Die Gartenlaube (1899)/Heft 24
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24. Heft. | Preis 10 cents. | 14. November 1899. |
Inhalt.
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Der König der Bernina. Roman von J. C. Heer (5. Fortsetzung) | 741 | ||||
Schwarzwälder Flößer auf dem Neckar bei Tübingen. Mit Abbildungen | 752 | ||||
Müthchen. Bilder aus dem Kinderleben. Von Anna Ritter. II. | 754 | ||||
Galeerensklaven! Ein Mädchenschicksal, erzählt von Hans Arnold (Schluß) | 756 | ||||
Die Telegraphie ohne Draht. Von Franz Bendt. Mit Illustrationen von A. Wald | 764 | ||||
Haus- und Wanderratte. Von Prof. Dr. Kurt Lampert. | 766 | ||||
Villa Falconieri bei Frascati. Von Richard Voß. (Zu unserer Kunstbeilage) | 767 | ||||
Blätter und Blüten: Der Kampf der Burenrepubliken gegen England. (Mit Abbildungen.) S. 769. – Erika Wedekind. Von M. Schramm-Macdonald. (Mit Bildnis.) S. 771. – Glückliche Rettung. Von H. Pichler. (Zu dem Bilde S. 744 und 745.) S. 771. – Der hygieinische Einfluß gestärkter Leibwäsche. S. 772. – Hans Arnold. (Mit Bildnis.) S. 772. – Das Deutsche Repräsentationshaus für die Pariser Weltausstellung. (Zu dem Bilde S. 757.) S. 772. – Der Abschiedskuß. (Zu dem Bilde S. 761.) S. 772. – Edelsteinfarben. S. 772. | |||||
Illustrationen: Vergnügte Gesellschaft. Von E. v. Müller. S. 741. – Glückliche Rettung. Von O. Kirberg. S. 744 und 745. – Am Brunnen. Von M. F. Firmin-Girard. S. 749. – Initiale zu dem Artikel „Schwarzwälder Flößer auf dem Neckar bei Tübingen“. S. 752. Schwarzwaldflößer auf dem Neckar bei Tübingen. Von G. Adolf Cloß. S. 753. – Initiale zu der Erzählung „Müthchen“. S. 754. – Das Deutsche Repräsentationshaus für die Pariser Weltausstellung 1900. Von Johannes Radke. S. 757. – Der Abschiedskuß. Von Erdm. Wagner. S. 761. – Abbildungen zu dem Artikel „Die Telegraphie ohne Draht“. Von A. Wald. Fig. 1. Aufgabestation. Fig. 2. Empfangsstation. Fig. 3. Marconi in der Station auf South-Foreland. S. 764. Fig 4. Das Marconihaus und die Station bei Kap South-Foreland. Fig. 5. Die Station in Boulogne. S. 765. – Abbildungen zu dem Artikel „Der Kampf der Burenrepubliken gegen England“. Buren im Kampf. S. 769. General Joubert. Oberst Schiel. Martinus Steijn. General White. Generalleutnant Buller. Burensoldaten. S. 770. – Erika Wedekind als Regimentstochter. S. 771. – B. v. Bülow. (Hans Arnold.) S. 772.
Hierzu Kunstbeilage XXIV: „Im Park der Villa Falconieri.“ Von H. Restel.
Kleine Mitteilungen.
Wilhelm Speidel †. Der Mitgründer des Stuttgarter Konservatoriums und langjährige Dirigent des Stuttgarter „Liederkranzes“ Professor Wilhelm Speidel, der am 13. Oktober d. J. in Stuttgart verstarb, hat als Komponist auf dem Gebiete der volkstümlichen Lyrik seine schönsten Erfolge gewonnen. Mit Liedern von zarter Innigkeit, für die ihm seine schwäbischen Landsleute Eduard Mörike und J. G. Fischer besonders empfindungstiefe Texte boten, mit kraftvoll schönen Chorgesängen voll Naturandacht und patriotischer Begeisterung ist sein Name besonders bekannt geworden. Seine zahlreichen Kompositionen für Orchester und für Klavier sind ausgezeichnet durch anmutige Melodik und reines Ebenmaß. Wilhelm Speidel war am 3. September 1826 zu Ulm als Sohn des Musiklehrers und Sängers Konrad Speidel geboren, von dem er den ersten musikalischen Unterricht erhielt. Seine weitere Ausbildung empfing er in München, wo Ignaz Lachner sein Lehrer in der Komposition wurde, Wänner und W. Kuhe ihn im Klavierspiel unterwiesen. Er erwarb sich früh Anerkennung als feinempfindender Klavierspieler; auf Konzertreisen gewann er das fördernde Interesse von Liszt, Thalberg und Robert Schumann. Von Ulm, wohin er 1855 als Musikdirektor an die Spitze der dortigen Liedertafel berufen worden war, kam er zwei Jahre später nach Stuttgart, um die Direktion des „Liederkranzes“ zu übernehmen. Mit Faißt, Lebert, Stark u. a. gründete er hier die „Musikschule“, das jetzige Konservatorium, an welchem er eine sehr ersprießliche Thätigkeit als Lehrer des Klavierspiels entfaltete. Er rief auch die „Populären Konzerte“ ins Leben, die seitdem einen wesentlichen Bestandteil des Stuttgarter Musiklebens bilden. Bis 1885 blieb er Dirigent des „Liederkranzes“; am Konservatorium hat er, nach einer längeren Unterbrechung in den siebziger Jahren, bis an sein Lebensende gewirkt. Verschiedentlich hat er auch mit schönem Erfolg die musikalische Leitung größerer Liederfeste geführt.
Wild und Eisenbahn. Daß alles Kleingetier vom Licht angezogen wird, hat gewiß jeder schon beobachtet, wenn er an windstillen Sommerabenden !m Garten oder auf einer Veranda bei einer Lampe saß. Bald kamen dann Mücken und Motten herbeigeschwärmt und flatterten mit großer Ausdauer gegen Cylinder und Kuppel. Der Forstmann hat sich sogar diese Sehnsucht der Insekten nach Licht zu nutze gemacht, um die Nonne, die waldverwüstende Motte, unschädlich zu machen. Vor einen elektrischen Scheinwerfer wird ein Drahtnetz gespannt, welches, durch den Strom zum Glühen gebracht, die zum Lichte flatternden Motten verbrennt. – Aber auch die Vögel streben dem Lichte zu und die in der Nähe der Wanderstraßen der Vögel stehenden Leuchttürme, z. B. der auf Helgoland, vernichten Tausende der aus ihrer nordischen Brutheimat in dunklen Nächten nach ihrer südlichen Winterherberge oder aus ihr zurückziehenden Wandervögel. In pfeilschnellem Fluge sausen sie hin zu dem strahlenden Lichte und zerschmettern sich Köpfe und Flügel an den das Licht schützenden dicken Scheiben. Der würde sich ein großes Verdienst um den Vogelschutz erwerben, der eine Vorrichtung erfände, die den Anprall der armen Wanderer der Lüfte derart milderte, daß sie unverletzt blieben und trotz der Schutzwehr der Lichtschein nicht gedämpft würde. – Fische werden ebenfalls durchs Licht angezogen. Deshalb ist auch das Fischen bei Fackelschein verboten und ebenso das Angeln mit künstlichen Ködern, deren gläserne Hülle wie eine elektrische Glühbirne erhellt wird. Sogar das Säugetier, das Wild, zeigt in einzelnen Fällen eine gewisse Neigung, dem Lichte sich zu nähern, und wenn es auch nur zu den Seltenheiten gehört, daß ein Säugetier direkt aufs Licht zustürmt, so fürchtet es dasselbe doch nicht, und gerade diese Furchtlosigkeit vor dem strahlenden Feuerschein wird auch ihm, wie Insekten und Vögeln, häufig zum Verderben. Gelegentlich einer sportlichen Veranstaltung kamen wir auch auf Licht und Wild zu sprechen und zwei der anwesenden Herren wußten dann folgende Begebenheiten mitzuteilen: Der eine, ein Förster, kam nachts von einem Kollegen, der mitten im Walde wohnte, und hatte wegen seiner ihn begleitenden Frau eine Laterne angezündet. Plötzlich sprang ein Hase gegen das Licht und nach einigen Minuten zum zweitenmal. Der andere Herr fuhr nachts auf einem Fahrrad durchs Rosenthal bei Leipzig, und bald lief ein Hase im hellsten Lichtkern der Laterne vor dem Rade her, und sobald Meister Lampe einmal durch eine Drehung in den Schatten kam, suchte er sofort wieder die hellste Stelle auf. Das Vorhergehende habe ich nur erwähnt, um den Beweis zu führen, daß die meisten Lebewesen das Licht – mindestens – nicht fürchten. Alljährlich wird nun aber von den Eisenbahnzügen eine große Menge Wild, vornehmlich des Nachts, getötet, und gewiß ist die Frage, wie das kommt, berechtigt und auch interessant. Ich glaube, daß die beiden Laternen vorn an der Lokomotive der Hauptgrund sind. Das in der Nähe der Bahn „stehende“ (seinen ständigen Aufenthalt habende) Wild fürchtet bekanntlich das Brausen des Zuges nicht, es kennt ihn als ungefährlich und äugt ihn vertraut an, wenn er vorüberfliegt, oder zieht doch nur langsam ein Stück fort, um dann ruhig weiterzuäsen. Wer hat nicht schon vom Zuge aus dicht beim Bahndamme „verhoffendes“ (sicherndes) Rehwild gesehen oder sogar einen Fuchs beim Mausen beobachtet! Ja selbst die Trappe, das scheueste allen Wildes, streicht nur 200 Schritt weit vom fahrenden Zug und fällt dann wieder ein. Also vom Geräusch, das der herandonnernde Zug macht, wird das Wild nicht erschreckt, auch nachts nicht, wenn es auf dem Bahngleise steht. Machen wir uns nun einmal den Vorgang klar, wie z. B. ein Rehbock überfahren oder vom Zuge verletzt wird. Der Bock hört in der Ferne das ihm bekannte Geräusch eines näherkommenden Zuges, durch das er nicht erschreckt wird. Er „wirft aber auf“ und äugt nach der Richtung hin und sieht in der Finsternis nur die beiden hell strahlenden Lichter vor der Lokomotive – aber statt zu fliehen, wird er durch sie angezogen, er fürchtet sie mindestens nicht und starrt nach der wunderbaren, immer größer und heller werdenden Erscheinung hin – der Bock wird durch den Glanz sozusagen hypnotisiert. Er vergißt im Anstarren alles um sich her, und die Gefahr, in der er schwebt, kommt ihm nicht zum Bewußtsein, da seine Empfindungen ganz auf das strahlend glänzende Etwas gerichtet sind – er ist an den Platz gebannt und findet schließlich keine Zeit mehr, sich durch „eine Flucht“ zu retten. Vielleicht dient folgender Vorfall als Beweis des Gesagten. Ein Freund von mir, Fabrikant B. U. aus Osterode, fuhr neulich einmal auf dem Rade nachts vom Harzdörfchen Riefensbeck nach seiner Villa zurück und hatte der Dunkelheit wegen sein strahlendes Acetylenlicht angezündet. Plötzlich kam er so unmittelbar an einem mitten ans der Chaussee stehenden, ihn oder die Laterne anstarrenden Sprung Rehwild vorüber, daß er fast eine Ricke umgefahren hätte und ihr nur durch eine geschickte Wendung auszuweichen vermochte. Karl Brandt.
Bäuerliche Hochzeitsgeschenke im 15. Jahrhundert. In einem Gedichte, dem Ringe des Heinrich von Wittenweiler, in welchem das Leben und Treiben der Bauern im 15. Jahrhundert ausführlich geschildert wird, werden die Hochzeitsgeschenke aufgezählt, welche das neuvermählte Paar Bärtschi und Mäzli erhalten hat. Der Schwiegervater Fritz gab einen Hahn und sieben Hennen, eine Decke, einen Strohsack und einen Kittel. Einer spendete einen Haushund, ein anderer eine Katze; dann folgten eine junge Ziege, ein Kalb, eine kranke Ente, ein Stuck Geld. Von einer Frau rührten drei Nadeln, ein Feuerzeug und zwei Windeln her, von einer anderen hänfenes Aermelzeug. Ferner bekamen sie einen Haspel, zwei alte Handschuhe, einen Besenstiel, einen Topf, einen Essigkrug, einen Korb, ein Sieb, den Deckel zu einem Salzfaß, einen alten Hut, Schüsseln, Teller, Leuchter, Gabel, Löffel und Rechen. Wie man sieht, lauter eminent praktische Gegenstände! [740 e] [741]
Der König der Bernina. Roman von J. C. Heer.
(5. Fortsetzung.) 10.
Wie habe ich es thun können – das Unsägliche?“ – In seiner Werkstatt steht Markus Paltram und starrt, die Arme verschränkt, mit brennenden Augen vor sich hin. „Nicht aus Leichtsinn – aus Elend! Ich gab Cilgia nach dem, was auf der Heimfahrt geschehen war, verloren – ich begrub die rasende Reue in der verruchten That! Und siehe da – Cilgia war größer – sie kam; sie bot die Hand zur Versöhnung. Sie ist herrlicher als jene Katharina Dianti, von der sie erzählt hat!“ Er starrt und starrt und sein Herz siedet im Weh. „Markus, der Büchsenschmied, hat das Lachen verlernt,“ flüstern die Leute, „er hat früher nicht viel gelacht, jetzt lacht er gar nicht mehr.“ Man hat erwartet, sein unfaßbarer Verrat an Cilgia Premont und seine unfreiwillige Ehe mit Pia, der Ziegenhirtin, würde ihn zum kleinen Mann herabdrücken, er würde vielleicht ein Trinker und käme an den Rand des Verderbens. Nichts von alledem! Er meidet den Umgang mit den Menschen, er arbeitet aber schier so ruhig und fleißig wie früher. Er geht immer gut gekleidet, frei und frank und trägt den Kopf hoch. Nur lachen sieht ihn niemand mehr. Mit Pia, dem ehemaligen Waldteufel, führt er einen friedlichen und fast ordentlichen Haushalt. Wie ein Hund gehorcht sie ihm. Einer seiner furchtbaren Blicke, und es geht so manches, was vorher nicht Raum darin gefunden hatte, in die niedrige Stirn. Sobald er aber der Hütte den Rücken wendet, stellt sie sich ans Fenster, reckt die Zunge hinter ihm und hebt die kleine derbe Faust: „Warte nur, bis mein Bruder reich und angesehen ist!“ Ihr ganzer Familiensinn ist die gräßliche Furcht vor den Augen ihres Mannes. Häufig am Abend streicht Markus ins Rosegthal oder in eine andere Gegend des Gebirges und am Sonntag wandert er am frühen Morgen aus und kommt erst spät wieder. Sein Weib aber muß, um der Landessitte zu genügen, Sonntag um Sonntag
[742] den Morgengottesdienst besuchen und, um sich zu vergewissern, daß sie sein Gebot halte, fragt er sie am Abend nach der Predigt des Pfarrers. „Er hat den Text ausgelegt,“ erwidert Pia mit einem seltsamen frommen Augenaufschlag, den sie andern Frauen abgeschaut hat: „,Jch bin ein eifriger Gott, der da heimsuchet der Väter Missethat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied.‘“ Da schaut er sie mit einem niederschmetternden Blick an, setzt den Hut auf und geht. „An den Kindern bis in das dritte und vierte Glied.“ Das schreckensvolle Bibelwort verfolgt ihn auf seinen einsamen Wanderungen. „Und ich bin doch ein Camogasker!“ schreit er in den Sommerfrieden des Gebirges. Und weiter, weiter laufen seine Gedanken. – Wäre er wie Pia! – Sie hat kein Gewissen. – Was sie gemeinsam an Cilgia verbrochen haben, beschwert sie nicht. – Es ist entsetzlich, zusammen mit einem Weib zu leben, das kein Gewissen hat! Er geht, er läuft, bis der Schweiß über seine Stirne rinnt und sein Atem stockt. Dann eilt er heim, und das Glingling seines Hammers übertönt das schwere Pochen in seiner Brust. Was leidet er unter dem gräßlichen Heimweh nach Cilgia – nach einem guten Blick aus ihrem schönen goldbraunen Auge – nach einem ihrer Worte, die wie Sonne und Tau in seine verbitterte Seele fielen! Es ist sonderbar: bei allem, was er thut und denkt, ist ihm, sie sehe und höre ihm zu. Aber sie ist ja drunten in Mals bei Baron Mont – sie ist an der Straße, wo der alte und der junge Gruber mit den Säumen vorüberziehen, wenn sie vom Veltlin Waren nach dem Tirol führen. Und wenn sie nun doch das Weib des jungen Gruber, des Gemsfallenstellers, würde? Er forscht den langen Hitz aus, der mit seinen Heuern und Heuerinnen wieder da ist. Der sagt aber lachend: „Die – die – ich glaube, es braucht weniger Mut, des Teufels Großmutter ums Heiraten zu fragen als die. Ihr solltet sie nur einmal durchs Moor reiten sehen!“ Der Schmerz Markus Paltrams wird darum nicht kleiner. O, er wollte, er hätte sie mit seiner elenden That so getroffen, daß sie nie einen andern lieben könnte – ihm würde der Gedanke, daß je ein anderer den Arm um die stolzen Hüften legen dürfte, das Gehirn aussengen! Nein – sie kann nie einen andern lieben – das wäre Spiegelung der Hölle – sie haben zu wundervolle Tage des Glücks miteinander verlebt! Doch das Heimweh nach den schönen Tagen brennt! Er streift durch das Gebirge – er zieht einen Rotstein aus der Westentasche und schreibt „Cilgia“ an die Felsen. Ihm ist, als müsse sie eines Tages an diesen Stellen vorüberwandern, die Schriftzüge erkennen und zu ihm kommen und sagen: „Markus, ich bin dir noch gut!“ Warum ist er nicht nach Frankreich geflohen, sondern jenseit des Albula umgekehrt? – Er kann sich nicht von der Gegend trennen, wo sie geatmet und gelebt hat. Ihn verzehrt immer der gleiche Durst: sie noch einmal sehen! Und sonderbar, er, der gescheite Paltram, der sonst über alles lacht, was dunkel und geheimnisvoll ist, erliegt mystischen Stimmungen. Der Herbst ist da und Pia spricht: „Markus – wenn du auf die Jagd gehen willst – ich kann dir am Piz Languard, wo ich die Geißen gehütet habe, einige gute Gemsenwechsel zeigen.“ „Bist du der Satan?“ donnert er, daß sie sich duckt. – Eine halbe Stunde später steht er in der Stube – mit bebenden Händen hält er sein Jagdgewehr – das Eisen funkelt – seine Augen flammen – aber er hängt das Gewehr wieder an die Wand. – Er steht in der Nacht auf und besieht sich die Waffen, wie sie im Schein der Kerzen flimmern. – Doch ihm ist’s: die erste Gemse, die er schieße, müsse Cilgia sein. Und er läßt die Waffe ruhen. – Einige Wochen später wird ihm ein Söhnchen geboren – ein prächtiges Kindchen mit gesunden Gliedern. Und nun spürt er doch etwas wie Vaterfreude und Erlösung. Er muß es zur Taufe anzeigen. Da sitzt er wieder im Pfarrhaus, wo er mit Cilgia so oft gesessen hat. Die Bilder Paolo Vergerios und Katharina Diantis schauen auf ihn nieder – und die Erinnerungen foltern ihn. Das Geschäft zwischen ihm und dem Pfarrer erledigt sich kurz und förmlich. Aber er steht noch einen Augenblick länger als nötig – er hätte sich so gern mit einem Wort nach Cilgia erkundigt – ihren bloßen Namen zu hören, wäre ihm Musik gewesen. Aber er fragt nicht – er geht. – Der Pfarrer blickt ihm gedankenvoll nach. Er hat, seit er den Schrei am verschneiten Waldesrand gehört, eine Ahnung, wie es um Markus Paltram steht. Er kommt eben von einer mehrtägigen Reise, von einem Besuch bei Cilgia. Es geht ihr, so weit es die Erlebnisse der Vergangenheit gestatten, gut, das Schicksal hat sie auf ein Arbeitsfeld gestellt, wie man es ihr kaum angemessener hätte bereiten können. Sie ist zu Mals, dem hübschen tirolischen Flecken an der Stilfserjochstraße, bei Baron Mont, dem Freund a Portas. Der wohl sechzigjährige Baron, ein Kauz mit den seltsamsten Ansichten, aber von seltener Güte, ein Mann, der andern jedes Wort glaubt und niemand eine Bitte abschlagen kann, hat sie in seinen Dienst genommen, damit sie ihm das lästige Briefschreiben besorge und eine Art Tage- und Rechnungsbuch über die Arbeiten auf dem großen Hochmoor führe, wo er große Torfstechereien besitzt und, um der armen Gegend durch Feldbau etwas aufzuhelfen, allerlei Bodenverbesserungs- und Anpflanzungsversuche anstellen läßt. Sie aber ergriff ihr Amt mit der ihr eigenen Lebendigkeit, und wie der Baron eines Tages von einer Reise ins Salzburgische, wo er auch Güter besitzt, zurückkehrt, legt sie ihm das Tagebuch vor. Er blättert darin, und plötzlich fesselt ihn eine mit roter Tinte unterstrichene Stelle: „Die Betrügereien, die seit sechs Jahren im Umtriebe des Moorgeschäfts nachgewiesen werden können.“ Und es folgen fast endlos kleine und große Posten, sie fallen dem Verwalter, den Zwischenunternehmern und Händlern zur Last, und alles zusammen ist eine Summe, über die dem Baron, der doch in Geldsachen nicht klein denkt, graut. Acht Tage später hat Cilgia die Leitung des Unternehmens in den Händen, ihr Wort und ihre Unterschrift gelten wie die seine, und ein Gewitter fährt reinigend über die Heide. „Das Frauenzimmer, das verfluchte, das immer das Papier und den Bleistift in den Händen hält!“ Die Fäuste der Arbeiter ballen sich hinter ihr, sie wünschen sie angefroren auf der Spitze des Ortlers, die auf das braune und schwarze Hochmoor herniederschaut. In ihrem grauen, rauhwolligen Kapuzenmantel kommt sie schon morgens sechs Uhr durch die dünnen blauen Nebelschwaden, die das Ried bedecken, geritten und bietet ihnen einen freundlichen „Guten Tag“. Sind sie aber nicht zur Stelle, so läßt sie ein Zeichen zurück, daß sie schon dagewesen ist, und wenn am Abend noch schnell ein unaufgeschriebenes Fuder Torf heimlich weggefahren werden soll, so sprengt sie auf ihrem Rappen gewiß noch von irgendwo heran: „Abladen – es geht keine Torfstolle vom Moor, bis sie im Herrenhause eingeschrieben ist, und dem Händler sagt, daß wir überhaupt nichts mehr mit ihm zu schaffen haben wollen!“ Und neben ihrem Pferd steht sie ruhig, bis die letzte Torfstolle wieder auf den Boden geschichtet ist. Geht aber alles seinen ordentlichen Weg, so plaudert sie mit den Arbeitsleuten, sie setzt sich mit ihnen ans Feuer, röstet sich einen Maiskolben und erkundigt sich, während sie die Körner abrupft, nach Weib und Kind der Leute. „Das ist anderes Latein,“ scherzte sie, als Pfarrer Taß zu Besuch kam und mit ihr über die Arbeitsstätten ritt. „Aber ich habe mich mit den Taglöhnern jetzt doch in ein recht angenehmes Achtungsverhältnis gesetzt.“ „Das habe ich im Flecken schon gehört,“ erwiderte der Pfarrer erfreut über die Munterkeit seiner Nichte. Als sie aber am dritten Tag dem Pfarrer bis nach Münster im Bündnerland das Geleite gab, sagte sie im gemütlichen Ritt: „Ich habe den Eindruck, daß die Wirtschaft des Barons mit großen Schritten hinter sich geht – ich übersehe nicht alles, nur [743] ist er gewiß nicht so reich, wie er selber und andere mit ihm glauben.“ „Und wie geht es dir sonst, Kind?“ fragte der Pfarrer. „Ich meine, was macht dein Herz? Darüber sagst du mir ja kein Wort.“ „Ich fürchte nur die Nacht, die gräßliche Nacht,“ sagte Cilgia stockend, „am Tag giebt mir die Arbeit Frieden, und ich bete zum Himmel, daß er mir vor den Männern Ruhe schenkt. Aber vor sechs Wochen war Fortunatus Lorsa in aller Stille da und hat um meine Hand angehalten.“ „Und was hast du ihm für eine Antwort gegeben?“ „Der Schmerz hat mich fast übernommen. – ,Fortunatus,‘ habe ich ihm gesagt und ihn mit ,Du‘ angeredet, daß er merke, wie wert er mir ist, ,du verdienst ein besseres Los als ein halbes Herz – hätte ich noch ein ganzes, so gäbe ich es dir!‘ Geliebt werden und nicht wieder lieben können – auch das, Onkel, muß durchgekämpft sein! – Das weiß ich auch von Sigmund Gruber her.“ „Ich wäre wirklich gern zu den beiden Gruber gefahren,“ sagte nach einer Weile der Pfarrer, „ich denke an beide gern zurück, an den alten und den jungen.“ „Und ich,“ versetzte Cilgia, „ich ärgere mich, daß ich bei der Annahme der Stelle zu wenig überlegt habe, wie nahe ich damit den Gruber rücke. Wenn ich einen von ihnen sehe, und das geschieht ja jetzt oft, mache ich mir immer Vorwürfe, wie schlecht ich den jungen behandle und wie undankbar ich gegen den alten bin. Ich möchte übrigens den jungen ganz wohl leiden, wenn er mich nur nicht liebte. Seit ich selber so im thätigen Leben stehe, habe ich auch Sinn für die Säumerei und es gefällt mir, wie er mit den Knechten und Pferden umgeht. Er ist ein wenig derb, aber er ist nicht roh, er überanstrengt weder Mensch noch Tier. – Die Geschichte vom Gemsfallenstellen ist aber doch wahr,“ versetzte sie nach einigen Augenblicken; „denkt, Onkel, ich habe die große Unvorsichtigkeit begangen und ihn frei und frank gefragt, was an dem häßlichen Gerücht sei.“ „Warum Unvorsichtigkeit?“ „Er wurde blaß wie ein Leintuch – er stöhnte, nun wisse er, warum ich ihn nicht lieben könne – ob er denn ewig unter einer Thorheit leiden müsse, die er vor zehn Jahren als thörichter, verführter Junge begangen habe! – Es war so viel Leid in seinem Gesicht, daß er mich dauerte.“ Sie waren im freundlichen Münster angekommen; ein gemeinsames Mittagsessen noch, dann stiegen Onkel und Nichte wieder zu Pferd und reichten sich die Hände zum Abschied. Da umflorten sich die schönen goldbraunen Augen Cilgias doch. „Ich habe,“ bekannte sie, „ein so gräßliches Heimweh nach dem Engadin – ich reite oft am Morgen früh zur Bündnergrenze und denke: dort über den Bergen liegt Pontresina; es ist schrecklich, daß ich es nicht mehr sehen darf!“ Ihre bebende Stimme brach ab. Mit einem raschen Ruck wandte sie das Pferd; sie ritt nach Mals zurück; der Pfarrer gegen Santa Maria und über den Ofenpaß nach Zernetz. Die starke Seele, dachte er im Reiten; mit keinem Wort hat sie nach Markus Paltram gefragt. Er unterhielt mit Cilgia einen regen Briefverkehr, die Säumer auf der Stilfserjochstraße nahmen ihre Briefe nach Tirano mit und gaben sie dort Säumern, die über die Berninahöhe zogen. Oft lag neben dem für den Pfarrer noch einer an Menja Melcher in St. Moritz und in diesem wieder ein Brief, den nur Menja allein sehen durfte. Dieser Brief kam von Paris – kam von Herrn Konradin, der schon fast so lange in der lebensvollen französischen Hauptstadt weilte wie Cilgia im einsamen Mals. Auch über sein junges Haupt war ein Donnerwetter gegangen. Irgendwie war der Landammann dem Thun und Treiben seines duckmäuserischen Sohnes auf die Spur gekommen: er hatte erfahren, daß dieser der Verfasser des vielgesungenen Liedes sei: „Mein Engadin, du Heiligtum“; er war in das verschwiegene Poetenkämmerchen gedrungen, hatte dann mit grimmigem Zorn die Verse seines Jüngsten der Landammin vorgelesen und, was schlimmer war, einen Brief mit Beleidigungen ins Haus geschickt, vor dessen Fenstern die Blumen Menjas blühten. Die Flamme der alten Zwietracht zwischen Melcher und ihm war neu aufgeschossen, und dem armen jungen Dichter flogen die bösen Worte um den Kopf: „Du Revolutionär – du überflüssiger Verseschmied – du Verräter an den Ueberlieferungen des Hauses!“ Herr Konradin war jetzt als angehender Kanzlist bei seinem Bruder in Paris, wo, meinte der Landammann, die blonde Melcher sich schon vergessen lassen werde. Aber über Mals fanden Konradins Briefe den Weg nach St. Moritz, und ob sie auf dem weiten Umweg auch steinalt wurden, so streuten sie doch hellen Sonnenschein in ein kleines unglückliches Herz. Und dazu schrieb dann noch Cilgia: „Siebzehnjährige Menja. – Laß Deine Blumen noch ein paar Jährchen blühen. – Ich freue mich auf Euere Hochzeit!“ – Im Winter – es ist der zweite, seit sie von Pontresina fort ist – kommt ein Brief von Cilgia an den Onkel; eine Stelle besonders fesselt die Aufmerksamkeit des Pfarrers. „Und denkt Euch,“ schreibt Cilgia, „was für eine sonderbare Bitte der alte Gruber an mich gerichtet hat. Eine junge reiche Bauerntochter in Reschen, eine muntere Neunzehnjährige, frisch wie aus dem Brunnen – ich kenne das Mädchen – hat sich in die blauen Augen des Sigismund verschaut, ihre Eltern wollen – der alte Gruber will – ich weiß ja nicht, wie das alles gefädelt worden ist – nur der Junge will nicht! Jetzt meint der Alte, da ich Sigismund ja doch nicht nehme, solle ich ihm den Kopf zurechtsetzen. Ich werde mich überwinden und ihm meine traurige Geschichte von Pontresina erzählen. Ich bin über diese Wendung froh – a Porta hat mir bei seinem letzten Besuch so warm zugesprochen, ich sollte mich des jungen Grubers erbarmen – es liege gewiß ein Glück darauf. Ich begann ernsthaft zu überlegen. Denn ich höre jetzt mehr auf den Rat erfahrener Leute als in Pontresina. Aber die Geschichte der Rescherin läßt mich kühl – das ist doch ein Zeichen, daß alles, was ich für ihn empfinde, nur freundschaftliche Achtung ist. Die Verlobung Fortunatus Lorsas mit der Scanfserin ist mir näher gegangen – ich wünsche ihm tausend tausendmal aus vollem Herzen Glück!“ Der Pfarrer seufzte: Lorsa und Cilgia wären ein Paar nach seinem Herzen gewesen. Ein ernster, sehr ernster Brief Cilgias mit der Aufschrift: „Dieses Schreiben drängt!“ traf im Frühling beim Pfarrer ein. „Diesmal, Onkel, schreibe ich Dir vom Suldenhof. Wie ich dahin gekommen bin? Das ging wunderlich zu. – Ich lasse seit einigen Wochen wieder im Moor arbeiten; mein Baron ist im Salzburgischen, die Händler zahlen nichts, die Leute, denen wir schuldig sind, werden ungeduldig, der Bankier in Innsbruck rührt sich nicht, und ich sitze eines Samstags morgens auf der Schreibstube, klemme den Kopf zwischen die Fäuste und frage: Was soll ich thun, wenn am Abend die Arbeiter kommen, um ihren Vierzehntaglohn zu holen? Sagen: wir sind bankerott? – Da tritt der alte Gruber ein, ich gebe ihm auf seine Frage wegen Abfuhr von Torf für die Pfanne in Hall zerstreute Antwort. ‚Was ist Euch?‘ fragt er, ich bekenne ihm meine Verlegenheit, er sagt: ,So, sechshundert Gulden braucht’s, wenn der Baron nicht als zahlungsunfähig ausgeschrieen werden soll? – Da sind sie. Ich nehme die Gefahr auf mich, denn so schlimm steht’s mit Mont noch nicht.‘ So konnte ich meine Arbeiter und verschiedene drängende Schuldner bezahlen; vierzehn Tage später erhielt ich aus Salzburg das Geld, aber zugleich die Weisung des Barons, die Leute in dem Maß zu entlassen, als sie anderwärts Verdienst finden, und einer nach dem andern drückt mir jetzt die Hand. Der Zusammenbruch meines geliebten Moorunternehmens preßte mir die Thränen in die Augen, aber auch das von Gruber entlehnte Geld brannte mich. Es muß zurückbezahlt werden – sofort! Ich höre, daß der alte Lorenz bettlägerig oder doch ans Haus gefesselt ist – es liegt mir daran, die Summe wieder selbst in seine Hände zu legen. Ich besiege eines Morgens alle Bedenken und reite den weiten Weg nach dem Suldenhof. Die Leute, besonders der alte Lorenz, machen sich ein Fest aus meinem Besuch. Ich muß mir den weitläufigen, schönen Hof ansehen – man spricht viel, viel – nur nichts von der jungen Rescherin – ich verspäte mich am Abend – Sigismund Gruber reitet mit mir zur Begleitung durch die Nacht – und dann – – – [744] [745] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [746] Ich wußte ja, daß es so käme, wenn ich den Suldenhof besuchte! – – Er wirbt wieder um mich. – Und, Onkel, ich fange an zu überlegen – nein, ich überlege nicht – ich kämpfe. Ich würde den alten Vater so gern glücklich sehen – Onkel, Du würdest mir einen großen Dienst erweisen, wenn Du die Reise unternehmen wolltest – ich würde mich so gern mit Dir beraten! – Ich bringe die Schlacht meiner Gedanken nicht fertig. – Aber ich bitte, rasch, Onkel; ich fürchte, mit dem alten Gruber geht’s zu Ende.“ Und der Pfarrer reist nach dem Suldenhof. Zum schwersten, was er je erlebt hat, gehört der Abendgang mit seiner Nichte im Schein des Ortlergebirgs. „Sigismund weiß alles,“ berichtet ihm Cilgia auf diesem Gange, „er weiß, daß es eine matte, auf die Achtung für ihn und seine Familie gegründete Liebe ist, die erst wachsen und stark werden muß. Gott, wenn mir nur meine seligen Eltern ein Zeichen geben würden, was ich thun soll! Ich möchte den alten Lorenz nicht dahinfahren lassen ohne Trost und kann doch fast die Verantwortung nicht tragen, das ,Ja‘ zu sprechen. – Onkel, soll ich in die weite Welt?“ Erschütternd ringt Cilgia. „Alles thun sie mir zulieb!“ stößt sie hervor. „Da ich nicht gern im Tirol bin, so will sich Sigismund in Puschlav niederlassen und dort eine Säumerei einrichten. Der alte Lorenz ist einverstanden.“ Der Pfarrer ist ratlos. – Der junge Gruber mit seinem klaren, trockenen Wesen gefällt ihm besser als je. Aber Cilgia liebt den Vater – nicht den Sohn. Und sonderbar– es ist, als ob der alte sieche Mann, der ein so arbeitsreiches Leben hinter sich hat, mit seinem Lebensflämmchen nur noch zuwarte, bis sie ihr „Ja“ spricht. Mutteraugen bitten auch darum, und selbst der ältere Bruder Sigismunds, sonst ein protziger Mann, ist Cilgia gewogen. Am andern Tag sagt sie: „Onkel, ich gehe jetzt allein ein bißchen in Wald und Flur.“ Und siehe da – mit stiller Fröhlichkeit kommt sie zurück. „Onkel,“ sagt sie, „ich habe gebetet wie noch nie. – Ich weiß meinen Weg – ich habe Frieden!“ Und dann setzt sie sich an das Bett des alten sterbenden Gruber. Sie hat ihr Ja noch immer nicht gesprochen – blaß wie eine Märtyrerin sitzt sie da. Der alte Gruber blickt sie, während er vom Geistlichen die Sakramente empfängt, mit einem unsäglichen Ausdruck der Bitte an. Sein Atem geht schwer. Die heilige Handlung ist vollendet. Da schwankt sie auf den Sterbenden zu, nimmt seine kalte weiße Hand und kniet nieder. „Komm, Sigismund, knie mit mir und gieb mir die Hand – und Ihr, Vater, gebt uns den Segen!“ Da verklären sich die Züge des Waldtöters. „Sigismund, halte sie in Ehren. – Cilgia, Herzenskind – also doch!“ – – – Und die Stimme des Alten bricht sich in Röcheln und Schluchzen. Der Geistliche tritt vor und hält die Monstranz über die Knieenden. „Sie hat in Mals so viel für die Armen gethan, daß ihr die Kirche den Segen nicht verweigern kann. Die Kirche segnet euch.“ Der alte Gruber schaut nur noch. „Cilgia“ haucht der Sterbende mit unsäglich dankbarem Blick. Verlobung und Tod sind beisammen. Und Sigismund Gruber weint wie ein Kind. Monate sind seit diesem erschütternden Tage verflossen – es geht gegen den Herbst – aber der Pfarrer muß immer daran zurückdenken! Die Verlobung liegt ihm nicht recht. Doch übermorgen ist die Hochzeit Cilgias mit Sigismund Gruber. Nur eine Beruhigung giebt es: sie selbst ist jetzt mit Festigkeit dabei – und eine Freude: er kann dann und wann zu ihr hinüberreiten – zu ihr, seinem Augapfel. Uebermorgen ist die Hochzeit. „Ich bin doch dabei,“ hatte der alte Gruber gemeint, „wenn ihr mich schon nicht seht.“ Ja, denkt der Pfarrer, wenn der alte Lorenz noch ein paar Jahre das Leben gehabt hätte – Sigismund wird doch gefeit sein gegen die Gefahren, die an der Straße lauern. Und dabei denkt er nicht an die Lawinen. Er nimmt die Bilder Paolo Vergerios und Katharina Diantis von der Wand. Da klopft es. Markus Paltram, der Büchsenmacher, kommt in schwarzem Anzug. „Herr Pfarrer,“ sagt er ruhig, „mein Bub Märklein ist gestorben, könnte morgen die Beerdigung sein?“ „Setzt Euch, Paltram!“ Der Pfarrer brachte das trauliche „Markus“ nicht mehr über die Lippen. „Woran ist es gestorben? Ja, morgen, nur nicht übermorgen!“ „Gichter – es ist gut, daß es gestorben ist – es war ein schönes und liebes Kind – ich mag ihm den Frieden gönnen,“ sagt Markus dumpf. „Wie kommt Ihr mir vor, Paltram?“ „Ich wünsche keine Nachkommenschaft,“ erwidert er finster. „Ihr werdet mit mir denken – was kann von Markus Paltram Gutes kommen?“ Da schlägt der Wind den Fensterladen zu. „Es kommt ein Wetter,“ sagt der Pfarrer und befestigt den Laden. Markus wirft einen Blick auf die ihm so wohlbekannten Bilder. Da würgt er es heraus: „Wie geht es Cilgia?“ „Ich schicke die Bilder, woher sie gekommen sind – über den Berninapaß. Ich trenne mich schwer von ihnen, aber sie liebt sie mehr als ich, sie werden ihr Hochzeitsgeschenk.“ „Ihr Hochzeitsgeschenk! – Sie heiratet Gruber?“ Und der Pfarrer nickt. Markus Paltram taumelt auf: „Lebt wohl, Herr Pfarrer!“ Mit einem langen seltsamen Blick sieht ihm der Pfarrer nach – es ist ihm unheimlich zu Mut. Paltram taumelt wie ein Trunkener heimwärts; zu Hause reißt er das Gewehr von der Wand. „Was willst du?“ fragt seine Frau entsetzt. „Auf die Jagd!“ „Vom Leichlein des Kindes hinweg – von unserm toten Märklein?“ jammert Pia. „Ja, von unserm toten Märklein!“ donnert er ihr zu. Es ist, als ob das Weiße seiner Augen leuchte – als sei er größer – ein andrer – nicht mehr Markus Paltram, der Schmied – sondern irgend einer aus alter Zeit. Zitternd vor Entsetzen bleibt Pia; er aber geht – er geht das Berninathal empor. – Sieht er, wie sich das Wetter über das Gebirge wälzt – wie die fahlen Scheine um den Piz zucken und schweben? Gleich einer Mauer rückt die Finsternis heran – unter den obern schwarzen Wolken fegen die untern hin und her. Sie hängen wie Trauerfahnen ins Thal – in der Tiefe aber regt sich kein Lüftchen – es steht alles still – es ist eine Stimmung in der Natur, wie sie an jenem Tag sein wird, wo die Sonne zum letztenmal am Rande des Erdballs untergeht. Markus Paltram steht am Morteratschgletscher – es ist Nacht. „Cilgia!“ ruft er. Da ist es, als ob der Bann der Natur sich löse. Ein Luftstrom streicht vom Piz über den Gletscher abwärts, und es wetterleuchtet über dem Eis dahin. In den Felsen und an den Gletscherkanten harft der Wind. Er singt ein Lied, so weich wie die klagende Stimme jener Pontresinerin, die nach Aratsch rief; lange gehaltene Töne erklingen sanft und voll Wehmut wie die Musik des Gletschers, die um den Schlummer der Liebenden zittert. Und die Stadt im Eise erglüht, die grauen nackten Felsen der Jsola Persa leuchten – sie werden dunkel, sie flammen wieder auf und die Lichter traumwandeln seltsam. Schreitet nicht ein Paar engverschlungen durch die Gegend, so wie er und Cilgia gewandelt sind? Aratsch und seine Geliebte! Nein, sie werden schreiten – einmal am Ende der Welt einen kurzen, kurzen Tag. Er aber wird nie mehr mit Cilgia wandeln – nie mehr – nie mehr! Und der Name Paltram muß untergehen! [747] Denn also steht geschrieben: „Ich bin ein eifriger Gott, der da heimsuchet der Väter Missethat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied!“ So denkt er. Da dröhnt der Gletscher. Mit Donnergewalt zischen, rollen und kugeln die Blitze über die schwefelgelben Wände der Bernina herunter. Das Wetter bricht los. Er wendet sich. Ein unerhörtes Gewitter geht durch die Berge. Da und dort flammen, vom Blitz entzündet, alte Arven wie Fackeln auf. Die Bergamasker und Sennen erzählen noch heute beim Kienspan von dieser Nacht. Wie nie sei der Camogasker losgebrochen, Gerippe und blutende Tiere vor und hinter sich, bis zu den höchsten Kämmen und Gipfeln sei er aufgestiegen. Siebenmal habe er den Piz auf falbem Pferd erreiten wollen, habe aber, durch eine geheimnisvolle Macht abgeschlagen, immer wieder umkehren müssen. Am Morgen habe man in allen Thälern erschlagene Gemsen gefunden, Adler seien vom Blitz im Nest, Vieh unter den Schirmtannen getötet worden, eine Bergamaskerhütte in Brand aufgegangen und von Sassal Masone sei ein Schuß über Puschlav gelaufen. Und eine Stimme habe gerufen: „Wehe Tirol!“ Müde und abgeschlagen kam Markus Paltram im Lauf des Vormittages von der Jagd. Er hatte nichts erbeutet als ein armseliges Grattier. Aber er brachte einen jungen Wolfshund mit sich. Er habe ihn von einem Bergamasker gekauft. „Malepart“ nannte er ihn. Denn er fand, er habe in dieser Nacht den schlechtern Teil erwählt. Und er beerdigte Märklein, das Kind. Jene Nacht ist deswegen mit allen ihren Schauern im Gedächtnis des Volkes geblieben, weil das Engadin darin seinen berühmtesten Büchsenmacher, vielleicht den einzigen, den es je besessen hat, verlor und dem Bündnerland der größte Jäger erstand, den seine Geschichtsblätter nennen, ein schon zu seinen Lebzeiten von der Volkssage wie von Wetterleuchten umspielter Held, der groß im Guten und Bösen, ein Mann von seltsamsten Thaten gewesen ist. Markus Paltram – ein König in der Republik der Jäger – der König der Bernina!
11.
Fünf Jahre nun schon ist Markus Paltram der Jäger, Cilgia Premont die Frau des Saumhalters Gruber zu Puschlav. Da steht, wenn man von der Bernina herniedersteigt, links am Eingang des Dorfes ein im italienischen Stil gehaltenes palastähnliches Haus. Ueber offenen Loggien prangen die Worte „Saumhalterei von Sigismund Gruber“, auf Balkonen blühen die Oleanderstauden, vor blitzenden Fenstern die Nelken, Rosen und Geranien und ein wohlgepflegter Garten dehnt sich mit einem Anhauch südlicher Ueppigkeit auf der Sonnenseite des Gebäudes. Die Morgensonne rötet noch die dem Veltlin zugewendeten Gipfel der Bernina, noch ist ihr rosiger Schein erst bis zum Palügletscher hinuntergesunken und der grüne Thalkessel von Puschlav mit seinem kleinen See, in dem sich die reinen Gipfel spiegeln, liegt noch im Schatten, da herrscht vor dem Haus Grubers schon reges Leben. Die Pferde wiehern und scharren, braune Knechte schirren die zähen, langmähnigen Bergrosse in die Stäbe, sie schnallen die Saumballen zu beiden Seiten der langen flachen Sättel, in denen die Tiere wie in den Dauben eines Fasses stecken, sie laden über die Ballen einen Sack mit Heu- oder Hafervorrat, sie decken die Lasten mit Wachstüchern ein, und nach einer Weile ist Stab hinter Stab, ein langer malerischer Zug in der Richtung gegen Tirano zum Aufbruch bereit. Unter den Knechten befindet sich der lange Hitz, der, obwohl über vierzig, sich immer noch das Ansehen eines jungen Burschen giebt. Nebenan steht, vom alten mit dem Haus verbundenen Diener Thomas gehalten, ein edles, ungeduldiges Tier und wartet auf den Herrn der Säume. Eben fährt der Hauderer Pejder Golzi, der mit den Seinen von der Berninahöhe heruntergekommen ist und in den Stauden am See übernachtet hat, seinen Blachenwagen an den gerüsteten Säumen vorbei – das Bild der Armut und das des Reichtums grüßen sich. Da tritt gestiefelt und gespornt Sigismund Gruber, der Saumherr, aus dem Thor. Er ist ein stattlicher Dreißiger mit hübschen blauen Augen, kurzgeschornem Vollbart, mit einem Gesicht voll blühender Gesundheit und dem Gehaben eines Herrenbauern oder reichen Händlers. Mit prüfendem Blick mustert er die Stäbe und jedes der Tiere, spricht mit ihnen, klopft ihnen auf den Hals, untersucht, wie ihre Ladungen sitzen, die Schnallen angezogen sind – und giebt da und dort noch Winke und Befehle. Seine Hantierungen verraten Sicherheit und Gelassenheit; in die Festigkeit aber, mit der er spricht, mischt sich ein leutseliger Ton, und der tirolische Klang seiner Redeweise steht ihm wohl. „Es stimmt – ab!“ sagt er nach einem letzten prüfenden Blick mit einer leichten Handbewegung. Die Knechte schwingen sich auf die Vorrosse, die Glocken am Hals der Tiere erheben ihr Spiel in die Morgenluft und verhallen nach einer Weile zwischen den Waldhalden, an denen sich Bach und Straße gegen das Veltlin hinabwinden. Sigismund Gruber hat sich zu seinem Reitpferd gewandt und tätschelt es, indem er Mantel und Geldkatze an den Sattel des Tieres schnürt. Da tritt seine junge schöne Frau unter das Thor, sie führt einen Kleinen an der Hand, der von ihr zum Vater springt und fragt: „Darf ich einmal reiten?“ Und bittend patscht er in die Händchen, und seine munteren blauen Augen betteln. Er hebt ihn auf den Rücken des Tieres empor – überglücklich jubelt der dreijährige Knabe: „Sieh, Mutter!“ und der Vater hält ihn, während der alte Knecht das Pferd ein paarmal in der Runde führt. Dann lacht Gruber: „So, Lorenzlein,“ und er hebt ihn scherzend vom Pferd und giebt ihn nach einer raschen Liebkosung der Frau, die an dem übermütig strampelnden Jungen genug zu tragen hat, auf den Arm. Wie blickt Cilgia hell und froh! Der junge Mann und die junge Frau schauen sich verständnisvoll und glücklich an und die Aermchen und Händchen des Kindes langen nach beiden. „Vater – Mutter!“ Und die Blumen in den Fenstern sehen auf ein glückliches Familienbild herab. Eine Weile plaudert das Ehepaar noch, dann sagt Gruber mit einem Lächeln, das den Ernst seiner Worte verdecken soll: „Also, Cilgi, bei dem Hallo von heute streckst du den Kopf nicht zu weit vor. Uns geht die Hetze nichts an!“ Ein Schatten fliegt über ihr feines Gesicht. „Thorheit, Sigismund!“ erwidert sie fast erschrocken. Er lacht gutmütig und schwingt sich in den Sattel. „Also, Cilgi und Lorenzlein,“ ruft er noch, „auf Wiedersehen morgen abend!“ Und in raschem Trab reitet er thalwärts, um seine Säume einzuholen. Die einfach gekleidete Frau und der Knabe grüßen ihm nach. Doch kränkt sich Cilgia ein wenig; sie kränkt sich, daß er geglaubt hat, ihr wenigstens mit einem Wort andeuten zu müssen, was sie am Tage, da Markus Paltram in Puschlav ist, zu thun und zu lassen habe. Als ob sie nicht wüßte, was sie nach den Geschehnissen der Vergangenheit ihrem Manne und sich selber schuldet! Was ist da weiter dabei, daß Markus Paltram in Puschlav ist? Für sie ist er tot! Sie wird sich um die Bärenjagd nicht kümmern, die heute den ganzen Flecken in Aufruhr versetzt, sie wird sich den Festzug nicht ansehen, der Markus Paltram, dem Bärentöter, bereitet wird! Nur für die armen Bergamasken wird sie sich freuen, wenn es ihm, der als bester Schütze und Jäger vom Gemeinderat herbeigerufen worden ist, gelingt, die bösartige Bestie zu erlegen, die aus den Zernetzerbergen herübergekommen ist und unter dem Alpvieh unendlichen Schaden anrichtet. Sie tritt mit ihrem Buben in den großen schönen Garten, wo sich Blüten und anreifende Früchte mengen. Sie fährt mit der Hand verträumt durch den Lockenkopf des Knaben, lächelt ihm zu und sucht seine lebhaften, schönen Augen, als müßten sein Blick, sein Name einen quälenden Gedanken bannen. Wie lieb ist ihr das Büblein, sein trostreiches Gesichtchen! Welch unendlichen heimlichen Kampf hat sein Lächeln und Lallen, hat sein werdendes munteres Geplauder und jetzt sein Spiel in [748] ihrer Brust zur Ruhe gebracht, einen Kampf, von dem niemand als Gott gewußt hat! Vor diesem Kinde hat sich ihr stolzes Herz leicht und mühelos in das Versprechen gebeugt, das sie dem sterbenden alten Gruber gegeben hat, und es ist, als ob aus dem Knaben, der seinen Namen trägt, der Segen ströme, den der Großvater Lorenzchens über sie und Sigismund gesprochen hat. Einmal freilich hat sie es anders erträumt. „Ich meine,“ sagte sie einst, von der Landsgemeinde heimreitend, zu Pfarrer Taß, „ich sollte zu einem Mann emporsehen können wie zu einem Berg, und es müßte von ihm Firneschein ausgehen für mich und viele! Dann könnte ich ihn lieben und ihm dienen wie eine Magd.“ Daran denkt sie, während sie im Garten die hängenden Blumen aufbindet und die Raupen von den Bäumchen abliest. Sie schaut vor sich hin. Sigismund ist kein solcher Berg; ihm kann sie nicht dienen wie eine Magd. Er ist ein wackerer, aufrechter Mann, die Selbständigkeit, deren er sich seit dem Tode des alten Lorenz erfreut, hat ihn gereift; er führt das Geschäft nach den Grundsätzen strenger Ehrlichkeit und ist geachtet von Mailand bis Innsbruck. Aber im letzten Grund fehlt ihr doch etwas an ihm. Als sie ihm das Jawort gab, war er zufrieden; er fühlte, so oft sie ihn auch dazu reizen wollte, das Bedürfnis nie, ihr Innenleben zu ergründen; er ist eine jener einfachen Naturen, die da glauben, mit dem Ja am Altar sei die Beständigkeit der Liebe für das ganze Leben verbürgt, er weiß nichts davon, daß ein Frauenherz immer frisch gewonnen werden muß. Er spinnt für sie in zu kurzen Fäden. Und manchmal vermißt sie an ihm eine natürliche Zartheit, jene Zartheit, die zuweilen selbst ein rauher Bergamaskerhirte hat. So heute, als er sie mit einem Wort vor Paltram warnte – wozu an der wehen Vergangenheit rühren? – so namentlich damals, als er von Mals herüber den langen Hitz als Knecht heimbrachte. Wie hatte es damals nicht in ihrer durch gemeinsame fruchtbare Arbeit gesegneten Ehe von scharfen Worten gestoben! „Schämst du dich nicht, Sigismund,“ hatte sie ihm mit flammendem Vorwurf gesagt, „den Mann in deinen Dienst zu nehmen, der den großen, schweren Schatten über deine Jugend geworfen und sie vergiftet hat, der, so oft du ihn siehst, dich an unsägliche Schmach erinnert – denkst du nicht, daß der selige Vater sich im Grabe wendet, wenn er den unter unserm Dache weiß?“ Da war Sigismund allerdings wie aus der Befangenheit eines Traumes erwacht. „Cilgia,“ stotterte er, „du hast recht, er muß wieder fort! Aber jetzt lasse ihn eine Weile – stelle mich vor den Knechten, die auf deinen Zorn aufmerksam geworden sind, nicht bloß.“ Und sie kämpfte den tiefen Schmerz und Zorn nieder, damit niemand im Hause merke, daß zwischen ihr und ihrem Manne ein Zwiespalt sei. Aber nun ist bald ein Jahr vorüber – der lange Hitz, allerdings bei aller Geneigtheit zu Spaß und dummen Streichen unter den Knechten der tüchtigsten einer, ist noch da, und Sigismund giebt ihm auffällig den Vorzug vor den andern und wird ungehalten, wenn sie ihn leise mahnt, er möchte ihn entlassen. Doch ist es gerade jetzt ihr besonderer Wunsch, daß der lange Hitz fortgeschafft werde! Die Knechte in der Gesindestube und die Mägde in der Küche flüstern sich Dinge von ihm zu, die ihr nicht gefallen – er ist der Unruhestifter unter den vielen braven, treuen Knechten, die Sigismund vom alten Lorenz übernommen hat, und gerade die redlichsten unter ihnen – das spürt sie – mögen ihn nicht leiden. Dennoch ist Cilgia nicht unglücklich. Ihr gefällt die lebensvolle Welt, die sie umgiebt, die Saumhalterei, in der sie sich in schöner Ergänzung zu ihrem Manne überaus nützlich bethätigen kann. Sie führt die Bücher, sie schreibt die Briefe an die Geschäftshäuser der Lombardei, der Städte Zürich, Basel, Innsbruck, Bozen, die Bestellungen der Warenfuhren gehen durch ihre Hand, gemeinsam mit Sigismund berät sie Tag um Tag, Woche um Woche, wie die Knechte und die hundertzwanzig Pferde, die in den Stallungen von Puschlav, Tirano, Bormio und Chiavenna stehen, am vorteilhaftesten auf die Straßen zu verteilen sind. Und sie muß nur zu einem Sorge tragen: Sigismund soll das glückliche Gefühl bewahren können, daß er der Herr und Saumhalter ist. Es giebt im Engadin und im Veltlin böse Zungen genug, die behaupten, sie habe eigentlich mit ihrer heimlichen Arbeit das Geschäft zu so großer Blüte gebracht. Nein, sagt sich Cilgia, es ist gemeinsame treue Arbeit! Ein Glücksstern steht über dem Haus Gruber. Alles, was in diesen Bergen noch zu säumen ist, fällt ihm zu. Während die Saumhaltereien im Veltlin und Engadin aus Mangel an Aufträgen die Pferde verkaufen und eingehen, weitet sich die ihre – und an Neid auf das stolze Geschäft fehlt es hüben und drüben nicht. „Für das Engadin war es ein Unglückstag, als Ihr, Frau Cilgia, uns verließet! Ihr hättet eine der unsern werden sollen!“ So hatte der Landammann mit einem bittern Lächeln gesagt, als er kürzlich im Vorüberritt zu einem Gruße vorsprach, der alte feine Herr, der immer noch eine Schwäche für sie hat. Sie wäre gern Engadinerin geworden – aber nun hat sie das Schicksal an die Seite Sigismund Grubers geführt. Und im tiefsten Herzen hat sie jetzt nur noch einen großen Wunsch: daß Sigismund sich als Bürger zu Puschlav einkaufe, seinen Sinn über das eigene Geschäft erhebe und sich, wie ihr Vater, in den Angelegenheiten des Gemeinwohls bethätige. Denn nach ihrer Meinung gehört der Sinn für das öffentliche Leben zu einem ganzen Manne. Sie träumt – sie ist in ihrem raschen Sinnen die unverwüstliche, in die Wolken bauende Cilgia von ehedem. Die steigende Sonne äugelt durch die Bäume des Gartens, und die Mutter, selber ein Kind, spielt unter herzlichem Lachen mit dem Kinde, das die sich Versteckende sucht und laut aufjubelt, wenn es sie findet. Da ist es Cilgia plötzlich, eine schwarze Wetterwolke fahre auf den Garten nieder, und das silberne Lachen erstarrt auf ihren Lippen. Die Mutter Pejder Golzis, das alte, hagere Weib, der wandernde Tod, tritt in den Garten. Die dünnen Haare der Alten fliegen, die Arme fuchteln in die Luft – sie stößt unverständliche Laute der entsetzlichsten Wut hervor. „Die böse Frau – die böse Frau!“ Der kleine Lorenz rennt vor ihr schreiend zu seinem Mütterchen und birgt sich in ihrem Schoß. Die Alte aber kreischt: „Daß dein Mann ehrlos sterbe, daß sein Gebein an der Sonne dorre, das gebe der Himmel – daß sein Kind, dein Kind – –“ „Ums Himmels willen, thut meinem Kinde nichts!“ schreit Cilgia erschüttert. – Sie weiß nicht, was ist – sie umschlingt schützend das blonde Haupt des Knaben, sie rafft ihn auf – sie flieht mit ihm vor der wahnsinnigen Alten ins Haus. Da stellt sich die Wahrsagerin vor die Thüre und schreit ihre Flüche zum Fenster empor, bis der alte Thomas die Rasende mit dem Besen hinwegjagt. Was ist geschehen? – O, Cilgia erfährt es bald genug. Vor dem Bilde Katharina Diantis, wohin sie sich immer flüchtet, wenn der Sturm durch ihre Seele geht, schluchzt sie seit Stunden. Was hat Sigismund gethan! Er kam, als er am Morgen vom Hause ritt, eben an die Grenze des Veltlins in der Thalschlucht von Campocologno, als dort die Zöllner den Wagen Pejder Golzis zu untersuchen sich anschickten. Der Hauderer aber führte Contrebande, und wie er und sein Weib die Absichten der Gendarmen merkten, wollten sie mit einem raschen Ruck den Wagen auf Bündnergebiet zurückziehen. In diesem Augenblick sprengte Sigismund heran und stellte sein Pferd so quer über die Straße, daß der Wagen des Hauderers in der Gewalt der ihn verfolgenden Gendarmen blieb. Die Frau und die Bettelkinder jagten sie über die Grenze zurück, Pejder Golzi aber führten sie gefesselt nach Tirano. Das ist das Ereignis, weswegen die alte Wahrsagerin den Fluch über das Haus gerufen hat. „Und er ist ruhig weiter geritten!“ stammelt Cilgia in brennendem Leid, und sie empört sich über Sigismund immer stärker. Sie weiß wohl, warum er es that! Er hat sich bei den Zollbeamten, die ihn und seine Säume selbst nicht immer freundlich behandeln, in Gunst setzen wollen. Aber sie spürt es: was Sigismund gethan, ist ein Unglück. Der reiche Gruber hat den Hauderer, den armen Teufel, der ihm das Leben aus den Händen der Franzosen rettete, ins Unglück gestürzt! Und sie denkt an die acht hungernden Würmer des Hauderers. [749] [750] Sigismund hat es gethan ohne zwingende Not – er hätte, ein Geschäft vorschützend, sein Pferd leicht bei Campocologno anhalten können – nur um eines kleinen Vorteils willen hat er es gethan! Sie knirscht vor Zorn über ihren Mann. Da kommt der kleine Lorenz ins Zimmer gesprungen: „Mutter, Mutter, sie kommen, hörst du die Trompeten? Der Jäger hat den Bären getötet!“ Und sein Gesichtchen glüht vor Freude. Von fernher tönt die ländliche Musik durch den in den Abend versinkenden Tag und von den Bergwäldern erklingt das sanfte Echo. Die lustige Jägermelodie nähert sich. Da erhebt sich Cilgia, sie herzt ihren Buben, und in wehem Trotz gegen ihren Mann thut sie, was sie am Morgen noch um ihr Leben nicht gethan hätte: sie stellt sich auf die Altane hinter die blühenden Oleander; den Buben im Arm will sie in einem Anfall von Heimweh nach glücklicheren Tagen Markus Paltram sehen. Da steht sie mit hochwogender Brust. Den altertümlichen, malerischen Flecken hinab bewegt sich der Triumphzug. Voraus mit geschmückten Hüten die Pfeifer und Bläser. Auf dunklem Tannenreisig, das einen vierspännigen Wagen bedeckt, ruht der tote gewaltige Bär. Hinter diesem Gespann fährt in offener zweispänniger Kalesche Markus Paltram, der Jäger, der Triumphator, das Gewehr über den Knieen – grau wie der Fels ist sein Kleid – düster wie immer blickt er vor sich hin – er ist ein Einsamer mitten unter den Menschen – er übersieht und überhört die Huldigungen der ländlichen Menge, die Tücher und Hüte schwenkend in den Fenstern der altertümlichen Häuser und auf der Straße steht. Aber etwas Würdiges, Hoheitsvolles, Bezwingendes liegt in der schlichten, kraftvollen Gestalt. Hinter ihm in offenem Wagen folgt der Gemeinderat in würdigem Sonntagsstaat, die harten Filzhüte auf den scharfgeprägten Köpfen, und das malerische Volk der Bergamasken, das den rauhen Mantel um die Schultern geschlungen hat, schließt das Gepränge. So naht sich der Zug der Saumhalterei Grubers und die Spitze hat sie schon erreicht. Da klatscht der kleine Lorenz in die Hände, er zappelt und schreit: „Mutter, Mutter – der Jäger!“ Im gleichen Augenblick hebt Markus Paltram sein wuchtiges Haupt – eine Lohe übergießt sein Gesicht – und mehr erlebt Cilgia nicht. – Sie flüchtet in das Halbdunkel des gegen die Sonne abgesperrten Gemachs – sie bedeckt das vor Scham glühende Angesicht – sie hört es nicht, wie ihr Bube „Mütterchen – Mütterchen!“ bittet. Sie hat Markus Paltram wiedergesehen, den Mann, der sie in die tiefste Seele beleidigt hat – den Mann, den sie doch nie, nie hat vergessen können! Traumverloren sitzt sie wie eine Statue da. Hat auch er sie gesehen? – Hinter den dichten, reichblühenden Oleanderbüschen wohl nicht – aber durch den Schrei des Buben weiß er, daß sie dort gestanden hat. Er hat sie schwach gesehen – darüber ist sie unglücklich. Die Nacht ist eingesunken, aber es ist nicht die schweigsame Nacht des Gebirgsthales, wo man durch den schmalen Spalt der Wälder die fernen goldenen Sterne über bleiche Gipfel ziehen sieht und die fernen Bergbäche in an- und abschwellenden Tönen rauschen hört: der Qualm von Lichtern und Fackeln steigt über die Dächer des Fleckens und vom Rathausplatz herüber klingen die Geigen und Pfeifen. Das Völklein von Puschlav tanzt Markus Paltram zu Ehren und die Bürger pokulieren. Was reden die Männer, die droben auf dem Rathaus Becher an Becher stoßen? – O, sie weiß es, sie lassen Markus hoch leben und sie fluchen auf die Missethat Sigismund Grubers. Cilgia kämpft vor dem Bild Paolo Vergerios und Katharina Diantis. O, wie sie Markus Paltram haßt, wie sie ihn verachtet! – Was ist er? – Ein Jäger, ein Abenteurer wie der gespenstische verrufene Ritter von Guardaval, ein Mann, der sich in sträflicher Selbstherrlichkeit über die Menschen erhebt und hinwegsetzt – der nur in sich selber lebt und unfruchtbar bleibt für das Land – der mit seinen Ansprüchen keine Stätte hätte, lebte im Volk nicht unbewußt die Freude an der Romantik, sähe es den grauen Jäger nicht ebenso gern wie den kreisenden Adler über den weißen Flammen des Gebirges! Ruhelos schweift er mit seinem Stutzen und seinem Wolfshund Malepart. – Was weiß sie von ihm? In der Bernina hat er eine Gemsenheimat gegründet, wie es keine zweite giebt im Gebirge – da weiden unter seinem Schutz an die Tausende von Grattieren, und er ist ihr Hüter und Herr. – Ja, im Volk verbreitet sich die Sage, er habe sie gezählt, er kenne jedes und habe für jedes einen Namen und einen bestimmten Abschußtag. – Im Rosegthal, im Thale von Bevers und Camogask, am Piz Languard und Mont Pers, an einer Menge Wände des Gebirgs hat er künstliche Salzlecken angelegt und unterhält sie, damit die Tiere gern im Revier weilen: er wildheut im Sonnenbrand an den Felsenplanken und legt in trockenen Höhlen Vorräte an; er trägt den Tieren im Hochwinter, wenn sie Mangel leiden, das Heu zu, daß sie sich sättigen; und die Jagd übt er wie eine Kunst. – Er schießt nie, wenn ihn die Gemsen sehen können. – Ist an einer Stelle des Gebirgs ein Schuß gegangen, dann giebt er dieser Gegend langehin den Frieden, damit die Tiere wieder sorglos werden, und im Rosegthal sind sie so zutraulich gegen ihn, daß sie alle Scheu ablegen, von den Bergen steigen und das Salz aus seiner Hand lecken. Das ist Markus Paltram, der Jäger, und die Bernina ist sein Gemsenparadies. Ringsum im Gebirge, Tagereisen weit von Pontresina, kennen ihn die Hirten. Er ist bald in den Zernetzer-, bald in den Albulabergen, er durchwandert das Bergell und streift auf den Felsenhöhen zwischen dem Veltlin und der Lombardei, ja, er wandert bis ins Tirol, und nach den Grenzen der Länder und der Jagdrechte fragt er nicht. Er wird auch nicht Frevler; aber mit Schreckschüssen treibt er aus weiter Runde das Wild der Bernina zu. Glühend hassen ihn darum die italienischen und tirolischen Jäger – Hinterhalt an Hinterhalt legen sie ihm in ihren Bergen – er fällt in keinen – erhobenen Hauptes schreitet er wie zum Hohn durch die fremden Dörfer. Aber wehe dem italienischen oder tiroler Jäger, der in die Bernina einbricht – in die gemsenreiche Bernina! – Wenn es sein muß, dann eilt er furchtlos auf schmaler Grasplanke gegen das zum Schuß angelegte Gewehr des Wilderers, und sonderbar: vor seinen Camogaskeraugen sinkt der Stutzen – der Feind, der im Vorteil war, wird wehrlos. Markus Paltram stürzt sich auf ihn, reißt seine Waffe an sich und donnert ihm zu: „Das nächste Mal auf Leben und Tod – jetzt fort, du Halunke!“ Es kommt aber keiner wieder, der Markus Paltram in seiner Wut gesehen hat. Die Engadiner selbst wissen nicht, sollen sie sich freuen, daß ein so Gewaltiger unter ihnen ist, der für sie die scharfe Wache gegen die fremden Jäger an der Bernina hält? Oder sollen auch sie Markus Paltram mißtrauen? Heute noch duldet er sie in der Bernina, aber morgen vielleicht wirft er sich zum Alleinherrn der weißen Gipfel auf. Das Volk sagt, er wachse und wachse im Schweigen des Gebirges, aber was in ihm lebt, was unter den schweren Brauen ruht, deutet niemand. Manchmal steigt aus seiner Düsterkeit ein wilder Uebermut. Die Bergamaskerhirten zittern vor ihm. Oft tritt er mitten in der Nacht in ihre Hütten, er heißt sie aufstehen, den Kienspan anzünden, dann setzt er sich ruhig auf einen Schemel, sagt: „Singt mir ein Lied!“ – „Warum singt ihr nicht?“ fährt er sie an. – Und siehe da, unter dem Blick seiner flammenden Augen beginnen die bebenden Bergamasken ihren Gesang, was ihnen eben einfällt, fromme oder weltliche Lieder, und seltsam genug mögen diese nächtlichen Vorträge sein. Er aber nimmt aus seinem Murmeltiersack ruhig etwas Roggenbrot, er streicht aus einer Büchse etwas Berghonig darauf und schiebt die Stücke zwischen die blanken Zähne und hört dann eine Weile noch in dumpfem Brüten dem Gesang der Schafhirten zu. Dann verabschiedet er sich mit einem kurzen Dank. Die Hütten, wo Kinder sind, verschont er mit seinem nächtlichen Besuch – am Tage aber ruht er sich gern bei ihren Spielen aus. Er hat oft kleine Geschenke für sie – er erzählt ihnen, er habe zu Hause auch ein liebes Kind – das lerne eben gehen und sprechen und heiße Jolande. „Und was thut Ihr mit Euren vielen Gemsen?“ fragen die Kinder. „Mit denen hausiert meine Frau Pia in den Dörfern des Engadins und verkauft das Pfund zu einem Batzen.“ [751] Noch ist Markus Paltram jung, und schon hat das abergläubische Volk der Bergamasken einen Sagenkranz um ihn gewoben: Oft sitze er stundenlang, das Gewehr über den Knieen, unbeweglich auf einem Stein und denke nach. – Von Zeit zu Zeit suche er den Weg auf den Piz Bernina. Wenn es ihm nicht gelingt, die Spitze zu erreichen, könne er nicht selig werden. Die oberste Spitze reinen Schnees bringe er dann einer Königin, und darauf werde sie ihn von seinem Camogaskertum erlösen. – In einer bangen, schweren Nacht denkt Cilgia an die Menge Züge, die das Volk von Markus Paltram erzählt. Und wie Quellen aus dem Erdreich, so steigen holde Liebestage vor ihr auf. Ihre wehen Gedanken flüchten sich in die Zeiten von Pontresina – empor zum Kirchlein Santa Maria – sie denkt an die klingenden Hammerschläge Markus Paltrams – sie denkt an eine wundersame Stunde: „Sagt, daß ich die oberste Flamme vom unersteiglichen Piz Bernina hole, und ich hole sie und bringe sie Euch in meinen Händen – ich bin stark wie ein Berg – aber Eure Augen müssen auf mir ruhen!“ Ein Wort von ihr beherrscht sein Leben. Sie ist die Königin, von der die Bergamasken fabeln. In ihren tiefen Gedanken sieht sie zwei Bilder, zwei Männer, zwei Gesichter. Sie sieht ihren blondbärtigen Mann mit den gleichmütigen blauen Augen, mit dem trocknen, geschäftsklugen, auf den nächsten Vorteil bedachten Wesen, den Mann, der Pejder Golzi in die Hände des veltlinischen Gerichts geliefert – sie sieht Markus Paltram, sein dunkles Auge, unter dem ein wallendes Meer von Gedanken und Leidenschaften flutet, den einsam Streifenden, der nicht Frieden findet. Sie erschrickt – die Linien des blonden Hauptes verblassen und zergehen, die dunklen rätselhaften aber leuchten auf – sie brennen in camogaskerhaftem Glanz. Cilgia Gruber taumelt auf – sie taumelt an das Lager ihres Buben, sie fährt ihm über die rosigen Wangen. Und sie beruhigt den erschrockenen Kleinen; an seinem Lager überrascht sie der Morgen, der mit Pfirsichröte an den Schneeflügeln des Piz Palü erglüht. Und am Abend kommt Sigismund! Was wird sie ihm sagen? Sie hört es nicht, wie ihr Gesinde über ihre Blässe flüstert. Scheinbar geht das Tagewerk wie sonst, denn in der Saumhalterei Grubers ist, ob der Meister zu Hause sei oder nicht, die Thätigkeit eines jeden geregelt: die Warenkarawanen kommen und gehen mit dem Schlag der Stunde, die Reisenden, die über die Pässe ziehen, schließen sich ihnen an, und wenn nicht Sturm im Gebirge herrscht, so gleicht der Betrieb des Geschäftes einem Werk, das an Schnüren spielt. Aber eine schlecht verborgene Unruhe ist heute doch unter Knechten und Mägden. In Puschlav spricht man von der That Sigismund Grubers. Der reiche Saumhalter hat den armen Hauderer in die Hände des Gerichts geliefert, der folgende Tag trägt die Kunde von Thal zu Thal – und die Rettung Sigismund Grubers durch Pejder Golzi in der Franzosenzeit lebt wieder im Volksgedächtnis auf. Um so kleinlicher erscheint Grubers That. Wohlgelaunt und mit einem gemütlichen Lachen kommt Sigismund am späten Abend nach Hause geritten – er sieht nicht, wie blaß sein Weib ist – er erzählt von günstigem Handeln. „Ich wüßte dir auch ein Geschäft,“ versetzt Cilgia traurig; „wir müssen einen Mann suchen, der für die ihres Ernährers beraubte Haudererfamilie sorgt – ich denke an Melcher! Ja, Sigismund – der Blitz hat in unser Haus geschlagen!“ Langsam dämmert es im Kopf Grubers, daß er zu Campocologno statt eines klugen Streichs, wie er meinte, eine große Thorheit begangen hat. Ein entrüsteter Brief des Pfarrers Taß öffnet ihm die Augen vollends. Aber noch etwas anderes brennt ihn: wie er Lorenzlein auf den Knieen hält, erzählt der Knabe von dem Bären und dem Jäger. „Mit Mütterchen bin ich auf dem Balkon gestanden!“ Das trifft ihn ins Mark. Wenn sie mich noch ein wenig achtete, hätte Cilgia das nicht gethan! – Ja, der Blitz hat in unser Haus geschlagen, und überall grollt das Volk wegen der Gefangennahme des Hauderers! Zornmütig, finster läßt er die Tage gehen. „Meister, Ihr müßt Euch etwas zerstreuen,“ mahnt der lange Hitz mit seinem altjungen Galgenvogelgesicht. Gruber ist fleißiger auf den Pässen unterwegs als je, und er kehrt nicht gern heim. Denn die traurigen Augen, die blassen Wangen seines Weibes quälen ihn. Cilgia spricht ihm zu, aber er versteckt sich, und sie ahnt Unglück. Eines Tages bringt ihr ein fremder Säumer ein Paket. „Es kommt von Markus Paltram,“ sagt er und geht – und sie öffnet die seltsame Sendung mit bebenden Fingern. Da rollt ihr unter den zitternden Händen der Ehering hervor, den sie Sigismund geschenkt hat, er fällt über die Tischkante und klirrt auf dem Boden. Und sie schreit auf. In dem geöffneten Paket liegt die schöne goldene Uhr Sigismunds, sein Taschenmesser mit den eingetriebenen Silberarabesken, sein Geldbeutel mit einigen Goldstücken und seine Brieftasche mit Noten – und darum her ein abgebrochenes Gemshorn. Ist Sigismund tot? Cilgia steht fassungslos vor den Dingen. – Da sieht sie noch einen versiegelten Brief – sie öffnet ihn. In kraftvollen Buchstaben schreibt Markus Paltram: „An die hochzuverehrende Cilgia Premont! – Ihr wünschtet einmal, daß ich nicht schuldbeladen aus den Bergen komme, und Ihr habt einem Unwürdigen zu Puschlav die Ehre erwiesen, daß Ihr vom Balkon auf ihn niedersaht. Darum habe ich Euern Mann, der jagte, ohne ein Recht dazu zu haben, unter vier Augen gewarnt und ihm kein Haar gekrümmt, obgleich ich ihn hasse wie den Tod. Damals trug er ein Gewehr, das zweite Mal überraschte ich ihn mit seinem Knecht vor einer Gemsfalle am Palügletscher. Vor einer Gemsfalle! Meine Jägerpflicht wäre gewesen, beide zu erschießen. Und das Gewehr lag an der Wange – und das Blut war heiß – Ihr kennt mich ja! – Aber ein Wunder begab sich – ein als Camogasker Verschrieener hat den Jähzorn bezähmt – bezähmt wegen einer Frau, die er anbetet in der Einsamkeit der Wildnis – für die er immer noch bereit ist, die Flamme vom Piz Bernina zu holen – die er um ein einziges Wort bittet: ‚Markus, ich vergebe dir!‘ Ich nahm den Wehrlosen am Kragen, ich zeigte ihm von der Höhe des Gletschers Euer Haus, ich sagte ihm: ,Geht dort hin und kniet nieder vor Eurem herrlichen Weib! – und dankt ihm das Leben.‘ Und ich ließ ihn. Da wandte sich der Elende: ,Einer von uns muß doch sterben!‘ Ich hielt mich nicht mehr – ich machte ihn ehrlos. Ich lege die Zeugen in Eure Hand! Mögt Ihr ihm die Ehre wiedergeben, wenn Ihr es für gut findet!“ Der Brief zittert zu sehr in Cilgias Händen, als daß sie ihn hätte fertig lesen können. Sie schwankt zum Schreibtisch – sie zündet eine Kerze an – sie verbrennt ihn – und ob alles an ihr bebt, sie schreibt mit fliegender Feder einen Brief an Sigismund. – Sie siegelt ein frisches Paket – sie ruft Thomas, den vom Vater überkommenen steinalten Knecht. „Wißt Ihr, wo der Saumhalter ist?“ Der Alte kraut sich im Haar und will mit der Sprache nicht heraus. Erst als er die Seelenangst im Gesicht Cilgias sieht, redet er: „Es ist ein Getuschel und Geflüster unter den Knechten und Mägden, der Saumhalter sei gestern spät, ohne einzutreten, am Haus vorbeigeritten. Er liege krank zu Tirano.“ „Gut. Dann bringt ihm diesen Brief und dieses Paket – ohne Aufsehen. Sagt ihm, ich lasse ihn herzlich grüßen. Doch noch etwas, Thomas: ich möchte den langen Hitz aus dem Hause haben.“ Da leuchtet das Gesicht des guten Alten verständnisvoll auf – und nach einigem Sträuben beichtet er zitternd und zögernd, was er weiß. „Der lange Hitz,“ erzählt er, „geht nie mit den Säumen die Windungen zur Berninahöhe, sondern steigt über die Felsen g’rad’ auf gegen Sassal Masone. Kommen die Tiere dann aber unter ihren Lasten auf den weiten Wegbogen langsam zur Höhe, so wartet er schon bei den Seen – er schiebt eine tote Gemse, die am Weg versteckt liegt, rasch unter die Wachstücher. Ein Gewehr trägt er nicht, und woher er die Tiere hat, weiß niemand recht. Die Knechte reden aber von einem Gatter, in dem er sie fängt, und Wirtshäuser, wo man den Säumern gern ein Grattier brät, giebt’s genug an den Wegen, das Gemsfleisch will [752] Veltliner Wein. Der lange Hitz schlägt die Maultrommel und ein paar lustige Weibsbilder sind bald zum Tanze da.“ Cilgia zaudert. Dann sagt sie: „Thomas, wie ich ein Kind war, habt Ihr mich auf den Armen getragen. Darum eine Gewissensfrage, die ich an niemand stellen würde als an Euch: Weiß mein Mann davon?“ In ihren goldbraunen Augen steht das Wasser. – Hilflos stammelt der Alte: „Ich denke es. – Er ist ja als kluger Herr immer da an den Straßen, wo ihn die Leute am wenigsten erwarten. – Man glaubt ihn zu Cleven, dann ist er auf dem Stilfserjoch – ich sage nichts gegen den Herrn, aber er schaut dem langen Hitz viel zu viel durch die Finger, und der freche Strick ist unverschämt vertraulich mit dem Herrn. – Die anderen Knechte murren. – Der Herr sollte es sich nicht so zu Herzen nehmen, daß ihm die Bündner das Jagdrecht verweigert haben – er sollte das Bürgerrecht kaufen. Dann hindert ihn niemand an der Jagd.“ So beichtet die alte treue Haut. – Cilgia schickt ihn mit Brief und Paket zu ihrem Manne – dann bricht sie zusammen. Unergründlich ist das Frauenherz. Sie hat Gruber einen schönen Brief geschrieben: „Sigismund! – Nimm die Sachen zu dir und kehre heim. Ich halte auch in dieser schweren Stunde das am Altar versprochene Wort – ich werde dich ohne Vorwürfe empfangen. Retten wir um Lorenzleins willen, was zu retten ist – den langen Hitz aber schicke noch in Tirano von dir. Gieb ihm Geld und lasse ihn vor einem Priester schwören, daß er fürder wenigstens acht Tagereisen weit von unserm Berglande bleibe und schweige. Deine trauernde Cilgia.“ In der Nacht schleicht ein Unglücklicher in sein stolzes Heim – und ein Verführter weint auf den Knieen vor seinem Weib: „Es war erst das zweite Mal, daß ich mit ihm ging.“ Sie hebt ihn auf – und das junge Paar versucht ein neues Glück zu bauen. – Der lange Hitz ist fort – die rechtschaffenen Knechte freuen sich – aber der erste, der einsieht, daß es kein Glück mehr giebt, ist diesmal Gruber. Die Güte seines Weibes ist, wie sie es verberge, ohne Achtung, ihr freundliches Wort bleibt auf halbem Weg stecken. Sie kann nicht heucheln – auf ihren Wangen stehen schlecht getrocknete Thränen und ihr heimlicher Kampf ist Feuer auf sein Haupt. Und die Plauderworte Lorenzleins verlassen ihn nicht – sie hat Markus Paltram wiedergesehen. „Sie liebt ihn – tief unter der Hülle ihres Stolzes liebt sie ihn – und für mich hat sie nur Güte!“ Das quält Gruber. Im Volk aber wütet der Groll wegen des Hauderers, der zu drei Jahren Kerker in Bormio verurteilt ist. Da beherrscht den unglücklichen Mann nur noch ein Gedanke – – – Rache an dem, der ihn entehrt hat vor seinem Weib! Und die Geschicke erfüllen sich! (Fortsetzung folgt.) Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten. Schwarzwälder Flößer auf dem Neckar bei Tübingen.(Mit dem nebenstehenden Bilde.)
Immer mehr hat sich die Poesie des deutschen Studentenlebens aus den großen Mittelpunkten des Geisteslebens zurückgezogen und in den kleinen Universitäten des Reiches festgesetzt, aber auch hier verschwindet ein Stück der alten Sitten nach dem anderen vor den Anforderungen des modernen Lebens.
Nach dem Musensitz der schwäbischen Alma mater am Neckarstrande, Tübingen, führen wir dich, lieber Leser. Stelle dir vor, du bist als krasser Fuchs, zur schönen Frühlingszeit, wenn die Lerche singt und der Kirschbaum blüht, in dem alten Studentenstädtchen angekommen und sofort von der „Verbindung“ oder dem „Korps“, dem du „annonciert“ warst, in Empfang genommen worden. Der erste Abend wurde mit Einführung des Neulings in die Geheimnisse des „Bierkomments“ auf der Kneipe verbracht, aber da du einen guten Humor und ebensolchen Magen hast, so bestandest du die Probe mit Ehren und auch dein „Kater“ am anderen Morgen ist nicht so gewaltig, daß er dir verböte, dich nun einmal, der Aufsicht des gestrengen Leibburschen entrückt, bei Tage in der Stadt umzusehen, deren akademischer Bürger du geworden bist. Hell scheint die Frühlingssonne in dein Stübchen, das du, so viel du dich erinnerst, am Abend vorher zu ebener Erde betreten hattest und das du nun, bei einem Blick durchs Fenster, als hoch im vierten Stock befindlich erkennst, was sich aus der Bauart Tübingens am Rande der Hügel erklärt. Du verläßt dasselbe, wirfst einen Blick auf die trotzige Pfalzgrafenburg, deren Türme neugierig in die engen Gassen heruntersehen, schlenderst an der ehrwürdigen St. Georgskirche vorbei, über den altertümlichen Marktplatz hinunter nach der berühmten „Gôgerei“ und bist eben im Begriff, den wundersamen Dialekt zweier Ureinwohner dieses Stadtteils zu ergründen, als du plötzlich durch ein fernes Rennen und Summen – den Beginn eines Aufruhrs, könntest du meinen – aus deinen Betrachtungen aufgestört wirst. Barfüßige Buben rennen vorbei und rufen sich, mit dem Ausdruck höchster Lust, Worte zu, die du nicht verstehst. Bald siehst du auch Studenten aller Farben aus den Häusern eilen, „Philister“ und andere Personen schließen sich an, und auch du folgst in gespannter Erwartung, ob sich hier wirklich eine gewaltsame Aenderung der Stadtverfassung oder doch mindestens ein akademischer Tumult, von dem du aus Wilhelm Hauffs „Memoiren des Satans“ so romantische Begriffe hast, vorbereitet. Alles nimmt die Richtung nach der Neckarbrücke, und bald dringt ein eigentümliches, in Absätzen sich fortpflanzendes Geschrei an deine Ohren. Jetzt ist die Brücke erreicht! Wieder erschallen die wunderlichen Worte, die dir schon vorhin aufgefallen sind, diesmal aber aus Hunderten von stimmkräftigen Kehlen, deren Besitzer nicht nur die ganze Brücke in dichten Scharen erfüllen, sondern auch sämtliche Fenster der am Neckar gelegenen Häuser, überhaupt jeden zugänglichen Punkt, von dem dieser zu sehen ist, besetzt halten. Gespannt schaust du den im Morgenlicht glänzenden Strom hinauf, und jetzt wird es dir klar, um was es sich handelt: Flößer sind es, „Jockele“ genannt, die auf ihrem im Schwarzwald aus gewaltigen Tannenstämmen gebundenen Floß durch den Neckar dem Rhein und dem fernen Weltmeer zusteuern. Jetzt verstehst du auch den Ruf, und als das erste Floßglied um die weidenbewachsene Stromecke biegt, rufst du selber kräftig mit: „Jockele sperr, spe – err, spe – err!“ und „Jockele spe – err, spe – err, spe – eeerr!“ tönt es von der Brücke, aus den Fenstern, von den Alleen und Spazierwegen am Neckar, von Zeit zu Zeit schreckhaft unterbrochen durch den brüllenden Ton eines großen Sprachrohrs, dessen Eigentümer den Lärm vom Turm eines der anliegenden studentischen Verbindungshäuser aus zu vergrößern sucht. Mannigfaltig sind die Modulationen des Geschreis, unendlich wird die letzte Silbe in die Länge gezogen – „Spe – e – err!“ – eine Kunst, in der es wahre Virtuosen giebt. Unbeirrt um den ringsum tosenden Lärm lenken unterdessen die herkulischen Gestalten, in hohen Flößerstiefeln, roter Weste und weißen Hemdsärmeln, mit riesenhaften Stangen das endlos zusammengekoppelte Floß, und wie sie ganz nahe kommen, erkennst du auch den Sinn des Geschreis: es ist ein Hohnruf, denn mit den Worten „Jockele sperr!“, den sich die Flößer selber gegenseitig zurufen, soll der Lauf des Flosses gelenkt werden. „Jockele“ ist die schwäbische Verkleinerung von Jakob (Jakobele, Jockele), und „sperren“ heißt so viel als hemmen, was mittels des am Ende jedes Floßglieds angebrachten Sperrpfahls geschieht. Das Sperren erfordert viel Kraft und Umsicht; es gilt, zu bewirken, daß die Glieder des Flosses, gerade gerichtet, nur in leiser Krümmung den Flußwindungen folgend, hintereinander schwimmen. Sonst stoßen sie sich, bilden Winkel gegeneinander, es entsteht – in der Flößersprache ausgedrückt – ein „Ellenbogen“. Das Floß klemmt sich zwischen den Ufern fest und kann nur durch harte, oft langwierige Arbeit wieder flott gemacht werden. Dies Schauspiel und die urwüchsige Grobheit, welche die starkknochigen Flößer gegen die Zuschauer am Ufer entfalten, hat von alters her den Witz der Tübinger Studenten herausgefordert. Daher die Neckrufe: „Jockele sperr!“ oder „Jockele, ’s geit en Elleboge!“ („es giebt einen ,Ellenbogen‘“). Die Herren Studenten thaten übrigens allzeit gut, durch ihre Neckerei den Mutterwitz der Jockele nur aus gesicherter Ferne zu reizen, denn gar mancher hat wenig schmeichelhafte Anspielungen auf seine Persönlichkeit zu hören bekommen, wenn ihn der Fürwitz trieb, seinen Ruf aus zu großer Nähe auszustoßen. Doch seit kurzem gehört auch dieses Stückchen deutschen Studentenhumors, das, wie oben geschildert, soeben noch sehr lebendig war, der Vergangenheit an: die Flößerei auf dem Neckar ist, nachdem sie infolge der Konkurrenz des bequemen Schienenwegs spärlicher und spärlicher geworden, neuestens, auf Andringen der vielfach durch sie belästigten Mühlen und Fabriken, gesetzlich aufgehoben worden. Im Herbst dieses Jahres ist das letzte Schwarzwaldfloß auf dem Neckar zum Rhein hinabgeglitten. C. [753]
[754] Müthchen.Bilder aus dem Kinderleben. Von Anna Ritter.
II.
Es ist eine schöne Sache um die Ideale, besonders in der Jugend. Daß Müthchen sich aber gerade den Pferdeknecht Ziegenhorn zum Vorbild nimmt, ist bös und macht mir viel zu schaffen. Ziegenhorn richtig zu beschreiben, würde ich mich vergeblich bemühen. Die Natur hat ihn in einem Anfall von grotesker Laune hervorgebracht, und es ist schwer, wenn nicht unmöglich, all ihren Seitensprüngen und Bizarrerien zu folgen. Unter anderem hat sie ihn mit einem weit vorstehenden Unterkiefer begabt, was Müthchen als besondere Schönheit zu empfinden scheint, denn er geht seit Tagen mit vorgeschobenem Mündchen herum und bemüht sich mit rührender Geduld, es Ziegenhorn womöglich noch zuvor zu thun. „Aber Müthchen, was machst du denn für ein Gesicht?“ „So eins hat Ziegenhorn auch,“ antwortet er stolz. Vom Jäckchen knöpft Müthchen trotz aller Ermahnungen nur noch den obersten Knopf zu, um die Arme nach Ziegenhorns Manier unter die fliegenden Rockschlippen stecken zu können, oder er steht mit gespreizten Beinen, die Händchen tief in den Hosentaschen vergraben. Beim Waschen verbittet er sich jegliche Hilfe, seitdem er Ziegenhorns Toilette im Stalle einmal beigewohnt hat. Er taucht die Aermchen bis an die Ellbogen ins Wasser, und dann fährt er mit den nassen Händchen übers Gesicht, prustet und spritzt, daß die Stube schwimmt und der Spiegel täglich geputzt werden muß. Daß er sich Ziegenhorns Sprache mit allen Nuancen und Feinheiten angeeignet hat, ist selbstverständlich; er setzt eine Ehre darein, den Frankenhäuser Jargon möglichst echt zu sprechen. Kraftausdrücke, wie sie Ziegenhorn in erstaunlicher Fülle zu Gebote stehen, imponieren ihm am meisten, und er bringt sie, etwas verändert und an der unrichtigen Stelle, gern an. Ich suche seine Sprache zu korrigieren, soviel ich kann, habe aber bis jetzt keinen Erfolg damit. „Mutter, weißt du, was ich jedenkt hab’?“ „Es heißt ,gedacht‘, Müthchen!“ „Ziegenhorn sagt aber: jedenkt! – –“ „Mutter, Ziegenhorn hat jesoht – –“ „Es heißt: gesagt! Du sollst nicht so häßlich sprechen,“ sage ich ärgerlich. „Aber Mutter, Ziegenhorn –“ „Was Ziegenhorn sagt, ist mir ganz einerlei, der weiß es eben nicht besser!“ Müthchen läßt sich nicht irremachen. „Mütterchen, Ziegenhorn muß es doch aber wissen – –“ Es hilft nichts, Ziegenhorn bleibt eben Autorität. „Ziegenhorn und dich hab’ ich am liebsten auf der Welt,“ sagt Müthchen, wenn er besonders zärtlich sein will, und ich muß mich darein finden, an zweiter Stelle zu stehen. Die Zuneigung Müthchens erstreckt sich übrigens auf die ganze Familie. Ziegenhorns haben kurz hintereinander drei Kinderchen bekommen, und Müthchen bringt jedem einzelnen ein warmes Interesse entgegen. Er stattet Frau Ziegenhorn Wochenbesuche ab, vermittelt Bestellungen zwischen „ihm“ und „ihr“, kauft für Ziegenhorn bei Nachbar Hinsching Tabak und wird ganz gerührt, wenn er auf die Niedlichkeit der Ziegenhörnchen II und III zu sprechen kommt. Sein besonderer Liebling ist aber Lieschen, die Aelteste, deren Erziehung in Ziegenhorns Sinne er schon mit in die Hand nimmt. Es ist gut, daß Müthchen in acht Tagen wieder zur Schule geht, nachdem er des Scharlachs wegen ein ganzes Vierteljahr ausgesetzt hat. Er wird dann Ziegenhorns Einfluß etwas entzogen, und nach Tisch wird ein paar Stunden lang eine geradezu köstliche Ruhe herrschen. Mit dem Mittagsschlaf hat es ohnehin keine rechte Art mehr, Müthchen ist nun schon zu groß. Einstweilen genießt er noch seine Freiheit. Ich kann mich heute nicht viel um ihn bekümmern, da ich mir für den Abend eine kleine Gesellschaft eingeladen habe und die Vorarbeiten, wie Tischdecken und dergleichen, auf meinen Schultern ruhen. Leider kann sich Müthchen nicht fünf Minuten lang allein beschäftigen. Er muß immer ein paar Kinder zum Zugucken haben, wenn er spielt. Ich sage „zugucken“, denn anrühren dürfen sie bei Leibe nichts, oder gar selbständig ein Spiel beginnen! Müthchen sucht sich nur solche aus, die ihm unbedingt gehorchen und mit der nötigen Bewunderung zu ihm aufsehen. Heute hat er wieder eine neue Errungenschaft: „Mutter, kann ich mir Schindler ein bißchen holen?“ „Wer ist Schindler?“ frage ich mißtrauisch. „Aber Mutter – Schindler! Den hier unten in dem grünen Haus – –“ Müthchen ist außer sich darüber, daß ich in unserer Straße so schlecht orientiert bin. Er beschreibt mir Schindlers mit aufgeregten Gesten, ich bleibe aber dabei, daß ich sie nicht kenne. Nach einer Weile ruft er wieder. Ich gehe hinaus und sehe einen fremden kleinen Jungen mit feinem Gesichtchen neben Müthchen stehen. „Dies ist Schindler,“ sagt mein kleiner Schlingel mit großartiger Handbewegung. „Schön,“ sage ich ruhig, dem Kinde die Hand gebend, „aber ich kenne Schindler wirklich nicht.“ Müthchen versucht’s auf eine andere Art, seiner Mutter zu Hilfe zu kommen. „Sag’ doch mal: ‚Schindler‘, Mutter!“ „Schindler,“ spreche ich nach. „Siehst du wohl, daß du ihn kennst!“ jauchzt Müthchen, ganz glücklich, mich nun doch überführt zu haben. Ich schicke die Jungen aus, um mir Ziegenhorn zu holen. Er soll mir helfen, das Klavier umzustellen, sonst haben wir heut’ abend nicht genug Raum in dem kleinen Zimmer. Ziegenhorn kommt mit der ihm eigenen Anmut an. Er ist mir gern gefällig, aus Freundschaft für Müthchen, und dann, weil ich ihm manchmal etwas in die Hand drücke, wofür er nicht unempfänglich ist. Diesmal will ich es mit einem einfachen „Danke schön!“ bewenden lassen, denn er hat voriges Mal die doppelte Ration empfangen. Müthchen vereitelt jedoch den Plan. Er fragt mich in Ziegenhorns Beisein: „Hast du Ziegenhorn schon seine Mark gegeben?“ Aergerlich über das große Trinkgeld, das ich gern sparen wollte, setze ich Müthchen und Schindler vor die Thür, nachdem ich noch eine kleine Rede über naseweise Kinder gehalten habe, die von Müthchen in seiner Unschuld nicht begriffen wird. „Ihr könnt ein bißchen auf dem Hof spielen. Macht aber keine Dummheiten“, rufe ich ihnen nach, dann gehe ich seufzend ans Staubputzen. Von allen häuslichen Arbeiten ist mir das die unangenehmste. Man sieht nicht recht, was man vor sich bringt, und wird doch stundenlang aufgehalten. Selbst gegen die zahllosen Nippes, mit denen ich gern mein Zimmer schmücke, steigt in solchen Momenten etwas wie Haß in mir auf. Mit spitzen Fingern nehme ich Väschen, Bären, Hündchen und Muscheln von den Bördchen und habe dann doch das Pech, einen niedlichen kleinen Porzellanengel zum Krüppel zu machen. Gerade den allerhübschesten! Zornig über mein Ungeschick klappe ich den Klavierdeckel auf, die Tasten abzuwischen. Meine Augen werden groß vor Schreck: das ganze Klavier ist mit Stearin beträufelt, und die Tasten geben beim Niederdrücken ein sonderbar raschelndes, knitterndes Geräusch von sich. Was ist denn das? Ich versuche eine nach der – andern dieselbe Geschichte! Lange mühe ich mich vergebens, das böse Rätsel zu lösen, endlich aber entdecke ich ein Stückchen rote Gelatine. Noch eins … und noch eins. Irgend jemand – natürlich Müthchen! – hat mit bewunderungswürdiger Geschicklichkeit jede Taste mit einer Unterlage von Gelatine versehen. Eine weitere Ahnung sagt mir, daß es dieselbe [755] Gelatine sein müsse, die ich für die heutige süße Speise angeschafft hatte. Das ist denn doch zu arg! Ich eile in voller Wut hinaus und stoße mir an der Thürklinke den Arm blutig, was für Müthchens Schuld gravierend wirkt. „Müthchen –!“ Er ist zu sehr beschäftigt und hört mich nicht. Im Brunnentrog steht eine grüne Gießkanne, die in Onkels Haushalt gehört und gestern völlig neu und tadellos war; heute zeigt sie bedenkliche Beulen, Müthchen wird sie wohl in Behandlung gehabt haben. Um den Brunnenschwengel, der für ihn viel zu hoch ist, herunterziehen zu können, hat Müthchen eine ebenso einfache wie sinnreiche Einrichtung getroffen. Er hat über den Schwengel einen alten eisernen Radreifen gehängt, und an diesem hängt er selbst, mit hochrotem Köpfchen und weit von sich gestreckten Beinen. So oft er das Gießkännchen mit großer Kraftanstrengung vollgepumpt hat, spaziert er im Hof umher und begießt sorgsam den Kitt, mit dem die Steinplatten zusammengefügt sind. Schindler folgt ihm in wortloser Bewunderung. Es kommt mir vor, als ob sich hier und da schon einer der schweren Steine zu lockern beginne. „Müthchen!“ rufe ich noch einmal streng. Da sieht er mich und kommt schuldbewußt näher. „Sieh mal, Mutter, wie schön blank der Hof wird!“ Er macht sein lieblichstes Gesicht. „Ja, du unartiger Junge, ich will dir helfen! Komm ’mal herein – was hast du denn mit dem Klavier angefangen?“ Müthchen brüllt, als hätte er die ihm zugedachten Prügel bereits empfangen. „Na – wird’s bald?“ Es dauert eine geraume Zeit, bis er, das verkörperte böse Gewissen, neben dem Klavier steht. „Was ist denn das?“ Ich halte ihm das corpus delicti, in Gestalt eines roten Fetzchens unter die Nase. „Gelatine,“ antwortet er richtig. „Und wo hast du’s her?“ „Aus dem Küchenschrank.“ Daß er nicht lügt, ist nun wieder sehr hübsch bei dem kleinen Kerl, mein Zorn ist schon halb verflogen. „Das sage ich dir, Müthchen, wenn du so ’was noch einmal thust…“ Sein Gesichtchen klärt sich wie mit Zauberschlag auf. Er kennt die Redewendung von dem „einen Mal“ nun schon und weiß, daß er für den Augenblick nichts zu fürchten hat. Das Weitergießen wird natürlich untersagt und die Bitte, ihm eine eigene Gießkanne zu kaufen, abgeschlagen. „Das fehlte noch! – –“ Noch ein halb Stündchen angestrengter Arbeit, und die Zimmer sind für den Abend im Stand. Ich übersehe mit frohem Stolz mein Werk, den gedeckten Tisch, der in seinem Blumenschmuck wirklich wunderhübsch aussieht, und die Möbel, auf denen nun kein Stäubchen mehr liegt. Sogar das Klavier habe ich mit viel Mühe und Geduld wieder leistungsfähig gemacht. Mit einem Seufzer der Erleichterung begrüße ich Frau Bachmann, die Kochfrau, die eben anrückt. Ein Gefühl des Geborgenseins kommt über mich. Elschen muß auch aus der Schule zurück sein: hier liegt ihr Ranzen, dort die gute Plüschjacke, beides recht unordentlich auf die Stühle geworfen. „Elschen!“ Sie kommt aus der Küche gesprungen. Während ich ihr die Backe zum Kuß hinhalte, deute ich streng auf die Sachen: „Wie oft hab’ ich dir das schon gesagt! Ach, Elschen!“ – Als wir zu Tisch gehen wollen, fehlt Müthchen. Erst nach wiederholtem Rufen kommt er zum Vorschein, und zwar aus dem Waschhaus. Seine Hände sind intensiv blau gefärbt, auch der neue Schulanzug zeigt dunkle Flecken. „Was hast du …?“ Das Wort bleibt mir in der Kehle stecken, denn eben läuft Terry, unser verflossenes Hündchen, das uns aus alter Anhänglichkeit noch immer besucht, mit eingeklemmtem Schwanz an mir vorüber. Ueber sein Fellchen ziehen sich breite blaue Streifen – Müthchen hat ihn mit Waschbläue angestrichen. Elschen nimmt den verunzierten Terry, den sie noch immer als ihr besonderes Eigentum betrachtet, weinend auf den Arm und stellt Müthchen verschiedene „Dachteln“ in Aussicht, ich selbst sehe ein, daß er diesmal, da wir ihn auf frischer That ertappt haben, nicht frei ausgehen darf. Entschlossen greife ich auf meinen Schrank, wo ich für den äußersten Notfall ein Rohrstöckchen liegen habe – „Wo ist der Stock?“ – Ja, wo ist der Stock? Umsonst taste ich auf dem ganzen Schrank umher, umsonst beteiligt sich der ganze Haushalt am Suchen – der Stock findet sich nicht. Ida hat ihn erst vor ein paar Tagen von Meister Klügling mitgebracht, weil der alte mal wieder verschwunden war, und die Zahl der rätselhaft abhanden gekommenen Rohrstöcke, denen ich im Lauf der Jahre Nachfolger zu geben gezwungen war, ist eine recht ansehnliche. Müthchen, der allein Auskunft über den Verbleib dieses neuesten und schönsten aller Rohrstöcke hätte geben können, steht mit gesenkten Augen und hofft im stillen, daß der Kelch auch diesmal an ihm vorüber gehe. Aber das darf nicht sein! Ich muß mich entschließen, den kleinen Sünder mit der Hand durchzuwichsen, was mir erheblich weher thut als ihm und keine nachhaltige Wirkung hinterläßt. Endlich sitzen wir ziemlich schweigsam um den Tisch, ich mit nervösen Schmerzen und die Kinder verheult. Elschen mault außerdem, weil sie auch einen kleinen Wischer bekommen hat. Ich habe ihr unzähligemal gesagt, sie solle sich einen vernünftigen Zopf machen, und nun sitzt sie mir wieder gegenüber mit einer sogenannten „modernen“ Frisur, die schauderhaft unordentlich aussieht. „Nun merk dir’s aber,“ sag’ ich ärgerlich, „den Haarbeutel will ich nicht mehr sehen!“ Angesichts des Nachtisches, frische Nüsse und Obst, hellen sich die Mienen wieder auf. „Mutter,“ sagt Müthchen, der das lyrische Intermezzo dank seiner angeborenen Elasticität längst vergessen hat, „weißt du, wie Frau Ziegenhorn ihren Mann anguckt?“ „Na?“ Er macht ein Gesichtchen, das schmachtende Liebe ausdrücken soll. Wir lachen. Nach Tisch bleibt Müthchen ein Stündchen lang in der Küche, wo es heute besonders interessant zugeht. Es giebt verschiedene Schüsseln auszulecken, und Frau Bachmann kratzt sie weniger sparsam aus als ich, die ich immer die Folgen für den nächsten Tag im Auge habe. Elschen kommt wie ein Stoßvogel geschossen. „Frau Bachmann, Sie haben ihm doch nicht ‚meine‘ gegeben?“ Es stellt sich heraus, daß sie sich die beste „Leckschüssel“ hat heimlich zurückstellen lassen. „Aber Elschen,“ sag’ ich, „so’n großes Mädchen!“ Davon will sie aber in diesem Falle nichts wissen. Leider komme ich dahinter, daß Müthchen auch die Creme probiert hat, die zum Abkühlen in der Speisekammer steht. Man sieht deutlich den Druck des kleinen Zeigefingers. Nun ist seines Bleibens nicht länger in der Küche. „Hol’ dir Paul Dietrich ein bißchen!“ „Mit Paulen spiel’ ich nicht, der ist immer so schlecht mit mir,“ sagt Müthchen trotzig. „Dann kann Trudchen Kutzleb kommen!“ Müthchen ist einverstanden, behauptet aber, Ida müßte mitgehen und sie abholen. „Allein trau’ ich mich nicht, der alte Müller ist immer so bös.“ Ich denke mir seufzend, daß der „alte Müller“, Kutzlebs Hauswirt, wohl seine Gründe haben werde, Müthchen nicht besonders hochzuschätzen, schicke aber Ida, trotz der vielen Arbeit, mit. Sie kommen unverrichteter Dinge zurück. Trudchen muß erst Schularbeiten machen. Nachher will sie aber kommen. Am besten wird sein, ich erzähle ihm so lange etwas, dann ist er wenigstens still. So unbändig er sonst ist, sobald ich Geschichten erzähle, rührt er sich nicht, nur seine großen, sprechenden Augen sind voll Leben und spiegeln jede Empfindung, jeden Gedanken getreulich wieder. Die Indianer sind, nächst dem „Buch der Erfindungen“, sein Lieblingsthema. „Sind sie alle bös, Mutter?“ Ich gebe zu, daß einige gute darunter sein können. „Wenn sie mir nun hier in der Kräme[1] begegneten?“ fragt er mit einem kleinen wollüstigen Gruseln. „Nach Frankenhausen kommen sie nicht, Müthchen.“ „Wenn sie nun aber doch kämen, würden sie mich dann fressen? Auch, wenn ich ganz lieb mit ihnen wäre?“ [756] „Nein,“ sage ich in voller Ueberzeugung, wie ich sein treuherziges Gesichtchen sehe, „wenn du lieb wärst, thäten sie dir nichts.“ Trudchen bleibt zu lange, ich habe keine Zeit mehr zum Plaudern. „Elschen,“ sage ich beschwörend, die Nase in ihre Stube steckend, „kümmere du dich doch eine Weile um Müthchen!“ Elschen, die sich unter dem Vorwand der Weihnachtsarbeiten immer sofort in ihre Stube zurückzieht, wie die Schnecke in ihr Haus, schreit empört auf, als ich den Kopf zur Thür hineinstecke. „Gott, Mutter, ich sticke doch!“ Damit verbirgt sie etwas Umfangreiches unter ihrer Schürze. Ich fürchte, sie hat wieder eine neue Arbeit angefangen zu den sechs vorigen. Wann soll das nur alles fertig werden? In diesem kritischen Augenblicke kommt Trudchen, und Müthchen zieht beglückt mit ihr ins Kinderzimmer ab. „Aber stellt nicht alles auf den Kopf!“ rufe ich ihnen nach. Während ich alle Kleinigkeiten für meinen Anzug zusammentrage, horche ich zwischendurch immer einmal nach der Kinderstube. Zuerst höre ich mit Befriedigung den üblichen, mittelstarken Lärm, dann heult Müthchen, dann folgt starkes Gepolter, und dann wird’s still. Mir ist ungemütlich zu Sinn. Doch zum Nachsehen habe ich keine Zeit, und ich gehe ins Schlafzimmer mit dem festen Entschluß, mich gegen jede Störung abzuschließen, sonst stehe ich, wenn die Gäste kommen, immer noch im Küchenkleid. Im Schlafzimmer sieht’s lieblich aus. Alle Betten sind auseinander gerissen, und kein Stuhl zu finden. Es ist doch zu arg. Mit bösem Gesicht schau’ ich zu den Kindern hinein, aber vor dem Anblick, der sich hier bietet, ist’s unmöglich, ernst zu bleiben. Die Stühle stehen auf dem Kopf. Ueber ihre Beine ist das Badetuch gespannt, das infolge seines hohen Alters solche Strapazen nicht mehr verträgt und überall zu platzen beginnt. Unter diesem mit Kunst und Geschmack hergestellten Baldachin liegen auf meinem frisch bezogenen Bügelbrett, mit meiner Steppdecke zugedeckt, Trudchen und Müthchen. „Mein Gott, Kinder, was macht ihr denn da?“ „Wir spielen Herr und Frau Knopp!“ – Ich brauche eine ganze Weile, ehe ich mich von meinem Lachanfall erholen kann. Müthchen ist ein großer Busch-Kenner und -Verehrer; daß dies aber solche Blüten treiben könnte, hätte ich doch nicht gedacht. Die Ordnung wird notdürftig wieder hergestellt, und die Kinder bekommen ihre belegten Brötchen. Während sie essen, bringt die Abendpost eine Freudenbotschaft: unser Kadettchen bekommt Herbsturlaub und wird in ein paar Tagen bei uns sein. Es herrscht allgemeiner Jubel. Elschen übernimmt das Guirlandenwinden, ich das Kuchenbacken, und Müthchen hat die abenteuerlichsten Pläne zum Empfang. Seine freudige Erregung benutze ich, um ihm unmerklich ein Kleidungsstück nach dem anderen auszuziehen. Erst, als ich ihm das Nachtkittelchen überwerfen will, kommt ihm die Ueberzeugung, daß er überrumpelt worden ist. „Dafür mußt du mir eine Geschichte erzählen,“ sagt er diktatorisch, schon aus seinem Bettchen heraus. Um keine Minute Zeit zu verlieren, fange ich sofort zu erzählen an. Das Märchen von Kohle, Bohne und Strohhalm, das ist hübsch kurz. „Es war einmal eine alte Frau, die …“ „Nein, die nicht,“ sagt Müthchen. „Die ist ja gleich wieder zu Ende. Lieber die vom ,Fischer und siner Fru!‘“ Darauf lasse ich mich nun wieder nicht ein, denn ich weiß aus Erfahrung, daß die Beschreibung der verschiedenen Schlösser, die die unzufriedene Fischersfrau besessen hat, mindestens eine halbe Stunde Zeit in Anspruch nimmt. Wir einigen uns schließlich auf „Goldmarie und Pechmarie.“ Müthchen hat eine entschieden realistische Richtung, denn er liebt die Stelle, wo die faule Marie mit Pech besudelt wird, am allermeisten. Ich kann gar nicht breit genug ausmalen, wie gräßlich schmutzig sie aussah, und dann kichert er vor Vergnügen und sagt jedesmal laut und vernehmlich: „Pfui Deibel!“ „So, nun wird aber geschlafen! Gute Nacht, Herzchen!“ „Gute Nacht, Mütterchen!“ An der Thür ruft er mich noch einmal zurück. Ich bleibe zögernd stehen. „Mutter, haben Indianer auch Kinder?“ „Natürlich,“ sag’ ich, „eine ganze Menge sogar.“ „Die sind aber gräßlich ungezogen,“ behauptet Müthchen, sittlich entrüstet. Ich greife die Bemerkung erzieherisch auf: „Im Gegenteil, Müthchen! Die kleinen Indianerkinder sind sehr lieb und lange nicht so ungehorsam wie Müthchen.“ „Warum werden sie dann nachher so schlecht, wenn sie groß sind?“ examiniert Müthchen weiter. Mit Schrecken entdecke ich, auf welch gefährliches Terrain ich mich begeben habe, und daß die Schläfrigkeit in Müthchens Augen wieder zu weichen beginnt. „Nach dem Beten wird gar nicht mehr gesprochen,“ sage ich bestimmt. „Das Christkindchen fliegt jetzt um die Häuser und guckt in alle Stuben, ob die Kinder auch hübsch in ihren Bettchen liegen. Und wo eins noch plappert, da macht sich das Christkind einen dicken Strich in sein großes, goldenes Notizbuch und bringt zu Weihnachten nur eine Rute für das Plappermäulchen!“ Mit diesem glücklichen Coup schlüpfe ich hinaus, ehe Müthchen Zeit gehabt hat, mich weiter über das Notizbuch auszufragen. Galeerensklaven!Ein Mädchenschicksal, erzählt von Hans Arnold.
(Schluß.)
Wie die beiden sich vertrugen und verstanden haben, das weiß ich nicht; meine Mutter ist, wie gesagt, früh gestorben, und ich habe kaum eine Erinnerung an sie. Mein Stiefvater liebte mich sehr, er liebte mich ebenso wie seine eigene Tochter – nein, doch nicht ebenso, sonst hätte er mich besser kennen müssen. Ich habe ein frohes, glückliches junges Leben gehabt, bis zum Tode des Stiefvaters, ich war oft auf Reisen mit ihm, und meine Stiefschwester lebte viel für sich. Man kann sie ja kaum Stiefschwester nennen, denn wir haben nichts Verwandtes, keinen Tropfen desselben Blutes, keinen Tropfen, in jedem Sinn! – Als der Vater starb, fand sich in seinem Testamente die Bestimmung, daß wir beiden Schwestern in den gemeinsamen Genuß des großen Vermögens kamen, unter der Bedingung, daß wir uns nie dauernd trennten, einander nie länger als für höchstens vier Wochen verließen. Diejenige von uns, die den Anlaß zu einer Trennung gab, wurde mit einer Summe abgefunden, die zum Leben vielleicht eben hingereicht hätte, aber nicht zu einem Leben absoluten, nutzlosen Genusses, zu dem ich und sie mit Tausenden unserer Gesellschaftskreise erzogen sind. Ein Leben, das die Hände und die Kräfte nicht bindet, aber lahmlegt, das den Begriff „Arbeiten“ nur in spielerischer Art kennt, das die beste Leistungsfähigkeit in dilettantischen Kleinigkeiten zersplittert – weil wir es eben nicht anders lernen. Und nun kommt das Kapitel in meiner Geschichte, vor dem ich mich in der bloßen Erinnerung so fürchte, so feige, so knechtisch, so rettungslos fürchte, daß ich ihm die ganze Zeit hier auch in Gedanken aus dem Wege gegangen bin. Wissen Sie noch, daß heute nachmittag in der Pension von Galeerensklaven gesprochen wurde? Dies Wort ist die Signatur meines Schicksals: so ein Galeerensklave bin ich! Ich bin mit unlösbaren Fesseln an einen Menschen geschmiedet, der mir und dem ich in jeder Minute zuwider bin, wenn ich es auch meiner unseligen Naturanlage nach viel tiefer, viel schneidender empfinde, als sie es thut. Sie ist [757] mir in jedem Wort, das sie spricht, in jeder Handbewegung, in jeder Miene antipathisch – ich verstehe im Zusammenleben mit ihr oft die instinktive Wut verschiedener Tierrassen aufeinander; es ist eine in allen Nerven begründete Abneigung, die ich eben nur so bezeichnen kann. Verstehen Sie mich nicht falsch! Sie thut mir nichts, sie ist nicht einmal böse! Können Sie es begreifen, daß ich mich manchmal danach sehne, sie möchte etwas Schlechtes thun, nur damit ich vor mir selbst einen faßbaren Grund für meinen Widerwillen habe? Wir lachen und weinen ja beide, aber über so ganz verschiedene Dinge. Wenn die eine lacht, so sieht die andere sie verblüfft und verständnislos an und begreift nicht, was sie erheitert – und wenn die eine weint, so steht die andere dabei und versteht nicht, was sie grämt. Und das sagt Alles – wir sprechen verschiedene Sprachen – wir fallen uns auf die Nerven, und die Nerven sind in unserer Zeit und für uns moderne Menschen zwei Drittel vom Leben!“
Sie schwieg und sah ihn mit einer wilden Frage in den Augen an. Er schüttelte den Kopf. „Traurig!“ sagte er – aber er sagte es als Lückenbüßer für das Verständnis, das ihn dieser Beichte gegenüber im Stich ließ. Sie nickte mit einem verzweifelten Lächeln vor sich hin. „Sie begreifen es nicht, ich konnte es mir denken! Von hundert Leuten würden es neunundneunzig nicht begreifen – für die meisten Menschen giebt es kein unbegründetes Gefühl. Aber die Dinge, die von den Leuten verstanden werden, mit denen wir in die Schablone des Mitgefühls und der Teilnahme hineinpassen – die sind nicht die schlimmsten. Sie können es sich nicht denken – aber es giebt Tage, wo ich von früh an die Empfindung habe, daß ich aufschreien könnte, wenn sie ins Zimmer kommt und die gleichgültigste Bemerkung macht. In solchen Zeiten habe ich oft gegen eine ganz wilde Vorstellung zu kämpfen, daß alles Lüge ist – alles: Verwandtschaft – Tradition – Pietät – Geduld – alles – und daß nur Eins wahr ist auf der ganzen Welt – das ist der Widerwille! Ich werde so schlecht, so bitter, so selbstsüchtig – immer in dem Gefühl: ich muß mich selber retten, wie ich nun einmal bin – und für mich giebt es doch keine Rettung! Ich bin eben ein Galeerensklave! Wenn mein Stiefvater das gewußt hätte – er hat es ja so gut mit ihr und mit mir gemeint, er hat uns beide vor Vereinsamung schützen wollen! – aber wenn er das gewußt hätte! Wenn überhaupt die [758] Menschen wüßten, was sie thun, wenn sie so mit einer starren, unerbittlichen Totenhand in ein lebendiges Leben greifen und es festhalten! Es zuckt und flattert und verkommt im nutzlosen Abarbeiten unter der Fessel. Und dabei dies Heucheln nach außen hin – wie oft, wenn wir so geputzt und lächelnd nebeneinander im Theater sitzen oder in Gesellschaft gehen – wenn wir des Abends gemeinsam in unserem hübschen Zuhause sind und Gäste haben, und die Leute sehen das alles und denken: wie gut haben es die beiden! Ich las einmal in einem Buche das Wort: Und Heuchler sind die Häuser! Wie oft habe ich seitdem doch gedacht, wenn die Wände durchsichtig wären, wenn die Menschen sehen könnten, was in scheinbar friedlichen, heimeligen lampenerhellten Wohnungen, in die mancher Heimatlose abends mit leisem Neid hinein sieht, was da für wilde, grauenvolle Dämonen unsichtbar mit am Tische sitzen! Wie viel lieber würden die, die draußen im Kalten stehen, in den Wald, in das Feld, in die furchtbarste Einöde laufen – als sich dieser unheimlichen Gesellschaft zugesellen!“ Sie schwieg wieder, wie erschöpft. Er sprach auch eine ganze, lange Weile nicht, ihm war dies wilde Bekenntnis in einer ganz sonderbaren Weise wie Mehltau in die aufblühende Saat seiner Empfindungen gefallen: er fühlte den Jammer, aber er fühlte keine Sympathie dafür. Es zuckte bitter um ihren Mund. „Er versteht es auch nicht,“ dachte sie in leidenschaftlichem Zorn in sich hinein. Nach einer geraumen Zeit nahm er wieder das Wort in einem behutsamen, gesellschaftlich verbindlichen Ton, der wie Eis auf ihr glühendes, zuckendes Herz fiel: „Und verzeihen Sie mir eine anscheinend indiskrete Frage: wie kommt es, daß Sie nicht geheiratet haben?“ Sie zuckte die Achseln. „Als ich ganz jung war, wollte ich, was wir alle wollen – ein himmelstürmendes, besonderes, unglaubliches Märchenglück, und dachte von Tag zu Tag, das müßte für mich noch kommen. Und als ich älter geworden war – das geht ja so schnell! – da kam es nicht mehr. Das ist die einfachste Lösung der Frage. Und aus Ueberdruß an meiner Situation heiraten – ich bin auch schon so weit gewesen – aber das hieße ja nur eine Galeerensklaverei gegen eine andere vertauschen, gegen eine noch schlimmere – vielleicht komme ich auch noch so weit herunter, aber vorläufig bin ich es noch nicht! Seit Jahren ist es jetzt zum erstenmal, daß ich frei war – allein – ich selber! Sie können sich nicht denken, wie ich in diesen Wochen aufgelebt bin, wie ich die Jahre wie einzelne Lasten von den Schultern gleiten fühlte, wie leicht ich gewandert bin! Ich habe mir immer die Augen zugehalten vor der Gewißheit, daß es wieder einmal anders werden muß. Aber das Schicksal hatte eben nur die Kette länger gemacht, es kauerte in einer dunklen Ecke und stellte sich schlafend – und jetzt hat es die Kette wieder angezogen. Der Brief, der Sie heute so stutzig machte, war von meiner Stiefschwester – sie kommt heute noch an, und ich habe nun nichts weiter zu thun, als die Hände hinzuhalten und mir die Fesseln wieder darüber streifen zu lassen.“ Sie verstummte und sah ihn mit großen, erwartungsvollen Augen an, in denen eine tödliche Spannung lag – jetzt mußte er ja sagen: „Komm zu mir – wir wollen die Ketten abschütteln, du sollst jung bleiben!“ – jetzt – jetzt mußte er’s sagen – aber er sagte nichts. Er trat an die offene Thür der Hütte und stand dort in tiefen Gedanken. Er hatte sie während der letzten Minute unverwandt angesehen, mit seinem scharfen, kühlen Kennerblick, vor dem mit einem Mal die Schleier der verblendenden Liebe abgefallen waren – er sah die reinen, aber scharfen Linien des Gesichts, den bitteren herben Zug, und er sagte sich, daß sie alt aussähe und bald alt sein würde – daß er jung und zu den höchsten Ansprüchen in jeder Richtung berechtigt sei – und daß er doch noch vierundzwanzig Stunden überlegen wollte, ehe er das entscheidende Wort spräche – und überlegen, ob er es überhaupt sprechen sollte. „Alt!“ sagte er plötzlich vor sich hin und erschrak. Sie hatte nur den Ton seiner Stimme gehört und fragte zitternd und atemlos, wie ein Ertrinkender, dem ein Rettungsruf zu kommen scheint: „Sprachen Sie mit mir?“ „O – ich sagte nichts von Bedeutung,“ erwiderte er und sah wieder stumm in die Weite. Und während er dastand und kühl prüfend alle Bedenken und Fragen abwog, die ihm die Situation vorführte, währenddessen sagte sich Agnete, die Augen fest auf sein Gesicht geheftet, daß dieser Mensch, der da so groß und schlank an der Thür lehnte, der so hochgehobenen Hauptes in die erfrischte, strahlende Welt sah, als wenn sie ihm zu eigen gehörte – daß dieser eben der einzige Mensch sei, den es für sie auf der Welt gäbe – daß alle anderen und alles andere nur Beiwerk für seine Persönlichkeit bedeute, und daß mit ihm ihr eignes Leben stehe und falle! Draußen war es inzwischen still und wunderschön geworden. Das Herbstgewitter hatte ausgetobt, es tröpfelte und rieselte nur noch silbern von den Bäumen, und ganz in der Ferne lohte stummer, flammender Wetterschein, in großen Pausen zuckte hin und wieder noch ein Blitz, wie ein riesiger, blendender Riß in dem Himmelsvorhang, als ließe er eine unaussprechliche Helle ahnen, die dahinter sein müßte. Eine geraume Zeit verging den beiden in absolutem Schweigen. – Er stand noch immer an der Thür und sah hinaus. Agnete hatte die Augen gedankenlos auf ein Spinngewebe geheftet, das vom Regen mit tausend Tropfen bestäubt war – sie blitzten wie Diamanten in der Sonne. Wer achtete auf die kleine Mücke, die sich in dieser königlichen Pracht zu Tode gequält hatte und nun in den feinen, grauen Fäden eingesponnen hing? Agnete stand auf, ihr war plötzlich, als könnte sie das nicht mehr sehen, als müßte sie, nicht über ihr eignes Geschick, sondern über das Los des kleinen, bedeutungslosen, ihr gleichgültigen Tierchens da in bittres, bittres Weinen ausbrechen und nie – nie – nie wieder aufhören! „Und dann würde er ja wohl aus Mitleid“ … dachte sie mit Entsetzen in sich hinein und wollte den Satz auch in Gedanken nicht einmal beenden. Sie stand auf. „Das Wetter ist wieder ganz schön,“ sagte sie mit klarer, beherrschter Stimme und trat neben ihn in die offene Thür, „ich glaube, wir können an den Heimweg denken.“ Er wandte rasch und wie erschrocken den Kopf und sah sie mit einem Gemisch zwischen zweifelnder Sorge und Erleichterung an. „Herrliche Luft!“ sagte er dann in verlegenem, gezwungen leichtem Ton. Sie stimmte ruhig bei. Gemeinsam verließen sie die Hütte und traten den Rückweg nach der Pension an. Ein frischer, lebensfroher Wind hatte sich aufgemacht und ließ die Tropfen von den Blättern sprühen – in Agnetens krausem, goldbraunem Haar saßen sie wie funkelnde Juwelen. Die furchtbare Erregung der letzten Stunden ließ ihre Augen in einem tiefen, schwärzlichen Blau aufstrahlen und trieb das Blut in ihr zartes, schmales Gesicht. Sie hatte vielleicht nie so bestrickend ausgesehen – es war der Schwanengesang ihrer Schönheit! Und diese Schönheit verfehlte ihre Wirkung nicht auf ihn. Wie seine ganze Natur nun einmal war, ließ er sich durch Äußerlichkeiten – durch alles, was seinem erregbaren Wesen entgegenkam oder es abstieß, immer wieder zum Schwanken bringen, und in seinem unbewußten Egoismus gab er jeder dieser Schwankungen nach, unbekümmert darum, wie es auf andre einwirkte. Er sah sie im Gehen nochmals von der Seite an – immer wieder und immer öfter – sie war bezaubernd, das ließ sich nicht leugnen – es lohnte am Ende doch, ihre Ketten zu zerreißen! Das eine war sicher, daß ihn noch niemand und nichts so zu fesseln verstanden hatte wie dieses Mädchen. Als sie sich der Pension näherten, fuhr eben an der anderen Seite des Weges der Hotelwagen leer den Bergpfad hinunter – er hatte neue Ankömmlinge gebracht – Agnete wandte sich einen Augenblick zu ihrem Begleiter. „Da ist sie angekommen!“ sagte sie mit gepreßter Stimme und blieb stehen. Er that ein Gleiches. „Versuchen Sie es doch noch einmal, ob Sie sich nicht überwinden können,“ sagte er mit einem bittenden, weichen Ton, den sie noch gar nicht von ihm gehört hatte, „gehen Sie ihr jetzt einmal mit freundlichen Gefühlen entgegen – sie ist ja doch ein Mensch wie andre Menschen auch!“ [759] Sie sah ihn zweifelnd und starr an. „Wollen Sie, daß ich es thue?“ frug sie. „Ja, ich will es,“ antwortete er mit einem warmen Blick, „auch um Ihrer selbst willen – nein, nur um Ihrer selbst willen will ich es – dieser Haß und Abscheu ist ein so fremder Zug in Ihrem Bilde, er stört mich, und das will ich nicht! Sie sollen es bekämpfen – nicht wahr?“ Sie sah ihn mit einem forschenden, unerklärlichen Blick an. „Also Sie wollen es!“ sagte sie nur noch einmal, dann ging sie ins Haus, ohne den Kopf nach ihm zu wenden. Aus dem Fenster ihres bisherigen Zimmers hatten zwei scharfe Augen sie schon eine ganze lange Weile beobachtet. Agnetens Schwester stand, halb hinter den Fenstervorhängen verborgen, und sah die beiden Gestalten aus dem Walde treten und sich nach kurzem, angelegentlichem Gespräch verabschieden – sie sah, wie Groden noch eine geraume Zeit stand und in Gedanken verloren hinter Agnete hersah, nachdem sich die Thür schon lange hinter ihr geschlossen hatte. „Sieh’, sieh’!“ sagte das ältliche Fräulein vor sich hin, und ein unangenehmes Lächeln zog ihren Mund herab. Sie hatte ein verkniffenes, unbedeutendes Gesicht, in das kleinliche Sorgen und kleinliche Freuden ihre Linien gezeichnet hatten, in dem ersichtlich nie ein großer Gedanke, nie ein weites, freies Gefühl gespielt oder auch nur Wiederhall gefunden hatte. Alles an ihr – Anzug, Bewegung und Mienenspiel – sprach von einem geistig und gemütlich engen Gesichtskreise, der sich, achtlos für andrer Wohl und Wehe, einzig um das kleine Ich herzieht und immer enger zieht. Agnete öffnete langsam die Thür – sie hatte sich auf dem kurzen Wege beständig innerlich hergesagt und vorgesagt: Vielleicht ist sie gar nicht so schlimm, vielleicht hat meine Erinnerung sie mir unangenehmer vorgemalt, als sie wirklich ist! Aber als sie der Stiefschwester gegenüber stand, packte das Gefühl würgenden, namenlosen Widerwillens sie mit solcher mörderischen Kraft, daß sie förmlich seine Krallen zu spüren vermeinte. Doch sie überwand sich mit einem Heroismus, welcher der Situation gegenüber für den oberflächlichen Beobachter kaum erklärlich gewesen wäre – sie überwand sich und ging mit ausgebreiteten Armen auf die Schwester zu: „Nun, Bertha!“ Die Angeredete machte keinen Versuch, die Umarmung anzunehmen oder zu erwidern – sie lächelte ironisch. „Nun, wie komme ich zu der Ehre einer so stürmischen Begrüßung?“ frug sie mit ihrem säuerlichsten Lächeln, „das ist ja sonst nicht Mode bei dir?“ Agnete ließ die Arme sinken. „Wir haben uns ja doch ein paar Wochen nicht gesehen,“ murmelte sie hilflos. „Ganze drei Wochen!“ sagte Bertha mit einem Achselzucken, „du hättest mich ja übrigens hier erwarten können, wenn du so sentimental aufgelegt bist. Wo warst du denn?“ „Im Walde,“ erwiderte Agnete gepreßt – in ihr schrie eine aufrührerische Stimme fortgesetzt und betäubend: Ich kann nicht – ich kann nicht – ich kann nicht! „Im Walde?“ frug Bertha mit einem scharfen, neugierigen Blick, „allein?“ „Wenn du mich hast kommen sehen –“ begann Agnete heftig, unterbrach sich aber: „Nein – nicht allein – mit einem Bekannten aus der Pension!“ „Mit einem jungen Herrn?“ sagte die Schwester achselzuckend; „nun das finde ich merkwürdig, das hätte ich in meiner Jugend nicht gethan! Es ist gut, daß ich jetzt hier bin – da werden die Waldspaziergänge ein Ende haben oder wir werden sie zu dreien machen. So ist es ja einfach unschicklich!“ „Mein Gott!“ rief Agnete ungestüm und verzweifelt, „ich bin sechsundzwanzig Jahr! Soll ich denn mein ganzes Leben an der Kette liegen wie ein Hund?“ „Nun, sei nicht gleich unnötig aufgeregt,“ sagte die andere und legte mit pedantischer Genauigkeit ihre Habseligkeiten in die Kommodenschübe. „Wenn die Sache einen soliden Hintergrund hat, ist es ja ganz schön!“ Agnete sah sie mit großen, wilden Augen an, wie ein gehetztes Tier. Dann wendete sie den Kopf zum Fenster und sah hinaus – mit einem Jammergefühl, als wenn sie zerbrechen müßte – innerlich und äußerlich. Die Schwester drehte mit einer Art plumper Scherzhaftigkeit ihren Kopf zu sich: „Na – wirst du rot?“ Da Agnete aber nichts erwiderte, sondern nur mit müden, schleppenden Schritten nach der Thür ging, rief die Schwester ihr nach: „Du kommst aber bald wieder, ich kann doch nicht allein in den Saal voll fremder Menschen gehen, die mich alle anstarren. In zehn Minuten bin ich hier fertig, dann bist du wieder bei mir! Hörst du? – Hörst du?“ wiederholte sie mit erhobener Stimme. Agnete nickte müde. „Ich gehe ja nur nach meinem Zimmer, es ist hier nebenan,“ erwiderte sie und zog einen Augenblick die Thür hinter sich zu. „O, meine Einsamkeit!“ sagte sie schwer vor sich hin. Bei der Abendmahlzeit waren die Plätze umgelegt. Groden saß nicht neben Agnete wie sonst immer, sondern ihr und der Schwester gegenüber – er sah auch kaum nach Agnete hin, was sie ihm im tiefsten Herzen dankte. Desto öfter warf er einen seiner raschen, scharfen Blicke nach der Neuangekommenen. Diese beschäftigte sich in behaglicher Langsamkeit mit den vorgelegten Speisen, die sie in unangenehmer, geräuschvoller Art verzehrte. Dazwischen unterhielt sie die ganze Gesellschaft damit, daß sie sich im Heruntergehen ein Stück vom Besatz ihres Kleides abgerissen hätte und daß es seine großen Schwierigkeiten haben würde, diesen Besatz wieder passend zu ergänzen. Man hörte ihr mit mehr oder weniger gezwungener Höflichkeit zu, und schließlich begann man sich ein paar erstaunte und lächelnde Blicke zuzuwerfen, die Agnete nicht entgingen. Sie sah flüchtig nach Groden hinüber. Er lehnte den Kopf an die Stuhllehne zurück und sah müde und verdrossen aus – Agnete fühlte einen körperlichen Stich im Herzen. – Sie macht mich unmöglich, dachte sie mit einem dumpfen, widerlichen Schmerz in sich hinein. Nach dem Abendbrot ging Agnete nach ihrem Zimmer, um der Schwester auf deren Bitte ein warmes Tuch zu holen. Als sie zurückkam, sah sie zu ihrem heimlichen Schrecken und Erstaunen Groden und Bertha vor der Plattform miteinander auf und ab gehen. Bertha sprach anscheinend lebhaft und eifrig in ihn hinein, und er hörte ihr mit einer Art von achtungsvoller Aufmerksamkeit zu. – Ob er das um meinetwillen thut? frug sich Agnete mit einem gequälten, peinigenden Hoffnungsgefühl, das nur noch halb lebte und zum letztenmal mit den Flügeln schlug. Sie stand unschlüssig mit dem Tuch in der Hand – sie mochte die beiden nicht ansprechen, um sich nicht den Anschein zu geben, als wollte sie mit ihnen weiter gehen; schließlich nahm sie ihren altgewohnten Platz auf dem Geländer der Balustrade wieder ein und sah in die dunklen, schlafenden Berge, die in großen, schwarzen Linien am Nachthimmel standen, und zu deren Füßen einzelne Lichter in den kleinen Häusern funkelten. Wie anders war alles – alles! Diese Abendstunde war sonst immer das Schönste von dem ganzen wundervollen Tage gewesen! – Da war sie immer mit Groden bis in die späte Nacht den mondweißen Weg auf und ab gegangen, von niemand begleitet als von ihren kohlschwarzen, stummen Schatten, die an den weiß schimmernden Birkenstämmen hinaufzuklettern schienen und dann wieder plötzlich, wie in spielender Unterwürfigkeit, vor den Wanderern auf dem Wege lagen. Und dann hatten die beiden kein Ende mit Sprechen und Erzählen gefunden, oder sie waren in verstehender, beredter Stille nebeneinander gegangen – einer Stille, schöner und verschwiegener als die Sommernacht selbst. Und heute? Heute saß sie allein – allein – allein – mit bangem, klopfendem Herzen, das ihr mit seinen Schlägen die Sekunden anzeigte und sie verlorene Zeit nannte. Die Excellenz trat einen Augenblick zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Nun, Ihre Schwester ist hier?“ sagte sie freundlich, „da sind Sie nicht mehr so allein, liebes Kind – das ist ja schön!“ „Ja, das ist sehr schön!“ sagte Agnete. Inzwischen waren die beiden – Groden und Bertha – immer noch auf und ab gegangen, und Groden, während er anscheinend mit liebenswürdiger Aufmerksamkeit dem eintönigen [760] Gerede des alten Fräuleins zuhörte oder doch zuzuhören versuchte – dem Gerede, das nichts in so vielen Worten aussprach – während er das scharfe, ungute Gesicht neben sich betrachtete, sagte sich mit einem gewissen, heimlichen Erschrecken, daß er Agneten begriff! Die neu Angekommene warf ihm von Zeit zu Zeit einen fragenden, schlauen, wohlgefälligen Seitenblick zu. Er hatte ihr in den letzten Minuten gar nicht mehr zugehört, sondern seine Augen nach Agnete wandern lassen, auf deren schwermütigem Gesicht das Mondlicht in wechselnden Lichtern und Schatten sein anmutiges Spiel trieb. Es machte ihn ungeduldig, daß sie seinen Blick gar nicht fühlte und gar nicht erwiderte. „Und wenn Agnete heiratet,“ sagte Bertha jetzt mit etwas erhobener Stimme und sichtlich gewolltem Nachdruck – Groden fuhr wie angerufen zusammen und sah zu der kleinen, vertrockneten Gestalt an seiner Seite nieder – „wenn Agnete einmal heiratet, so ziehe ich natürlich mit ihr! Sie wissen vielleicht nicht, Herr von Groden, daß wir beiden Stiefschwestern durch besondere Verhältnisse zusammengehören und zusammenbleiben müssen. Ich ziehe mit ihr – es müßte denn der Fall eintreten, daß der etwaige zukünftige Schwager so viel Geld und so viel Großmut besäße, um ein ganz armes Mädchen zu heiraten! Solche Leute giebt es ja hin und wieder noch, wie ich mir habe sagen lassen.“ Sie nickte ihrem sprachlos gewordenen Begleiter kaltblütig zu und ließ ihn stehen. „Dem habe ich den Standpunkt klar gemacht!“ sagte sie befriedigt vor sich hin und schritt der Plattform zu, „ich habe nicht umsonst bei Tisch meine Augen offen gehabt.“ Als sie an Agnetens Platz vorbei kam, hielt diese sie durch eine Handbewegung zurück. „Was hattest du denn so lange mit Herrn von Groden zu sprechen?“ frug sie gepreßt. Bertha lachte trocken. „Du bist wohl eifersüchtig?“ sagte sie, „nein, ich will dir deinen Verehrer nicht wegkapern –“ „Von was habt ihr gesprochen?“ wiederholte Agnete dringend und heftig. Bertha sah sie mit einer gewissen Belustigung an. „O, von allerlei,“ sagte sie, „du kamst auch ein paarmal in unserer Unterhaltung vor – laß es dir doch von ihm selber erzählen, wenn du es so gern wissen willst! Vielleicht sagt er es dir!“ „Vielleicht!“ erwiderte Agnete anscheinend sehr ruhig und wandte den Kopf wieder nach den Bergen hin. Bertha ging ins Haus. Groden war, nachdem Bertha ihn verlassen hatte, raschen Schrittes weiter in den Wald gegangen. Er hatte das blasse Gesicht Agnetens immer wieder mit einem Gefühl von Schmerz und Sorge, von leisem, nagendem Vorwurf und aufflammendem Entzücken angesehen – sich immer wieder gesagt, es lohne sich doch, sie aus ihrer traurigen Sklaverei zu befreien! Er war selbst so weit gegangen, sich zu fragen, ob er sich nicht am Ende überwinden würde und die Schwester mit in Kauf nehmen – er hatte sich zu diesem Zweck in die längere Unterhaltung mit dem alten Fräulein eingelassen. Aber eben diese Unterhaltung hatte entschieden. „Ich kann es nicht – das nicht!“ sagte er in der Waldstille laut vor sich hin, „einen augenblicklichen Heroismus könnte ich mir abringen, ein Riesenopfer zustande bringen – aber hier handelt es sich um ein lebenslanges, fortgesetztes, unausgesetztes Opfern – hier handelt es sich um jede Stunde, um jede Minute, wo mir diese fatale Dritte das Leben zerstören würde – ich kann nicht! Ich müßte mir Ferien suchen, um mit meiner Frau allein zu sein – ich müßte mich vor jedem Heimkommen fürchten, wo ich die alten Verhältnisse wieder vorfände, ich würde diese unangenehme Art, zu sprechen, zu essen, zu sein, täglich und immer wieder täglich an meinem Tische haben müssen! Und ich würde zum schlechten Menschen, zum Schurken werden unter dieser Notwendigkeit! – Und ohne Vermögen – ohne Geld? Da teilen und halbieren, wo ich bis jetzt allein genossen habe, jeden Groschen umwenden und noch einmal umwenden, denken müssen: Reicht es auch ? Schlechte Cigarren rauchen und bei einem Schneider zweiten Ranges arbeiten lassen? Das klingt nach armseligen Details – aber das Leben besteht daraus – die Details muß man sich in jeder Lebensfrage klar machen, die großen Umrisse thun es nicht! – Es soll nicht sein!“ beschloß er seinen Gedankenkampf, „und es ist das Beste, ich mache rasch ein Ende! Denn wenn ich das süße Gesicht noch oft vor mir sehe, begehe ich doch noch eine Dummheit, und diese wäre die größeste, die ich jemals gemacht hätte! Aber heute abend will ich mich noch einmal belohnen – einen Abend noch, das kann ja niemand etwas schaden – und wir haben dann beide noch eine schöne Erinnerung!“ Und Groden hielt sich Wort! Nie war er liebenswürdiger, heiterer, sprühender von Witz gewesen, nie hatte er einschmeichelndere Töne in seiner Stimme gehabt, nie hatten seine Augen feuriger geblitzt als in diesem über sich selbst hinaus gesteigerten Gefühl: „nur dies eine Mal noch!“ Und nie hatten alle diese gefährlichen Huldigungen, dies süße Gift ausschließlicher oder so ausschließlich Agneten gegolten wie an diesem Abend. Er hob sie gleichsam auf einen Thronsessel und lag ihr mit der ganzen Anmut seines Wesens zu Füßen – sie trug ihre Königspracht mit einem glückseligen Stolze, mit dem wundervollen und dabei leise ängstigenden Gefühle, das wir in einem unbeschreiblich schönen Traume haben, in dem es uns neben allem Entzücken anfängt zu dämmern, daß es vielleicht doch – doch nur ein Traum ist! Aber eben, wie wir thörichten Menschenkinder es mehr oder weniger alle thun, wehrte sie sich mit ganzer Kraft gegen das Erwachen und träumte weiter. Die alte Excellenz sah mit ihren blauen klugen Augen dem Treiben aus einer Diwanecke zu, in die sie, anscheinend ganz in ein Buch vertieft, sich zurückgelehnt hatte. Nur einmal, als Groden eben zufällig in ihre Nähe kam, legte sie die Hand einen Augenblick flüchtig auf seinen Arm. „Mein lieber Herr von Groden, schenken Sie mir ein paar Sekunden – ja?“ „Eine Ewigkeit, meine gnädigste Excellenz,“ sagte er mit seinem gewinnendsten Lächeln. Sie sah ihn beinahe traurig an. „Darf ich Sie etwas fragen?“ Er blickte mit dem Ausdruck schelmischer Gutherzigkeit auf sie nieder, der seinem Gesicht bisweilen etwas überraschend Kindliches gab. „Wenn es nicht in jedem Fall beantwortet sein muß!“ sagte er lachend. Die alte Dame lächelte auch, aber nur einen Augenblick; dann sah sie ihn ernsthaft an. „Wissen Sie ganz genau, was Sie thun?“ frug sie. Er zuckte die Achseln. „Möglichst nicht!“ erwiderte er leichtfertig. „Es giebt ein ernsthaftes Kapitel im Lebensbuch,“ sagte sie mit Nachdruck, „das Kapitel von der Verantwortung – ich empfehle Ihnen den nächsten Regentag, um das einmal nachzulesen!“ Er biß sich einen Augenblick auf die Lippen. „Nun, heute haben wir ja das klarste Wetter und den schönsten Sternenhimmel,“ sagte er dann, „da kann ich mir ja wohl noch Zeit zu der Lektüre lassen.“ Und mit einer seiner Kavaliersverbeugungen ging er davon. Die alte Dame sah ihm nach und schüttelte unmerklich den Kopf, als sein Lachen so bald wieder zu ihr herübertönte. Aber ihre Worte waren doch nicht ganz ohne Eindruck geblieben. Er wurde stiller, und der Kreis, den er durch seine feurige Heiterkeit belebt hatte, wurde es mit ihm – man brach auf, um sich zur Ruhe zu begeben. Als Groden sich schon von Agnete verabschiedet hatte – nicht anders wie an jedem vorhergegangenen Abend – und sie an der Thür stand, kam er noch einmal rasch hinter ihr her. „Sie haben dies Buch hier vergessen“, sagte er in unbefangenem Ton und hielt es ihr hin. Sie sah ihn überrascht an, die Klinke schon in der Hand. „Das ist nicht mein Buch!“ Er lachte etwas verlegen. „Ganz recht!“ sagte er, nur ihr verständlich, „Sie sollten bloß noch einmal stehen bleiben und mich ansehen – so!“ „Damit Sie mich bis morgen früh nicht vergessen haben?* frug sie scherzend, aber mit leise zitternder Stimme. Er sah sie einen Augenblick fest – durchdringend – leidenschaftlich an. „Ganz recht!“ sagte er dann noch einmal – sie wandte verwirrt den Kopf und ging zur Thür hinaus. „Lebewohl!“ sagte er vor sich hin – es ging einen Augenblick eine tiefe Bewegung über sein schönes Gesicht, aber nur einen Augenblick. „Strich drunter!“ sagte er mit zusammengebissenen Zähnen und ging auf sein Zimmer. [761] [762] Das Wetter war umgeschlagen. Ein heulender, zorniger Sturm umtobte die ganze Nacht das einsam gelegene Haus auf der Höhe, große, wilde Regentropfen schlugen klatschend an die Fenster, die Luft war plötzlich kalt und schneidend geworden und der Kastanienbaum vor dem Hause, an dessen Pracht sich noch gestern alles erfreut hatte, streckte heute seine Aeste schwarz und kahl gegen den grauen Herbsthimmel empor. Sein Goldkleid lag in feuchten Massen zu seinen Füßen, die gewaltige Zauberin Vergänglichkeit hatte es mit erbarmungsloser Hand heruntergerissen. – Die Gesellschaft der Pension fand sich fröstelnd und über das Wetter klagend am Frühstückstisch ein; im Ofen knisterte ein mächtiges Holzfeuer, es wollte mit einem Male Winter werden! Als alles versammelt war – Agnete und ihre Schwester erschienen ziemlich zuletzt –, kam der Oberkellner; er trug einen schönen Herbststrauß, den er vor Agnete hinstellte. „Herr von Groden läßt sich den Herrschaften allerseits empfehlen – er hat infolge eines Briefes von Hause plötzlich abreisen müssen!“ Ein plötzliches Verstummen der Tafelrunde folgte dieser überraschenden Mitteilung. – Dann richteten sich aller Augen mit mehr oder weniger Schonung auf Agnete. Sie saß ganz ruhig in ihren Stuhl zurückgelehnt – ein hochmütiges, steifes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Sie hielt die Hände ineinandergefaltet und preßte sie fest – fest zusammen, in der Empfindung, irgend etwas fühlen zu müssen, was greifbar war, wo alles um sie her schwamm und wirbelte. Eine bestimmte Empfindung hatte sie gar nicht, nur eine ganz sonderbare, unsinnige Todesangst vor dem nächsten Wort, das gesprochen werden würde – sie dachte innerlich: wenn doch nur jetzt niemand spräche – nie mehr! – Wenn nur jetzt alle, wie verzaubert, so stumm und regungslos sitzen blieben bis in alle Ewigkeit – das wäre mir das Liebste! Die Erste, die das allgemeine, beklemmende Schweigen unterbrach, war Bertha. „Einen Brief hat Herr von Groden bekommen?“ frug sie mit ihrer scharfen Stimme, „von wem denn? Die Morgenpost ist ja noch gar nicht hier!“ Der Oberkellner zuckte die Achseln, sein nichtssagendes Gesicht blieb glatt und unverändert, erst draußen vor der Thür kniff er das eine Auge ein und sah sehr schlau und vielwissend aus, während er mit der Miene des Bedauerns den Kopf hin und her wiegte – aber das sah niemand. Die Unterhaltung am Frühstückstische war auffallend lahm. Man haschte allerseits nach gleichgültigen Gesprächsgegenständen – Groden hatte die ganze Zeit über so sehr den Mittelpunkt des Interesses und der Anregung gebildet, daß man die Lücke seines Weggehens um so deutlicher empfand, weil man nicht von ihm sprechen sollte und wollte. Agnete hielt aus – auch als ihr Scheinfrühstück längst beendet war; sie wollte heute nicht als erste hinausgehen, wie sie es sonst immer that – nein, als letzte, als allerletzte, damit sie nicht sofort zu denken hatte, daß die wohlwollenden Leute da drinnen jetzt die Köpfe zusammensteckten: „Das arme Ding! Der Vorwand war ein bißchen durchsichtig – nun hat er doch nicht Ernst gemacht“ und was man sonst noch an platter Weisheit in solchen Fällen zu sagen hat. Bertha stand auch auf. „Ich habe meine große Sicherheitsnadel verloren,“ sagte sie verdrießlich, „hat jemand von den Herrschaften sie gefunden? Nein? Dann siehst du, Agnete, dann hast du sie doch gehabt, ich sagte es dir ja gleich! Besinne dich doch, wo kannst du sie denn gehabt haben? Ich steckte mir gestern abend noch das Tuch damit fest – besinne dich einmal!“ Agnete stand auf. „Ich werde sie suchen,“ sagte sie mit ihrer ganz alltäglichen, natürlichen Stimme, grüßte die Anwesenden mit freundlicher Kopfneigung und ging hinaus. Bertha folgte ihr. Die Zurückbleibenden hörten noch ihre eintönige Stimme, mit der sie die Schwester bei jedem Schritte aufforderte, sich zu besinnen, wo sie die verlorene Nadel hingethan haben könnte. Die Damen am Frühstückstisch sahen sich vielsagend an. „Das alte Fräulein ist eine rechte Geduldsprobe,“ sagte die Konsistorialrätin, „konnte sie denn nicht merken, daß die Schwester jetzt etwas anderes im Kopfe haben mußte als ihre Sicherheitsnadel?“ Die Excellenz zuckte die Achseln. „Die und merken!“ sagte sie; „solche Naturen merken nichts, sie sitzen in einer Schildkrötenschale von Egoismus – sie sind wie Karussellpferde, die sich ihr ganzes Leben um einen Punkt bewegen – die verlernen es auch, nach rechts oder nach links zu sehen!“ „Das arme, reizende Mädchen – diese Agnete!“ bemerkte eine der anderen Damen mitleidig, „sie trug es ja bewunderungswürdig, aber sie sah doch schrecklich aus!“ „Schrecklich!“ pflichtete die Majorin bei, „das Gesicht wurde förmlich grau und schlaff in dem Augenblick!“ „Ich habe sie nicht angesehen,“ sagte die Excellenz und erhob sich, „ich mag keinen Menschen sterben sehen, dem ich nicht helfen kann – und der kann man nicht helfen! Sie würde empört sein, wenn man es ihr auch nur andeutete, daß man wagt, Mitleid mit ihr zu haben. Die stirbt auf ihrer Fahne – da ist Rasse drin!“ Die alte Dame ging hinaus und bestellte ihre Hotelrechnung – sie konnte ja jetzt ruhig abreisen: der „kleine Roman“, dessen Entwicklung sie mit so viel Amüsement beobachtet hatte, war augenscheinlich zu Ende – und die Tage wurden ja auch schon sehr kurz. Agnete hatte inzwischen einen Augenblick gefunden, wo sie, von der Schwester unbemerkt, das Haus verlassen konnte. Sie mußte eine halbe Stunde allein sein – nur eine armselige halbe Stunde – der arme Galeerensklave! Dies Fragen und Quälen nach der verlorenen Nadel hatte sie fast um den Verstand gebracht; das beständige eintönige Wiederholen der Aufforderung „Besinne dich doch!“ war ihr plötzlich so körperlich unerträglich geworden, sie hatte die Empfindung, daß sie, wenn sie diese Worte noch ein einziges Mal mit anhören müßte, laut aufschreien würde, als wenn sie von Sinnen wäre! Da war sie fortgestürzt – mit unbedecktem Kopf, ohne sich die Zeit zu lassen, auch nur den Hut vom Nagel zu nehmen – ziellos – wahllos – nur fort – fort! – fort! – Sie fand sich im Walde wieder, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war, und sah sich mit verstörten, fragenden, verwunderten Augen um: war das noch derselbe Wald, in dem sie gestern im glühenden Sonnenschein unter dem gold und roten Baldachin der Baumkronen hingewandelt war? Alles sah zerstört und verwüstet aus, der Regen rieselte fein und kalt und unablässig hernieder, er legte sich wie eisige Fingerspitzen auf Agnetens unbedeckten Kopf. Die Blätter, ihres trügerischen Scheindaseins überdrüssig, fielen, wie sterbende Schmetterlinge, müde und flatternd auf den nassen, braunen Boden, der Fuß versank bei jedem Schritt in dem aufgeweichten Wege – es war ein mühseliges Gehen. Agnete sah und empfand das alles, aber wie unbewußt, wie weit fort, wie wenn es jemand anders erlebte. Und dann erschien es ihr wieder so ganz natürlich, daß die Welt über Nacht eine so andere geworden war. Daß eine Herbstnacht genügt, um einen Wald und ein Schicksal zu vernichten – das brauchte keine äußere Erfahrung sie mehr zu lehren. Sie dachte auch nicht darüber nach, sie irrte nur in verzweifelter, heimatloser Sehnsucht umher, in Sehnsucht nach jemand oder etwas, das wußte, wie ihr zu Mute war, zu dem sie sprechen konnte. Und als sie plötzlich, sich selbst überraschend, vor ihrem Lieblingsbaume stand, da war es ihr wie der Königstochter im Märchen, die dem eisernen Ofen ihr Leid klagt – sie legte beide Arme um den schlanken, geraden Stamm und sah mit ihren verzweifelten Augen zu der Krone in die Höhe. Sie sah auch zerzaust und traurig aus: den einen grünen Zweig hatte der Sturm heute nacht geknickt, er hing kläglich herunter, und der Wind warf ihn achtlos, wie spielend, hin und her. Agnete nickte hinauf. „So bin ich auch!“ sagte sie, „wir hatten beide noch einen grünen Busch auf dem Hute – du und ich –, du Blätter – ich Hoffnung – nun ist es fort – nun haben wir beide die Flagge auf Halbmast – du und ich.“ Sie faßte den Stamm mit beiden Händen und rüttelte daran. „Er ist fort!“ sagte sie laut und verzweifelt, „er ist fort! Hörst du das? Ohne Abschied – ohne ein Wort! Er hätte mir doch Lebewohl sagen können, aber er fürchtete wohl, ich würde ihm eine Scene machen – und er liebt ja keine Scenen und keine Emotionen. Fort! das ist solch ein kurzes Wort, und [763] solch ein langes Elend! Und warum darf denn das sein? Warum darf denn ein Mensch den andern wie einen Spielball nehmen und sich damit die Zeit vertreiben – ein paar Stunden – ein paar Wochen, und ihn dann in die Ecke werfen zu altem Gerümpel, daß er dort verkommt und verstaubt? Und was haben diese paar Wochen – was hat er aus mir gemacht? Ein Mädchen, das den Kopf nicht mehr hoch halten kann und hoch halten mag – ein Mädchen, das sich aus einem Manne mehr gemacht hat als er aus ihr – das ist so schrecklich, so niedrig – das kann man nicht einmal aussprechen! Man schämt sich noch mehr, als man sich grämt! Es ist nicht einmal traurig allein – es ist so häßlich! Und die Leute können sich noch darüber amüsieren – ,ja, warum sind die Mädchen so leichtgläubig!‘ Doch er geht jetzt hin und denkt nicht mehr daran – oder wenigstens nicht viel – und dann, nach ein paar Wochen, sagt er: ,Das war ein nettes Mädchen da oben im Thüringer Wald – ich habe ihr hoffentlich nichts in den Kopf gesetzt – es ist ihr hoffentlich nicht tief gegangen!‘ – ja – hoffentlich!“ Sie ließ sich an dem Stamme niedergleiten und legte den Kopf auf die Arme – sie achtete nicht auf den kalten Boden und auf die Nässe, die sich wie ein Tuch um sie herlegte – ihr war so schwer, so müde, so zerschlagen, als wenn sie eine Krankheit durchgemacht hätte – so stumpf und dumpf. Wie lange sie so dagelegen hatte, wußte sie selbst nicht – ihrem Gefühl nach konnten es ebensogut Sekunden als Jahre gewesen sein. Da fühlte sie sich plötzlich unsanft an der Schulter gefaßt. „Hier liegst du, in der Nässe? Du willst dich wohl zu Tode erkälten? Alt genug wärst du doch, um vernünftig zu sein!“ Agnete erhob den Kopf und starrte der Schwester ins Gesicht, wie aufwachend, dann stand sie auf – sie sah so schmal und schlank aus, als wenn sie in den letzten Stunden gewachsen wäre. „Du hast vollkommen recht,“ sagte sie in einem rätselhaften, kalten Tone, „alt genug wäre ich, um vernünftig zu sein!“ „Nun komme jetzt nur mit,“ fuhr die Schwester fort, „wir wollen nach Hause gehen – bei dem Wetter gehört man an den Ofen! Ich kann doch nicht den ganzen Morgen mit den fremden hochnäsigen Leuten allein sitzen. – Ich habe übrigens meine Sicherheitsnadel noch nicht gefunden!“ setzte sie mißvergnügt hinzu; „wenn ich nicht erst gestern angekommen wäre, würde ich denken, du hast sie auf einem deiner Spaziergänge mit dem abgedampften Verehrer mitgehabt, da könnte ich freilich lange suchen!“ Agnete erwiderte nichts. „Na – sei nur nicht pikiert!“ sagte Bertha gleichmütig, „mit so etwas muß man sich necken lassen – das ist einmal nicht anders. Komisch übrigens, daß der so plötzlich abgereist ist – hat er dir gar keine Andeutung gemacht?“ „Bertha!“ sagte Agnete plötzlich mit harter Stimme, „du weißt, ich bitte nicht oft und nicht gern, aber ich bitte dich jetzt um etwas: sprich nicht mehr mit mir von – Groden!“ „Und warum nicht?“ frug die andere mit ihrem unangenehmsten Lächeln. „Es langweilt mich –!“ sagte Agnete rauh. „Nun, mich amüsiert es auch nicht,“ erwiderte Bertha gekniffen und schwieg eine Weile. Agnete legte im Weitergehen die Hände an die hämmernden Schläfen und preßte sie fest zusammen. „Na ja – du hast dich erkältet,“ sagte Bertha, „in dem nassen Grase – nun kann ich hier noch Krankenpflegerin spielen!“ Agnete biß sich fast die Lippen durch. „Großer Gott!“ murmelte sie vor sich hin, dann wandte sie sich an Bertha: „Wäre es dir nicht recht, wenn wir abreisten? – Die Abende sind schon so lang – thue es mir zuliebe – ich möchte es so sehr gern!“ Die andere sah sie groß an. „Abreisen? wo ich gestern erst angekommen bin? Nein, da muß ich denn doch danken! Seit wann sind denn die Abende so lang? Etwa seit ich hier bin? Jetzt hast du dich drei Wochen amüsiert, dir die Cour machen lassen – nun reist der Courmacher ab, und nun möchten wir gleich hinterdrein – nein, das verlange doch, bitte, nicht von mir!“ „Schön!“ sagte Agnete, „wir bleiben!“ Und sie blieben – sie saßen die kurzen Tage und die langen Abende in dem frostigen Konversationszimmer, sie sprachen von früh bis abends über das Wetter und warteten auf den Sonnenschein – er kam nicht! Statt seiner kam der traurige, grausame Spätherbst, er schüttelte die letzten Blätterreste von den Bäumen – häßlich, welk und unansehnlich lag die Goldpracht am Boden und moderte in den Winter hinein. Die Krähen flogen mit schweren, schwarzen Flügeln müde und heiser kreischend über den Wald, der Boden weichte auf, täglich verschlang der lange, trübe Abend ein Stückchen mehr von dem kurzen, trüben Tage. Die Pensionsbewohner rüsteten einer nach dem andern zur Abreise, der Tisch wurde verkleinert – endlich erklärte Bertha eines Morgens, sie wollten auch heimkehren und ihr Bündel schnüren. Agnete nahm es ohne weitere Aeußerung hin. Ob sie den Winter über hier verbrachte, oder ob sie in die Stadt zurückging – es blieb sich gleich, sie verließ nichts, und es erwartete sie nichts! „Alles prallt von mir ab – Freude – Kummer – Aerger – das Sonderbare dabei ist nur, daß man das leben nennen soll!“ dachte sie in sich hinein. Als sie dann im Wagen saßen und die Abschiedsgrüße der Wirtsleute und der wenigen Pensionsgäste entgegennahmen, die noch zurückblieben, stieg ein kalter, weißlicher Nebel aus dem Thale auf, der mit jeder Minute dichter zu werden schien. – Agnete hatte sich auf den Rücksitz des Wagens gesetzt, um beim Hinunterfahren die Pension noch so lange zu sehen, wie sie irgend konnte. Bertha arrangierte sich im Fond mit ihren zahlreichen Schachteln, Taschen und Paketen. Zwischendurch forderte sie Agnete wiederholt auf, etwas zu genießen. „Du wirst schwach werden,“ sagte sie wieder und wieder in ihrer zähen, beharrlichen Art. Agnete lächelte müde. „Sei unbesorgt – ich bin stark,“ erwiderte sie und versank wieder in ihre eigenen Gedanken – in jene eine, einzige Welt, wohin ihr niemand folgen konnte – ihr einziges Stückchen Eigentum auf der ganzen, reichen, weiten Erde! Ihre Augen waren fest auf das Haus gerichtet, in dem sie ihre letzte Blütezeit verlebt hatte. Dort in dem kleinen Hause mit dem trotzigen Dach, um das jetzt der Herbstnebel so wallte und wogte, dort hatte sie das Glück gefunden – und das Glück verloren! „Das Glück!“ dachte sie heimlich vor sich hin, „woran ist es für mich gescheitert? An Geld – an Wohlleben – an Testamentsbestimmungen – an dem, was man so gemeinhin ‚die Verhältnisse‘ nennt! – Daß das Glück – das Größeste, Heiligste, was der Mensch haben kann, überhaupt mit solchen Dingen zusammen genannt werden darf – daß es von solchen Aeußerlichkeiten vernichtet werden kann, wie eine seltene Pflanze oder ein schöner Mensch von Pferdehufen zermalmt und zertreten wird – das habe ich früher nie verstehen können! Ich hatte immer gedacht, das Glück müßte sich über alles Aeußerliche, was es hemmen will, mit klaren, goldigen Schwingen erheben – in die Luft flattern und alles im Staube liegen lassen, was an diese Flügel rühren will. Und nun liegt es da – zerbrochen und zerknickt – mein armes – armes Glück! – Und ich habe es doch gehabt!“ dachte sie mit einem gewissen Trotz weiter, „ich bin acht Tage lang ganz glücklich gewesen, ich habe an der halboffenen Thür des Märchenreiches gestanden und mit dem Finger daran getippt – und die acht Tage haben ihn vergoldet! Acht Tage habe ich gelebt – es giebt ja Menschen genug, die nicht einen einzigen Tag leben!“ „Agnete,“ sagte Bertha, „setze dich doch zu mir in den Fond, ich möchte die helle Tasche dorthin legen, wo du sitzest – hier wird sie gedrückt.“ „Ich wollte gern das Haus noch sehen, bis wir um die Ecke gebogen sind,“ erwiderte Agnete schüchtern. „Ach, das sind ja Gefühlsduseleien – du bist doch kein Backfisch mehr! Was siehst du an dem Hause? Ich habe eine Photographie davon mitgenommen, da kannst du es dir noch oft ansehen!“ Agnete schwieg. „Setze dich hierher,“ beharrte Bertha, „die Tasche muß dort drüben liegen, sie wird gedrückt, ich sehe es schon!“ „Laß – ich komme!“ sagte Agnete müde, stand auf und setzte sich neben die Schwester. Die Pension war verschwunden – vor ihnen lag das Thal – der Nebel stieg – stieg – stieg –, er hüllte den Weg, den Wald, den Wagen, das Leben ein – die Welt versank in seinem weichen, grauen Schleier, und das einzige, was Agnete hörte, war das leise Klirren der Ketten, die sie wieder festschmiedeten – Galeerensklave! [764] Nachdruck verboten. Die Telegraphie ohne Draht.Von Franz Bendt.
Mit Illustrationen von A. Wald.Den Göttern, aber auch den „zauberkundigen Männern“, welche die geheimnisvollen Naturgewalten beherrschen, hat von jeher der fromme und naive Sinn des Volkes die märchenhafte Eigenschaft beigelegt, ihren Willen durch den leeren Raum hindurch ohne jegliche Vermittelung in die Ferne senden und bethätigen zu können. Was die phantasiereichen Väter dereinst gesponnen, hat die Thatkraft und der reiche Geist der großen Naturforscher und Techniker gar oft in die Wirklichkeit verwandelt. So auch in diesem Falle. Durch die Telegraphie ohne Draht sind wir jetzt befähigt, unsere Wünsche nach allen Richtungen der Windrose, frei durch den Aether hindurch, übertragen zu können. Die Möglichkeit, zwischen zwei Stationen ohne verbindenden Draht zu telegraphieren, ist allerdings nicht mehr neu. Schon vor etwa vierzehn Jahren hat der Amerikaner Phelps und im Anfange dieses Jahrzehnts haben Preece in England und Rathenau in Berlin mit Hilfe von sogenannten Jnduktionsströmen über mehrere Kilometer hin ihre Botschaften senden können. Ja, es wurde sogar kürzlich ein Bericht aus dem Jahre 1843 veröffentlicht, der uns belehrt, daß Professor L. D. Gale durch den Susquehanna-Fluß hindurch, 1 1/2 km weit, telegraphisch gesprochen habe. Diese Versuche wurden zumeist angestellt, um die Leuchtschiffe, die fern draußen im Meere liegen, mit den Küstenstationen ohne Kabel in telegraphischen Verkehr zu bringen. Allein sie gelangen nur auf kurze Entfernungen. Erst in der neuesten Zeit war es dank den Forschungen unseres leider so früh gestorbenen Landsmanns Heinrich Hertz möglich, die Telegraphie ohne Draht auch für weitere Entfernungen nutzbar zu machen. Gegen Ende der achtziger Jahre hatte er eine neue elektrische Erscheinungsgruppe ermittelt und sie in theoretischer und praktischer Beziehung vollkommen durchforscht. Es war ihm gelungen, Wellen elektrischer Kraft zu erzeugen und ihre Ausbreitung frei im Raume nachzuweisen. Seine Versuche gipfelten in dem Schlusse, daß Elektricität und Licht Wellenbewegungen des gleichen Stoffes, des Aethers, seien. Die Lichtwellen, die von der Königin des Tages uns zufließen, unterscheiden sich nur der Größe nach von den elektrischen Wellen. Eine Lichtwelle entspricht etwa dem millionsten Teile eines Millimeters; eine elektrische Welle hat zumeist die Länge von vielen Metern. Die elektrischen Wellen, die mit Lichtgeschwindigkeit den weiten Raum durchmessen, tragen jetzt in der neuen Telegraphie ohne Draht, der Wellentelegraphie, unsere Botschaften in die Ferne! – Um willkürlich elektrische Wellen erregen zu können, erfand Hertz auf Grund tiefsinnigster Studien einen Apparat, den er den elektrischen Oscillator nannte. Man bezeichnet ihn jetzt häufig auch als den Transmitter oder Strahlapparat. In ihm wirken die von Faraday entdeckten Jnduktionsströme, die wir schon oben erwähnten. Versuchen wir nun, an der Hand unserer Abbildungen, eine Beschreibung der Wellentelegraphie zu geben, so müssen wir uns zunächst die Thatsachen in das Gedächtnis zurückrufen, durch welche Jnduktionsströme erzeugt werden. Der Apparat, der sie erzeugt, besteht der Hauptsache nach aus zwei in sich geschlossenen Drahtspulen, die, ohne sich zu berühren, ineinander geschoben sind. Fließt zu der einen Drahtspule, wir wollen sie die primäre nennen, ein elektrischer Strom, dann bilden sich in der zweiten, der sekundären Spule, ohne weiteres elektrische Stromstöße, die nach entgegengesetzten [765] Richtungen wandern. Das sind die Jnduktionsströme! Der Induktionsapparat, der die Jnduktionsströme erzeugt, steht, wie unsere Figur 1 zeigt, durch zwei Drähte mit dem Hertz’schen Oscillator in Verbindung. Der Oscillator baut sich auf zwei Glasstützen auf, die je einen Metalldraht tragen. Dort, wo die Metalldrähte sich gegenüberstehen, sind kleine blank geputzte Messingkugeln angebracht. Beginnt der Induktionsapparat sein Spiel, dann treten zwischen den Kugeln weiße, zackige Funken hervor, die mit hartem Knall vergehen. Sie stellen den Quell der elektrischen Wellen dar, die sich nach allen Richtungen des Raumes ausbreiten. Die Wellen der Luft, die den Klang der Musik übertragen, erkennen wir mittels unseres Ohres; die Lichtwellen nimmt unser Auge wahr. Zur Erkennung der elektrischen Wellen hat die Natur dem Menschen kein Organ verliehen; sie verlaufen unsichtbar und unhörbar im Raume. Es bedurfte des höchsten Scharfsinnes und der bewunderungswürdigsten Erfinderkunst, um ein solches Organ, also gleichsam ein elektrisches Auge, künstlich zu schaffen. Dem elektrischen Organ zur Wahrnehmung der Wellen, welches man in der Wellentelegraphie verwendet, liegt eine merkwürdige Thatsache zu Grunde. Der französische Physiker Branly fand nämlich, daß ein elektrischer Strom nicht fähig ist, ein Metallpulver zu durchdringen, das man in seinen Weg eingeschaltet hat; das Pulver wirkt wie ein Nichtleiter. Treffen aber elektrische Wellen auf das Metallpulver, dann schließen sich sofort die Teilchen aneinander, und der Strom vermag wiederum zu zirkulieren. Der Engländer Oliver Lodge nannte diese Vorrichtung „Kohärer“ (vergl. Fig. 2), weil die Teilchen sich in ihr kohärieren oder anziehen. Der Oscillator und der Kohärer sind die beiden Hauptapparate, die der Wellentelegraphie zu Grunde liegen. Der Oscillator erzeugt die Wellensignale; der Kohärer zeigt ihre Gegenwart an. Mit ihrer Hilfe kann man in der That Depeschen befördern und sie mit den bekannten Punkt- und Strichzeichen des Morsealphabets niederschreiben. Wir wollen an der Hand unserer Abbildungen die Anordnung der Wellentelegraphie hier wiedergeben. Beim Studium solcher Uebersichten befindet man sich etwa in der gleichen Lage wie der Hörer eines musikalischen Kunstwerkes, der erst nach genauer Einsicht in die Partitur ganz in die Schönheiten des Werkes einzudringen vermag. In den Abbildungen Fig. 1 und 2 erblicken wir die Stationen, an denen die Depeschen aufgegeben und empfangen werden. Drückt man in der Aufgabestation den Telegraphenschlüssel nieder, dann bilden sich zwischen den Kugeln des Oscillators, den wir oben beschrieben, die elektrischen Wellen, die sich nach allen Richtungen hin verzweigen. Gelangen sie auf ihrer Wanderung zur Empfangsstation, so rufen sie, vermöge ihrer eigenartigen Wirkung, die sie auf den Kohärer ausüben, in dem geschlossenen Drahte einen Strom hervor. Dieser erregt einen Elektromagneten und befähigt den Morseapparat, seine Schuldigkeit zu thun. Ein Nebenschluß belebt zugleich einen kleinen Hammer, der sofort wiederum die Metallteilchen des Kohärers durcheinander schüttelt und den Strom unterbricht. Es bedarf neuer Wellen, um von neuem das Spiel einzuleiten. Schon um die Mitte unseres Jahrzehnts wurde von mehreren Elektrotechnikern mit ähnlichen Vorrichtungen telegraphiert. Wir nennen nur Slaby in Berlin und Lodge. Es gelang ihnen aber ebenfalls nicht, die Signale über weitere Strecken als etwa fünfzig Meter zu senden. Daß man imstande ist, mit Hertz’schen Wellen über viele Kilometer einen wirklichen telegraphischen Verkehr einzurichten, das ist das ausschließliche Verdienst Marconis, über den die „Gartenlaube“ bereits im Jahrgang 1897, S. 580, kurz berichtete. Guglielmo Marconi wurde am 25. April 1874 zu Griffone bei Bologna geboren. Sein Vater ist ein Italiener, seine Mutter eine Engländerin. Schon sehr früh, in seinen Knabenjahren, beschäftigte er sich mit Vorliebe mit physikalischen Experimenten. Er vertiefte seine elektrischen und elektrotechnischen Kenntnisse vorzüglich durch die Vorträge des Professors Righi. Seit 1892 hat er sich dann mit der drahtlosen Telegraphie beschäftigt. Es war ein äußerst glücklicher Gedanke von Marconi, daß er sich, nachdem seine Versuche eine gewisse Reife erlangt hatten, an Mister Preece, den Chef der englischen Telegraphenverwaltung, wandte; denn seine Versuche mußten mit den größten Mitteln, wenn sie Erfolg haben sollten, durchgeführt werden. Auf die Einladung von Preece kam Marconi nach England; und dort hat sich die Wellentelegraphie zur heutigen Vollkommenheit entwickelt. Als Marconi den englischen Boden betrat, hatte er zunächst ein sonderbares Abenteuer zu bestehen. Seine Instrumente [766] erweckten den Verdacht der Polizei, und er ward als Anarchist verdächtigt und verhaftet und seine Apparate wurden mit Beschlag belegt. Schon im Garten seines Vaters, wo Marconi seine ersten Versuche anstellte, hatte er wahrgenommen, daß die Strecke, über welche man zu telegraphieren vermag, sich sehr erweitern läßt, wenn sowohl der Sender wie der Empfangsapparat mit der Erde, beziehentlich mit einem möglichst langen, vertikal aufgerichteten Drahte, verbunden sind. Dementsprechend muß am Oscillator die eine Kugel mit der Erde, die andere mit einem vertikalen Leiter verknüpft werden. Gleiches geschieht mit den beiden Enden des Kohärers. Je länger die Luftleiter sind, je weiter ist auch die Strecke, über die man telegraphieren kann. Ein 6 m langer Luftleiter z. B. genügt für eine Entfernung von 1,6 km. Bei sehr großen Strecken hat Marconi die Luftleitung an Masten befestigt. Slaby knüpfte sie an Luftballons an und erhielt auch auf diese Weise vorzügliche Ergebnisse. Das sind die wesentlichsten Einrichtungen, welche in der Wellentelegraphie Verwendung finden. Wir wollen nun die Marconischen großen Versuche selbst vorführen. Den ersten Anlaß zur praktischen Ausübung der Wellentelegraphie fand Marconi im Sommer vorigen Jahres gelegentlich der Erkrankung des Prinzen von Wales. Der englische Thronfolger befand sich auf der königlichen Jacht „Osborne“. Die Residenz der Königin war in Osborne-House auf der Insel Wight. Die Entfernung der Schiffs- und Landstation betrug 2,8 km und beide waren für einander durch dazwischen liegende Hügel verdeckt. Sechzehn Tage hindurch dauerte der telegraphische Verkehr, während welcher Zeit hundertundfünfzig Depeschen, mit einer mittleren Geschwindigkeit von 15 Wörtern in der Minute, gewechselt wurden. – Die Hochburg der modernen Wellentelegraphie liegt auf South-Foreland, dem wogenumbrandeten Kap an der Südostküste Englands (vergl. Fig. 4). Es trägt zwei berühmte Leuchttürme von 15 und 21 m Höhe, die ihr schützendes Licht weit über den Kanal werfen. Von South-Foreland aus hat Marconi zuerst das bis dahin vergebens umworbene Problem gelöst, zu einem sehr weit draußen im Meere liegenden Leuchtschiffe zu sprechen. Das Leuchtschiff „East-Goodwin“ befand sich 191/2 km weit von der Küste entfernt. Trotz heftigen Unwetters und gewaltiger Stürme, die einmal sogar die Takelage des Schiffes über Bord warfen, wurde die telegraphische Verbindung niemals gestört. Dabei gestaltete sich der Verkehr so einfach, daß bereits nach zwei Tagen die Seeleute die Uebermittelung der Depeschen selbst ausführen konnten. Durch solche Erfahrungen angeregt, hat die britische Regierung der westindischen Inseln beschlossen, die Wellentelegraphie zwischen den Inselgruppen in den täglichen Dienst zu stellen. Die erste größere Strecke, über die Marconi mit Hertz’schen Wellen telegraphierte, beträgt fast 52 km. Es ward hierbei South-Foreland mit Boulogne an der französischen Küste verbunden. Unsere Bilder Fig. 4 und 5 zeigen die Strandpartie vor den Stationen mit den Riesenmasten von fast 50 m Höhe, welche die vertikalen Luftdrähte tragen. Die Abbildung in Fig. 1 gestattet einen Einblick in das Innere der Station zu Boulogne. Sie hält den Augenblick fest, wo ein Gehilfe Marconis am Oscillator arbeitet, um eine Wellendepesche aufzugeben. Der deutsche Ingenieur Schäfer hatte Marconis Leistung im Sommer dieses Jahres noch übertroffen. Er sandte seine Wellensignale sogar über eine Strecke von 62 km. Statt des Kohärers bediente er sich einer anderen Einrichtung, der sogenannten „Schäferschen Platte“. Sonst gleichen seine Anordnungen den oben geschilderten. Aber wiederum gelang es Marconi, seinen Rivalen, während der letzten Manöver der englischen Marine an der Südwestspitze von Wales, zu schlagen. Die Kriegsschiffe waren imstande, sich über 80 bis 100 km mit seinen Einrichtungen leicht zu verständigen. Nach neuesten Berichten konnte Marconi seine Stationen sogar auf 125 km mit gutem Erfolge auseinander rücken. Auch die Militärbehörden haben sich eingehend mit der Wellentelegraphie beschäftigt und versucht, mit Hilfe von Fesselballons sich die Signale zuzusenden. In künftigen Kriegen dürfte denn auch unzweifelhaft der Wellentelegraphie eine bedeutende Rolle zufallen. Nach so viel Licht mögen nun auch die Schattenseiten der Wellentelegraphie hervorgehoben werden. Die elektrischen Wellen wandern nach allen Richtungen der Windrose und jedermann kann sie auffangen und ihre Geheimnisse enthüllen. Den einzigen einwurfsfreien Schutz bieten dagegen nur verabredete Ziffernsysteme, wie sie ja auch sonst häufig in der Telegraphie für diplomatische Nachrichten im Gebrauch sind. Vielleicht könnten auch, wie Slaby meint, im Kriege feindliche Oscillatoren dauernde Störungen der Zeichen hervorrufen und die Verständigung unmöglich machen. Das gäbe dann einen interessanten Kampf in den Wellen des Aethers! Jedenfalls können unsere Ingenieure stolz sein, daß es ihnen gelungen ist, die Technik sogar vom Körperlichen zu befreien und zu ermöglichen, daß die Kräfte sich frei im Aether bethätigen. Wer dürfte einem phantastischen Kopfe z. B. jetzt Einhalt gebieten, der in den elektrischen Wellen die Mittel zu sehen glaubt, welche die enge Erdsphäre sprengen und dem Könige der Schöpfung die Welt der Sterne öffnen?
Haus- und Wanderratte.Von Prof. Dr. Kurt Lampert.
Nächstverwandte Arten kommen fast immer am wenigsten friedlich miteinander aus. Die meist gleichen Lebensbedingungen bringen es mit sich, daß sie im Ringen um die Existenz am härtesten aufeinander stoßen. Der schwächere Teil unterliegt; es ist nicht einmal nötig, daß derselbe von seinem stärkeren Vetter in direktem Kampf durch die brutale Gewalt besiegt und vernichtet wird; auch der indirekte Weg kann zum gleichen Ziele führen. Der Stärkere nimmt dem Schwächeren die Existenzbedingungen vorweg, in stillem Kampf drängt er ihn immer weiter zurück, bis dieser die Segel streicht und das Feld räumt. Wir begegnen diesem harten Gesetz bei Pflanzen und Tieren. Wo die verschiedensten Arten in der Ausdehnung ihrer geographischen Verbreitung eine neue Heimat sich gründen, da verdrängen sie, sofern sie überhaupt die nötigen Bedingungen zur Ansiedelung vorfinden, nächst verwandte heimische Formen. Australien bietet uns aus Pflanzen- und Tierwelt hiefür mancherlei Beispiele, und nichts anderes ist es, wenn wir sehen, wie die verschiedensten Menschenrassen, die Indianer Amerikas, die Ureinwohner Australiens, alle die „Wilden“ in den verschiedensten Teilen der Erde bei der Berührung mit der weißen Rasse allmählich dahinschwinden; es ist nicht Platz für beide an der Sonne. Eines der bekanntesten Beispiele ist das Verhältnis der beiden in Europa vorkommenden Ratten, der Hausratte und der Wanderratte. Bis zum vorigen Jahrhundert ist aus Europa nur eine Ratte bekannt gewesen, welche die Zoologie Mus rattus nennt. Sie ist von rußschwarzer Färbung, und zwar tragen Rücken und Bauchseite die gleiche Farbe. Ob sie von je in Europa vorgekommen ist, oder ob sie, wie vielfach angenommen wird, auch zu den Einwanderern gehört, ist noch nicht entschieden; in der alten Litteratur wird sie nicht erwähnt, zum erstenmal für Deutschland von Albertus Magnus im 12. Jahrhundert. Hausratte und Dachratte sind die deutschen Bezeichnungen dieses Nagers, beide Namen geben zugleich einen Hinweis auf seine Lebensart. Wie die Hausmaus, so bewohnt die Hausratte menschliche Ansiedelungen und folgt dem Menschen überall hin; mit Vorliebe aber bezieht sie die höheren Stockwerke; Bodenräume, Dachsparren sind der Lieblingsaufenthalt der ungemein gewandt kletternden Tiere. In Schraubengängen eilen sie bei Überraschung rasch die Pfosten und Balken hinauf. Steht etwa am Hause ein Weinstock, so dient ihnen dieser dazu, bequem und rasch von ihren Raubzügen wieder in die oberen Gemächer zu gelangen. In den Dachsparren nisten sie auch, nur wenn kältere Witterung eintritt, ziehen sie sich mehr ins Innere der Gebäude zurück. Bis in das vorige Jahrhundert hinein erfreute sich die erwähnte Hausratte eines behaglichen Daseins. Da kam ein Stärkerer über sie. Plötzlich erschien eine neue Rattenart in Europa und in Deutschland. Der russische Naturforscher Pallas berichtet, daß im Jahre 1727 nach einem Erdbeben Ratten in ungeheurer Schar über die Wolga schwammen und, von den kaspischen Ländern her eindringend, zunächst Astrachan besetzten. Von hier aus führten sie ihren Eroberungszug in Europa aus. Der Mensch war ihnen hierbei wider seinen Willen behilflich. Die Ratten folgten den Verkehrsstraßen; besonders die vielfachen Kriegszüge um die Wende des Jahrhunderts waren ihrer Verbreitung förderlich, hauptsächlich aber ist die Besiedelung ferner Länder durch sie dem [767] Schiffsverkehr zuzuschreiben. So gelangte die neu eingewanderte Ratte jedenfalls nach England, wo sie bereits 1730 erschien, und auf gleichem Wege ist sie heute, dem Europäer folgend, nach den entferntesten Punkten der Erde gekommen, wo immer die vielfach verzweigten Fäden des Schiffsverkehrs hinführen. Von der Hausratte unterscheidet sich die so plötzlich in Europa erschienene Rattenart äußerlich leicht durch die Färbung. Während die Hausratte, wie erwähnt, oben und unten ein schwarzes Fell trägt, ist die andere Art zweifarbig, oben bräunlichgrau, etwa erdfarbig, unten weißlich. Ohne daß wir des näheren auf anatomische Unterschiede eingehen wollen, sei noch erwähnt, daß die Körpergröße beträchtlicher als bei der Hausratte ist, der Schwanz dagegen kürzer und die Ohren kleiner. Die Art ihres Auftretens in Europa verschaffte dieser Ratte den Namen Wanderratte, welcher auch in der wissenschaftlichen Bezeichnung Mus decumanus zum Ausdruck kommt. In England erhielt sie die Bezeichnung hannöversche Ratte, rat hannoverian, ein Name, der nicht ohne politischen Beigeschmack ist. Die Wanderratte unterscheidet sich jedoch nicht nur in der Gestalt, sondern auch in ihrer Lebensweise beträchtlich von der Hausratte; im Gegensatz zu dieser bevorzugt sie für ihren Aufenthalt in menschlichen Wohnungen Keller und Erdgeschoß, hält sich auch mit Vorliebe in Gräben, Kanälen und Flußufern auf, und so vorzüglich die Hausratte klettert, so gut versteht die Wanderratte zu schwimmen, was ihr an manchen Orten, freilich fälschlicherweise, auch den Namen Wasserratte verschafft hat. Leider ist aber auch der Charakter der Wanderratte wesentlich unangenehmer als der der Hausratte. Mit ihrer größeren Stärke und Kraft steht es im Zusammenhang, daß sie weit gewaltthätiger ist als ihre zahmere Verwandte, ja sogar von entschiedener Mordlust beseelt ist. Die zahlreichen Fälle, in welchen selbst Menschen von Ratten angenagt wurden, ihr tollkühner Wagemut in der Gefahr legen lebhaftes Zeugnis hierfür ab. Mit dem Erscheinen der Wanderratte waren für die Hausratte die schönen Tage vergangen. Ein erbitterter Kampf entspann sich zwischen den beiden nah’ verwandten Arten, ein Kampf, der ein förmlicher Vernichtungskrieg der Wanderratte gegen die Hausratte wurde, denn wo die beiden Arten zusammentrafen, da griff die stärkere Wanderratte den schwächeren Vetter an und tötete oder vertrieb ihn. Im ganzen darf die Hausratte heute als vertrieben angesehen werden, und wenn dieselbe doch noch in Deutschland angetroffen wird, so ist dies nur an sehr entlegenen Orten, auf einsamen Höfen und an sonstigen weltabgeschiedenen Punkten. In den Städten haben sie sich nur noch, wie Angaben aus Hamburg, Rostock u. a. Orten aus dem letzten Jahrzehnt beweisen, in den ältesten Häusern zu halten gewußt. – Je seltener solche Vorkommnisse heute noch sind, um so interessanter ist es, dieselben wissenschaftlich festzulegen und so das Verschwinden einer einst allgemein verbreiteten Tierart bis in deren letzte Ausläufer zu verfolgen. Ein jeder kann hierzu mithelfen, wenn er in seiner Heimat hierauf das Augenmerk richtet oder wenn er, vielleicht an einsamem Ort in einem deutschen Mittelgebirge die Sommerwochen verbringend, an solchen Punkten hierüber Nachforschungen anstellt. Daß dies leicht von Erfolg gekrönt sein kann, beweist ein Vorkommnis aus Württemberg in jüngster Zeit. Hier galt die Hausratte als längst verdrängt; da erhielt vor einigen Monaten Prof. Dr. Gustav Jäger in Stuttgart ein Exemplar aus seinem einsam gelegenen Landhaus; nähere Nachforschungen ergaben, daß in einem einige hundert Schritte entfernten kleinen Weiler sich noch eine Kolonie Hausratten vorfand. Wie Ureinwohner eines Landes, von späteren Einwanderern zurückgedrängt, in den entlegensten und unzugänglichsten Teilen des Landes zwischen Felsen oder in undurchdringlichen Wäldern noch ein verborgenes Dasein fristen, die letzten Reste eines vielleicht einst mächtigen Stammes, während der Sieger die frühere Heimat in Besitz genommen hat, so mag es noch manchen einsamen Ort geben, an welchem die Hausratte als letztes versprengtes Glied einer einst weit verbreiteten Art sich vor den Verfolgungen ihres mächtigen Gegners, der Wanderratte, zu retten gewußt hat. Villa Falconieri bei Frascati.(Zu unserer Kunstbeilage.)
Als junger Mensch durchstrich ich die römische Campagna zu Fuß und zu Pferd nach allen Richtungen. So oft ich bei diesen Ausflügen die wonnigen Höhen Frascatis vor mir hatte, glänzte mir hoch über jener freudigen Weinstadt und gerade unterhalb des tusculanischen Berggipfels ein großes palastähnliches Gebäude entgegen. Aus der Ferne gesehen, schien es auf einem Felsenplateau zu liegen, welches gleich einem schönen Eiland mit nackten, steilen Wänden der schimmernden Laubflut der in jener Gegend alle Höhen bedeckenden, alle Tiefen füllenden Oelwälder entstieg. Bei besonders klarer Luft und günstiger Beleuchtung vermochte ich sogar von den Thoren Roms aus eine feierliche Säulenhalle zu erkennen, eine prächtige Terrasse, die Wipfel mächtiger Steineichen, überragt von den Kronen breitwipfliger Pinien, den dunklen Spitzen alter Cypressen. Es mußte eine von Frascatis Villen sein. Da ich ihren Namen nicht kannte und da der hohe Bau etwas so Feiertägliches und zugleich Strahlendes hatte, so taufte ich ihn das „leuchtende Haus“. Oft stieg ich nur deshalb auf den Palatin, um von dort aus nach dem hellen Punkt hinüberzuschauen, den mir meine Phantasie als einen Garten Eden, als ein Gefilde der Seligen vorgaukelte. Eine heftige Sehnsucht ergriff mich, dem Gedränge und Getöse des modernen Roms zu entfliehen und vor jener schimmernden Halle im Schatten der Steineichen wonnige Rast zu halten; und so ritt ich denn eines schönen Junimorgens voll freudiger Erwartung zur Porta San Giovanni hinaus. Es war schon heiß, die Landschaft bereits hochsommerlich. Ein feiner, fahler Dunst umbraute das Sabinergebirge. Zu beiden Seiten der Straße lag mit braunen Ruinen übersätes Weideland, dicht bedeckt von rotem Mohn, so daß die wilde Steppe zu glühen schien. In gewaltigen Bogen durchzogen die zerstörten Wasserleitungen die flammenden Felder; Falken kreisten darüber, von Zeit zu Zeit einen gellenden Schrei ausstoßend. Vor mir stieg ein schwarzer Streifen zu dem wolkenlosen, veilchenblauen Himmel auf. Es war eine Cypresse, an meinem Wege der einzige Baum. Aber einer Fata Morgana gleich erhob sich aus der sommerlichen Campagna das Albanergebirge mit dem feierlichen Gipfel des Monte Cavo, mit seinen Olivenwäldern und bacchischen Rebengefilden, von dem Kranz freundlicher Städte und heller Landhäuser wie zu einem Feste geschmückt. Kein Ort jedoch und kein Haus leuchtete mir so lockend entgegen wie der einsame Palast auf der hohen Terrasse über Frascati, unterhalb der steilen Höhe, welche einstmals die Burg von Tusculum trug. Ich ritt gerade darauf zu, wie magisch angezogen. Ich erreichte Frascati, durchtrabte das hübsche Städtchen, ritt an dem stattlichen Dom und dem unscheinbaren Hause vorüber, darin Goethe gewohnt hatte, kam zu einem kleinen Platz, wo um eine schöne Fontäne eine Herde langhaariger Ziegen lagerte, und gelangte in einen Hohlweg, daran zu lesen stand: „Via di Villa Falconieri“. Jetzt wußte ich den Namen meines leuchtenden Hauses. Der Weg dahin führte immerfort zwischen hohen Gartenmauern. Sie wurden auf der einen Seite von blühendem Caprifolium, auf der anderen von weißen Rosen überrankt. Wie Blumenbäche fielen die langen Gewinde vom Mauerrande herab, Kaskaden von Blüten bildend und einen Duft ausströmend, als wären Wohlgerüche verschüttet worden. Alsdann erschien auf der linken Seite ein hohes Thor aus braunem, wie Goldbronze strahlendem Travertin, ein prächtiger Monumentalbau aus der Barockzeit. Auf dem Frontispiz hockte, mit ausgebreiteten Flügeln wachehaltend, ein riesiger Falke, das Wappentier des alten Fürstengeschlechts, zu dessen tusculanischem Landsitz das stolze Thor den Eingang bildete. Eine deutsche Eiche stand innerhalb des Thores, ein vielhundertjähriger Baum. Drei seiner mächtigen Zweige drängten sich durch das Falkenthor, so daß über dem Eingang der Falconieri eine schier königliche Krone schwebte: aus Eichenlaub geflochten! Beide eisernen Thorflügel standen weit offen, als würde ein Gast erwartet. Ich ritt ein. Ein Oelwald, in voller Blüte schimmernd, empfing mich. Aus dem blassen Laub quollen die silberhellen, traubenförmigen Blumen mit ihren goldigen Staubfäden in einer Fülle, als wäre hier der Garten der großen Göttin Pallas Athene. Auch hier brannte ringsum der Boden von dem Blütenfeuer des wilden Mohns. Dem roten Grunde entstiegen die lichten Stämme der Oelbäume und über den hellen Kronen spannte sich der Sommerhimmel Roms. Jetzt eine zweite hohe Mauer und darin ein zweites barockes, pompöses Portal, den Namen seines Erbauers in tiefgegrabenen, [768] großen Lettern tragend: Oratius Falconerius. Auch durch dieses Thor ritt ich; und erst jetzt war ich angelangt. Aber was bedeutete das? Nirgends war ein Laut zu hören, nirgends eine Menschenseele zu erblicken! Nur die Wipfel der Steineichen rauschten über meinem Haupte; nur der schrille Sommergesang der Grillen tönte aus den Oliveten zu mir herüber; nur das Sonnenvölklein der Lacerten und große smaragdgrüne Eidechsen, wie Strahlen funkelnd, glitten raschelnd durch das hohe Gras und das blühende Unkraut der Wege. Ich stieg vom Pferd, ließ mein Tier frei weiden, schritt langsam vor, ward mehr und mehr wie von einem Traum umfangen, geriet mehr und mehr in den Bann des wundersamen Ortes, dessen Genius eine Gestalt von hinreißender Schönheit und zugleich von namenloser Melancholie sein mußte. Ich hatte mir das „leuchtende Haus“ schön gedacht; aber die Wirklichkeit überstieg meine fabulierende Einbildungskraft. Aus dem nächtlichen Schatten des Steineichenhains tretend – denn wie ein Hain war es, so voller Schauer, daß unter seinen Wipfeln Jphigenia „widerwillig“ ihrer hohen Göttin hätte dienen können – lag das Haus vor mir, wirklich ein Fürstensitz! Der weitvorspringende imposante Mittelbau, dessen schon von mir gekannte säulengetragene Halle dem Eintretenden weit sich öffnete, die langen schlanken Seitenflügel mit einer köstlichen Pilasterarchitektur – das Ganze von solcher heiteren, solcher festlichen Schönheit, als hätte ein großer Künstler der Renaissancezeit der strahlenden Lebenswonne des Südens in diesem Hause eine bleibende Stätte bereiten wollen. Im Gegensatz zu der einstmaligen daseinsfreudigen Bestimmung des schönen Gebäudes wirkte die gegenwärtige Verlassenheit und Oede um so trostloser: die Wege und Terrassen grasbewachsen, die Brunnenbecken zerbröckelnd und wasserleer, die sämtlichen Fensterläden des ganzen großen Hauses fest verschlossen. Es herrschte eine Stille, daß das leise Rauschen der Baumkronen wie ersticktes Seufzen klang. Ich ging weiter. Ueber eine Wiese voll blühender Cyclamen gelangte ich vor den Palast und in einen kleinen, von einem Glycinienzaun umsponnenen Garten. Rosen wuchsen hier, nichts als Rosen! Sie waren vollständig ungepflegt und wucherten in fröhlichster Verwilderung. Ein Strauch weißer Bansiarosen prangte in solcher Herrlichkeit, daß es wie Schnee erglänzte, mitten in den Rosenfrühling gefallen. Und noch immer keine Seele! … Ich stand auf der großen Terrasse, die nicht über natürlichem Felsboden, wie ich immer geglaubt hatte, sich erhob, sondern über den gewaltigen Substruktionen einer antiken Villa; lehnte am Mauerrand und blickte um mich. Unter mir lag Frascati mit seinen Oelwäldern und Rebengefilden, lag die sommerliche sonnenheiße Campagna und, mir gerade gegenüber, die etrurische Hochebene, eine unübersehbare Landschaft! Ich sah feine, zarte Berglinien, umschleiert von dem Silberduft des Mittags: die toskanischen Waldberge! Ich überschaute eine ganze mächtige Bergkette, Felsengipfel an Felsengipfel: die wilde, herrliche Sabina! Die Meeresküste erblickte ich mit der Tibermündung von Civita vecchia bis Ostia und weiter: den altehrwürdigen Schauplatz der Aeneide! Jetzt dehnte sich dort eine undurchdringliche Wildnis von Buschwald, erstreckten sich die seuchenschwangeren, unheilvollen römischen Moräste. Das Landschaftsbild unter mir, von der Terrasse der Villa Falconieri aus gesehen, war von solcher majestätischen Weite, daß darin das große Rom als ein unscheinbarer schimmernder Streifen erschien. Aber gleich einem Felsengipfcl ragte darüber die Peterskuppel empor. Und weiter ging ich, vorüber an der Säulenhalle, in welcher Büsten römischer Cäsaren aufgestellt, Inschriftstafeln, den Aufenthalt von Päpsten verherrlichend, eingemauert waren. Es folgte ein drittes, ein viertes Thor: antike Marmorsäulen, steinerne Löwen tragend, in einen Hof führend, an den ein Oelwald stieß. Menschenleer, still und öde auch hier alles; und auch hier alles traumhafte Schönheit! Aus der Olivete gelangte ich in eine Pinienallee und aus dieser in die ehemaligen Parkanlagen der Villa, die zu keiner Zeit so reizvoll gewesen sein konnten, wie sie es jetzt waren, wo Mutter Natur die einzige Gärtnerin war und frei als große Künstlerin waltete. Sie ließ keine Axt an die Stämme rühren, ließ Lorbeer und Laurustinus, Arbutus und Stechpalmen zu Bäumen aufwachsen; sie wob gelben Ginster und Goldregen, weiße Erika und wilde Schneeballen durch die Gehölze; sie verflocht die Dickichte mit blassen Heckenrosen und buntem Geißblatt, mit blauen Winden und violetten Wicken; sie streute aus ihrem Füllhorn tausend und aber tausend Blumen in das grüne Labyrinth der Wege, daß diese ein schimmernder Ariadnefaden durchzog, von dem auch ich mich leiten ließ und der zu einer neuen wundersamen Stätte mich führte. Es war ein Wiesenrondell, eingefaßt von baumhohem Buchs, dem in der brennenden Junisonne ein eigentümliches starkes Arom entströmte. Zum Ueberfluß stand die Wiese voller Thymian, Menthe und Salbei, daß von ihr ein Duft wie aus einem Weihrauchbecken ausging. Eine hohe Rampe führte von dem Rasengrund zu beiden Seiten einer rotgetünchten Nische, darin auf altrömischem Altar eine antike Gewandstatue aufgestellt war, zu einem Cypressenhain, der wie ein schwarzer hängender Garten über mir lag. Mein erster Gedanke war: „Dort oben ist ja ein Kirchhof!“ mein zweiter: „Böcklin!“ Den Namen des Meisters im Gemüt, stieg ich die verwachsenen Wege empor, statt zu dem erwarteten campo santo, zu einem Weiher gelangend, den auf allen Seiten in dichten Reihen die düsteren Bäume des Todes umstanden und dessen regungslose Flut dunkel war wie die starren Cypressenzweige. Ein kleines künstliches Eiland lag in der Mitte des schwermütigen Gewässers, über und über mit wilden Rosen bewachsen, daß es der finsteren Flut wie eine glühende Klippe entstieg. Ich warf mich unter einem der alten Bäume auf den duftenden Grund, blickte durch die wie Säulen aus grauem Granit dastehenden Cypressenstämme auf die glanzvolle Landschaft, auf das Sabinergebirge, auf die Campagna mit dem Felsenberg Soracte und der Peterskuppel über dem Häusermeer Roms; blickte auf das tyrrhenische Meeresgestade mit seinem schwarzen Saum von Wildnis längs der weit in den Horizont aufsteigenden Salzflut. Unter dem Raunen des Mittagswindes in den Cypressen gestaltete sich mir das Bild der Stätte, wo ich mich in stiller Verzauberung befand, wie es wechselte im Kreislauf der Zeiten. Erhob ich den Kopf, so sah ich den Gipfel des lang sich hinstreckenden schönen Höhenzuges, an den einstmals Tusculum sich lehnte, dieses von gütigen Göttern zur Freude der Menschen geschaffenen Erdenflecks. Denn schon im grauen Altertum waren die Landhäuser um Tusculum weltberühmt. Sie bedeckten ringsum das Hügelland mit ihren Gärten und Hainen, ihren Tempeln und Portiken, ihren Akademien, Nymphäen und Thermen, ihren Rosen- und Veilchenfeldern. Vom Gipfel der Hügel zogen sie sich bis tief in die römische Ebene hinab, bis vor die Thore der Weltstadt, alles Land in einen einzigen, von Marmor glänzenden, von Blüten schimmernden gewaltigen Festplatz verwandelnd. Mein Haupt nur ein Weniges erhebend, sah ich über mir den Platz, wo Marcus Tullius Cicero sein Tusculanum besaß; sah ich unter mir die weiten Gründe, wo Lucullus, aus Asien heimgekehrt, in Europa die ersten Kirschbäume pflanzte, wo er Orgien feierte, die den Neid der Olympier erregen konnten, wo er sich sein Grab baute. Denn der große Schwelger und Lebenskünstler liebte, wie der große Redner und Weise Cicero, seinen tusculanischen Landsitz so glühend, daß er nur dort begraben sein wollte: unter einem Koloß von Marmor, umblüht von tusculanischen Rosen, umgeben von einer Heerschar griechischer Statuen, noch seine Asche aufbewahrt in einer Welt unsterblicher Schönheit. An der Stelle, wo ich ruhte und träumte, lag das Landhaus des Konsuls Gabinus. Es war von einer solchen Herrlichkeit, daß selbst die Villa Luculls dagegen ärmlich erschien. Aber selbst das Herrlichste hat ein vergängliches Dasein, und die Villa des mächtigen Gabinus sank in Trümmer. Als im frühen Mittelalter Tusculum von den wütenden Römern zerstört ward, daß kein Stein auf dem anderen blieb, bemächtigte sich die Natur auch dieser verlassenen Stätte. Sie begrub die Säulen, die Mauern; sie begrub Hallen und Terrassen, begrub ein ganzes Volk von Statuen, begrub die Tempel – wie eine neue Zeit und neue Götter längst die alten begraben hatten. Aber die große Gruft, in der so viel Schönheit eingesargt lag, wurde von der nämlichen Hand, die das Grab schaufelte, mit tiefschattigen Hainen und köstlichen Gärten geschmückt, so daß [769] hier das Dichterwort erfüllt ward und in Wahrheit neues Leben aus den Ruinen erblühte. Dann geschah es, daß die tote Antike in den Wissenschaften und Künsten ein wundersames Auferstehen feierte. Auch die tusculanischen Höhen umwehte die Morgenluft dieses anbrechenden strahlenden Tages. Von neuem ergriffen Anmut und Schönheit Besitz von den lieblichen Höhen, sie von neuem in eine Feierstätte umschaffend; und das erste tusculanische Landhaus, welches im 16. Jahrhundert auf den Fundamenten der ehemaligen Villa des Lucullus entstand, war – die Villa Falconieri. Wieder verblaßte die heitere, festliche Pracht; wieder verschwand das farbenfrohe, freudige Leben; wieder hielten Verlassenheit und Verfall, tiefste Einsamkeit und dunkle Schwermut ihren triumphierenden Einzug. Aber unsterblich blieb die Schönheit der Stätte. Hier leben zu können! Hier, einsam lebend, die Welt weit hinter sich, tief unter sich lassen zu dürfen; tief unter sich allen Staub und Dunst dieser Welt, die hier oben so göttlich schön war! … So träumte ich an jenem Sommervormittag am Rande des stillen schwarzen Gewässers, unter dem alten Cypressenbaum und – kein Jahr war vergangen, da durfte ich das leuchtende Haus auf den immergrünen Abhängen Tusculums mein Zuhause nennen, in dem ich alsdann ein ganzes freud- und leidvolles Menschenleben verbrachte. Und heute? … Nun, und heute ist die Villa Falconieri ein Trappistenkloster, eine Stätte des Schweigens! –
– – – – – – – – – – – – – – –An dem Rande des Weihers, wo ich in jener Sommermittagsstunde lag und in die leuchtende Welt hinaus träumte, läßt Hermann Nestel auf seinem stimmungsvollen Gemälde eine jugendliche Frauengestalt sitzen und hinaus träumen in die leuchtende Welt. In der schwarzen schwermutsvollen Flut spiegeln sich die greisen Cypressen, die den Wandel der Zeit und alles Bestehenden erlebten. Bleiche Nymphäen ruhen auf dem regungslosen Gewässer, daraus blühendes Schilf aufsteigt. Bisweilen zittert ein Lufthauch durch das Röhricht, und über dem Teich beginnt es leise, leise zu rauschen und zu raunen. Es ist ein Sang von vergangener Herrlichkeit. Das junge Weib auf der grauen Steinbank unter den verwitterten Cypressen trägt das Gewand einer Römerin aus alter Zeit. Sein Haupt ist bekränzt und in der Hand hält es einen Blütenzweig. Gegen die Brüstung gelehnt, blickt die Einsame auf ein großes festliches Haus, welches aus dem dunkeln Grün seiner Waldungen zu ihr herüber glänzt. Es ist die Villa Mondragone, einstmals das Landhaus eines prunkliebenden Papstes, heute eine Erziehungsanstalt, von den Vätern der Genossenschaft Loyolas geleitet. Gerade über dem Cypressenteich der Villa Falconieri, auf der grünen Höhe von Tusculum, befinden sich inmitten von Menthe und wildem Thymian die Trümmer eines antiken Theaters, über dessen noch heute wohlerhaltener Scena einstmals die Antigone des Sophokles feierlich dahinschritt. Vielleicht ist es der Geist jener hehren Jungfrau, welcher als der trauervolle Genius der Kunst von Tusculums schöner Höhe herabsteigt und an strahlenden Sommertagen unter den schwarzen Totenbäumen der Villa Falconieri einsam umgeht …Richard Voß.
Blätter & Blüten
Ein stehendes Heer in unserm Sinne hat dies freiheitsliebende Hirtenvolk nicht, dessen Verfassung noch einen ganz patriarchalischen Charakter hat und das mit großer Treue an den von seinen Vätern ererbten Einrichtungen und Gewohnheiten festhält. Noch immer lebt die Mehrzahl der Burghers auf weitumgrenzten, über das ganze Land verstreuten Farmen, deren Ausdehnung ihnen mit ihren Herden eine Art von nomadisierendem Leben gestattet. Jeder ihrer Söhne wird von klein auf zu einem treffsicheren Schützen und einem vorzüglichen Reiter erzogen. Im Kriegsfall ist jeder Bürger vom vollendeten 16. bis zum 60. Jahre verpflichtet, sich dem Dienst fürs Vaterland zu stellen. Sobald den Burgher der Aufruf seines Feldkornets (Bezirkskommandeurs) erreicht, bestellt er sein Haus, bepackt sein bestes Pferd mit Mundvorrat für sich und Futter für dieses, wirft das breite Patronenbandelier um die Schulter, greift zur Büchse und sprengt, nachdem er Abschied von den Seinen genommen, dem Orte zu, der ihm als Stellungspunkt angegeben wurde. Oft kommt es vor, daß Vertreter von drei Generationen, der Großvater mit Söhnen und Enkeln, vereint dem Heerrufe folgen. Eine Uniform tragen die berittenen Schützen nicht. In Friedenszeiten unterhält die Transvaalrepublik, [770] ebenso wie der Oranje-Freistaat, nur eine kleine Artillerietruppe und eine Abteilung Feldtelegraphisten. Auch giebt es kleinere Freiwilligenkorps nach englischem Muster, die zu kurzen Uebungen einberufen werden. Diese Truppen haben Uniformen, deren Stücke teils an holländische, teils an englische Muster erinnern. Die Bewaffnung der Buren ist, soweit Schießwaffen in Frage kommen, eine vorzügliche; die berittenen Schützen haben Mausergewehre, die Artillerie verfügt über neue Schnellfeuerkanonen und Maximgeschütze. Für das Handgemenge fehlt es aber den meisten an blanken Waffen. Da das Transvaal – die seit 1884 bestehende Bezeichnung „Südafrikanische Republik“ hat sich nicht einbürgern wollen – bei seiner Ausdehnung über 321 700 qkm doch nur eine Burenbevölkerung von 288 750 umfaßt, wovon 166 400 männlichen Geschlechtes sind, von denen nur 29 279 im kriegspflichtigen Alter stehen, ist die Truppenmacht, die es ins Feld stellen kann, keine große nach europäischen Begriffen. Aber zur Verteidigung des gebirgigen Landes, das von Bergzügen und Schluchten durchzogen ist und dessen Zugänge sich durch Engpässe winden, sind diese Truppen eine ganz ansehnliche Macht, zumal die Burghers ihr Bestes im Guerillakrieg leisten und es, wie einst Andreas Hofers Tiroler Schützen, meisterlich verstehen, beim Schießen jeden natürlichen Schutz, Felsen und Bäume, geschickt als Deckung zu benutzen. Auch hält sich der Bur nicht ängstlich an jene Altersgrenzen und im letzten Kriege zogen selbst Frauen und Töchter mit gegen den Feind und halfen ihren Männern beim Schießen. Auch jetzt wieder regt sich dieser kriegerische Sinn der Burenfrauen, und gleich bei Beginn des Kriegs hat sich in Pretoria eine weibliche Leibwache um den alten allgemein verehrten „Ohm Paul“, den Präsidenten Krüger, gebildet, der diesmal zunächst darauf verzichtete, mit ins Feld zu ziehen. Durch das Bündnis mit dem Oranje-Freistaat, dessen Präsident Martinus Steijn mit Recht die Ueberzeugung vertrat, daß die Annexion des Transvaals durch England auch die des eigenen Landes zur Folge haben müsse, erhält das Burenaufgebot eine Verstärkung von ungefähr 10 000 Mann, wobei die von Major Albrecht vortrefflich ausgebildete Artillerie ins Gewicht fällt. Major Albrecht ist ein Deutscher, der früher Wachtmeister bei der Gardeartillerie in Berlin war. Ein Freikorps von Buren aus der englischen Kapkolonie, den „Afrikanders“, ein deutsches, ein französisches, ein holländisches, ein irisches Freikorps erhöhen weiter den Truppenstand. Das deutsche Freikorps, das unter dem Kommando des Obersten Schiel in den Krieg zog, soll auf 4000 Mann angewachsen sein. Beim Ausbruch des Krieges waren somit die Buren den englischen Truppen an Zahl noch überlegen. Denn den unter dem Oberbefehl des Generals Joubert an der Ostgrenze gegen Natal operierenden etwa 20 000 Mann zählenden Buren, bei denen auch das deutsche Freikorps sich befand, konnten von General White kaum 12 000 Mann gegenübergestellt werden, von denen die Hälfte eben erst aus Indien herübergekommen war. Ueber die Westgrenze gegen Betschuanaland und Kimberley waren etwa 10 000 Transvaalburen unter General Cronje ins Feld gerückt, gegen welche Oberst Baden-Powell zunächst kaum 3000 Mann zur Verfügung hatte. In Kapland verfügte England ungefähr über die doppelte Zahl, des Angriffs der Oranjeburen gewärtig. Einen englischen Vorstoß von hier aus mußte die Haltung der Afrikander in Kapland vorläufig verhindern. Diese Lage aber hat sich seitdem täglich geändert. Noch vor dem Armeekorps, das inzwischen in England eingeschifft wurde, sind weitere Regimenter aus den Kolonien des großen Reiches eingetroffen, und der von England am 14. Oktober abgereiste General Sir Redvers Buller, dem der Oberbefehl über die englischen Truppen in Südafrika übertragen wurde, kann bei seiner Ankunft dort bereits über eine den Buren an Zahl überlegene Truppenmacht verfügen. Der Oberkommandant der Truppen des Transvaals, General Pieter Joubert, hat sich im Kriege von 1880, vor allem durch den Sieg am Majubaberg, besonderen Ruhm als Taktiker des Guerillakriegs erworben. Er ist aber auch der Organisator der bis zum Einfall Jamesons sehr vernachlässigten, jetzt neuausgestatteten Artillerie, und gleich die ersten Vorstöße der Buren nach Osten und Westen haben gezeigt, daß seine Taktik auch den durch den Bau von Eisenbahnen durch Transvaal geschaffenen neuen Grenzverhältnissen Rechnung zu tragen bemüht ist. Der alte Graubart gehört einer jener alten Hugenottenfamilien an, die fast gleichzeitig mit den Buren nach Südafrika kamen. Der zum Oberkommandanten der englischen Truppen ernannte General Buller hat gleichfalls schon früher in Südafrika sich Siegeslorbeer gewonnen. Der heute Sechzigjährige hat den größten Teil seiner Dienstzeit in Afrika zugebracht und namentlich im Kriege gegen die Zulus 1878/79 sich als hervorragend tapfer bewährt. Im Jahre 1881 war der damalige Oberst Buller zum Generalstabschef Sir Evelyn Woods im Kampfe gegen die Buren ausersehen. 1885 war er Generalstabschef Lord Wolseleys im Sudan-Feldzug. Im Gegensatz zu Buller ist der zunächst in Natal kommandierende General Sir Georges White ein Fremdling in Afrika. Er kam aus Indien, wo er seine ganze Dienstzeit verbrachte, mit den kürzlich in Durban gelandeten Truppen. Der Führer des deutschen Freikorps, Oberst Adolf Schiel, der nach englischen Meldungen bereits in dem Kampfe bei Elandslaagte in Gefangenschaft geriet, stammt aus Frankfurt a. M., wo er 1858 zur Welt kam. In jungen Jahren trat er in das Braunschweiger Husarenregiment ein, folgte aber nach kurzer Dienstzeit der Aufforderung eines in Kapland ansässigen Freundes und wanderte nach Südafrika aus. Dort wurde er militärischer Berater von Dinizulu, dem Sohn des Kaffernkönigs Cetewayo. Später trat er in den Dienst der Transvaalregierung, die ihn zum Regierungsbevollmächtigten für die Eingeborenen im nördlichen Transvaal ernannte, wo er siegreiche Kämpfe gegen die wilden Basutos führte. Als Adjutant des Generals Joubert in Pretoria war er auch dessen Berater bei Erbauung des die Stadt Johannesburg beherrschenden Forts. Die Regierung des Deutschen Reichs hat sich beim Ausbruch des Krieges für strengste Neutralität entschieden. Dies kann nicht hindern, daß man im deutschen Volke mit warmer menschlicher Teilnahme den heldenhaften [771] Kampf verfolgt, in welchem die Buren, diese tapferen Söhne niederdeutschen Stammes, im fernen Südafrika Gut und Blut für ihre Unabhängigkeit und Freiheit einsetzen. Erika Wedekind. (Mit Bildnis.) Wie ein Meteor ist dieser Name vor wenigen Jahren am Himmel der deutschen Gesangskunst aufgetaucht, aber er ist nicht, wie ein solches, rasch ins Dunkel zurückgekehrt, sondern hat an Glanz gewonnen und strahlt heute bereits weit über die Grenzen unseres Vaterlandes hinaus. Das Talent der jungen Sängerin, die ihn trägt, ist ebenso groß wie das Können, über welches die nicht viel über zwanzig Jahre zählende, hochstrebende Künstlerin verfügt. Gar viele finden das seltene Glück, welches die Kunstnovize vom Konservatorium sofort, und zwar als Vertreterin erster Partien, auf die Dresdener Hofbühne versetzte, ganz erstaunlich. Sie vergessen dabei, daß Verdienst und Glück gar gern zusammengehen. In Hannover geboren, verlebte Erika Wedekind auf dem schweizerischen Schlosse Lenzburg, das auf hohem Bergkegel das gleichnamige Städtchen überragt und das ihr Vater, der Arzt Dr. Wedekind, sich nach seinen Weltwanderungen als Ruhesitz käuflich erworben hatte, ihre Kindheit, umgeben von zahlreichen Geschwistern. Des geliebten Vaters segensreichen Beruf ausüben zu dürfen, erschien ihr als das stolzeste Ziel ihrer Mädchenwünsche: sie beschloß, Aerztin zu werden. Das väterliche Veto schnitt jedoch diesem Plan den Lebensfaden ab, und auch Erikas nunmehr erfaßte Idee, sich zur Lehrerin auszubilden, fand bei ihm wenig Sympathie. Sie hatte sich bereits mit ihrem Jugendgespielen Walther Oschwald verlobt, als sie sich über ihren Beruf zur dramatischen Gesangskunst klar ward. Im Jahre 1891 wurde sie Schülerin der einst vielgefeierten Sängerin und jetzigen berühmten Gesangsmeisterin Aglaja Orgeni in deren Spezialgesangsklasse am Dresdener Konservatorium, bei der ihr Talent eine vorzügliche Ausbildung fand. Die Kunstnovize hatte bereits mehrfach bei der Mitwirkung in auswärtigen öffentlichen Musikaufführungen erfolgreich ihre außerordentliche Leistungsfähigkeit in der Kantilene sowohl, wie im kolorierten Gesange bewiesen, als sie bei Gelegenheit eines Wohlthätigkeitskonzertes in Dresden die zahlreiche Zuhörerschaft besonders durch den technisch tadellosen und auch geistig beseelten Vortrag der großen Scene aus „Norma“ zu lebhaftestem Beifall hinriß. Unter den Zuhörern befand sich auch der damals gerade erst zum Generalintendanten der Dresdener königl. Hoftheater ernannte Graf Seebach, der, die Bedeutung der jungen Sängerin und ihre Entwicklungsfähigkeit erkennend, sie sofort zu einem Probegastspiel auf der berühmten Kunststätte einlud, an der einst eine Schröder-Devrient gewirkt und die höchsten Triumphe edelster Kunst gefeiert hatte. Am 15. März 1894 debütierte Erika Wedekind als Frau Fluth in den „Lustigen Weibern von Windsor“. Wie Lerchenjubel erfüllte ihr silberheller, in köstlicher Jugendfrische blühender Sopran das weite Haus, das bald darauf von Beifallsstürmen wiederhallte, wie sie das schmucke Schweizerkind selbst in seinen kühnsten Hoffnungsträumen kaum hatte erwarten können. Erika Wedekind war mit einem Schlag der Liebling des Publikums und für die Kritik eine Persönlichkeit geworden, mit der man rechnen mußte und mit Freuden auch rechnete. Ihr Repertoire ist inzwischen sehr gewachsen; die fröhliche Marie in der Donizettischen „Regimentstochter“, die träumerische Thomas’sche Mignon uno das lustige Humperdinck’sche Gretel, die vornehme Leonore im „Troubadour“, die kokette Nedda im „Bajazzo“ und die zierliche Papagena in der „Zauberflöte“, das neckische Aennchen im „Freischütz“ und viele andere von Erika Wedekind verkörperte Operngestalten haben sich nicht allein durch ihre Wahrheit und Lebendigkeit, sondern auch durch interessante individuelle Züge in diesem Repertoire hervorragende Plätze gesichert. Durch einen neuen Kontrakt hat Graf Seebach die Künstlerin auf Jahre hinaus Dresden zu erhalten gewußt, wo sie jetzt in glücklicher Ehe als Frau Walther Oschwald lebt. M. Schramm-Macdonald. Glückliche Rettung. (Zu dem Bilde S. 744 und 745.) Am frühen Morgen war die „Ora et labora“ mit steifer Brise hinausgesegelt. Jan Pitter, der wackerste „Junge“ weitum auf den Inseln trotz seiner knapp 15 Jahre, der Stolz von Vadder wie von Bestmudder (Großmutter) Antje, Jan Pitter hatte gemeint, das würde heute einen „ganz farmosten Fang“ geben, da nach solcher Gewitterböe, wie sie in letzter Nacht über „Dat Eun“ (die Oe-Insel) wegfegte, der Fisch am besten ins Garn geht. Die lahme Bestmudder hatte freilich bedenklich dreingeguckt und gemeint: „Watt din Bestvadder wesen is, min söte Jung, de is ak jüs bi so ’n farmosten Fangwedder ‚bleven‘; schall dat nich angahn, dat du to Hus blivst? Mi schwant wat!“ „Aberst Mudder,“ war ihr der Hausvater ins Wort gefallen, „use Jan Pitter is doch keen ohl Wiev nich, dat sik vor ’en Mund vull Wind verkrupen deiht?“ Auch er würde gern bei dem „farmosten“ Wetter mit in See gehen, wäre es auch nur, um ein Auge auf den Jungen zu haben, müßte nicht notwendig das von dem letzten nächtlichen Sturm arg mitgenommene Dach heut geflickt werden. Antjemudder schweigt seufzend still und klein Antje schleppt für Bruder Jan die von Schwester Stine frisch geölten Seestiefel herbei, um doch auch ihr Teilchen an der Arbeit zum Aufbruch zu haben. Und dann geht Jan Pitter an Bord. Lange dauert heute der Fang. Das Wetter ist bös geworden, ein Sturm hat sich erhoben. Immer wieder ist die Bestmudder mit ihren Enkeltöchtern vor die Thüre gegangen, um nach den Fischern zu schauen. In schwerer Herzensangst harren sie nun der Heimkehr Pitters drinnen beim Vater. Da, endlich – die Sonne sinkt schon hinter den Sturmwolken – kommen die Nachbarn gelaufen mit dem Ruf: „Se kamt, se sünd all dor!“ – Ja, sie kommen, die Fischerboote, kommen mit reichem Fang; allen voran die „Ora et labora“, also muß es an Bord wohl gut stehen! Aber was ist das? Ein Boot im Schlepptau? Mit niedergelegtem Mast und verworrenem Takelzeug? Der hat Unglück gehabt! Na, ’s ist wenigstens nicht die „Ora et labora“! – Und doch hat’s auch auf ihr Unglück gegeben! Knut Wilmsen trägt einen Verwundeten ins Haus – einen verwundeten jungen Helden! Knut erzählt, wie die schreckliche Hagelböe die nicht weit von der „Ora et labora“ fischende „Goldene Maria“ so hart getroffen, daß das wackere Boot sofort auf die Seite geworfen und seine drei Mann Besatzung wie Boßeln (Kegelkugeln) in die See gerollt wurden. Da war es nun der junge Jan Pitter gewesen, der auf seinem Fahrzeug nicht Ruh’ gab, bis man der „Goldenen Maria“ zu Hilfe kam. Alle drei Mann von dem verunglückten Boote hatte er zwar nicht retten können (der eine, der „Junge“, hat dran glauben müssen), wohl aber hatten ihm die anderen beiden ihr Leben zu verdanken. Freilich – so ’n paar Monate wird der arme Jan Pitter wohl in dem sauberen Himmelbette da in der Ecke zubringen müssen; er hat einen tüchtigen Knacks weggekriegt: das eine Bein ist gebrochen und mit dem linken Arme steht’s kaum viel besser! Doch bald werden sie alle nur noch daran denken, wie wacker ihr Jan sich gehalten hat. Er ist ’n höllsch strammer Bengel; Vadder und Bestmudder können stolz auf den Jungen sein; der bringt es noch zu ’was! Die paar kaputen Knochen heilen schon auch wieder zusammen; nach ’m Doktor ist ja gleich geschickt, der leimt und schindelt die Geschichte schon wieder zurecht! Und so wird denn Jan Pitter für einige Zeit „beigestaut“ und gut verpflegt. Aber so stolz sie alle auf ihren Jan sind, geschwatzt und gerühmt wird nicht von seinem Heldenmut bis zur Selbstaufopferung für den Nächsten: solch kühne, waghalsige That gilt als etwas Selbstverständliches unter den wackeren Leuten von der Waterkant! H. Pichler. Wie man sieht, ist also das Stärken der Leibwäsche eine sehr unpraktische, ja der Gesundheit geradezu höchst unzuträgliche Einrichtung, und wir sollten uns, nachdem wir dies erkannt haben, von einer Mode, die solche Nachteile im Gefolge hat, bald frei machen. Dr. –t. Hans Arnold. (Mit Bildnis.) Als vor einiger Zeit die „Gartenlaube“ eine der anmutig heiteren Erzählungen aus dem deutschen Offiziersleben von Hans Arnold veröffentlicht hatte, erhielt die Redaktion von seiten einer jüngeren Leserin des Blattes die Anfrage, bei welcher Waffe der Herr Verfasser stehe und in welchem Regiment er diene – die Fragerin wollte ihn gern um einen Beitrag für ihr Selbstschriftenalbum ersuchen! Der Wunsch mußte unerfüllt bleiben. Der „Herr Verfasser“ Hans Arnold, der so lustige Schwänke und Abenteuer aus dem Leben unserer Leutnants zu erzählen weiß, ist eine Dame; das Regiment, das sie führt, erstreckt sich auf Familie und Häuslichkeit, und ihr Dienst gilt nur den Musen, nicht den Waffen. Aber als Gattin eines Offiziers hat Frau Babett v. Bülow allerdings aus der Welt eigener Beobachtungen geschöpft, wenn sie daran ging, uns unternehmungskecke Leutnants als kühne Herzenseroberer oder brave Fähnrichs gar als „Erzieher“ vorlauter Backfischchen zu schildern, und die große Lebenswahrheit und frische Natürlichkeit, welche diese humoristischen Novellen und Skizzen auszeichnen, machen den Irrtum begreiflich, der in der Verfasserin einen Mann vermutete, welcher selbst Offizier sei. Dieselbe Lebenswahrheit und Natürlichkeit hat der Humor der Verfasserin denn auch in jenen zahlreichen anderen Novellen entfaltet, die von der Beobachtungsschärfe liebevoller und sorgsamer Mutter- und Hausfrauenaugen zeugen, in den „Skizzen aus dem Familienleben“ und „Skizzen aus dem häuslichen Leben“, von denen einige der reizvollsten die „Gartenlaube“ veröffentlicht hat. Babett von Bülow ist aus Schlesien gebürtig, und die heitere Sinnesart, die dort heimisch ist, gepaart mit feiner Satire, spiegelte sich gleich in den ersten Erzählungen, die ihr Pseudonym „Hans Arnold“ bekannt gemacht haben. Ihr Vater war der Breslauer Professor Felix Eberty, der durch seine Biographien Walter Scotts und Lord Byrons allgemeiner bekannt ist und dessen „Jugenderinnerungen eines alten Berliners“ beweisen, daß auch ihm eine kräftige humoristische Ader verliehen war. Ihre Mutter war die Tochter des Gutsbesitzers Henry Hasse in Cunersdorf bei Hirschberg in Schlesien und durch manche Beziehung wurde das Mädchen, welches in Breslau heranwuchs, auch mit dem Landleben vertraut. Die Lust zum Fabulieren regte sich früh in ihr; als sie sich am 10. Juni 1876 mit dem damaligen Leutnant von Bülow verheiratete, hatte sie schon mancherlei geschrieben. Wie die meisten Offiziersfrauen, ist auch Frau v. Bülow viel in der Welt herumgeworfen worden; ihr Gatte, der heute Major in Stettin ist, hatte zweimal Breslau, zweimal Berlin, dann Straßburg, Engers a. Rh., Hannover und Erfurt zur Garnison. Die Fülle an feinen Beobachtungen und originellen Zügen, welche die drolligen Backfische und braven lustigen Jungen in Hans Arnolds Geschichten aufweisen, würde wohl kaum vorhanden sein, wenn das Familienleben der Dichterin nicht von eigenen Kindern belebt wäre; sie hat deren vier. In neuerer Zeit hat sich Hans Arnolds Muse auch ernsten Stoffen zugewandt. Die in diesem Hefte der „Gartenlaube“ zum Schluß gelangende Novelle „Galeerensklaven!“ zeigt aufs neue, wie die scharfe Lebensbeobachtung und tiefe Menschenkenntnis der Verfasserin sich in tragischen Seelenbildern ebenfalls mit packender Wirkung bewähren. Auch Lustspiele hat sie geschrieben, die beiden Einakter „Geburtstagsfreuden“ und „Zwei Friedfertige“ und das dreiaktige „Theorie und Praxis“. Sie sind bewegt von demselben frischen Humor, der ihre meisten Novellen und Skizzen zu einer so herzerquickenden Lektüre macht. Das Deutsche Repräsentationshaus für die Pariser Weltausstellung. (Zu dem Bilde S. 757.) Auf dem Quai d’ Orsay in Paris, in dessen Umkreis gegenwärtig tausend Hände geschäftig sind, die Paläste aufzuführen, in denen die Kulturnationen der Welt im nächsten Jahre ein Bild ihres höchsten Leistens und Könnens darbieten werden, ist das Repräsentationsgebäude des Deutschen Reichs bereits im Rohbau vollendet. Mit dem über 60 m hohen Turm, seinem reichen Giebelwerk und den steil ragenden Dächern ist seine Erscheinung schon jetzt eine charakteristisch deutsche. Nach dem Entwurf des Bauinspektors Johannes Radke, dessen Ausführung der Baufirma Philipp Holzmann u. Komp. übertragen wurde, wird der Turm eine teilweise patinierte Kupferbedachung erhalten, die Hauptfronten sollen malerisch geschmückt und die Dächer mit Ziegeln in kräftigem Rot gedeckt werden. In Ausführung von Beschlüssen, welche persönlich vom deutschen Kaiser gefaßt wurden, sollen die im Hauptgeschoß nach der Seine zu gelegenen Räume mit Gemälden und Möbeln ausgestattet werden, welche aus dem Besitze Friedrichs des Großen stammen und dessen Vorliebe für die Kunst Frankreichs bezeugen. Das Mobiliar wird aus den erlesensten kunstgewerblichen Stücken des Potsdamer Stadtschlosses, von Sanssouci und dem Neuen Palais zusammengestellt werden. Dieser Ausschmückung soll die architektonische Ausgestaltung der Säle entsprechen. Selbst die berühmte Bibliothek Friedrichs des Großen in Sanssouci wird in einem Eckraum eine wenn auch bescheidene Nachbildung erfahren. – Doch auch die Kultur des heutigen Deutschen Reichs soll in dem Repräsentationshaus eine angemessene Vertretung finden. Das deutsche Buchgewerbe als Organ des geistigen Lebens der Nation und die graphischen Künste werden mit ihren Ausstellungen diese Mission gewiß aufs würdigste erfüllen. Die gewaltigen Fortschritte, welche Deutschland heute auf sozialem Gebiete aufweist, finden in einem anderen Raum künstlerische Veranschaulichung. Durch Gemälde, Modelle und graphische Darstellungen soll ein übersichtliches Bild der besten Einrichtungen auf dem Gebiete der öffentlichen Wohlfahrtspflege und der Fürsorge für die minderbemittelten Klassen hergestellt werden. Den Willkommen bietet den Besuchern im Untergeschoß, das sich in offenen Arkaden nach der Seine öffnet, die Kollektivausstellung des deutschen Weinbaus, mit welcher ein deutsches Weinrestaurant verbunden sein wird. Der Abschiedskuß. (Zu dem Bilde S. 761.) Sie gehört nicht zu den vergnügungssüchtigen Müttern, die junge Frau im lichten Putz und kostbaren Pelzmantel; sie bleibt am liebsten, auch wenn sie ihr herziges Mädelchen zu Bett gebracht hat, daheim und findet das behagliche Geplauder mit ihrem Mann am eigenen Theetisch viel unterhaltender als das Gespräch in Gesellschaft. Ehe ihr Liebling entschlummert, pflegt sie noch einmal an sein Bett zu gehen, zu einem letzten Gutenachtkuß. Darum ist der Abschied, wenn Mutter einmal mit dem Vater doch in Gesellschaft geht, eine sehr schwere Sache. Ach, wie gern möchte Klein-Gertrud die schöne Mama dabehalten – sie giebt sich kaum halb mit dem Versprechen zufrieden, daß der Papa etwas sehr Süßes für sie beim Nachtisch einstecken wird! … Und obgleich die Frau Doktor ihr Kind wohlgeborgen weiß in der Hut des treuen Mädchens, wird ihr doch mehr als einmal heute abend sein flehender Abschiedsblick einfallen, und sie wird sich unter Gläsergeklirr und Redegeschwirr heimlich auf den Augenblick des nächsten Morgens freuen, wo sie den frischerwachten Liebling in die Arme nehmen und voll Mutterwonne sein rosiges Gesichtchen küssen kann. Edelsteinfarben. Auffallenderweise sind die Farben der durch ihre Härte und chemische Beständigkeit ausgezeichneten Edelsteine dennoch nicht vollkommen unveränderlich oder lichtecht. Smaragd, Saphir und Rubin, die hervorragendsten Vertreter der farbigen Edelsteine, leiden unter dem Lichte zwar am wenigsten, lassen aber bei langdauernden Versuchen doch einen Einfluß desselben erkennen. Man hat z. B. einen Rubin zwei Jahre lang in einem hellen Schaufenster liegen lassen und beobachtet, daß er während dieser Zeit merklich heller geworden war als ein ihm vorher genau gleichgefärbter Stein, den man aber im Dunkeln aufbewahrt hatte. Granat und der goldgelbe Topas verändern sich schneller; während letzterer am Lichte verbleicht, wird der dunkelrote Granat allmählich trübe und matt und verliert viel von dem Feuer, das die frisch geschliffenen Steine besitzen. Die Farbe des Opals rührt von unzähligen mikroskopischen Sprüngen und Rissen in seiner Masse her, welche aus wasserhaltiger Kieselsäure besteht und in der Natur zweifellos durch sehr langsame Eintrocknung einer Kieselsäurelösung gebildet wurde. Dem Träger eines solchen Steins ist es infolgedessen sehr anzuraten, ihn vor Wärme sorgfältig zu behüten, z. B. die Hand, an welcher er sitzt, nicht allzunahe an ein offenes Feuer oder einen heißen Ofen zu bringen, weil die Austrocknung des Steines unerwünscht weitergehen und ihm sein Farbenspiel wieder entziehen könnte. Sehr empfindlich sind auch Perlen, deren Grundsubstanz kohlensaurer Kalk, mit einer schleimigen oder hornigen Ausscheidung der Perlmuschel verbunden, bildet. Abgesehen von ihrer großen Sprödigkeit, sind sie auch nicht unnötig anzufassen, da die im Schweiß der Hand enthaltenen Säuren lösend auf den kohlensauren Kalk wirken und die Glätte und damit den eigenartigen Schimmer der Oberfläche zerstören. B. Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig. [772 a] Allerlei Winke für jung und alt.
Gehäuse für die Essensglocke. In Familien oder Pensionaten, wo es Sitte ist, die Hausgenossen durch Läuten zu den Mahlzeiten zu rufen, macht sich die Anbringung der Eßglocke in einem zierlich gebrannten oder gemalten Holzgehäuse auf dem Treppenflur sehr nett. Ein solches Gehäuse hat die Form eines kleinen Dachgiebels (siehe die Zeichnung) und mißt etwa 35 cm Länge zu 43 cm Breite. Unterhalb des Giebels läuft eine schmale Querleiste, an welcher die Glocke befestigt und um welche der Bindfaden geschlungen ist, mittels dessen sie in Bewegung gesetzt wird; der Faden geht auf der einen Seite des Gehäuses durch ein rundes Loch und hängt hier herab. Läßt man das Holz weiß, so ist Brandmalerei, auch Spritzarbeit und dergleichen als Verzierung zu empfehlen; streicht man das Gehäuse mit englischer Lackfarbe in einem den Möbeln entsprechenden Tone an, so muß die Bemalnng in Oelfarbe ausgeführt werden. H. R. Goldlack im Winter. Der Goldlack wird am besten vor Mitte September gepflanzt auf den Platz, wo er im Frühjahr stehen und blühen soll. Ist dies bis zu dem Zeitpunkt nicht geschehen, so darf man ihn nicht mehr verpflanzen, da er sich nicht genügend mehr bewurzeln kann. Man läßt ihn dann besser auf dem bisherigen Platze stehen und verpflanzt erst im Frühjahr. Die Hauptsache ist aber, daß der Goldlack gar nicht bedeckt wird, weil er leicht fault, während der Frost ihm wenig anhaben kann. Das gleiche gilt von Vergißmeinnicht und Tausendschön (gefüllte Marienblumen), doch kann man die letzteren beiden noch bis Mitte Oktober verpflanzen. Dreieckiges Kissen. In unserer Zeit, die gerade die unscheinbarsten Naturformen als Dekoration aufsucht und zu Ehren bringt, ist man auch wieder aufmerksam geworden auf die feinen Umrißlinien unserer einheimischen Baumblätter. Nicht nur die Blätter, welche ihrer bildlichen Bedeutung wegen seit lange beliebt sind, wie Eiche, Lorbeer, Palme, werden als dekorativer Sckmuck angewandt, sondern auch das ganz einfach ausgebreitete Kastanienblatt in seiner edlen Fächerform, der Lindenzweig, die Weide. Wir geben hier als Verzierung für ein kleines dreieckiges Kissen drei Ahornblätter; es müssen überhaupt möglichst regelmäßig gestaltete, große Blätter sein, mit gut ausgeprägten Spitzen. Diese zeichnet man in der angegebenen Lage ab und überträgt die Zeichnung auf nicht zu dünnen Seidenstoff von mildgrüner Farbe. Von rückwärts klebt man ein leicht gummiertes Stück Seidenpapier dagegen, das beim Ausschneiden das Ausfasern verhütet (pressen, während es trocknet!); die ausgeschnittenen Blätter werden auf einen Grund von kräftig rotbrauner Seide oder auch Tuch geheftet, ringsum fein angestochen, die Ränder durch ein aufgenähtes dünnes Schnürchen oder eine Reihe von Stiel- oder Kettenstichen, dunkler als die Blätter, gedeckt, wobei die feinen Spitzen recht ausdrucksvoll behandelt werden müssen; die Adern sind durch gestickte Linien zu erhöhen, die Stiele auch zu sticken. Durch einen Rand von Plüsch oder Seide läßt sich das Kissen noch vergrößern. Auch in Gelb oder Braunrot, den herbstlichen Farben, auf einem tiefblauen Grund, würden diese einfachen Blätter sehr gut wirken. J. –– Hauswirtschaftliches. ––
Selbsteinmachen von Magdeburger Sauerkraut. Zum Einmachen ist nur der Herbstweißkohl zu brauchen, späterer Kohl ist hart und das Sauerkraut von ihm zäh. Man löst die losen Blätter ab und hobelt den Kohl sehr fein, wobei man die dicken Blattrippen fortläßt. Für jedes Kilo gehobelten Kohl rechnet man 20 g mit wenig Kümmel vermischtes Salz, mit dem man das Kraut lose vermengt. Für einen kleinen Haushalt sind Steintöpfe am ratsamsten zum Einlegen. Man muß sie peinlich säubern und gut austrocknen, vor dem Einschichten des Kohls spült man sie leicht mit Essig oder besser noch mit leichtem Weißwein aus. Zwischen den Kohl streut man saure Aepfel und nach Belieben auch einige Wacholderbeeren und Kümmelkörner. Obenauf legt man lose Kohlblätter und darüber ein mit einem Stein beschwertes Brett, worauf man das eingemachte Kraut bis zum Gebrauch an einen kühlen luftigen Ort stellt. E. Preiselbeeren einzusieden. 4 Pfund oder 2 kg reingelesene Beeren werden mit 2 Pfund oder 1 kg gestoßenem Zucker vermischt und über Nacht stehen gelassen. Am folgenden Morgen wird 1/4 l roter Wein, etwas Zimmetrinde den Beeren zugegeben, welche nun in einem fettfreien irdenen Tiegel, ohne Aufrühren, auf der heißen Herdplatte gekocht werden, bis der Saft dicklich ist. Längeres Kochen benimmt die schöne Farbe. Die eingesottenen Beeren werden in Steintöpfe oder vorgewärmte Geleegläser eingefüllt, über Nacht zum Erkalten gestellt und erst am nächsten Tag verschlossen. E. K. Hasenbraten in Gelee nach Wiener Art. Der Hase wird nach bekannter Art hergerichtet, die Häute abgezogen, mit Salz das Fleisch eingerieben, eine Bratenpfanne mit dünnen Speckblättern ausgelegt, der Hase darauf gebracht, die Pfanne zugedeckt und der Braten gedämpft. Nach etwa 3/4 Stunden unterschwemmt man den Hasen mit einem Glas roten Wein, begießt das Fleisch von Zeit zu Zeit mit dem Safte und dämpft es vollkommen weich. Mit einem scharfen Messer wird dann das Rückenfleisch vom Gerippe gelöst, ebenso das der Schlegel, und kalt gestellt.
Das übrige Abfallfleisch und die Knochen werden im Mörser fein gestoßen (man kann auch Kalb- oder Schweinefleischreste dazu nehmen); nun würzt man den Brei mit Salz, Pfeffer und ein paar zerdrückten Wacholderbeeren, etwas Citronengelb, giebt ihn in den Saft, in dem der Hase gedämpft wurde, und kocht das Ganze zu einer ziemlich dicken Sauce, die durch ein feines Sieb gestrichen wird. Der passierte Saft (Salmi) wird mit etwas flüssigem Aspik vermischt, in eine Form gefüllt und auf Eis gestellt. Eine zweite größere, schöne Sulzform wird mit etwas flüssigem Aspik ausgegossen, so daß der Boden der Form 1 bis 11/2 cm mit Aspik bedeckt ist. Die Form wird auf Eis gestellt.
Ist das Aspik in der Form erstarrt, so wird von dem Rückenfleisch und dem gesulzten Salmi, welch beides in 1 cm dicke Filets geschnitten wird, ein schöner Kranz in die Form eingelegt, darüber eine dünnere Schicht Aspik gegossen und kalt gestellt. Ist dieses wieder steif, so kommt eine zweite kranzförmige Lage von Fleisch und Salmischnittchen; den Schluß bildet wieder ein Ueberguß von Aspik und dazwischen gestreuten feinen Trüffelblättchen. Die Form muß abermals auf Eis gestellt werden. Nach 11/2 Stunden nimmt man sie vom Eis, stößt sie schnell in heißes Wasser, trocknet sie ebenso rasch wieder ab und stürzt nun den Inhalt vorsichtig auf eine bereitgehaltene flache, runde Platte.
Man umgiebt den gesulzten Hasen mit einem Kranz von abwechselnd farbigem Aspik, Buttertütchen oder Blumen mit Kaviar gefüllt, hartgekochten Eiern, grüner Petersilie etc.
Die äußerste Randeinfassung kann mit frischen Lorbeerblättern gemacht werden, auch können Eierhälften, mit farbigem Aspik gefüllt, ringsum garniert werden. E. K. Obst auf französische Art zu trocknen. Nirgends erhält man ein aromatischeres trockenes Obst als in Frankreich, anderswo getrocknete Früchte halten kaum einen Vergleich damit aus. Dieses Obst, welches tadellos, völlig reif und frisch gepflückt sein muß, wird auf folgende Weise hergestellt: Man schüttet die Früchte – Pfirsiche, Mirabellen, Reineclauden, feine Birnen und Pflaumen sind ganz besonders trefflich – in kochendes Wasser, in dem sie, ohne kochen zu dürfen, so lange liegen bleiben, bis sie weich sind. Dann werden sie behutsam geschält und zum Abtropfen auf saubere Siebe über eine Porzellanschüssel gelegt, welche den Fruchtsaft aufnimmt. Wenn die Früchte abgetrocknet sind, werden sie nebeneinander auf Backbretter gelegt und in einen Backofen geschoben, in welchem zuvor Brot gebacken wurde. In ihm müssen sie langsam 24 Stunden trocknen, werden dann zum Erkalten mit weißem Papier bedeckt, weggestellt und darauf breitgedrückt. Man taucht sie nun schnell in den abgetropften Fruchtsaft, legt sie dann zum zweitenmal auf Siebe und trocknet sie in einem warmen, staubfreien Raum. Pappschachteln eignen sich am besten zum Aufbewahren dieses Obstes. Man legt sie mit dünnem Pergamentpapier aus und schichtet die Früchte lagenweise zwischen weißen Papierbogen in die Schachteln. He. Gebrauch alter Schwämme. Ein zum Waschen des Körpers mit der Zeit unbrauchbar gewordener Schwamm sollte niemals einfach fortgeworfen werden, denn viel besser als jegliches, noch so poröses Tuch nimmt solch ein Schwamm Feuchtigkeit auf, außerdem aber giebt es für viele Sachen kein besseres Reinigungsinstrument als ein zwar abgenutzter, aber doch weicher Schwamm. Jegliches Schuhwerk läßt sich am saubersten halten, wenn man Staub und Schmutz nicht abbürstet oder gar mit einem Messer abkratzt, sondern mit einem Schwamm abwäscht, die Stiefel dann trocknen läßt und danach weiter putzt. Auch alle lackierten Sachen, Bretter, Schränkchen, Tische und dergleichen, werden durch Abwaschen mit reinem weichen Schwamm bequem von jeglichem Schmutz befreit; Möbelfüße werden am besten staubfrei, wenn man sie mit einem Schwamm abwäscht. Daß zum Waschen von Fensterscheiben ein alter Schwamm gute Dienste leistet, ist wohl allen Leserinnen bekannt. Nur eins ist beim Gebrauch solcher Schwämme zu beachten: sollen sie die Sachen wirklich reinigen, müssen sie selbst tadellos sauber sein. Man erhält übrigens die Schwämme am besten rein, wenn man sie nach jedem Gebrauch in lauwarmem Salzwasser wäscht und an der Luft trocknet. H. Putzpulver für Spiegel- und Glasscheiben. Eine sehr große Reinheit erzielt man mit einer Mischung von 1S Teilen Kreide, 6 Teilen Trippel und 3 Teilen Bolus, die sämtlich gut pulverisiert sein müssen. Beim Gebrauch befeuchtet man die Scheibe etwas mit einem Fensterleder, taucht ein zweites Stück Leder in das Pulver und reibt damit einige Zeit in kreisrunden Bewegungen. Danach wird mit Schwamm und Wasser gesäubert und nachgetrocknet. Der Glanz derartig geputzter Scheiben ist überraschend. [772 b] Allerlei Kurzweil.
Scherzrätsel.
Rätsel.
An Stelle der Kreuzchen sind Buchstaben zu setzen, so daß sechs bekannte Wörter entstehen, die alle von links nach rechts zu lesen sind, wobei stets mit dem linksseitigen, von einem Kreis eingefaßten Buchstaben resp. Kreuzchen begonnen wird; die Wörter bezeichnen: 1. einen weiblichen Vornamen, 2. eine Lessingsche Frauengestalt, 3. einen Befehlshaber aus dem Dreißigjährigen Kriege, 4. einen Wallfahrtsort, 5. eine Nymphe, 6. einen Ort am Vierwaldstättersee. Sind alle Wörter richtig gefunden, so ergeben die durch kreisförmige Umrahmung hervorgehobenen Buchstaben, von links nach rechts gelesen, den Namen eines deutschen Dichters. Oscar Leede.
Die Auflösung der Skataufgabe erscheint auf dem Umschlag des nächsten Halbhefts.
Pflaume (Pf-lau–me).
Erz, Herz, Scherz, Schmerz.
Wenn Lieb’ und Treu’ die Wache hält,
Dante – Tante.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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