Bückling schloß er dem [791] ungarischen Edelmann das Gartenpförtchen auf und empfing dafür den goldenen Lohn. Clement fand sich zwischen den Gartenmauern, welche die Wege umgaben, leicht zurecht. Zuletzt verengte sich der eine Weg in einen schmalen Fußpfad, der sich mühsam zwischen dem Gemäuer dahinwand und an einem unscheinbaren Pförtchen endete. Clement öffnete es mit einem Schlüsselchen und trat in einen von blattlosem Strauchwerk dichtbewachsenen Garten – hohe Linden umstanden in einem Viereck einen Pavillon, aus dem ein schüchterner Lichtschein durch farbige Fenster fiel. Clement klopfte vorsichtig an eine Scheibe und nannte seinen Namen. Die Thür öffnete sich sogleich, und der Ungar stand einer Frauengestalt gegenüber von prächtiger Schönheit, mit jenen großen Augen, welche die Alten der Gemahlin des obersten der Götter zuschrieben, aber doch von einem Liebreiz in den Zügen, welcher mehr an die Göttin der Liebe und Schönheit erinnern mochte. Ihr Lächeln hatte etwas Bezauberndes und gewann alsbald die Herzen derjenigen, die ihre Hoheit und Majestät einzuschüchtern drohte. Den Zwang der Hoftoilette hatte sie hier abgelegt, der stolze Bau der Hoffrisur war zerstört, sie empfing den Eintretenden mit einem glühenden Kuß.
Es war die Hofdame und Vertraute der Königin, Frau von Blasspiel, und wenn sie einem Diplomaten hier eine Audienz erteilte, die mit den feierlichen Audienzen in Berlin und Potsdam nichts gemein hatte, so mochte sie dies damit rechtfertigen, daß dieser Diplomat ihr Geliebter war, mit dem sie in Dresden sonnige Tage verlebt hatte. Sie war eine Freundin des in Dresden allmächtigen Ministers, des Feldmarschalls Grafen Flemming, und dort hatte sie bei einem Besuch den jungen Ungarn kennen gelernt, der damals in Flemmings Kabinett eine wichtige Rolle spielte als einflußreicher Berater.
„Wie freu’ ich mich, dich hier zu sehen,“ sagte Charlotte von Blasspiel, „es ist so nüchtern an der Spree, weit schöner war’s an der Elbe!“
„Leider bin ich ein Gefangener,“ versetzte Clement, „ein Gefangener des Königs!“
„Pah,“ sagte Frau von Blasspiel, „das sind wir alle mehr oder weniger – und wenn’s nach ihm ginge, müßten wir alle uns von Gefangenenkost nähren.“
„Doch ich bin hier in geheimer diplomatischer Sendung.“
„Vom sächsischen Hof?“
„Ich bin ein Diplomat auf eigene Rechnung.“
„Auf eigne Rechnung?“ fragte die Hofdame erstaunt.
„Ja! Doch das kann ich dir offen sagen: noch immer bin ich der treue Diener des Siebenbürger Fürsten Ragoczy, den sie so schmählich seines Thrones entsetzt haben, und seines Freundes, eines politischen Genies von erstem Rang, des spanischen Ministers Alberoni.“
„Doch was geht des Fürsten Schicksal uns hier an der Spree an?“
„Sehr viel! Denn unsere Pläne können nur gelingen, wenn in Deutschland Zwietracht waltet und Oesterreich und Preußen aufs äußerste entfremdet werden.“
„Und deine Aufgabe in Berlin ist –?“
„Den Dessauer und den Grumbkow aus der Gunst des Königs zu verdrängen, sie zu stürzen!“
Jetzt leuchteten die Augen der Blasspiel auf in der Glut des Hasses. „O, da begegnen wir uns, mein Einziger! Wie herrlich, daß die garstige Politik uns nicht voneinander trennt, wie ich schon fürchtete; daß wir auch hier die gleichen Wege gehen!“ Und sie schloß den Ungarn mit feuriger Hingebung ans Herz. „Der Dessauer und der Grumbkow – das sind die erbitterten Feinde der Königin! Wir trauen ihnen nichts Gutes zu – der König ist in ihrer Gewalt wie das Heilige Grab in der Gewalt der Türken. Alle beugen sich vor ihnen, nur wir nicht! Wir tragen stolz unser Haupt – wir von der Königin! Weihe mich ein in deine Pläne, ich bin zu jeder Hilfe bereit!“
„So kann ich fest auf dich zählen, Charlotte?“ rief Clement voll Feuer. „Du bist meine Bundesgenossin? So lass’ mich denn gleich eine Bitte aussprechen!“
„Wir haben uns in sehr ernste Dinge verwickelt,“ versetzte Frau von Blasspiel zögernd, „was werden die ungeduldigen Amoretten dazu sagen?“
Ein glühender Kuß war die Antwort. „Charlotte – ich will, ich muß dies schöne Asyl der Grazien hier entweihen, wenn du es gestattest! Diese Marmorgötter und Göttinnen sollen auf stahlharte Männer herabsehen, denen zur Bewunderung für ihre Schönheit die Muße fehlt; diese lächelnden Schönen des Olymps auf den Wandgemälden sollen die unempfänglichen Herzen ihrer Gäste nicht rühren!“
„Wovon sprichst du?“
„Ich bitte dich, hier dies Heiligtum entweihen zu lassen durch eine Zusammenkunft politischer Männer, es sind meine Mitverschwornen. Sieh’ hier die Briefe – sie enthalten die Einladung auf morgen hierher für die jetzige Stunde. Laß sie an ihre Adressen besorgen durch einen verschwiegenen Boten!“
Charlotte nahm die Briefe in Empfang und las die Adressen. „Freiherr von Heidekamm – das ist wenigstens ein feiner Herr, der paßt in das Boudoir, und er hat Geld genug, um sich das Leben zu vergolden! Der weimarische Resident Lehmann – den hab’ ich in Dresden gesehen; das ist ein Mensch mit Aktenrunzeln und einem bösen Gewissen, er hat etwas Schleichendes in seinem Gang, und Sekretär Bube – der erscheint gewiß im Salon mit der Feder hinterm Ohr! Das ist keine Gesellschaft, die hierher paßt – könnt ihr nicht in einer dunkeln Gasse zusammenkommen?“
„Es geht nicht – zu groß ist die Gefahr, entdeckt zu werden!“
„Nun, so sei es! Ich werde die Briefe besorgen und die nötigen Anordnungen treffen! Du hast ja den Schlüssel zur hinteren Gartenthüre; du kommst zuerst und sie bleibt offen. Ist’s in den Briefen vorgesehen, daß sie dort eintreten?“
„Ja, ich habe ihnen die Thüre genau bezeichnet.“
„Und nun genug von Politik und Verschwörung – ich habe dich wieder, ich halte dich! Dein Auge flammt mir wieder sein Feuer in die Seele! Leben ist nur bei der Liebe, der Leidenschaft: solche kostbare Augenblicke wiegen lange Jahre auf!“
Es war ein Glück, daß der Domprediger Jablonski diesmal eine sehr lange Sitzung hatte mit seinen Amtsbrüdern, mit denen er über die Reformierten in Böhmen, deren Bischof er war, verhandelte; denn wäre er rechtzeitig nach Hause gekommen, so hätte er seinen Gast vermißt, welchen Sebaldus in tausend Aengsten erwartete. Clement kam sehr verspätet nach Hause; die von den Grazien umtanzte Uhr auf dem Kaminsims der schönen Frau war stillgestanden und hatte versäumt, mit ihrem Glockenschlag den Weckruf aus süßen Träumen ertönen zu lassen.
Am nächsten Tag erschienen die Verschwornen pünktlich im Pavillon; es war, als ob die gemalten und gemeißelten Götter diese nüchternen fremden Männer mit Staunen und einer gewissen Geringschätzung betrachteten – was suchten sie im Heiligtum der Liebe und Schönheit? Sie hingen an den Statuen der Göttinnen ihre Mäntel auf, alle Taschen derselben steckten voll von Papieren.
Das vornehmste Mitglied des Geheimbundes war Freiherr von Heidekamm, ein noch junger Mann mit verwüsteten Zügen, lauernden Augen, aber von hofmännischer Haltung. Er gehörte zu jenen verkommenen Adeligen, welche dem Staate die zweifelhaftesten Dienste leisten und sich auch dort noch verwenden lassen, wo die bürgerliche Moral sich sträubt. Er war ein Sohn des Schatzmeisters und Finanzrats Heidekamm, der von dem Großen Kurfürsten geadelt worden war. Der Finanzrat hatte seinem Sohn eine glänzende Erziehung gegeben und ihm ein großes Vermögen hinterlassen. Der Sohn war Kammerjunker des Großen Kurfürsten gewesen, hatte unter König Friedrich I verschiedene diplomatische Stellen bekleidet, aber dabei durch verschwenderischen Aufwand sein Vermögen eingebüßt. Sein früherer Hofmeister, der Minister Jlgen, wollte wenigstens einige Früchte seiner Erziehung ernten und verwendete den jungen Baron als Spion bei König Karl XII in Stralsund, wo er sich während eines Konseils unter dem Bette desselben versteckt hatte. Da indes der König nicht ausging, mußte der Lauscher auch die ganze Nacht in dieser unbequemen Lage verharren. Trotz der Verdienste, die er sich durch solche aufopfernde Thätigkeit um den Staat erworben hatte, strich ihm König Friedrich Wilhelm I, der an solchen Dienstleistungen keinen besonderen Geschmack fand, die Pension, die Friedrich I ihm ausgesetzt hatte – und da wurde Heidekamm ein Haupträdelsführer im Lager der mißvergnügten Beamten, deren Zahl sehr groß war, denn wo sich irgend Striche durch Gehälter und Pensionen anbringen ließen, da war der König rasch bei der Hand; kam diese Sparsamkeit doch dem Militär zu gute; für sein Heer scheute er keinen Aufwand. Zu diesen grollenden [792] und beiseite geschobenen Beamten gehörte auch der Sekretär Bube, dessen Gehalt verkürzt worden war, weil man sich in seinem Departement einschränken wollte, und der deshalb aus dem Staatsdienst ausgetreten war und eine Stelle als Sekretär bei dem General Grumbkow angenommen hatte. Doch dieser hochmütige und zornwütige Herr behandelte ihn so schlecht, daß er auch gegen diesen Gift und Galle im Herzen hegte.
Am nächsten stand dem ungarischen Abenteurer der weimarische Resident Lehmann, der mit ihm schon längere Zeit Hand in Hand ging und im Auftrage des sächsischen Ministers Flemming mit ihm schon mehrmals in Berlin zusammengetroffen war, wo beide ihre Erfahrungen ergänzten und ihre Pläne austauschten. Lehmann war ein feiner Kopf, reserviert, hinterhältig; er spielte sich durch würdevolles Benehmen auf den großen Staatsmann hinaus; aber diese Würde erlitt durch seine klapperdürre Gestalt und seine bisweilen schlenkrichten Manieren wiederum Einbuße.
Die drei Männer hatten aus ihren Kabinetten allerlei Aktenstücke entwendet, die sie nun mit wichtigen Briefschaften dem Ungarn zur Verfügung stellten, und zwar zu einem doppelten Zweck. Einmal wollte er mit seiner aufs höchste ausgebildeten Schreiberkunst die Handschriften der Staatsmänner kopieren, um sie nachahmen zu können, dann aber erfuhr er mancherlei, was er dem König mitteilen konnte. Die Bestätigung blieb in der Folge nicht aus – und der König gewann so eine hohe Meinung von der Allwissenheit seines Vertrauten! Es wurde viel beraten und geschrieben. Ein Tintenfaß fehlte zwar in dem Boudoir der schönen Dame; doch die anderen hatten Gänsefedern und kleine tragbare Behälter für den gefährlichen Saft mitgebracht, mit dem die Diplomaten damals das Staatsleben vergifteten. Heidekamm hatte das Unglück, sein Tintenfaß auf eine prächtige Figurenstickerei zu verschütten, so daß einige Engel wie mit höllischem Ruß angeschwärzt wurden.
„Ich würde der guten Dame,“ sagte er, „Schadenersatz leisten, wenn ich noch meine gestrichene Pension hätte. So mag sie denken, der Teufel habe hier sein Spiel getrieben, was ja in den Boudoirs unserer Damen oft genug der Fall ist.“
Clement hatte eine reiche Ernte in seiner Manteltasche, als die Genossen aufbrachen, er verabschiedete sich von ihnen. Es war jetzt seine feste Absicht, bald nach dem Haag abzureisen, und er gab ihnen seine dortige Adresse an.
In der That bestand er bei seiner nächsten Zusammenkunft mit dem König darauf, die Reise antreten zu dürfen; er setzte ihm mit seiner glänzenden Beredsamkeit auseinander, wie er dort für ihn wirken, wie er den Seemächten in die Karten sehen könne. Und wie groß die Gefahren waren, die jetzt den gekrönten Häuptern drohten, das mochte die Kunde von zwei Ereignissen dem König zeigen, die Clement tags vorher von Bube erfahren hatte, Nachrichten von Grumbkows Berichterstattern im Auslande, die der König noch nicht gehört hatte, die ihm erst mitgeteilt werden sollten, wenn sie so zurecht gekocht waren, wie es die Neigung und Laune des Fürsten, wie es das Bedürfnis des Augenblicks verlangte.
„Sire,“ sagte Clement, „eine Trauernachricht! König Karl XII von Schweden ist in den Laufgräben von Friedrichshall erschossen worden.“
Der König schwieg betroffen still.
„Wir stehen alle in Gottes Hand,“ sagte er dann, seinen Hut lüftend, als forderten Trommelwirbel zum Gebete auf. „Ein schöner Tod, von feindlichen Kugeln zu fallen.“
„Man fürchtet, Sire, daß es nicht feindliche Kugeln waren.“
„Nicht feindliche Kugeln?“
„Die Kugel eines Meuchelmörders aus den Reihen der Schweden selbst, die sich gegen den König verschworen hatten!“
„Und wer, wer sollte …?“
„Kavaliere aus der Nähe des Königs, seine intimsten Vertrauten, die ihm im Herzen grollten wegen seiner unersättlichen Kriegslust und weil er die Herrschaft nicht mit den Ständen teilen wollte.“
„Womit er nur recht hatte! Und deshalb ermordet?“
„Ja, Sire! So unglaublich es klingt, es ist die Wahrheit! Aber hören Majestät nur weiter, was aus Frankreich für Nachricht kommt! Der Herzog von Maine und die Herzogin sind verhaftet worden, weil sie sich der Person des Regenten bemächtigen wollten. Der spanische Gesandte, Graf Cellamare, war mit im Komplott, in seinem Hause tagten die Verschwörer.“
„So wühlt überall der Verrat?! Recht, recht! Man muß sich die Bösewichter beizeiten vom Hals schaffen! Meinetwegen – so geh’ Er nach dem Haag, wenn Er glaubt, mir dort am besten dienen zu können, doch halt Er mich auf dem Laufenden. Er wird mir fehlen – hab’ mich gewöhnt, mit Ihm zu plaudern – warum weiß Er alles eher als meine Generale und Staatsgelehrten? Warum erfahre ich alles zuletzt?“
„Die sitzen hoch zu Pferde, Sire! Ich aber liege auf der Erde und lausche, wenn sie zu dröhnen anfängt von den Rossehufen der nahenden Feinde.“
„Hör’ Er, ich bin Ihm Dank schuldig und rechne auf fernere Dienste. So werd’ ich Ihm sofort zehntausend Thaler anweisen lassen.“
„Ich danke, Sire! Ich lehne das Geschenk ehrfurchtsvoll ab. Wenn auch meine Güter in Ungarn noch nicht alle freigegeben sind –“
„Doch man sagte mir, daß Er Schulden hätte.“
„Ungeduldige Gläubiger lasse ich warten! Denn ich habe meine Ressourcen, Sire, und ich lasse mir nicht bezahlen, was ich um der guten Sache willen thue.“
Friedrich Wilhelm war nie überzeugter als in diesem Augenblick, daß er ein preisgegebenes Wild sei, auf welches aller Orten die Jäger lauerten – dieser Clement war ein durchaus uneigennütziger Mann, wie selten einer! Aber wenn er sich auch über den braven Kerl freute – um so größer war sein Zorn über die Verräter, vor denen er ihn gewarnt hatte. Er entließ ihn in Gnaden und war mit sich selbst einig, daß er ihn bald zurückrufen werde.
Schon am nächsten Morgen reiste Clement nach dem Haag ab.
(Schluß folgt.)
Verwandtenbesuch.
G’rad’ so viel gut spinnen kann’s.“
Das war das höchste Lob, die größte Anerkennung, welche die alte Weggütler Bäurin einem Dirndl ihres Dorfes zollte. Die gute, alte Frau stammte eben noch aus jener Zeit, wo man auf einem Tiroler Bauernhofe kein Stück Linnen im Schrein fand, welches nicht im Hause gesponnen wurde. Heute noch zeigte sie gelegentlich einmal ihr Brauthemd, dessen Linnen allerdings schon vergilbt war, aber an den feinen, gleichmäßigen, zarten Fäden konnte man erkennen, daß die alten, zitternden Hände, zwischen deren Fingern heute nur knotiger und struppiger Faden auf die Spule rollte, daß diese Hände einst Meister waren in der Kunst des Spinnens.
Weggütler Bäurin! Du lieber Himmel, eigentlich war es nur eine Kleinhäuslerin. Das kleine Gütchen war die Aussteuer, als einst die reiche Großbauerntochter vom Knechte nicht ablassen wollte. Ihrer Abstammung zuliebe aber nannte man ihren Mann Bauer, ein Titel, unter dem sich schon ein gut Stück Feld, Wald und Wiese versteht und ein großer Stall voll stattlicher Rinder.
Hatte die reiche Bauerntochter damals verschmäht, irgend einen Protzen zum Mann zu nehmen und dafür zu den Ersten des Dorfes zu gehören, so war doch mit ihr beim Weggütler das Glück eingezogen und die Zufriedenheit. Der Mann arbeitete von früh bis spät, und sie wirtschaftete im Haus herum und vermißte gar nicht die gefüllten Schreine und Truhen des väterlichen Hauses. Hatte der Weber das bißchen Garn aufgearbeitet, so freute sie sich über die Leinwand, und brachte der Mann vom Wochenmarkt einige Gulden heim, so empfanden beide die Genugthuung, daß es mit eigener Hände Arbeit sauer erworbenes Geld sei.
Großer Familiensegen war den Leuten nicht beschieden. Nach den ersten drei Jahren ihrer Ehe zappelte ein Töchterchen in der mit
[793][794] den Namen Jesus und Maria bemalten Wiege, und nun war es erst recht, als sei das finstere Stübchen mit Sonnenschein gefüllt.
Mit unermüdlichem Eifer arbeiteten die Eltern immer nur im Gedanken, ihrem Kinde einst ein behaglicheres Nestchen zu schenken, als sie selbst bei ihrer Verbindung gefunden hatten.
Unten beim Großbauern kümmerte man sich blutwenig um die Weggütler Leute. Der stolze Bauer starb bald nach der Verheiratung seiner Tochter und konnte sich selbst auf dem Sterbebette nicht ganz beruhigen über „die Schande“, welche die einzige Tochter dadurch der Familie angethan hatte, daß sie den Mann wählte, den sie liebte. Der stolze Bauer konnte es nicht verwinden, daß seine Tochter einem Knechte die Hand gereicht hatte. Dafür war seine Herzensfreude der Sohn. Ja, der hatte es verstanden! Der führte die steinreiche Grubenmüller Tochter heim und hatte Energie genug, sein zanksüchtiges Weib im Zaume zu halten. Recht behaglich war es freilich nicht in der Stube, und der alte Bauer ließ sich zuletzt das Essen in seine Kammer bringen, so zuwider wurde ihm das Gezänke. Aber zehntausend Gulden, das war eine Aussteuer! Die sicherte auf eine Lebzeit hinaus, daß das Bürgermeisteramt und alle Ehrenstellen der Gemeinde sich auf dem Großbauern vereinigen mußten. Der Sohn wurde auch sonst, in seiner Gesinnung, der Erbe seines Vaters. Auch ihm wurde eine Tochter geboren, aber der so ersehnte Erbe blieb aus.
Die reiche Bauerntochter wuchs heran und wurde ein schmuckes Dirndl, das sogar einige Jahre die Stadtschule besucht hatte. Man kann sich denken, wie umworben die reiche Erbin war. Aber der Bauer lachte die Freier alle aus. Einen Eidam werde er sich schon selber suchen. Der müsse das Gleichgewicht halten mit seiner Tochter.
Da lebte weit hinten im Thale ein Bauer, der die größte Alpenwirtschast hatte weit um. Viele Hunderte von Rindern konnten den Sommer hindurch prächtige Weide finden auf den zum Hofe gehörigen Matten, und Wildheu gab es in den Niederungen, daß immer noch fünfzig Zuchtkühe überwintert werden konnten.
Der Mann hatte einen einzigen Sohn und der war wie erschaffen zum Eidam des Großbauern. Die Alpenwirtschaft würde den Großbauernhof fast zu einem kleinen Fürstentume machen. Dies alles überlegte sich der Großbauer, als er hinaufstieg in das Alpenthal, um für seine Tochter einen Mann zu werben.
Die Unterhandlungen mußten auch gelungen sein, denn er schmunzelte vergnügt, als er Abschied nahm von den Berglern, und reichte dem jungen Burschen noch extra die Hand hin. „Thust leicht am Sonntag bei mir Mittag essen, Hans,“ sagte er wohlwollend, „’s ist g’rad’ günstig! A schönes Kalbl wird gestochen, und meine Tochter, ’s Röserl, Strauben kann’s kochen, daß ’s einem auf der Zungen schmelzen, so flaumig!“
Der Junge kam auch, aber in einer ganz anderen Weise. Hochaufgerichtet stand er vor dem Bauern am Sonntag in der Stube und der Zorn blitzte aus seinen Augen.
„Kaufen und alleweil kaufen! Alleweil’s Geld! Kannst dir kaufen was d’ willst, Bauer! Feld, Wald, Haus und Vieh! Leut’ a werd’s geben, da zum kaufen sein. Aber sell merk dir, der Alpenhofer Hans, der ist nit für Geld zu haben! So viel Geld hast du nit, ’s ganze Dorf nit und nit’s ganze Thal! Pack’s in Banknoten ein dein Dirndl meinetwegen und beschwer’s mit Dukaten, i mag’s denno nit!
Und weil i g’rad’ im Schuß bin: der Alpenhofer Hans, gar nit frei sein thut er mehr! Sein Herz gehört dem Weggütler Everl und da könnt’s ös Alten langweg handelseins sein, von dem Dirndl laß i nit, in aller Ewigkeit nit!“
Die Thüre schmetterte hinter ihm zu und die Geschichte war abgethan.
Und ebenso trotzte der Hans dem Willen seines Vaters: das Weggütlerstübchen wurde wieder ein Nestchen für ein junges glückliches Paar.
Die junge Großbauerntochter, das Röserl, aber wußte es durchzusetzen, daß sie, als wieder die mit frommen Namen bemalte Wiege vom Dachboden heruntergeholt werden mußte, den jungen Erdenbürger aus der Taufe hob und das gar noch in Vertretung ihres Vaters! Jeden Monat einmal stieg sie hinauf zum Häuschen, in welchem der Mann wohnte, der sich so energisch gegen das Großbauerwerden gewehrt hatte. Sie freute sich des Glückes der jungen Leute und befand sich behaglich und wohl in dem kleinen Stübchen mit dem gemauerten Ofen und der Ofenbank, am Tische mit den gedrehten Füßen, der viele Generationen aufwachsen sah im Hause!
„Ja Großbauern Röserl,“ schmunzelte der junge Ehemann, „jetzern thut’s mi schon frei wundern, wenn du amal einihupfst in den heiligen Ehestand!“
„Ja mei,“ lachte das Röserl, „fast gar nit trauen thu i mi. I fürcht, es könnt’ sich einer wieder so wehren wie du.“
Die alte Mutter aber schmunzelte und betrachtete die feine Hand der reichen Bauerntochter. „Ja mei,“ dachte sie, „die muß wohl gar fein spinnen können, mit so kluge Händ!“
Eine Ballonfahrt im Sternenschein.
Mai 1899! – Wiesbaden hat sich wie eine Braut zum Empfang der deutschen Kaiserfamilie geschmückt und der Nachmittag füllt die herrliche Stadt im Schoß der Taunushöhen mit unendlichem Jubel über die Ankunft der hohen Gäste. Mitten in der Freude spähen Tausende zum blauen Frühlingshimmel. Zur Erhöhung des festlichen Gepränges soll im Augenblick, in dem die kaiserliche Familie die Feststadt betritt, die „Wega“ des Kapitäns Spelterini, einer der schönsten und größten Ballons, die je gebaut worden sind, zur Sonne steigen.
Umsonst aber suchen die Augen der Neugierigen das leichte Schiff in den Gefilden der Luft. Als eine hellgoldene Halbkugel liegt die „Wega“ noch auf dem Promenadeplatz zwischen den Veranden des Kurhauses und dem großen Teich, in den die alten schönen Bäume des Parkes ihre lenzgrünen Aeste senken. Der Druck, den die Gasfabrik von Wiesbaden in ihren Leitungen auszuüben vermag, ist zu schwach gewesen, um den Ballon auf die festgesetzte Zeit zu füllen.
Denn ein Riesenballon ist die „Wega“, das einzige Luftschiff, das je – es war am 3. Oktober 1898 – die Firnen des Hochgebirges überflogen hat. Sie faßt 3300 Kubikmeter Gas, und hat sie sich damit gefüllt, so beträgt der Durchmesser der aus 3168 Seidenstoffstücken zusammengesetzten Kugel 18,5, der Umfang 58 Meter, ihre Oberfläche 1065 Quadratmeter. Schon seit der vorangehenden Mitternacht arbeiten Kapitän und Gehilfen an ihrer Füllung.
Eine Regimentskapelle konzertiert mit rauschenden Klängen; auf den Promenaden ergeht sich die vornehme Welt, die dem immer schönen Schauspiel des Ballonaufstieges beiwohnen will; es wird sechs, es wird sieben Uhr, noch bauschen sich in der untern Hälfte der „Wega“, die bereits das Dach des Kurhauses und die machtvollen Baumkronen des Parkes überragt, die Falten, aber sie gerät, trotz der achtzig Sandsäcke, die sie an den Boden fesseln, doch schon in zitterndes Schwanken, und das Meisterstück des Netzwerkes, das sich mit seinen über 12 Kilometern Seilen und Seilchen und seinen 21504 Maschen in geradezu ästhetisch wirkender Verteilung über die straffe, glänzende Seidenkugel legt, kommt immer schöner zur Geltung.
Der Tag geht in den Dämmerabend über, da wird die „Wega“ flott. Alles an ihr bebt, lebt, sie drängt wie ein sich [795] bäumendes Pferd in die Höhe. Schon ist das in 24 Seile zusammenlaufende Netzwerk im Holzring am untersten Ende des Ballons zusammengezogen, die Gondel, ein großer aus Meerrohr und Weiden geflochtener Korb, mit 12 starken Stricken daran gehängt, und „Eintreten der Passagiere!“ befiehlt der Kapitän. Eine gewaltige Spannung hat sich der Zuschauerschaft bemächtigt, eine kleine Schar drängt sich um den Korb – ein letzter prüfender Blick des Kapitäns auf Gondel und Ballon und nun „Los!“
Fanfaren der Regimentskapelle – überall Bewegung, Hüte- und Tücherschwenken, tausendstimmige Rufe der Zuschauerschaft: „Glückliche Reise!“ In erhabener Ruhe steigt die hellgoldene Kugel zum sanft geröteten Abendhimmel, auf dem Rand des Korbes steht der Kapitän im Netzwerk und schwenkt die Mütze zum Lebewohl.
Es ist seine fünfhundertunddritte Fahrt – möge sie glücklich sein wie die vorangegangenen!
Man mag so oft, wie man will, in die Gondel eines Ballons steigen, stets werden die letzten Minuten vor der Abfahrt, wenn sich das Fahrzeug wie ein gefesseltes, nach Befreiung lechzendes Raubtier hin und her reißt, das Gemüt beklemmen, wird etwas von der aufgeregten Stimmung der Zuschauerschaft auf den Passagier übergehen, immer wird aber auch der Augenblick, wo die Erde von uns zurück in die Tiefe gleitet, den Passagier mit einem jäh aufströmenden Sicherheits- und Glücksgefühl überraschen, welches so stark befreit und beruhigt, daß selbst den Aengstlichsten plötzlich eine große Unternehmungslust ergreift.
Unsichtbare Hände heben uns sanft und liebevoll. Die Musik verrauscht, die Abschiedsstimmen der Tiefe verhallen – wie eine Blume, die sich mit plötzlichem Schlage öffnet, geht die Welt unter uns auseinander, wird die Enge zur Weite, und was uns vorher groß geschienen hat, Kurhaus, Garten und Teich, selbst die schöne Stadt Wiesbaden, das alles liegt einige Augenblicke nach der Abfahrt klein wie aus einer Nürnberger Spielzeugschachtel genommen unter uns. Am kleinsten sind die Menschen, sie sind nicht einmal mehr so groß wie Bleisoldaten, sie sind Ameisen, schwarze wuselnde Punkte, die auf den hellen Fäden der Straßen komisch dahingleiten, und von allem Lärm, mit dem sie die Erde erfüllen, dringt nichts mehr in die grenzenlose Stille, die uns umgiebt, als der halbverwehte Pfiff einer Lokomotive oder eines Rheindampfbootes.
Mit den Blicken gehen die Gedanken in die Ferne, beschaulich genießen wir die tief unter uns ausgebreiteten Bilder; in unfreiwilliger Andacht empfinden wir die Größe der Welt, die Weite des Raums; ja die Eindrücke der ersten Stunde im Ballon wirken so auflösend auf die Sinne, daß wir sie nur mit dem stärksten Aufgebot des Willens auf die Beobachtung von Einzelheiten zu sammeln vermögen.
In etwas größerer Höhe als die Spitzen des nahen tannendunklen Taunus gelangt die „Wega“ in die Gleichgewichtslage – sie steht ruhig, wie eine goldene Riesenampel, im Abendfrieden, und in den letzten Strahlen der Sonne glüht ihre Hülle, die unsern Blicken offen steht, in feierlichen Orangetönen und scheint wie ein Dom erfüllt mit goldenem Rauch.
An dieser leichten, halb durchsichtigen Hülle hängen drei Menschenleben. – – –
Wenn die Stricke rissen!
Ich habe einmal einen Professor sehr schön über den Tod derer reden hören, die aus einem Ballon stürzen. Sie sterben lange ehe sie den Boden erreichen, der sie zerschmettert. Während des Falles saugt ihnen die aufsteigende Luft den Atem aus der Brust, sie ersticken unterwegs. Der Erstickungstod aber werde von lieblichen Hallucinationen vorbereitet und das Leben ende schmerzlos mit einem schönen Traum!
Das ist tröstlich, tröstlicher ist die Gewißheit, daß es ein tüchtiger Kapitän ist, mit dem wir im Blauen kreisen.
Es sind bald zehn Jahre her, daß ich mit Kapitän Eduard Spelterini zum erstenmal in die Gondel eines Luftschiffes gestiegen bin. Und dann habe ich erlebt, was jeder erfährt, der eine glückliche Ballonfahrt hinter sich hat: er wird das Heimweh nach den hohen Lüften nie wieder los. Jahr um Jahr, oft ein paarmal im gleichen Sommer bin ich mit meinem Kapitän gefahren, meistens über die Berge, Abgründe und Seen der Schweiz. Wir sind nie an einem Gipfel hängen geblieben, wir haben nie einen Zusammenstoß mit einem andern Ballon erlebt, und wenn wir auch einmal eine morsche Esse eingerissen haben, so hat mich mein Freund doch immer wieder mit der Sorgfalt und Sanftheit, die man einer köstlichen Porzellanfigur widmet, auf die Erde zurückgestellt.
Man ist in seiner Gondel so sicher wie im Eisenbahnwagen.
Mein Mitpassagier, ein junger Herr aus Wiesbaden, ist davon nicht so überzeugt wie ich.
„Landen wir wohl bald?“ forscht er ein bißchen ängstlich.
„Wohin denken Sie, wir haben im Sinn, die Nacht durchzufahren!“
Da kommt eine sehr thörichte Geschichte an den Tag. Der junge Mann, der sich im letzten Augenblick vor der Abfahrt zur Mitreise gemeldet hat, ist, wie sich herausstellt, nur infolge einer leichtsinnigen Wette in die Gondel gestiegen.
Nun rinnt ihm der Schweiß der Reue über die Stirn. Schmerzlich ungläubig lächelt er zu unserm Plan.
Aber mitgegangen, mitgehangen!
Eine Nacht im Ballon! – Warum nicht? – Wer je schon bei klarem Himmel und im Schweigen des Sternenscheins auf hohem Berg gestanden, kennt die unergründlichen Reize eines Nachtgemäldes, die poesiereicher sind als der hellste Tag. Wenn die Natur die Farben auslöscht, werden erst ihre zartesten Stimmen vernehmlich, und die Aussicht, so wunderbar sie z. B. über einem Gebirgsland sein mag, ist noch lange nicht das feinste Element einer Ballonfahrt. Das ruhevolle Segeln durch den ungemessenen Raum, die Stille, die tiefer ist als das Schweigen eines Kirchhofes, der Ahnungsreichtum der Himmelsnähe, das Horchen auf die Laute der eigenen Brust, Mannigfaltiges, was halb äußere Natur, halb inneres Erleben ist, geben diesen friedlichen Stunden einen Inhalt, an dem die Erinnerung länger als am Wechsel der Landschaftsbilder zehrt.
Freilich, um sie nachher in Worte zu prägen, sind diese Erlebnisse zu individuell und zu fein.
Der linde Maienabend, in dem kaum ein leises Lüftchen die „Wega“ bewegt, verspricht eine wundervolle Nacht.
Ueber dem Hunsrück jenseit des Rheins steht das Sonnenrot wie eine flammende Wand, und darin rollt und sprüht das Riesenrad des untergehenden Gestirns. Im reinen Himmel, oberhalb der Abendröte, wandelt das blasse Horn des zunehmenden Mondes, der als treuer Knappe der Sonne in die Tiefen des Westens folgen will. Entzückende Lichtspiele gehen in der Halbdämmerung über die Lande. Die Schlange des Mains, die sich dem Rhein zuwindet, schillert in silbernen Schuppen, aus dem Grund des größern Stroms ist das Gold der Nibelungen an die Oberfläche der Wellen gesüegen und funkelt, der ferne Flußlauf der Nahe hat sich mit Rosen bedeckt, nah’ und fern liegt wunderzarter rötlicher Duft über den Landen und verklärt das in weicher Anmut träumende Bild.
Unendlich stimmungsvoll ist das Dahinschweben über den großen und kleinen Städten der Rheinlandschaft.
Wiesbaden, Kastel, Mainz, Höchst, Frankfurt, Darmstadt, selbst das ferne Worms leuchten noch, als ströme zurückgebliebenes Tageslicht aus ihnen, und Hunderte kleinerer Ortschaften blinken wie Häufchen weißer Kiesel im verblauenden Grund.
Jetzt sind nur noch die höchsten Taunusspitzen hell. Feierabend und Friede weit und breit. Ist es Täuschung, ist es Wirklichkeit, hören wir ferne Abendglocken? – Da flammen in Mainz die ersten Lichter auf – einige Augenblicke später, und im Rhein scheinen die Lichtguirlanden der Uferstraßen und Brücken wieder, die Fabriken von Höchst und der große Bahnhof von Frankfurt heben ihre hellen Leuchten in die weite Nacht, und in Wiesbaden brennt man eben das große Feuerwerk zu Ehren des Kaiserbesuches ab. Wie tief bleiben die steigenden Sterne und Farbengarben unter der Gondel, und ihr Spiel, das von der Stadt aus gewiß ein hinreißendes Schauspiel bietet, ist für uns im Bild der lichterflammenden Städte, die wie blitzende Kronen auf dunklem Kissen ruhen, nur eine bescheidene Episode.
Weit über die elektrisch erleuchteten Orte der Nähe hinaus glänzt [796] noch eine Menge großer und kleiner Lichtnebel auf, die gestirnte Erde überstrahlt mit ihrer Pracht die Sternenwelt des Himmels, und die Myriaden nächtlicher Feuerpunkte erweisen die unermeßliche Zahl der menschlichen Wohnstätten, die sich in den glücklichen Rhein- und Mainlanden drängen.
Die Johanniswürmer der Eisenbahnzüge kriechen und schimmern und die Scheinkäfer der Dampfboote ziehen auf dem immer noch metallisch, ja mit Pfauenfederfarben glänzenden Band des Rheins.
Am Himmel sinkt die Mondsichel gegen ferne Berge, ein sanftes Helldunkel erfüllt die Luft. Wenn das Land auch alle Farben ausgelöscht hat, so erkennen wir doch die Umrisse der Gegenstände auf der Erde fast so scharf wie am Tag – selbst die Wanderer auf den Straßen. Im Tau der Nacht, der sich an ihre Hülle setzt, sinkt die „Wega“, ein frisches Lüftchen regt sich, der Ballon dreht sich wie ein Kreisel um die eigene Achse, er treibt gegen Höchst und Frankfurt und fällt langsam so tief, daß der Guiderope, das Schleppseil, dessen letzte dreißig Meter frei hängen, dann und wann am Boden schleift.
Mächtig wächst und schwillt vor uns das Lichtermeer Frankfurts, seine aufsteigenden Strahlen setzen die Riesenkugel der „Wega“ in Transparenz, und so freudig der Gedanke ist, in der Nähe der Menschen zu sein, so wollen wir doch nicht an den Schornsteinen und Türmen der Stadt hängen bleiben.
„Ein halber Sack Sand über Bord!“ – Wie ein goldener Regenstreif rieselt er in die Tiefe.
Unter uns glotzen die Lokomotiven in die Nacht, stehen die beleuchteten Züge, schallen die brausenden Stimmen des Verkehrs.
Wir fliegen – es ist abends zehn Uhr – über den mächtigen Bahnhof, über das von einem silbernen Lichtduft umhüllte Giebelgewirr der Stadt, wir blicken in die hellerleuchteten Straßen, die wie ein Labyrinth von Lichterkränzen sich um die ragenden dunklen Massen der Häuser schmiegen. Wir sehen die Menge der Spaziergänger und hören das Gesumme ihres Plauderns – ob wohl ein Sternengucker unter den tausend Wandlern ist, ob er den Riesenmond, die von den Bogenlichtern der Tiefe beleuchtete „Wega“, entdeckt?
Nein – sie alle gehen ruhig ihres Weges, und obwohl die „Wega“ in den Vormitternachtsstunden dreimal die Türme und Dächer Frankfurts kreuzte, habe ich nie gehört oder gelesen, daß irgend einer von den paar hunderttausend Einwohnern die kreisende Kugel beobachtet hat.
Die Menschen der großen Städte forschen zum Feierabend nur selten in den Rätseln des Himmels.
Unser junger Wiesbadener aber meint: „Wie reizend säße sich’s dort unten bei einem feinen Diner im Restaurant – –.“ Es ist mir entfallen, welches er nannte.
Als ob nicht auch die Gondel der „Wega“ ein für unsere Bedürfnisse wohleingerichtetes Hotelchen wäre. Es ist zwar nicht einmal zwei Meter lang und kaum anderthalb Meter breit und gleicht mit den zwölf Stricken, die sich über unseren Köpfen in den Ring zusammenziehen, eher einem Vogelkäfig als einem Speisesaal. Aber in einer Ecke ist ein kleines gewähltes Büffett; als Stuhl und Tisch dienen die Sandsäcke, über die wir Teppiche gebreitet haben. Und Kellner sind wir uns selbst.
Auch die Luftschiffer leben nicht von Luft. Hell klingen die Rheinweingläser! – Es ist etwas Königliches um ein Abendbrot im Ballon.
Von Frankfurt treibt das Luftschiff in jene bergumwallte Bucht der Mainebene hinein, in der die Städtchen Homburg, Oberursel, Königstein und Soden am Rand des Taunus liegen.
In diesem Kessel geraten wir in eine merkwürdige sanfte Rundströmung der Luft. Die „Wega“ fährt mit uns, als sei sie an einem Faden geheimnisvoll festgehalten, als seien wir verzaubert und gebannt in diesen Kreis, die dunklen Berglehnen entlang über Homburg, Höchst und Frankfurt wie ein Karussell, und wir grüßen die Schlösser von Cronberg und Königstein, die wie Burgen des Märchens stumm und starr in die Nacht ragen. Die Mondsichel sinkt im Westen hinter eine Wolkenbank und die Finsternis nimmt überhand. Tief gleitet der Ballon, von dem der Tau niederrieselt, über die pechschwarze Gegend.
Auf einer Straße unter uns gehen zwei Männer – sie unterhalten sich lebhaft – wir verstehen jedes ihrer Worte:
„Leichtsinnig ist die Hansel, die fällt ’rein!“ versetzt der eine, worauf der andere ebenso eifrig erwidert: „Die fällt nicht ’rein, sie scherzt nur, sie nimmt ihn aber nicht.“
Wer mag die scherzhafte Hansel sein?
Wir rufen den Plaudernden „Guten Abend!“ zu, doch hören sie uns nicht, denn die menschliche Stimme, die leicht nach oben steigt, geht nur schwer in die Tiefe.
„Ein wenig Sand auf ihre Hüte!“ – Und siehe da, vor dem rauschenden Regen verstummt ihr Gespräch – sie bemerken das Ungeheuer, das scheinbar nur haushoch über ihnen durch die Nacht fliegt – sie flüchten sich mit einem Schreckensruf, als greife der Teufel nach ihren armen Seelen – sie stehen still – sie pfeifen durch die Finger – das nahe Dorf wird lebendig. „Ein Ballon! – ein Ballon!“ schallt’s herauf, und einige rufen: „Bitte, steigen Sie doch bei uns ab – wir helfen Ihnen gern!“
Allein, ehe wir uns die freundliche Einladung überlegt haben, eilt die „Wega“ davon in schlafende Gegenden. Die Mondsichel ist untergegangen, mählich erlöschen die Lichter der Städte, die roten Punkte im Lande vergehen, nur der Bahnhof von Frankfurt steht wie eine irdische Sonne in der Nacht.
Unter uns rauschen die dichten Hochwälder des Taunus leis und feierlich; oft berührt nicht nur unser Schleppseil, oft streift selbst unser Korb die Wipfel der Forste, er wiegt sich darauf wie ein Boot auf den Wellen und unter uns bricht das aufgeschreckte Wild durch die Stämme, die dürren Aeste brechen unter seinen Hufen, und röhrend schreien die Tiere vor Angst.
Auf fernen Türmen schlagen die Glocken Mitternacht.
Mit einer Saat von Sternen, wie man sie sonst nur in einer Winternacht oder im Hochgebirge erschaut, funkelt der Himmel, wie Silberrauch zieht sich die Milchstraße hin am blaudunklen Firmament. Die Lichter, die noch auf der Erde glühen, sind leicht zu zählen. Was deuten sie? – Dort sitzt vielleicht eine Mutter am Bett ihres kranken Kindes und lauscht seinem Atem – dort säumt noch ein Liebespaar in seligem Traum und schmiedet Pläne des Glücks – beim dritten Licht vielleicht hockt ein einsamer Autodidakt über seinen Studien.
Die Phantasie ist rege in der Nacht, weit, weit geht der Gruß der Gedanken.
In der Finsternis schreibe ich Postkarten mit Freundesadressen in aller Welt. Ihrer sechzehn fliegen aus dem Korb hinab auf Wald und Feld.
Und ihr Schicksal? Fünfzehn sind von freundlichen Findern zur Post gegeben worden und haben, die einen überraschend schnell, die andern erst nach Monatsfrist, ihr Ziel erreicht.
Die Antwort aber, die nach einigen Tagen auf eine dieser Karten kam, erschütterte mich wie selten ein Ereignis.
„Lieber Freund!“ lautete sie. „In der Nacht, wo Sie Ballon gefahren sind und unter den sonderbarsten Umständen an mich gedacht haben, habe ich die Leiche meiner lieben jungen Frau, die Sie auch gekannt haben, aus dem Spital zu Z., wo sie plötzlich gestorben ist, über den Flüelapaß in die Heimat geführt.“ – – –
Diese Karte kam aus dem Engadin.
So ist das Leben! Der eine jagt fröhlich durch den Himmel und der andere sinkt vor Leid fast in die Erde.
Langsam zerrinnt im Ballon Viertelstunde um Viertelstunde. Auf den Ballastsäcken sitzend, die Teppiche über die Knie gezogen, plaudern wir – wir plaudern von frühern fröhlichen Fahrten. -Die Nacht wird kühler – ich ziehe die Pelerine des Mantels über den Kopf – „nur ein wenig nicken,“ denke ich in wohliger Müdigkeit – und höre noch die Stimme des Kapitäns, der meinem Begleiter ein Abenteuer aus Aegypten erzählt. – Dann höre ich sie nicht mehr.
Drei Stunden habe ich im Ballon fest geschlafen, deutlich erinnere ich mich an das Erwachen.
„Du bist nicht zu Hause,“ sage ich mir, „du bist irgendwo auf einer Reise! – Aber in welcher Stadt, in welchem Hotel?“ Ich durchgehe alle Orte, die ich in den letzten Tagen besucht habe.
[797][798] Da fällt mir Wiesbaden ein – und plötzlich kommt es mir: „Du bist im Ballon, du hast im Ballon geschlafen!“
Angenehm war mir die Entdeckung gewiß nicht, ein irdisches Gemach, wo ich mich noch einmal hätte wenden können, wäre mir in diesem Augenblicke lieber gewesen als das immerhin nicht gewöhnliche Abenteuer, die freien Lüfte zum Kopfkissen genommen zu haben.
Im dünnen Strom des ersten Morgenlichts stehen meine Genossen am Korbrand.
„Du bist der einzige, der mir je auf einer Fahrt eingeschlafen ist,“ lächelt der Kapitän.
„Haben Sie keine Nerven?“ fragt der Wiesbadener, der vor Uebernächtigkeit blaß wie eine Leiche ist.
„Versuchen Sie’s – nur eine Viertelstunde Schlaf wird auch Ihnen wohl bekommen!“
Und nun nickt auch er ein.
„Wo sind wir?“ frage ich den Kapitän.
„Ja, das weiß ich selbst nicht, aber aus dem Taunus wenigstens sind wir schon lange glücklich heraus. Der Ballon geht gut.“
Im fahlen Licht des Morgens, unter reinem hellblauen Himmel dehnt sich in weiten niedrigen Wellen eine herrliche Waldlandschaft, ein Meer von Wipfeln, das von Oasen wohlbestellter Felder unterbrochen wird. In leichten Thalfurchen schimmern mattsilberne Fäden von Bächen, stille Gehöfte und Dörfer, in denen das Leben noch nicht erwacht ist, ducken sich in die Falten des Hügellandes. An den Rändern der Wälder äsen die Rudel der Rehe, Hirsche heben schnuppernd ihr stolzes Geweih und der langgezogene blökende Ruf ihrer Kälber ist der einzige Laut in der großen Morgenstille. Wo sind wir? – Die niedrige Kette des Taunus am fernen Horizont, Bussole und Landkarte weisen es uns.
Die „Wega“ zieht über Oberhessen.
Sonnenaufgang! – Aus einer schwachen Röte des Horizontes rollt die Kugel frei und stolz empor. Wie eine Flamme fliegt der erste Strahl über den Taffet und das Tauwerk des Ballons; es ist, als brenne er, seine Wölbung strahlt, als sei sie eine riesige Sonne, und die Seile, an denen der Korb hängt, erflimmern wie in eigenem Licht.
Wo ein Dorf, wo ein Schloß auf leichter Anhöhe steht, erglüht es rosenrot, die Wälder, die wie große Schatten auf der Landschaft lagen, leuchten grüngoldig auf, die Welt schmückt sich mit Farben, die Thäler und Berge treten mit überraschender Schärfe ins Relief.
Herzlich erfreuen wir uns an dem wärmenden Strahl, denn während der Nacht ist die Luft empfindlich kühl geworden.
Wie eine Landkarte, die sich langsam auf wagerechten Bändern entrollt, gleiten die Gegenden unter uns dahin, wir blicken auf die Stadt Gießen, auf die romantischen Schlösser an der Lahn und auf das alte Wetzlar, das die Erinnerung an Goethe weckt. Bei einem der Dörfer, die da unten im Sonntagsmorgenfrieden träumen, bei Garbenheim, liegt wohl noch das Gehöft, wo Werther seine Lotte zuerst sah, „ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid mit blaßroten Schleifen an Arm und Brust anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot, und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab.“
Litterarische Reminiscenzen im Luftballon! – Rasch decken die wechselnden Bilder die Erinnerungen aus der Schulbank.
Das Leben erwacht im tiefen Land, ein Lokomotivenpfiff gellt vom Silberfaden der Lahn empor, die Frühglocken erklingen, da und dort steigt über einem Dach ein blaues Räuchlein in die Luft, an den Dorfbrunnen tränken die Bauern ihr Vieh und vor einer Mühle steigen Müller und Müllerin zur Sonntagsfahrt in den bespannten Wagen.
Auch unsere „Wega“ schüttelt die Starrnis der Nacht von sich. Die Sonne hat den Tau, der sich reichlich an ihre Hülle gesetzt, aufgesogen, in der steigenden Tageswärme spannt sich knisternd der schlaffe Taffet, und fauchend entweicht eine Menge überschüssigen Gases als blauer Rauch aus der unteren Oeffnung des Ballons.
Wie steigt das Schiff, das die ganze Nacht mit mattem Flug über die Landschaft dahingeschlichen ist! Ohne unser Dazuthun hat die „Wega“, von der Sonne gestärkt, die Kraft eines Adlers erlangt.
Die Nähe taumelt zurück, die Aussicht spannt die Schwingen.
Und Plötzlich flüstert der Kapitän: „Wir sind bereits dreitausend Meter überm Meer!“
Unermeßlich ist im Sonntagsmorgenglanz der Gesichtskreis; uns ist, wir überblicken ganz Deutschland, weit über Taunus und Thüringerwald gleiten die Augen hinaus, und unwillkürlich spähen wir in die Fernen, ob wir nicht das Silberband des Meeres oder die Silberstirnen der Alpen zu erschauen vermögen.
Unendlich aber dehnt sich nur das in breiten Wellen schwimmende Land – Mitteldeutschland, mit hundert flimmernden Städtepunkten, aber fast ohne Linien – nichts als eine von den blauen Tönen der Luft gedämpfte Riesenlandkarte.
Und immer noch sinkt das Aneroid – steigt die „Wega“ rasend – minutenlang ziehen wir die Ventilleine – das Gas rauscht aus dem Ballon – aber im nächsten Augenblick strafft er sich schon wieder unter der Wirkung der Sonne, die als eine weißglühende, augenversengende Kugel im Osten steht – die „Wega“ steigt zum indigoblauen Himmel!
Sie trägt mit allem, was an ihr ist, ein Gewicht von rund 1600 Kilo. Ihre Hülle wiegt 500 Kilo, das Netzwerk und die übrigen Teile, Ventil, Korb und Anker, wieder so viel, wir haben noch 15 Säcke Ballast zu 25 Kilo und wiegen selbst, alle drei zusammen, über 200 Kilo.
So schwebt sie im Morgenstrom des Lichtes.
Wir nähern uns den viertausend Metern, wir nähern uns der Höhe der „Jungfrau“.
Schon in dieser Höhe überfällt die Pilger der Luft ein Heimweh nach der Erde, ein Gefühl grenzenloser Verlassenheit. Nichts spürt man als die Weite des Raums; das Aussichtsbild aber fesselt das Auge kaum mehr, denn mit ausgelöschten Farben, wie ein weites Feld, über das der Brand gegangen ist, liegt die Welt unter uns, die kaum mehr erkennbaren Dörfer, die Hügel, alles ist in den Boden gedrückt, kein Wald errauscht, kein Ton erklingt und in der gräßlichen Stille schleicht der Gedanke in die Brust: So wird die Erde in jenen fernen Jahrhunderttausenden sein, wo das Leben auf ihr erstorben ist, wo die Menschheit mit ihrer Ehre und ihrer Schmach in vergessenen Gräbern ruht, das brennende Auge der Sonne umsonst über die schwarzen Gegenden blickt und in der Wüste kein Lächeln und keine Thräne mehr findet.
Eine Ballonfahrt in beträchtliche Höhen bestätigt eine Erfahrung aus den Alpen. Auf dem Rigi lacht das Bild der Landschaft freundlicher als auf der Spitze der Jungfrau, und wer nur um des poetischen Genusses willen in eine Ballongondel steigt, der kommt, soweit es sich um das Ausgenießen der Landschaft handelt, in mäßigen Höhen leichter auf seine Rechnung als in den Hochlüften des Adlers und Condors.
Es ist empfindlich kalt, das Thermometer zeigt nur noch wenige Celsiusgrade über Null, unser junger Begleiter ist totenblaß, und ich selbst spüre, was ich bei anderen Fahrten in noch bedeutendern Höhen nicht erfahren habe – einen beklemmenden Mangel an Luft. Die Strapazen der Nacht mögen daran schuld sein.
Wir beraten ernstlich über den Abstieg, obwohl die für Wasserstoffgas gefirnißte „Wega“, durch deren Hülle das Leuchtgas kaum entweicht, mit dem Ballast, der uns übrig geblieben ist, Tragkraft genug besäße, uns noch den ganzen Tag über das Land hinzuführen.
Zur Vorbereitung des Abstieges wollen wir den faustdicken Guiderope, das Schleppseil, der jetzt nur 30 Meter unter den Korb reicht, in seiner ganzen Länge von 80 Metern aus der Gondel in die freie Luft hinunter entrollen, damit er, wenn wir in die Nähe der Erde gelangen, den Lauf des Ballons verlangsame.
Da stoßen wir aber auf ein hartes Stück Arbeit.
Die Nebenseile des Guiderope und die Haken des eisernen Ankers haben sich unterhalb des Korbes verwickelt und müssen auseinander gelöst werden. „Halte du den Anker, so weit du kannst, ich klettere aus dem Korb!“ Der Kapitän schwingt sich aus der Gondel und hängt mit seiner Linken an einem Henkel, [799] der sonst zum Transport des Korbes dient, frei in der Luft. Mit dem gebogenen Griff eines Schirms, den er in der Rechten hält, löst er die Stricke aus den Haken. Ein sonderbares Bild auf 3800 Meter Meereshöhe.
Anderthalb bis zwei Minuten dauert das Abenteuer, aber ich möchte sie nicht wieder erleben. Der Mann, der da unten schwebt, hat vor Arbeit 48 Stunden nicht mehr geschlafen, und ich spüre es in meinen Armen und auf der Brust – die 40 Kilo, die der Anker wiegt, sind in dieser Höhe ein entsetzliches Gewicht.
Ist aber auch nur der eine schwach, so ist es fast sicher der Tod aller dreie.
Jetzt ist der Ballon zum Abstieg bereit – doch was für ein wunderbares Schauspiel bietet jetzt die Erde. Als seien sie aus dem Boden gestiegen, haben Scharen silberner Lämmer sie bedeckt, die an den Flußläufen ziehen. Sie verdichten sich, sie schließen sich zusammen, wir schweben über einem Nebelmeer, wie über einem frisch aus Silber getriebenen Teller, über einem lichten Ocean, aus dem noch einige dorf- oder burggekrönte Hügel wie Inseln ragen.
An manchen Stellen ist aber der Flor so dünn, daß wir das darunter liegende Land noch wie eine halb ertrunkene Welt erkennen und die Umrisse der Gegenden wie eine blasse Wasserzeichnung in den Wolken erscheinen.
Und nun geben wir uns doch noch eine Weile den Bildern dieses schönen Fabelreiches hin.
Tief unter den Nebelflächen und tiefer als die Bilder der Erde wandelt ein zweiter Ballon, das Spiegelbild des unsrigen, das mit ihm durch eine lange senkrechte Schnur, den Guiderope, verbunden scheint.
Immer bilderprächtiger werden die Wolken! – Jetzt ist der ganze Horizont eine merkwürdige schöne Arena, ein aus Nebelspinnweb gebautes Kolosseum von vollendeter Symmetrie, und die unermeßliche Rundung erscheint wie mit Seidentüchern ausgeschlagen, die ohne spürbaren Uebergang vom Blaudunkel der Tiefe zu einem rosadurchhauchten perlmutternen Rand aufsteigen. Auf der Brüstung dieser Arena sitzen da und dort wie die Silberäffchen einer Menagerie weiße kleine Wolken und staunen in den Himmel, dessen Kuppel sich in azurenem Sammet wölbt.
Allmählich füllt sich die Luft unter uns mit vereinzelten Wolken, die über das halb durchsichtige Nebelmeer der Tiefe wie weiße Segel über einen See hinwegziehen und in reizenden Regenbogenfarben erglühen.
Wir schweben über ein stilles, glanzerfülltes Märchenland, das kein Wort zu schildern fähig ist.
Jetzt ist die Täuschung vollkommen, daß wir – wie der arme verschollene Andree – über den Landschaften des Nordpols treiben. Da giebt es Gletscherküsten mit blauschillernden Abbrüchen, gefrorne Felder, auf die man aussteigen möchte, um Schlittschuh zu laufen, in blauen offenen Buchten treiben Eisberge und mächtige Schollen türmen sich im Spiel eines leisen Windhauches.
Jedes Fächeln der Luft ruft eine Revolution hervor unter den leichten Gebilden.
Die weite See schäumt auf, es strudeln Katarakte, weiße Berge zerfließen, andere erbauen sich und umfangen uns plötzlich, als wäre die „Wega“ in eine Gletscherspalte geraten; ja sie schließen uns wie eine Halle ein, durch die das Licht der Grotte von Capri flutet. Im nächsten Augenblick steckt der Ballon im kalten feuchten Nebelgrau, wir lassen ihn ein wenig steigen, da dämmert von oben das Licht, und die Sonnenstrahlen, die durch einen Wolkenriß leuchten, werfen den Schatten der „Wega“ riesengroß an eine Nebelwand. Wir grüßen das Ballongespenst, das auf einem weißen Wolkenhintergrund mit unsern eigenen ins Gigantische verzerrten Gestalten, von einem großen Regenbogenkreis, dem Heiligenschein der Luftschiffer, umgeben, auf- und niederhüpft. Wir recken einen Finger, da langt aus dem Schattenkorb ein Riesenarm, wir lachen über das tolle Spiel – und horch – die Wolkenwände werfen unsere Stimmen zurück – ein kleines Lied – nahe und ferne hallt es wieder, als wären hundert Sänger in den Wolken verborgen! Meer und Alpen, Unter- und Ueberirdisches erlebt sich in dem Märchenland.
Plötzlich aber lacht durch einen gewaltigen Riß wieder die sonnige, wirkliche Welt.
Ueber zwölf Stunden sind wir nun Ballon gefahren. Was für eine Strecke wir aber über den Wolken zurückgelegt haben, wissen wir nicht, wir haben jede Orientierung verloren und die Gegend unter uns kennen wir nicht. Auf einer freundlichen Höhe schimmert ein altertümliches Städtchen. Von ihm her und aus den Dörfern der weiten Umgebung erklingen die Glocken, die zum Morgengottesdienst rufen. Vor dem Städtchen, dem wir entgegenfahren, liegt ein breites, frisches Wiesenthal, durch das sich an einem Weiler vorbei ein Bächlein schlängelt.
Die Uferwiesen wären ein prächtiger Landungsplatz. Und nun ist es die eigenartige Geschicklichkeit Spelterinis: aus entlegener Höhe wählt er die Stelle, wo sein Ballon landen soll – und an der Stelle, die er ausgelesen hat, landet er.
Die Wiese neben dem Weiler!
Durch das weit geöffnete Ventil lassen wir das Gas, die Lebenskraft der „Wega“, strömen, daß ihr Riesenleib aus der Kugelform in eine schlanke Birne zusammenfällt. Sie stürzt – die Erde fliegt uns entgegen, die Gegend wird plötzlich nachbarlich.
Ehe wir uns versehen, steht die „Wega“ so tief über den Dächern des Dörfchens, daß der Guiderope sie schon berührt.
Ballast, den wir auswerfen, mäßigt den Fall. Aus den Häusern kommen schreiend die überraschten Bewohner geeilt. Wir rufen ihnen zu: „Bitte, ergreifen Sie das Seil und ziehen Sie uns dort auf die Wiese!“
Einen Augenblick der Verwirrung noch, dann verstehen sie unsern Wunsch – und mit „Hurra!“ leiten uns dreißig oder fünfzig Leute auf den günstigen Landungsplatz.
„Bitte, zeigen Sie uns aber die Maschine, die da drinnen verborgen ist!“ ruft ein steinalter Mann und weist auf die Seide der „Wega“.
„Da ist keine Maschine drin,“ erklärt ein anderer, „vor Paris haben wir einen niedergeschossen – ja, das haben wir – da war er nur Zeug und Luft!“
Uns interessiert am meisten, wo in der Welt wir eigentlich sind.
„Unser Dörfchen heißt Holzhausen an der Efze und das Städtchen auf der Höhe ist Homberg bei Kassel!“
Es war eine schlichte, einfache Bevölkerung, unter die wir bei unserer glücklichen Landung traten, geschwärzte Arbeiter aus einem nahen Eisenhüttenwerk und sonnverbrannte Bauern, viele von ihnen nur in Hose und Hemd und barfuß. Aber wir widmen ihrer Hilfsbereitschaft, ihrem verständigen Zugreifen beim Leeren und Packen der „Wega“, der bescheidenen Art, wie sie die angebotene Entschädigung annahmen, eine freundliche Erinnerung.
Während sie mit dem Kapitän am Werke waren, ergoß sich von Homberg herunter ein Strom von Neugierigen, die die „Wega“ hatten aus den Wolken sausen sehen, und ihre Hülle war schon längst in den Korb verpackt, als aus der weiten Umgebung die letzten, die den Abstieg des Ballons bemerkt hatten, auf dem Platz erschienen.
Mit welchem Wonnegefühl betritt man nicht nach einer zwölfstündigen Ballonfahrt die mütterliche Erde! – Am glücklichsten war wohl unser junger Wiesbadener, der seine Wette – ich glaube, es handelte sich um etliche Flaschen Champagner – mit Schmerzen gewonnen hatte.
Im Verhältnis zum Zeitaufwand ist der Weg, den die „Wega“ damals zurückgelegt hat, ein überaus kurzer, denn Homberg liegt von Wiesbaden in gerader Linie nur etwa 150 Kilometer entfernt.
Aber ein großes Erlebnis für die Teilnehmer ist die Fahrt doch! – Sie zählt zu den erhebenden Stunden des Lebens, wo die Seele den Staub aus den Schwingen schüttelt! J. C. Heer.
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[801] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [802]
Blätter und Blüten.
Die Baumhäuser der Eingeborenen von Britisch-Neu-Guinea. (Mit Abbildung.) Die Insel Neu-Guinea, welche in ihrem nordöstlichen Teil das deutsche Schutzgebiet Kaiser Wilhelmsland umfaßt, das kürzlich der Landeshoheit des Deutschen Reiches unterstellt worden ist, bietet der wissenschaftlichen Forschung noch ein weites Feld. Das Innere dieser nächst Grönland größten Insel der Welt ist noch völlig unbekannt. Dagegen ist es dem Forschungssinn und der unermüdlichen Thätigkeit deutscher und englischer Reisender gelungen, sehr interessante und bemerkenswerte Einzelheiten über das sociale und wirtschaftliche Leben der Küstenstämme zu ermitteln. Aus dem reichen und verschiedenartigen Inhalt derselben sei an dieser Stelle einer Erscheinung im Leben der Bevölkerung von Britisch-Neu-Guinea gedacht, welche die Aufmerksamkeit und das Interesse der Forscher in besonders lebhaftem Grade auf sich gelenkt hat. Es ist dies die Art, wie sich die sonst auf der niedrigsten Stufe der Entwicklung stehenden Stämme jenes Teiles der Insel ihre Wohnstätten gegründet und eingerichtet haben. Aus dem zu einem vollständigen System ausgebildeten Ansiedelungswesen spricht einmal ein großer Sinn für Häuslichkeit, dann aber auch ein solcher für Verteidigung und Selbsterhaltung angesichts der Feindseligkeit, die bisweilen unter nächsten Nachbarn herrscht. Um beiden Forderungen zu genügen, haben viele Stammesgemeinschaften ihre Zuflucht zu den Riesen des Urwaldes genommen und sich unter dem schützenden Blätterdach derselben ein Heim geschaffen. Dabei ist es keine ungewöhnliche Erscheinung, daß ein solcher Riesenstamm mehrere Baumwohnungen in seinen Aesten und Zweigen aufnimmt. Unsere Illustration veranschaulicht einen derartigen luftigen Bau zwischen Himmel und Erde, wie er namentlich bei einem Stamme, den Koiaris, sehr gebräuchlich ist. Die Dielen und Wände dieser menschlichen Vogelnester, die gleichwohl kleine Festungen darstellen, sind aus gespaltenem Bambus hergestellt, als Dachmaterial dient schilfartiges Gras.
Auf Leitern, deren Sprossen jede von der anderen etwa 50 cm entfernt und etwa 35 cm lang ist, erklimmen die Bewohner ihre 30 bis 40 m hoch gelegenen Wohnstätten, die sie beständig bewohnen und nur verlassen, um sich von neuem zu verproviantieren. In allen Häusern findet sich eine einfache Feuerstelle aus Lehm vor, in der Sand und Steine liegen, und in welcher beständig Feuer unterhalten wird. Die Vorräte an Lebensmitteln verwahrt man in großen Thontöpfen, die an den Wänden stehen. Einen eigenartigen Zimmerschmuck dieser luftigen Wohnungen bilden häufig einzelne Blätter aus englischen oder amerikanischen illustrierten Zeitschriften, die aus der Behausung eines Europäers von der Regierungsstation sich durch irgend welchen Zufall hierher verirrt haben. Nach übereinstimmenden Schilderungen der Europäer, welche die Baumhäuser besucht haben, bieten sie weder einen gemütlichen, noch behaglichen Aufenthalt trotz der duftigen Frische des Laubes, das sie umkränzt. Unter dem Titel „Neu-Guinea“ hat Dr. M. Krieger im Verlag von Alfred Schall in Berlin ein Werk erscheinen lassen, das sehr belehrende und interessante Aufschlüsse erteilt. Aus demselben gewinnt man zum erstenmal ein zusammenfassendes klares Bild von den Natur- und Kulturverhältnissen dieses polynesischen Kontinentes.
Der Krieg in Südafrika hat in dem ersten Stadium seines Verlaufs der anfänglichen Siegeszuversicht der Engländer schwere Enttäuschungen bereitet. Die gegen die Drakensberge vorgeschobenen Truppen des Generals White vermochten den Einmarsch der Buren in Natal nicht aufzuhalten und der blutige Scheinsieg der Engländer bei Glencoe am 21. Oktober verhinderte nicht, daß das bei Glencoe und Dundee vereinigte Korps durch die Buren unter dem Oberbefehl Jouberts zu wilder Flucht nach Ladysmith, dem Hauptquartier Whites, genötigt wurde. In jenem ersten Gefecht bei Glencoe hatte sich eine leichte Batterie der Burenartillerie den schweren Geschützen der Engländer nicht gewachsen gezeigt, als aber die Buren am folgenden Tage ihrerseits schwere Geschütze auffuhren, stellte es sich heraus, daß sie sich wie mit dem Gewehr auch mit den Kanonen als Scharfschützen siegreich zu bewähren verstehen. Die Taktik Jouberts, die auf schnelle Umgehung und Umzingelung des Feindes gerichtet ist, hat sich dem strategischen Können des Generals White stark überlegen erwiesen. Dies geschah auch in jenem ersten Treffen bei Glencoe, wo die verfolgende Kavallerie von den Buren gefangen genommen wurde und der tapfere General Symons sein siegreiches Vorgehen mit der tödlichen Wunde büßen mußte, der er am 23. Oktober als Gefangener im Hospital zu Dundee erlag. Der schleunige Rückzug seiner Truppen unter General Yule war inzwischen erfolgt. Einen Verlust ähnlicher Art hatten aber die Buren bei Elandslaagte zu beklagen. Der greise General Kock, der sich schon im Kriege von 1880/81 wie in früheren Kämpfen Ruhm erwarb, und der Führer des deutschen Korps, Oberst Schiel, dessen Biographie und Bild wir auf Seite 770 neben denen von Joubert, Buller und White brachten, gerieten dort als Schwerverwundete in Gefangenschaft. General Kock ist am 30. Oktober im belagerten Ladysmith gestorben. Erfolgreich wie Joubert in Natal, war auch General Cronje mit seinen Operationen auf dem westlichen Kriegsschauplatz, in Betschuana- und Griqualand, wo die festen Plätze Mafeking und Kimberley isoliert und von starken Truppenkontingenten umschlossen wurden. Gleich nach dem ersten Vorstoß gelang es hier einer Burenschar, einen gepanzerten Zug mit Artillerie, der nach Mafeking wollte, zum Entgleisen zu bringen; die Besatzung mit den Kanonen fiel in die Hände der Buren.
Aehnliches ist anderen Panzerzügen sowohl auf diesen wie auf anderen von der Küste nach Transvaal führenden Bahnstrecken begegnet. Die Wagen dieser Züge sind ganz mit starken Stahlplatten umlegt und mit Schießscharten versehen. Sie haben den Engländern aber auch gute Dienste gethan, wie die Marinegeschütze, die von Durban nach Ladysmith gelangten, und die Ausfälle von dort und aus Kimberley beweisen. Gekämpft ist auf beiden [803] Seiten mit großer Tapferkeit worden, groß aber sind auch die Verluste. Ganz besonders schwer ist bei Elandslaagte das deutsche Korps getroffen worden, das die in Transvaal eingebürgerten Deutschen umfaßt. In Pretoria hat sich ein Komitee gebildet zur Unterstützung der Witwen und Waisen der im Felde gefallenen, der Frauen und Kinder von verwundeten Deutschen. Der Generalkonsul der Südafrikanischen Republik Winterfeldt in Berlin (Französische Straße 52) nimmt Geldbeiträge entgegen. Die weiteren Ereignisse auf dem Kriegsschauplatz werden wir auf besonderen illustrierten Beilagen berücksichtigen.
Das Denkmal für in der Völkerschlacht 1813 gefallene Krieger auf dem Leipziger Nordfriedhof. (Mit dem untenstehenden Bilde.) Die Ausdehnung Leipzigs nach Norden hin hatte zur Aufdeckung eines Massengrabes geführt, in welchem Krieger, die in der Völkerschlacht fielen, Freund und Feind in friedlicher Gemeinschaft, bestattet worden waren. Auf dem Nordfriedhofe haben die Gebeine der braven Krieger eine neue geweihte Ruhestätte erhalten. Der Verein für Geschichte Leipzigs hat dafür gesorgt, daß über derselben ein Denkmal errichtet wurde. Das schlichte Denkmal ist aus erratischen Blöcken zusammengefügt und trägt die Inschrift „Freund und Feind im Tod Vereint. 18. Oktober 1813.“ Am Jahrestage der Völkerschlacht ist dieses Denkmal unter zahlreicher Beteiligung von Behörden und Vereinen feierlich enthüllt worden.
Mistelgauerin im Brautschmuck. (Zu dem Bilde S. 773.) Wandert man von dem heutigen deutschen Hochsitze musikalischen Lebens, dem lieblichen Bayreuth, in der Richtung gegen Bamberg zu, so gelangt man nach anderthalbstündigem Marsche in eine Landschaft, die Mistelgau genannt wird und ein gleichnamiges Dorf enthält. Der Mistelgau ist eine der von der Natur am meisten begünstigten Gegenden in dem sonst vielfach rauhen bayrischen Kreise Oberfranken, eine jener Gegenden des mittleren Deutschlands, in die vordem der slavische Volksstamm der Sorben oder Wenden eingedrungen war. Der Name Mistelgau wird von dem slavischen Worte „mysliweky“ (zur Jagd gehörig) abgeleitet. Heute ist die behäbige Bauernschaft des Mistelgaues vollständig germanisiert; man hört nur deutsche Laute. Bloß aus einzelnen Anzeichen klingen noch slavische Erinnerungen herauf, die auch aus gewissen Eigentümlichkeiten der Volkstracht sprechen. Die Mistelgauerinnen verwenden viel Sorgfalt auf Haartracht und Anzug, namentlich wenn es zur Konfirmation, zum Tanz oder gar zur Hochzeit als Braut oder Brautjungfer geht. Dann werden die Mädchen „gebändert“; es wird ihnen das Haar mit einem mehrere Meter langen roten Seidenbande umwunden, so daß sie mit einem zierlichen, gefältelten und gezackten Läppchen geschmückt erscheinen. Um den Hals tragen sie Ketten von Silber oder Schnüre von schwarzen Glasperlen, am Rücken mit fliegenden Bandmaschen versehen, dazu über dem grünseidenen Brusttuch einen gestickten Linnenkragen. Ueber den Rock kommen breite, am Rand mit rotgestickten Verzierungen versehene Schürzen. Das hübsche Bild von H. Stelzner läßt uns eine junge Mistelgauerin belauschen, wie sie den Brautschmuck anlegt.
Verwendung von Aluminiumplatten in der Lithographie. Bekanntlich werden bei der Lithographie Zeichnungen, Schriftstücke u. dgl. auf eine besondere Art Kalksteinplatten (Solnhofener) entworfen und nach bestimmter Behandlung mit Säuren (dem sogenannten Aetzen) das erhöht zurückbleibende Bild mit Farbstoff bedeckt und abgedruckt. Die Platten haben aber den Nachteil, daß sie im höchsten Fall nur 12– bis 15
000 Abzüge zulassen, von denen das letzte Drittel jedoch bereits kleinere und größere Fehler aufweist. Außerdem sind die Platten auch sehr schwer im Gewicht und dabei doch leicht zerbrechlich.Man hat darum schon seit längerer Zeit nach Ersatz für dieselben gesucht, auch aus dem Grunde mit, weil die Solnhofener Ablagerungen doch auch nicht unerschöpflich sind, und der in der Lithographie nur verwendbare, sehr reine Stein thatsächlich immer seltener wird. Im Jahr 1889 bereits kam der deutsche Drucker Schulz auf den Gedanken, Aluminium zu verwenden, und nach vielen Bemühungen hat er thatsächlich Erfolg gehabt und seine Methode soweit vervollkommnet, daß sich das neue Material einzubürgern beginnt. Man hat die Vervielfältigung mit Hilfe solcher Platten Algraphie genannt, und die Vorzüge derselben vor der Lithographie sind ganz bedeutend. So lassen sich von einer einzigen Aluminiumplatte 195000 und mehr Abdrücke herstellen, die bis zuletzt fast die gleiche Schärfe aufweisen, ferner kann der Aufdruck, da kein Aetzen erforderlich ist, leicht entfernt werden. Dazu ist die Aluminiumplatte viel leichter als eine solche aus Stein, – sie wird zur Erzielung größeren Widerstandes nur auf eine eiserne Unterlage aufgelegt – es bedarf beim Drucken weniger kräftiger Maschinen, die eine größere Tourenzahl [804] haben und im gleichen Zeitraum mehr Abdrücke liefern können. Endlich können die Platten aus Aluminium infolge ihrer Biegsamkeit auch auf den Cylindern der Rotationsmaschinen aufgelegt werden.
Rechnet man nun noch hinzu, daß der Preis der Aluminiumplatte etwa nur ein Drittel von dem des lithographischen Steins beträgt, so wird man im Hinblick auf all die Vorzüge wohl kaum fehl gehen, wenn man der neuen Vervielfältigungsmethode eine Zukunft prophezeit. Dr.. –t.
Das neue Flußwasserwerk der Stadt Hannover. (Mit untenstehender Abbildung.) In der königlichen Haupt- und Residenzstadt Hannover ist ein großes Wasserwerk kürzlich zur Vollendung gelangt, dessen Gebäude der Stadt wahrhaft zur Zierde gereicht. An einem der schönsten Plätze Hannovers, in der Nähe des königlichen Schlosses und des Rathauses, dort, wo früher die alte Klickmühle stand, erhebt sich das imposante Maschinenhaus mit seinen schönen 55 m breiten Renaissancefassaden, an der Nordostseite flankiert von einem 35 m hohen Wasserturme. Der Bau ist nach den Entwürfen des Baudirektors Bock und des Baurats Professor Stier ausgeführt worden, als Material kam beim unteren Bau Kohlensandstein, für die Flächen des Aufbaus weißer Sandstein, für die Gliederungen, Ecken, Aufbauten roter Mainsandstein zur Verwendung.
Der zahlreiche plastische Ausschmuck des Hauptgebäudes stammt von den Bildhauern K. Engelhardt und E. Haller, der große Fries am Wasserturm, mit zahlreichen Tritonen, Nereiden und Tiergestalten von Professor C. Dopmeyer. Unsere Abbildung zeigt das Gebäude von der Flußseite aus, darüber die rechts daneben liegende Monumentaltreppe mit der von Kandelabern überragten Kaskade. Dieser Treppenaufgang führt nach der Friedrichstraße und den Anlagen des Friedrichswalles. Das Wasserwerk liefert der Stadt täglich bis zu 21000 cbm Leinewasser für kommunale und gewerbliche Zwecke. Die Kosten beliefen sich auf 11/2 Millionen Mark.
Samariter. (Zu dem Bilde S. 789.) Zur Winterszeit, wenn Wald und Feld in tiefem Schnee liegen und erstarrender Frost sich über die Natur breitet, gerät das Wild in große Not, und manches Stück erliegt den Qualen, die Hunger und Frost ihm auferlegen. Das ist die Zeit, wo der Jäger zeigt, ob er bloß Schießer, oder ob er in erster Linie Heger und Beschützer des Wildes ist. Der rechte Weidmann hat schon vor Eintritt des Winters Futterplätze angelegt und das Wild herangekörnt, um ihm jetzt, zur Zeit der Not, mit Rüben, Heu und Frucht über die schlimmen Tage hinwegzuhelfen.
Wenn aber der Schnee sehr hoch liegt und vom strengen Froste die Bäume krachen, da hilft alles Pflegen, alles Füttern nichts, es sinkt manches, besonders aber geringes Stück kraftlos zu Boden, das, wenn keine Hilfe naht, bald von der eisigen Kälte dahingerafft wird. Doch der hegende Weidmann streift in der fürs Wild so schweren Zeit täglich sein Revier ab, und wo er, wie auf dem Wolters’schen Bilde, ein Stück Wild zusammengebrochen findet, da flößt er ihm einen Labetrunk ein,
schafft es nach Hause und verpflegt es in einer Scheune so lange, bis der warme Föhn den Schnee hinweggefegt hat – dann, wenn der Frühling zu lachen beginnt, schenkt er seinem Pflegling die goldene Freiheit wieder. Karl Brandt.
Der Hexentanzplatz vom Hirschgrund aus. (Zu dem Bilde S. 797.) Mit fröhlichem Herzen wandern wir von der altertümlichen Stadt Quedlinburg, dem Geburtsorte Klopstocks, in das romantische Thal der Bode ein, die in zwei Quellflüssen am Fuß des Königsbergs entspringt, und erreichen in zwei Stunden am Ende der Ebene gegen das Gebirge das über 7000 Einwohner zählende Dorf Thale, halb Industrieort, halb Sommerfrische. Von da steigen wir ein Stündchen durch das schöne stille Steinbachtha!, um in einem der malerischesten Naturbilder des Harzes, dem Hexentanzplatz, zu gelangen. Mit der Ansicht desselben bieten wir den Lesern eine Probe aus dem Prachtwerk „Der Harz“, das unter Mitwirkung namhafter Autoren Hans Hoffmann in C. F. Amelangs Verlag in Leipzig herausgegeben hat, einem Buche, das durch Wort und Bild in anziehendster Weise die Schönheiten dieses Gebirgslandes schildert. Der Hexentanzplatz mit seinen 454 m Meereshöhe faßt in seiner Aussicht alle Elemente, die den Harz charakterisieren, zusammen: die wilde Tiefe des Bodethales mit der Mannigfaltigkeit des Baumschlages an ragenden Randklippen, die Weite der Ebene mit Dörfern und Städten, über Waldhöhen den Brocken, der nirgends bedeutender als vom Hexentanzplatz aus in Erscheinung tritt. Der Hexentanzplatz selber aber mit seinen bizarren Felsenriffen bietet die wirkungsvollste Ansicht vom Hirschgrund aus, der hinterhalb des Dorfes Thale in stimmungsvoller Waldeinsamkeit am Ufer der Bode gelegen ist. Wie schon der Name meldet, hat die Phantasie des Volkes die Riffe des Hexentanzplatzes, die entschieden etwas Spukhaftes an sich haben, mit Sagen umschmückt, deren wichtigste die weltbekannte von der festlichen Zusammenkunft der Hexen auf der Höhe des Brockens in der Walpurgisnacht ist.
Die Rivalinnen. (Zu dem Bilde S. 800 und 801.) Ja, sie ist nur ein armes Mädchen, die zierliche Venetianerin Filomena, und insofern würde sie ganz gut zu dem braunen Tonio passen, der seine Fische ebenso zum Verkauf trägt wie sie ihre Eimer voll Wasser. Aber da ist eine andere, die es auf ihn absieht, die Carlotta, die ein kleines Häuschen hat, unter dessen Thür sie täglich mit der Arbeit sitzt und Ausguck hält, bis Tonio vorüberkommt. Heute nun schaute er so angelegentlich nach Filomenas krausen Haaren und dunklen Augen, daß sie’s nicht lassen kann, mit höhnischer Schmährede die gehaßte Rivalin in Tonios Augen herabzusetzen. Ob es ihr gelingen wird? Er sieht sich betroffen um, halb argwöhnisch, halb ungläubig. Sie aber, die allerliebste Kleine im armselig kurzen Röckchen, sie lächelt nur, denn sie kennt ihren Tonio und belustigt sich höchlich über die ohnmächtige Wut der neidischen Carlotta. Die zuhörenden Nachbarinnen sind ihr als Zeugen eben recht – vor ihnen wird sie ihren Triumph feiern, wenn sie nächstens Arm in Arm mit Tonio als seine Braut an diesem Haus wieder vorbeikommt! Bn.
Penelope. (Zu unserer Kunstbeilage.) Der leichtfertigen Helena, die sich ihrem Gatten, dem Sparterkönig Menelaos, durch Paris nach Troja entführen ließ und dadurch den langwährenden Krieg um Trojas Mauern entfesselte, hat Homer in Penelope das Ideal einer treuliebenden Gattin entgegengestellt. Während Odysseus von widrigen Mächten so viel herzkränkende Leiden erduldet und Jahr um Jahr an der Rückkehr zum heimischen Herde verhindert wird, setzt sie den Werbungen der nach Ithaka kommenden Freier den hartnäckigsten Widerstand entgegen. Auch als es immer wahrscheinlicher wird, daß ihr Gatte auf der Heimkehr den Tod fand, bleibt Penelope bei ihrer Weigerung. Und als sie sich nicht mehr anders zu helfen weiß, greift sie zur List. Sie erklärt den Freiern, sie möchten auf ihre Entscheidung warten, bis sie dem Vater des Odysseus, Laertes, ein großes Leichengewand fertig gewirkt habe. Bei Tage sitzt sie, am großen Gewebe wirkend, aber nachts, bei angezündeten Fackeln, trennt sie dasselbe wieder auf. Doch im vierten Jahre bemerken die Mägde den Trug und drohen, sie zu verraten: so ist sie genötigt, die Arbeit zu vollenden, und kann nun die Wahl eines neuen Gatten nicht länger hinausschieben, zumal auch der Sohn Telemachos dazu drängt, weil die Freier sein Erbe verprassen. Sie verspricht demjenigen unter den Freiern die Hand, welcher imstande sei, mit dem Bogen ihres Gatten, den einst Herakles führte, durch die Oehre von zwölf hintereinander stehenden Aexten zu schießen. Keiner vermag es. Da erbittet sich der von seiner Jrrfahrt endlich heimgekehrte, im Bettlergewande unerkannte Odysseus den Bogen, er schießt den Pfeil durch die zwölf Axtöhre hindurch und tötet dann Antinoos und die anderen Freier, während sein Sohn Telemach an seiner Seite steht, der vorher die Mutter von dem blutigen Schauspiele zu entfernen wußte. Bald schloß die treue, liebende Gattin den Rächer der jahrelangen Unbill in ihre Arme. Unser Bild stellt die edle Frauengestalt dar, wie sie mit dem Bogen in der Hand in den Saal zu den Freiern schreitet. †
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
[804 a]
Ein sogenannter „Halt-mich-warm“ für ältere Damen, bei rauhem Wetter und im Winter unter Kapothüten zu tragen, hat überall noch die größte Anerkennung gefunden. Man kann ihn von schwarzer Seide oder feiner schwarzer Wolle stricken, doch ist erstere angenehmer. Sogenannte schwarze Litzenseide, die in Knäulchen verkauft wird, ist die beste und weichste.
Man schlägt 12 Maschen auf und strickt 4 Reihen, immer 2 Maschen rechts, 2 links, nimmt dann am Anfang und am Ende der Nadel 1 Masche auf, strickt 1 Reihe glatt, nimmt wieder auf, und so fort, bis man 20 Maschen hat. Nun 50 Reihen, immer 2 Maschen rechts, 2 links. Nun kommt das achteckige Teilchen, welches das Ohr deckt, und das einfach glatt gestrickt wird. Man nehme auf obige Weise zu, bis man 30 Maschen auf der Nadel hat, stricke 40 Reihen und nehme wieder ab bis zu 20 Maschen. Nun wieder 50 Reihen, 2 Maschen rechts, 2 Maschen links, dann beginnt das Mittelstück, welches den Kopf deckt. Ganz wie vorher nimmt man an den Nadelenden auf, 36 Reihen lang, bis man 56 Maschen auf der Nadel und damit die Mitte erreicht hat. Von da an wird ab- und wie früher aufgenommen, immer die gleiche Zahl Reihen oder Stiche, bis die untere Spitze den Schluß bildet. Knopf und Schlinge von Gummibändchen vollenden die Arbeit.
Auffrischen von Cylinderhüten. Der schwarze hohe Cylinder, den unsere Herren bei feierlichen Besuchen tragen, muß vor allem von tadellosem Glanze sein; nichts sieht schlechter aus als ein rauher Cylinder, lieber keinen aufsetzen als einen solchen. Vielfach scheut jedoch der Hausherr die Kosten des Aufbügelns, fährt einmal mit einer weichen Bürste darüber hin und meint nun einen tadellosen Hut aufzusetzen. Die hilfreiche Hand seiner praktischen besseren Hälfte muß sich, wie in so vielen Fällen, wohl des schwarzen Röhrenhutes annehmen, um ihm den Glanz der Neuheit zu geben. Es giebt zwei treffliche Mittel hierfür. Für leichtere Fälle genügt das erste. Man befreit vor allem den Cylinder erst vom Staube, indem man ihn mit weichem Tuch abreibt, dann streicht man den Hut mit weichem, feuchtem Schwämmchen nach dem Haar und trocknet ihn mit einem sauberen Seidentuch nach. – Ist der Glanz schon recht schlimm zerstört, giebt es ein anderes Mittel, ihn wieder herzustellen. Aus Sammetresten macht man ein längliches Beutelchen, stopft es mit Watte aus und wärmt es am Feuer an. Mit diesem Beutel fährt man behutsam nach dem Strich über den vorher gut gereinigten Cylinder, der danach wieder wie neu aussehen wird. Le.
Ein einfacher Thürheber. Das Oelen der Thüren wird durch Geräte bedeutend erleichtert, welche die Thür in den Angeln heben und in der gehobenen Stellung festhalten. Einfach und praktisch ist der Thürheber „Famos“ von Otto Schlutius in Dresden-Blasewitz.
Er besteht (vergl. Figur 1) aus einer eisernen Stange, die an dem einen Ende etwas geschweift ist, an dem anderen aber zwei vorspringende Leisten aufweist; die eine derselben ist außerdem mit einem schmalen gleichfalls vorspringenden Falz versehen. Will man nun die Thür heben, so schiebt man den Falz unter die geöffnete Thür so weit, daß er von der unteren Thürkante völlig verdeckt wird, wie dies auf der untenstehenden Figur 2 angedeutet ist. Nun drückt man die Eisenstange in der Richtung des Pfeiles nieder, bis sie flach auf den Fußboden zu liegen kommt, wie dies auf derselben Abbildung durch die punktierte Linie angezeigt wird. Die Stange hat nach dem Gesetz des Hebels gewirkt und die Thür (vergl. die punktierte Linie links auf der Abbildung) gehoben.
Stange und Thür verbleiben nun in dieser Lage, bis man den Thürheber durch leichtes Aufheben von dem Fußboden wieder entfernt. Um Parkett- und Linoleumfußböden vor dem Druck des Hebels zu schützen, ist dem kleinen Apparat noch ein an einem Kettchen befestigtes Eisenplättchen beigegeben. Dieses wird unter die Kante des Hebels gelegt, welche das Gewicht der gehobenen Thür zu tragen hat. Nur bei außergewöhnlich kurzen Angelhaken könnte bei Anwendung dieses Apparates die Thür beim Heben aus den Angeln fallen.
Dominoaufgabe.
A, B und C nehmen je acht Steine auf. Vier Steine mit 37 Augen bleiben verdeckt im Talon. C hat auf seinen Steinen acht Augen mehr als B. Es wird nicht gekauft.
A hat:
A setzt Doppel-Sechs aus und gewinnt dadurch, daß er die Partie bei der fünften Runde mit Zwei-Sechs sperrt. B muß bei der vierten und C bei der dritten Runde passen. Die übrigbleibenden Steine haben bei den drei Spielern der Reihe nach 4, 24 und 33 Augen.
Welche Steine liegen im Talon? Welche Steine behalten B und C übrig? Wie ist der Gang der Partie? A. St.
Scherzrätsel.
Schließt mein Wort dich, Leser, ein,
Will es stets ein Kunstwerk sein,
Wenn es aber sich enthält,
Oeffnet es die Farbenwelt.
Magisches Pentagramm.
In die kleinen Kreise dieses Pentagramms sind die Zahlen 13 bis 27 so einzutragen, daß die fünf Zahlen jeder Reihe 100 als Summe ergeben. Die bereits eingetragenen Zahlen sollen ihre Stelle behalten, und in den Ecken der Figur darf keine Zahl stehen, die kleiner ist als 22.
Wie sind die Zahlen einzutragen?
Fügt man den unter A genannten neun Wörtern am Schluß je einen Buchstaben an, so entstehen ebensoviele neue Wörter von völlig anderer Bedeutung, die unter B näher bezeichnet sind.
Man verwandle also durch Hinzufügung eines Buchstabens
A einen Dichter des XVII. Jahrhunderts, in B ein Säugetier,
A einen Monat, in 8 eine Shakespearesche Frauengestalt,
A einen Markgrafen der Ostmark, in B einen religiösen Dichter,
A einen sibirischen Fluß, in B einen deutschen Dichter,
A eine berühmte Stadt des Altertums, in B einen Fisch,
A eine amerikanische Münze, in B eine Bucht der Nordsee,
A einen dramatischen Dichter, in B ein bekanntes Brettspiel,
A eine Verwandte, in B eine Stadt in der Schweiz,
A eine nordische Gottheit, in B ein Gesetzbuch.
Sind alle Verwandlungen richtig vorgenommen, so nennen die neu hinzugefügten Buchstaben, in der hier gegebenen Reihenfolge gelesen, eines der hervorragendsten Werke der indischen Litteratur.
[804 b]
Buchstabenrätsel.
Was wir auf Straßen und Chausseen,
Auf denen wir spazieren gehn,
An uns vorüberfliegen sehn,
Steigt, wenn man’s köpft, nicht in die Gruft,
Nein, es durcheilt sogar die Luft
Und wiegt sich dort im Aetherduft.
Oscar Leede.
Silbenrätsel.
Es bilden die drei ersten Silben
Ein fremdes Wort – doch ist es auch,
Böswilliges Hindernis bezeichnend,
Bei uns zu Lande im Gebrauch.
Als Fürwort wird die vierte Silbe
Und als Geschlechtswort oft verwandt:
Als Dichter eines Operntextes
Ist auch das Ganze wohlbekannt.
F. Müller-Saalfeld.
Auflösung der Skataufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 23.
Kartenverteilung:
- Mittelhand: rD., rZ., rO., r8, eZ., e8, gZ., g8, s7, s8,
- Hinterhand: sD., sZ., sK., sO., s9, rK., e7, g7, rW., sW.
- Spiel:
- Grand: eW., s7., sW., gD., g8, g7 = 15; (g9, gZ., sD. –) s8, sK., gW., eD., e8, e7 = 17. Die übrigen Stiche, nebst dem eingeklammerten Stich, erhalten die Gegner. Würde Spieler zuerst seine beiden Wenzel mitnehmen, würde er Schneider, ausgenommen, er könnte g8 gegen e9 eintauschen, in welchem Falle gZ. blank und er gewinnen würde, da er nur zwei Stiche (eK., eO.) abgebe.
- Eichel-Solo würde mit Schneider in Vorhand gewonnen: eW., e8, e7, gW., eZ., sW., e9, gZ., rW., womit der Gegner nur 12 Augen, oder wenn rD. statt gZ. eingeworfen würde, noch 11 Augen mehr = 23 Augen bekäme. Skat: r7, r9.
Auflösung der Schachaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 24.
- 1. D g 4 – d 8 K d 5 – d 4
- 2. L d 6 – a 3 + K beliebig
- 3. D c 8 – c 7 : .
A.
- 1. ... T e 3 – g 3 (beliebig)
- 2. L d 6 – c 7 :+ K d S beliebig
- 3. L c 7 – a 5 .
B.
- 1. ... c 7 – d 6 :
- 2. K f 7 – e 7 : beliebig
- 3. T d 8 – d 6 : .
C.
- 1. ... e 7 – d 6 :
- 2. D c 8 – c 7 : beliebig
- 3. T d 8 – d 6 : .
D.
- 1. ... K d 5 – c 6, c 4
- 2. D c 8 – c 7 : + K beliebig
- 3. L d 6 – a 3 (b 4, e 7) .
Auf 1. ... d 5 – b 4 folgt
- 2. Vo8 – o7: und nach
- 1. ... c 7 – c 6 kann
- 2. D e 6, L a 3 oder L e 7 : geschehen.
Der Versuch 1. D g 4 – e 6 + scheitert an 1. …
K d 5 – c 6,- 1. D g 4 – f 5 + widerlegt 1. ... e 7 – e 5! und den Angriff
- 1. D g 4 – d 7 wehrt 1. ... c 7 – d 6: ab.
Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 24.
Strich, Strauch.
Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 24.
Rhein, Berg, Rheinsberg.
Auflösung des Zahlenrätsels „Der Weinpokal“ auf dem Umschlag von Halbheft 24.