Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1899)/Heft 23

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[708 c]

23. Heft. Preis 10 cents. 1. November 1899.



Max Weil & Co., cor. 12 th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.
[708 d]

Inhalt.

Seite
Der König der Bernina. Roman von J. C. Heer (4. Fortsetzung) 709
Die deutschen Achtundvierziger in Amerika. Von General Franz Sigel. 720
Aus Andreas Hofers Heimatsthal. Von Karl Wolf. Mit Abbildungen 724
Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Mit Abbildungen 727
Galeerensklaven! Ein Mädchenschicksal, erzählt von Hans Arnold (Anfang) 728
’S ischt über d’Nacht e Rife cho. Gedicht von F. Bochazer. 736
Der angebliche Weltuntergang im November. Von Dr. H. J. Klein 736
Blätter und Blüten: Franz Reuleaux. (Zu dem Bildnis S. 709.) S. 738. – Heinrich der Löwe vor Kaiser Barbarossa. (Zu dem Bilde S. 712 u. 713.) S. 738. – Der Rhumesprung. (Mit Abbildung.) S. 739. – Die neue Elbbrücke zwischen Hamburg und Harburg. (Mit Abbildung.) S. 739. – Wildkatzenmutter mit ihren Jungen. (Zu dem Bilde S. 717.) S. 739. – Die leere Wiege. (Zu dem Bilde S. 721.) S. 739. – Mostpresse in Oberösterreich. (Zu dem Bilde S. 729.) S. 739. – Karl Ditters v. Dittersdorf. (Mit Bildnis.) S. 740. – Ein Freund in der Not. (Zu dem Bilde S. 733.) S. 740. – Die Verlängerung eines Kriegsschiffes. (Zu dem Bilde S. 737.) S. 740. – Die Chronica. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 740.
Illustrationen: Franz Reuleaux. S. 709. – Heinrich der Löwe vor Kaiser Barbarossa. Von Peter Janssen. S. 712 u. 713. – Wildkatzenmutter mit ihren Jungen. Von Ludw. Beckmann. S. 717. – Die leere Wiege. Von Eug. Buland. S. 721. – Abbildungen zu dem Artikel „Aus Andreas Hofers Heimatsthal“. Der Sandhof und die neue Hofer-Kapelle im Passeier. S. 725. Andreas Hofer. S. 727. – Abbildungen zu dem Artikel „Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit“. Lichtprüfer für Arbeitsplätze. Wäschemangeln mit elektrischem Antrieb. S. 728. – Mostpresse in Oberösterreich. Von W. Gause. S. 729. – Ein Freund in der Not. Von Heywood Hardy. S. 733. – Die Verlänngerung des Küstenpanzers „Hagen“ auf der Kaiserlichen Werft zu Kiel. S. 737. – Der Rhumesprung. S. 739. – Die neue Elbbrücke zwischen Hamburg und Harburg. S. 739. – Karl Ditters v. Dittersdorf. S. 740.
Hierzu Kunstbeilage XXIII: „Die Chronica“. Von Rich. Linderum.




Kleine Mitteilungen.

Dr. Karl Ruß †. Ein ausgezeichneter Beobachter und Kenner der Vogelwelt, der die Ergebnisse seines Forschens in echt volkstümlicher Weise darzustellen verstand, ist in Dr. Karl Ruß am 29. September dahingegangen. Aus seinem „Handbuch für Vogelliebhaber“, seinem „Lehrbuch der Stubenvogelpflege“, dem großen Werke über die „Fremdländischen Stubenvögel“, wie aus den Leitfäden zur Zucht und Pflege des Kanarienvogels, des Wellensittichs, der Tauben, Finken, Hühner, Papageien haben viele Tausende wichtige Ratschläge und Fingerzeige für die Erhaltung und Zähmung ihrer gefiederten Lieblinge geschöpft. Dasselbe ist der von Ruß seit 1872 herausgegebenen Zeitschrift „Die gefiederte Welt“ nachzurühmen. Karl Ruß stammte aus Westpreußen, wo er am 14. Januar 1833 zu Baldenburg geboren war. Nachdem er in Berlin Naturwissenschaften studiert hatte, entfaltete er von hier aus seine außerordentlich fruchtbare litterarische Thätigkeit, die sich auch auf andere Gebiete der Naturkunde erstreckte. Die „Gartenlaube“ verliert in dem Verstorbenen einen hochgeschätzten Mitarbeiter.

Zur Erinnerung an Christian Friedrich Schönbein. Seit Jahrzehnten nimmt die Schießbaumwolle unter den Sprengmitteln der Neuzeit einen hervorragenden Platz ein. Am 18. Oktober sind hundert Jahre vergangen, da der Entdecker dieses im Krieg und Frieden so wichtigen Stoffes das Licht der Welt erblickte. Christian Friedrich Schönbein war ein Schwabe, seine Wiege stand in Uetzingen, einem kleinen Orte zwischen Nürtingen und Reutlingen. Er genoß eine einfache, aber sorgfältige Erziehung und trat im 14. Lebensjahre als Lehrling in eine chemische Fabrik zu Böblingen. Schon hier zeichnete er sich durch Eifer und Arbeitstreue sowie Geschicklichkeit aus und war von dem Bestreben beseelt, die freie Zeit wissenschaftlichen Studien zu widmen. Im Jahre 1820 erhielt er auf Verwendung seines Prinzipais eine Stellung bei Dr. J. G. Dingler in Augsburg, der durch die Publikation des weitverbreiteten „Polytechnischen Journals“ berühmt war und damals eine Fabrik chemischer Produkte besaß. Dann ging er noch in eine chemische Fabrik nach Gamhofen bei Erlangen. Die Nähe der Universität bot ihm Gelegenheit, seine Studien fortzusetzen, bis es ihm möglich wurde, im Herbst des Jahres 1821 die Universität seines Heimatlandes in Tübingen zu beziehen. Nach zweijährigem Aufenthalt daselbst begann er als Lehrer in Keilhau bei Rudolstadt zu wirken, ging dann nach England, wo er an einem Institut in Epsom Chemieunterricht gab, besuchte auch die Pariser Universität und wurde schließlich im Jahre 1828 an die Universität Basel berufen, an der er bis an sein Lebensende thätig blieb. Er starb am 29. August 1868 auf dem Gute Sauersberg bei Baden-Baden auf der Heimreise von Wildbad an einem Karbunkel.

Als Schönbein in seinem Laboratorium das Wasser mittels des elektrischen Stromes in seine Bestandteile zersetzte, merkte er bei diesem Prozeß den eigenartigen Geruch, der auch nach Blitzschlägen etc. aufzutreten pflegt. Er beschloß, das Wesen desselben zu erforschen, und stellte den Ozon dar, der nach jahrelangen mühevollen Versuchen als ein im besonderen aktiven Zustand sich befindender Sauerstoff erkannt wurde. Im Verlauf dieser Arbeiten entdeckte er auch die Schießbaumwolle. Schon im Jahre 1845 prüfte er die Einwirkung einer Mischung von Schwefel- und Salpetersäure auf verschiedene Körper. In dieser Flüssigkeit wurde das Papier in einen pergamentähnlichen Stoff verwandelt, Rohrzucker lieferte einen harzähnlichen Körper. Zu Anfang des Jahres 1846 tauchte er Baumwolle in das erwähnte Gemisch, und diese wurde, ohne ihr Ansehen merklich zu verändern, in einen Stoff verwandelt, der beim Entzünden wie Pulver explodierte. Schönbein hielt anfangs die Herstellung des neuen Sprengstoffes geheim und stellte in Basel mit Hilfe der Militärbehörden verschiedene praktische Versuche an. In ähnlicher Weise suchte er in England die Schießbaumwolle in die Sprengtechnik einzuführen. Er verband sich dann mit Professor Böttger aus Frankfurt a. M., dem es Ende des genannten Jahres gleichfalls gelungen war, die Schießbaumwolle darzustellen. Die neue Erfindung wurde in England patentiert und von der österreichischen Regierung angekauft.

Schönbein fand auch, daß die Schießbaumwolle sich in einer Mischung von Aether und Alkohol löse. Er gab dieser Lösung den Namen „Klebäther“. Die Amerikaner nannten sie später Kollodium, nach dem griechischen Worte kollôsea (klebrig). Schönbein empfahl sie bereits als Deckmittel für Wunden; in der Photographie leistete das Kollodium bei der Herstellung der Platten hervorragende Dienste. Die wichtige Ausnutzung seiner Entdeckungen in der Fabrikation des Celluloids und des rauchlosen Pulvers hat Schönbein nicht mehr erlebt.

Ein Gaszimmerofen für elektrische Beleuchtung – diese Bezeichnung scheint einige Widersprüche einzuschließen, ist aber der ganz zutreffende Ausdruck für eine merkwürdige Erfindung des Physikers Dr. Girard zu Chantilly, durch welche mehrere schwierige und wichtige Aufgaben der jüngsten Zeit miteinander verknüpfte und dadurch anscheinend einer glücklicheren Lösung entgegengeführt sind. Die eine von diesen Schwierigkeiten betrifft die Erzeugung von Elektricität aus Wärme mit Umgehung des Dampf- und Dynamoapparats. Man hat dieses Problem schon vor längerer Zeit und auch neuerdings wieder durch die Thermosäulen zu lösen gesucht, deren Wirksamkeit darauf beruht, daß gewisse durch Lötuug miteinander verbundene Metalle bei einseitiger Erhitzung und andersseitiger Abkühlung ihrer Lötstellen einen elektrischen Strom erzeugen. Eine ganze Reihe solcher Thermoelemente, beispielsweise aus Antimon und Wismut zu einem Kranz oder einer Säule zusammengesetzt und auf der einen Seite erwärmt, auf der anderen abgekühlt, erzeugt einen andauernden, ziemlich starken elektrischen Strom, der freilich zur praktischen Verwertung zu teuer wird. Eine sinnreiche Anordnung der Thermoelemente und der Heizquellen hat neuerdings zu etwas besseren Erfolgen geführt, aher bei weitem nicht dahin, eine der Dynamomaschine gleichwertige Elektricitätsquelle zu schaffen. Ein äußerst glücklicher Gedanke war es nun, dies Problem mit einem anderen zu verknüpfen, dessen Schwierigkeiten ebenfalls auf ökonomischem Gebiete liegen, mit dem Gasheizofen. Vor der Holz- oder Kohlenfeuerung hat die Gasheizung offenbar in ihrer Sauberkeit, leichten Bedienung und Regulierbarkeit, besonders aber, weil man der Mühe überhoben ist, den täglichen Brennstoffbedarf vom Keller in die Stube schaffen zu lassen, eine Reihe von großen Vorzügen. Nur ein Fehler steht dem gegenüber, der hohe Preis des Steinkohlengases, das ja zum Leuchten und nicht zum Heizen gemacht wird. Girards Erfindung erinnert nun an die Geschichte vom Blinden und Lahmen, von denen jeder einzelne nicht von der Stelle kam, während sie vereint ganz gut dazu imstande waren.

Sein thermoelektrischer Ofen hat nämlich die Form rines cylindrischen Gasheizofens mit Strahlungsrippen. Die thermoelektrischen Elemente, aus Nickel und einer Antimonlegierung zusammengesetzt, befinden sich in einem Mantelraum zwischen der äußeren Ofenwand und einem inneren für das Aufsteigen der Feuergase bestimmten Rohre. Jedes Element ist einzeln mit Asbest umhüllt und in einen Eisenblechmantel gelegt, die ganze Anordnung aber ist derart, daß die inneren Köpfe der Elemente sich unter der Einwirkung der Gasflammen stark erhitzen, die äußeren unter der Wirkung der Außenluft sich abkühlen. So wird beim Feuern des Gasofens behufs Zimmerheiznng gleichzeitig ein elektrischer Strom erzeugt, der zur Speisung von zwei Glühlampen zu je 16 Kerzen ausreicht. Heizt man also den Ofen abends, so hat man gleichsam eine Gratisbeleuchtung, heizt man ihn bei Tage, so ist es möglich, den Strom in Akkumulatoren aufzuspeichern und abends sogar in stärkerer Konzentration zur Speisung einer größeren Lampenzahl zu verwenden. Bw.     

[708 e]


DIE CHRONICA
Nach dem Gemälde von Rich. Linderum

Die Gartenlaube 1899. Kunstbeilage 23

[709]

Halbheft 23.   1899.


Der König der Bernina.

Roman von J. C. Heer.

     (4. Fortsetzung.)

8.

Die Freunde kamen zu Besuch nach Pontresina. Mit vielen schönen Worten redeten sie von ihrem Bund. Von einer Acla, einer Waldwiese, wanderte man gegen Abend nach dem Dorfe zurück, man aß Brot und Milch, worauf die ganze Gesellschaft die Werkstatt Paltrams besuchte und darin in überschäumender Fröhlichkeit eine große Unordnung anstellte. Denn die Freunde schmiedeten und die Mädchen ließen neugierig das Wasserrad und den Blasebalg spielen. Und Cilgia brauchte sich über Markus nicht zu schämen, neben Luzius von Planta war er, obgleich nur Büchsenschmied, der Jüngling mit den besten Formen des Umgangs, und in der Macht der Erscheinung kam ihm keiner der jüngeren Freunde gleich. Aber auch ihnen war sie dankbar, denn sie begegneten Markus mit großer Artigkeit und Herzlichkeit. Es spürte eben jeder, daß er ein Besonderer und kein Kleiner war. Das Köstlichste aber für Cilgia war, daß niemand von den Freunden merkte, wie nahe ihr Markus stand, obgleich sie dann und wann mit ihm einen verstohlenen Blick herzlichen Einverständnisses gewechselt hatte.

O, was ist es Schönes um so eine heimliche, glückliche Liebe! Niemand wußte darum, nur die thörichte wilde Pia. Ihre Raubtieraugen fragten verwirrt: Wie kann man einen so entsetzlichen Menschen wie Paltram lieben? Sie fürchtete ihn wie das Schwert Domino Clas’, des Scharfrichters, und folgte jedem seiner Worte mit hündischem Gehorsam. –

„Wenn du nicht still hältst und nicht thust, was ich dir sage und dir zeige, wird die Schulter nie wieder so gesund, daß du deinen Bruder besuchen kannst!“

Cilgia mahnte die Widerspenstige wie schon oft.

„Doch – doch, zu meinem guten Bruder Orland in Hamburg muß ich einmal gehen,“ knirschte Pia und duldete, daß ihr die freiwillige Pflegerin mit sanftem Strich und Druck so, wie es Paltram ihr gewiesen, über die wehe Schulter fuhr. Im Kampf gegen die reißenden Schmerzen tastete sie mit der unsicheren Linken nach den Gegenständen, meist Dingen aus der Werkstatt Paltrams, die auf ihrer Decke lagen, hielt sie, hob sie, senkte und schwenkte sie und ahmte mit ingrimmiger Festigkeit die Bewegungen und Handgriffe nach, die ihr Cilgia mit aufmunternden Worten vormachte. So übte man am Morgen eine halbe Stunde und eine halbe Stunde am Nachmittag.

Erschöpft schlummerte Pia ein.

Mit warmer Teilnahme betrachtet Cilgia die jugendliche Schläferin.

Sie ist ein tolles Ding, die Pia. In der niederen, doch vom Ansatz des schwellenden, schwarzen Haares schön gezeichneten Stirne hatten nur wenige Gedanken Raum, aber die wenigen sitzen darin wie die Vögel im Nest und beherrschen sie. Es sind besonders diejenigen, die ihr die alte Wahrsagerin auf der Landsgemeinde eingegeben: sie würde arm und ledig bleiben, ihr Bruder aber reich und geachtet werden! Unmittelbar vor dem Unglück hatte sie einen Brief von ihm erhalten, worin er schrieb, er sei bis Hamburg

Franz Reuleaux.
Nach einer Aufnahme von Reichard & Lindner, Hofphotographen in Berlin.

[710] gewandert und habe auf einem Schiff eine Anstellung gefunden. Den Brief hielt das Mädchen, das kaum lesen konnte, unter dem Kopfkissen geborgen, sie durchging seine paar Zeilen täglich wohl zehnmal und schöpfte daraus die Gewißheit, daß sich alles so ereignen würde, wie es die Alte prophezeit hatte.

„Dann aber, wenn mein Bruder einmal reich und geachtet ist, will ich ihn besuchen und sein Glück sehen. Wie wird er sich freuen, wenn ich komme!“

Das war der Anfang und das Ende ihrer Träume.

In der Ueberzeugung, daß sie nicht mit einer schlechten Schulter vor ihren Bruder treten dürfe, fügte sie sich in die Behandlung, obgleich sie in ihrer seltsamen Verstocktheit, mit der Wut ihres Eigensinns dabei blieb, daß niemand als Markus Paltram die Schuld an ihrem unglücklichen Sturze trage.

„Du häßliche Ratte,“ zürnte Cilgia, „wie kannst du nur so denken! Willst du wirklich auch mich einmal beißen, wie du zu Samaden gesagt hast?“

„Natürlich werde ich Euch einmal beißen,“ versetzte Pia und ließ ihre Augen, die Worte bekräftigend, funkeln.

Cilgia wußte nicht, sollte sie lachen oder zornig sein. „Was habe ich dir denn zuleide gethan, Pia?“ Und mit guter Laune streichelte sie das schwarze, glänzende Haar der Bösartigen.

„Nichts. – Ihr tragt aber schöne Kleider und ich Lumpen, und wenn ich gesund bin, muß ich auf die Alpe steigen, Ihr aber könnt daheim sitzen und Euch fallen keine Geißen zu Tode.“

So grollte das wilde Kind.

„Du Heidin!“ Aber umsonst mühte sich Cilgia, Pia etwas vom milden Sinne des Christentums beizubringen, die hohen Gedanken gingen nicht in die niedere Stirn, und als sie ihr erzählte, wie Katharina Dianti ihrem unmenschlichen Peiniger mit übermenschlicher Liebe gelohnt habe, erwiderte Pia, die scheinbar mit aufmerksamem Verständnis zugehört hatte, kaltblütig:

„Das hat die schon gekonnt, die war ja reich.“

Die Anhänglichkeit an ihren Bruder war der einzige holdselige Gedanke, der hinter dem reizvollen Lärvchen Pias wohnte.

Cilgia aber lebte in dem Glücksgefühl, daß vom Lager Pias ein verklärender Strahl auf ihre Liebe falle.

„Was sollte vom Waldteufel Gutes kommen?“ antwortete zwar Markus lachend, als sie ihm eines Tages ihre Gedanken verriet; aber er selbst versäumte nichts, was Pia diente. Und der Erfolg kam – nicht von Tag zu Tag, aber von Woche zu Woche, wie es Markus vorausgesagt hatte.

„Pia, die blutrünstigen, bunten Flecke sind fast ganz verblaßt und vergangen,“ jubelte Cilgia, „und die mißliche Schulter, das sieht man, wird wieder so schön wie die andere – freust du dich nicht, Pia?“

„Ich habe schon im voraus gewußt, daß Paltram das kann – wozu ist er ein Camogasker? – wozu habe ich die vielen Dummheiten machen müssen?“

Sie war unverbesserlich, die braune Hornisse.

Pfarrer Taß kam ein paarmal an das Krankenbett Pias, und zur Freude Cilgias setzte er großes Vertrauen in die Kunst Paltrams. Mit ihm das Dorf – nur wenige rümpften die Nase – es war, wie der Pfarrer sagte: „Das ganze Oberengadin spannt auf den Ausgang. Man wußte bis jetzt nichts anderes, als daß, wer die Schulter brach, ein armer Tropf geblieben ist.“ –

Cilgia führte die Kranke, die den Arm in einer breiten Schlinge trug, schon seit manchen Tagen zur Bank am Thor von Santa Maria empor.

„Denn auch die Sonne ist ein Arzt,“ sagte Markus.

Eines Abends aber, als Cilgia Pia durch das Gelände heimwärts begleitete, stand Markus wohl wie sonst im Lederschurz unter der Werkstattthüre, aber nicht mit dem glücklichen Gesicht, mit dem er jetzt die Entgegenkommende oft begrüßte.

„Was ist geschehen, Markus?“ fragte Cilgia.

„Der junge Gruber war da und hat das Gewehr geholt, das der Alte bestellt hat,“ versetzte er gedrückt, „und er ist dann nach dem Pfarrhaus gegangen.“

Da errötete Cilgia und nahm mit einem guten Ausdruck der Vertraulichkeit seine Hand.

„Thorheiten, Markus, deswegen brauchst du doch nicht eifersüchtig zu sein – Markus, höre!“

Ihre Augen strahlten ihn an.

„Es sind jetzt so herrlich reine Tage und ich möchte, ehe Schnee fällt, noch einmal hinüber nach Puschlav gehen, um am Grabe meines Vaters zu beten und nach unserem Haus zu sehen. Nun meine ich, es wäre sehr schön, wenn du mich bis auf die Berninahöhe begleiten würdest. Wir würden früh von Pontresina weggehen und hätten dort oben, wo die kleinen Seen liegen, schöne Rast, denn ich würde unsern alten treuen Knecht Thomas, der das Haus zu Puschlav hütet, erst für abends vier Uhr auf den Paß bestellen. Markus, komm’ mit mir in die große, weite Einsamkeit des Gebirges, dort können wir so recht von Herz zu Herzen miteinander reden!“

Er antwortete nicht.

„Gelt, du schenkst mir den Tag von deiner Arbeit weg?“ bettelte sie.

„Ja, mit tausend Freuden!“ kam es endlich und verspätet von seinen Lippen, und wie von einem Wunder überströmt, stand er in seinem Lederschurz.

Markus Paltram empfand nur in dunkeln, stürmischen Wallungen das Glück des unendlichen Vertrauens, das in ihren Worten und Augen lag, er spürte es wie Erlösung und Erhöhung: denn daß sie bei dem Liebesgeständnis von Santa Maria die Stirne seinem Kuß entzogen, hatte ihn später doch wie eine demütigende Erinnerung ans Rosegthal beschwert.

Jetzt wußte er, daß Cilgia nur aus Mädchenstolz zurückhaltend gewesen war.

„Also, Markus, ein fröhliches Gesicht – eben so ein glückliches wie jetzt – wir wandern!“

Mit schlichter Güte sagte sie es, und nun schritt das herrliche Mädchen dem Dorfe zu. Markus Paltram aber machte für diesen Tag Feierabend.

Denn das Glück ist ein Fest.

*               *
*

„Cilgi“ – so kürzte der Pfarrer ihren Namen gemütlich – „ich habe dem jungen Gruber das Geleite nach Samaden gegeben; es thut mir leid um den jungen Mann! Er hat so eine hübsche männliche Art, gute blaue Augen, und ich glaube, wenn du ihn jetzt gesehen hättest, hätte er dir besser gefallen als zu Fetan. Der kurzgeschnittene blonde Bart steht ihm wohl an, und wenn er auch im Reden etwas trocken ist, so klingt doch sein Lachen gut.“

„Und eben die Trockenen mag ich nicht leiden,“ versetzte Cilgia mit leichtem Spott, „aber sagt, wie hat Euch das Gewehr gefallen, das ihm Paltram geliefert hat?“

Der Pfarrer lächelte über den Seitensprung ein wenig hinter den Stockzähnen.

„Es ist ein Prachtstück,“ antwortete er indes eifrig. „Paltram wird diesen Winter eine Menge Arbeiten erhalten.“

„Daß wir kaum mehr Zeit haben, die Schulter der Pia zu flicken,“ fiel Cilgia lustig ein.

„Er geht seinen Weg gut,“ versetzte der Pfarrer. „Euer Handel von Fetan – das neue Gewehrschloß – seine Heilkunst – alles hat ihn bekannt gemacht und empfiehlt ihn, und seine Bubenstreiche von Madulein geraten darüber in Vergessenheit.“

„Und daß er jetzt jeden Sonntag zur Kirche kommt, ist hübsch von ihm,“ folgte Cilgia übermütig dem Tonfall des Pfarrers.

„Du Schelm, du!“ Und wie um sie zu strafen, fuhr er fort: „Ich würde an deiner Stelle den jungen Gruber gar nicht so leicht nehmen; es hat mir leid gethan, daß ich ihn, wenn auch mit gutem Wort, in deinem Namen hoffnungslos abweisen mußte.“

Etwas in der Stimme des Pfarrers ließ Cilgia ernst aufhorchen.

[711] „Er war so traurig,“ berichtete oer Pfarrer, „daß es ihm fast die Thränen aus den Augen preßte; besonders weil ich ihm dringend geraten habe, dich nicht sehen zu wollen, da er sich den Stachel nur tiefer treibe.“

„Onkel, es ist ein Elend, geliebt zu werden, ohne daß man wieder liebt,“ antwortete sie erregt. „Der junge Gruber erbarmt mich!“

„Die Gabelfanggeschichte ist das einzige, was gegen ihn vorliegt. Ist sie wahr, so ist sie ein schwerer Makel an seiner Ehre. Aber die große Frage ist noch: ‚Ist sie wahr?‘“

„Und wenn sie ganz erfunden wäre, würde ich ihn doch nie lieben!“ versetzte Cilgia bestimmt.

Der Pfarrer schaute sie fragend an.

„Onkel, ich liebe einen andern,“ sagte sie errötend und zögernd.

„Du Heimlichthuerin!“ Und nun war der Pfarrer in Spannung wie seit langem nicht mehr. „Konradin von Flugi? Sein Vater, der Landammann, hätte nichts dagegen, ich weiß es, er hält große Stücke auf dich.“

„Konradin von Flugi hat sein verliebtes Herz schon an jemand geschenkt,“ erwiderte Cilgia schalkhaft.

„Du weißt mehr Geheimnisse aus dem Engadin als ich – ist es der tüchtige Fortunatus Lorsa?“

In lebhafter Bewegung drängte der Pfarrer zur Antwort.

„Es ist nicht Lorsa, obgleich ich ihn unter den Freunden von Fetan am ehesten lieben könnte und er mir zehnmal willkommner wäre als Gruber. Es ist auch nicht Andreas Saratz, der mir zu langsam und froschblütig in Thun und Denken ist. Auch nicht Luzius von Planta, der mit seinen zwanzig Jahren schon so glatt wie ein Gesandter redet und so feine Unterschiede wie ein alter Richter macht. Ich habe sie als Freunde wohl alle gern – –“

Ungeduldig fragte der Pfarrer:

„Es wird doch nicht Paltram sein, dem hast du ja das Jagdstück nie verziehen?“

Cilgia zögerte.

„Sage mir, daß er es nicht ist – es thäte mir leid!“

Eine Ahnung ging durch den Kopf des Pfarrers – am Bette Pias hatten sich die beiden ja täglich gesehen.

„Doch, es ist Paltrmn,“ flüsterte Cilgia ernst und senkte das erglühende Haupt.

Der gemütliche Pfarrer stand hastig auf und maß mit schwerem Schritt das Zimmer.

Peinvolles Schweigen herrschte zwischen den beiden und man hörte die alte Wanduhr mit schwerem Schlage ticken.

„Onkel, sprecht doch,“ bat Cilgia inständig.

Da stand er vor ihr still.

„Weißt du, wie du mir vorkommst, Kind?“ sprach er mit rotem Kopf. „In Oesterreich unten hat man die Lotterie – tausend verlieren, damit zehn gewinnen – und einer gewinnt den großen Preis – du aber spielst ein gefährlicheres Lotto! – Du spielst nur auf den großen Preis und neben ihm liegen nur Nieten. – Niemand im Engadin zweifelt daran, daß Markus Paltram ein außerordentlicher Mann ist, er beschäftigt das Volk wie keiner, er kann, wenn er ganz erwacht ist, in Gutem oder Bösem ein Großer werden – aber was er ist, weiß zur Stunde niemand.“

„Ich weiß,“ erwiderte Cilgia sehr ernst, „ich spiele auf das große Los – aber mit reichen Hoffnungen!“

Sie schaute ihn mit der ganzen Wärme und Fülle ihrer großen schönen Augen an.

Da trat Pfarrer Taß, der sonst das Salbungsvolle nicht liebte, vor seine Nichte und legte die ausgestreckte Rechte auf ihren Scheitel.

„O Cilgia, Cilgia – möge deinem Haupt kein Leid widerfahren!“

Sie war in tiefer Bewegung verstummt.

„Das verstehe ich,“ sagte nach einer Weile der Pfarrer ruhiger, „wer sich an Paltram wagt, kann Sigismund Gruber, den trocknen, nicht lieben. Wenn man solch einen liebt, dann giebt es kein Zurück. Die Frage ist nur: Führt er dich zum höchsten Glück oder ins tiefste Leid? Ich fürchte die Camogaskersage – warum, das weißt du!“

Cilgia aber erzählte ihm, wie sich ihr gegenseitiges Geständnis bei Santa Maria zugetragen hatte.

Der Pfarrer traute seinen Ohren nicht. „Paltram geht sein Leben lang nicht mehr auf die Jagd?“

„Es ist sein heiliger, großer Eid,“ bekräftigte Cilgia, und der Pfarrer schritt im Gemach auf und ab.

„Ein Eid – es ist ein Eid, den nur ein Uebermensch halten kann! Ich fand mit dir auch schon, daß die Jagd sich nicht recht zum Pfarramt reimt, denn jeder Jäger ist ein Stück Paltram, aber Paltram ist der leidenschaftlichste Jäger, den ich je gesehen habe. Hält er sein Versprechen sechs Wochen, so ist er der stärkste Mann des Engadins. Drum sage ich: Cilgia, baue dein Glück auf diesen Fels – sechs Wochen nur noch, Cilgia, sei vorsichtig gegen ihn!“

„Er wird es halten,“ versetzte Cilgia gläubig, „und ich werde es ihm leicht und süß machen. Glaubt mir, Onkel, er ist kein Statzersee, er ist nur eine Seele, die Sonne braucht – ich will sie ihm geben.“

Cilgia sagte es mit einem Antlitz, in dem das Vertrauen zu Himmel und Erde stand.

Als sie aber dem Pfarrer auch noch den Reiseplan darlegte, da schüttelte er den Kopf.

„Uebe Geduld, Kind – es gefällt mir gar nicht, dich mit ihm einsam auf der Berninahöhe zu denken.“

Vorsichtig und gelassen sprach er.

Cilgia aber schwieg einen Augenblick, ein Ton seiner Rede hatte sie da getroffen, wo ihr Gemüt am empfindlichsten war.

Dann flammten ihre Augen auf.

„Was haltet Ihr von mir, Onkel? Bin ich nicht Cilgia Premont? – Paltram ist eine Feuerseele – aber Ihr hättet ihn bei Pia sehen sollen – er war wie der Tag! Und ich habe es ihm schon versprochen und kann nicht zurück.“

Es war etwas in ihrer Rede, was den Pfarrer schlug – aber ruhig wurde er nicht.

„So geh in Gottes Namen!“ sagte er und brütete vor sich hin, was sonst nicht seine Gewohnheit war. –

Und es kam der Wandertag.

Die Morgennebel lagen schwer und dicht zwischen den Bergen, so daß man die Hand vor Augen nicht sah und nur die das Grau durchdringenden Töne der Saumglocken es verkündeten, daß doch etwas Leben auf dem rauhen, holprigen Wege herrschte.

Markus Paltram trug seinen einfachen, sauberen Sonntagsstaat, dazu den halbhohen steifen Hut; Cilgia hatte einen leichten hellbraunen Pelzmantel umgeschlagen und ein gleiches Mützchen auf die Zöpfe gesetzt, was ihr lieblich und vornehm stand.

So schritten sie durch das stumme, frostige Grau, in dem nichts die Gedanken vom nächsten abzog.

Er sprach von seinen großen Erfolgen als Gewehrschmied.

„Wie bist du eigentlich darauf gekommen, Büchsenmacher zu werden, Markus?“ fragte sie plaudernd.

„Das ist mir angeboren,“ erwiderte er. „Ich glaube, als ich die ersten Höschen trug, baumelten mir auch schon die erste Gewehrschnalle und die ersten Flintenschloßstücke in der Tasche.“

„Bitte, Markus, erzähle mir einmal deine Jugend,“ bat Cilgia.

Und siehe, der sonst so verschlossene junge Mann, aus dem über seine Vergangenheit nichts herauszubringen war, sprach gegen sie mit offener Freude, ja wie aus innerem Drang. Sie lohnte seine Bereitwilligkeit mit einem süßen Blick.

Er erzählte von seiner schönen, doch verbitterten Mutter, deren hohen Sinn weder der Vater, noch sonst jemand im Dorfe verstand und nur ihr ahnungsreicher Aeltester erfaßte.

„Sie nahm mich,“ berichtete er, „oft mit beiden Händen am dunklen lockigen Kopf und vergrub ihre Augen in die meinen und lachte mit ihren blanken Zähnen: ‚Märklein – Märklein, geh nicht in die Stuben und horche, was die Leute reden – geh du lieber an die Wasser und in den Wald!‘

Und da mir niemand so klug wie meine Mutter schien, ging ich. Doch nie am Morgen, ehe sie sich die Wangen rot

[712]

Heinrich der Löwe vor Kaiser Barbarossa.
Nach dem Gemälde von Peter Janssen.

[713] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [714] gewaschen und sich gekämmt hatte. Denn die Mutter sich waschen und sich kämmen sehen, war mein Morgengebet. Ich setzte mich auf einen Schemel, faltete die Hände, war ganz still und schaute meine Mutter an. Die Flut ihrer dunklen Haare, die ihr bis auf die Kniee reichten, umgab sie wie ein Mantel, und wenn der Kamm durch sie glitt und eine Spalte öffnete, so schimmerte daraus ein Frauenantlitz, daß ich meinte, es gäbe kein schöneres unter dem blauen Himmel, und ihre Augen waren so dunkel wie die Nacht zwischen den Waldstämmen. Es war ihre glückliche Stunde oder halbe Stunde, wenn sie sich kämmte, und sie nahm sich gern Zeit dazu. Ohne meiner Gegenwart zu gedenken, erhob sie dann ein Selbstgespräch, und durch den schwarzen, glänzenden Mantel flüsterten ihre Worte geheimnisreich zu dem kleinen Buben, der jedes auffing und bewahrte. Sie muß, ehe sie meinen Vater nahm, in tiefster Stille mit einem reichen Bauernsohn von Scanfs verlobt gewesen sein, der sie verließ. Denn ihre Lippen flossen über von Menschenverachtung, von harten Worten gegen den zu Scanfs, von scharfen Urteilen gegen die Nachbarsleute. Dann fuhr sie fort: ,Aber mein Märklein, mein Märklein ist ein kluger Bursch – er wird der erste zu Madulein – nein, er muß Landammann des Engadins werden – mehr‘ – – doch das kann ich nicht sagen, was sie weiter sprach! Und sie nahm mich mit einer Gewalt in die Arme, daß ich laut hätte aufschreien mögen, und zog mir mit einem langen Kuß den Atem aus der Seele.“

Mit keinem Wort unterbrach Cilgia die Beichte Paltrams.

Da fuhr er fort: „Vom Innersten meiner Mutter genährt, wuchs ich auf, ich war sie selbst, soweit ein Bube seine Mutter sein kann, ich liebte, was sie liebte, ich verachtete, was sie verachtete, und wagte alles, wenn ich ihres Beifalls gewiß war. Sie half mir gegen den Vater, sie half mir gegen das ganze Dorf, das ich mit meinen Streichen erschreckte.“

„Eins vor allem möchte ich wissen,“ sagte Cilgia. „Ist es wahr, daß du einmal einem verbrannten Mädchen die Schmerzen gestillt hast?“

Aller Sonnenschein war aus dem Gesicht Paltrams gewichen – er schwieg und seufzte.

„Es ist wahr,“ antwortete er nach einer Weile. „Ich entdeckte eine Kraft in mir, die sonst niemand im Thale besaß. Ich erschrak – ich freute mich, meine Mutter mit mir – und sie sagte mir Tollheiten ins Ohr, die ich nicht wiederholen mag. Ich sog das süße Gift mit Begierde ein – ich fragte nichts nach Gott und Teufel – ich sah nur jeden heimlich darauf an, ob er meinem Auge unterliegen würde; ich sperrte mich scheinbar, an die Betten der Kranken zu treten, aber ich hätte gewollt, das ganze Engadin wäre elend und ich könnte hintreten und sagen: ,Du darfst keine Schmerzen leiden‘, und es mit Händen und Augen zwingen.“

Cilgia seufzte. Beklommen schritt sie neben ihm.

„Ich wußte aber auch,“ fuhr er düster fort, „daß ich etwas that, was nicht sein sollte, denn jedesmal, wenn ich meine Kunst übte, fühlte ich mich nachher wie zerschlagen – und am elendesten, wenn sie versagte. Es war eine Kunst für Schwächlinge und arme Tröpfe; als ich mich auch an starke, willensfeste Männer wagte, unterlag ich und verwünschte die Gabe. Meine Mutter indessen berauschte sich daran, ihr zu Gefallen übte ich die geheimnisvolle Kraft.

,Jch ertrage diese Augen am Tisch nicht mehr,‘ sagte mein Vater.

‚Merkst du nicht, daß er heimliche Kräfte hat?‘ erwiderte meine Mutter.

Streitigkeiten mit meinem Vater trieben mich nach Frankreich. Ich wußte nicht, was ich von meiner Kunst halten solle, und habe sie in St. Etienne an den Gesellen noch manchmal aus Prahlerei geübt. Unser Atelier hatte aber einen regen Instrumentenverkehr mit Spital und Lazarett; meine von früher her große Teilnahme für Krankheitserscheinnngen erwachte, ich wurde mit meiner geschickten Hand der Lieblingsgehilfe des Professors Lagourdet.

Ihm offenbarte ich eines Tages meine geheime Kunst und zeigte sie ihm an Kranken. Schon meinte ich, ich führe ihn zu einer großen Entdeckung, er aber sagte: ‚Markus, die Kunst ist uralt; ob es der Wissenschaft gelingt, etwas Kluges daraus zu machen, ist unsicher! Sicher ist nur eins: es ist eine verbrecherische Handlung, sich des Willens eines andern so zu bemächtigen, daß er dem eigenen Willen dienstbar wird und die Gesetze der Natur, zu denen auch der Schmerz gehört, in Leib und Seele des andern aufhebt. Thue es nicht mehr, Markus, wirf dich nicht zusammen mit den Gauklern und Betrügern, die von den Chaldäern an bis zu den arznenden Schwindlerinnen in Paris die dunkle Gewalt des Willens mißbraucht haben. Denn die Natur rächt die Verbrechen, die an ihr begangen werden. Und es wäre für dich schade, mein Junge, wenn du eines Tages dein eigenes Opfer würdest! – Wahnsinn oder Verbrechen, das ist das Ende dieser Kunst.‘“

So erzählte Markus.

„Und an Pia hast du sie doch wieder geübt!“ versetzte Cilgia gepreßt und vorwurfsvoll. „Versuche sie nie an mir, Markus, sonst würde die Liebe zum Haß!“

Da fiel ein blasses Licht in die Nebel, durch die sie wanderten, zwischen rauchenden Wolken drang die Sonne herein, der lichte Schein der Berge und Spitzen, duftige Höhenbilder schwebten in abgerissenen Stücken phantasmagorisch durch das Grau.

Und plötzlich stand vor ihnen in Sonne das Naturbild des Morteratsch.

Cilgia aber, die über die Beichte des Geliebten ängstlich geworden war, blickte in ein glückliches Gesicht.

„Nein, Cilgia, glaube mir, wenn ich dir diese Dinge erzähle, so ist es, weil ich vor dir offen sein möchte wie ein Buch – weil ich dir Vertrauen mit Vertrauen vergelten – weil ich dich bitten möchte, daß du mich aus den Nebeln meiner Jugend an die Sonne führest! Ich möchte gut werden, Cilgia, wie du bist! Schau mir in die Augen, Cilgia ...“ und er nahm ihre beiden Hände und staunte begeistert in ihr schönes Gesicht. „Nein – nein! Deine Augen voll Tag und Licht sind stärker als ich – ich sage dir ja, es sind nur Schwächlinge, die schon einen kranken Keim in sich tragen, die dieser blöden Kunst erliegen, du aber bist stark, meine herrliche Cilgia! Du bist gesund – und du sollst mir deinen Willen geben – nicht ich dir den meinen! In deiner Liebe begrabe ich die unselige Kraft. – O, Cilgia, hilf mir – ich habe auf der weiten Welt niemand als dich!“

Die Erregung beider war so tief, daß sie die Schönheit der Landschaft nicht sahen, die sie umgab. Sie standen an jener Stelle, wo das Engadin sein schönstes Wasserspiel entfaltet. Zwischen dunklen Tannen und Arven hervor rauscht der Berninabach mit Wellen so klar wie Glas, zerteilt sie zwischen grün überwucherten Felsen und wirft die strudelnde Klarheit in schneeigen Strähnen und Bündeln in die trübe Eismilch des Baches, der vom ganz nahen Morteratschgletscher kommt.

Das Liebespaar schreitet über den schmalen Steg, in der Mitte aber hält Cilgia an und faßt die Hand des Geliebten.

„Siehst du das Wunder, Markus?“

Auf den blauen Schwaden des Nebels, in die sich der Doppelbach geheimnisvoll verliert, steht der Schatten des schwankenden Steges, und auf dem Schatten stehen ihre Schatten, um ihre Häupter aber schwebt eine einzige Glorie wie das Sonnenrad.

„Die Sonne – die Sonne – sie spannt uns in den gleichen Reif des Lichts!“ So jubelt Cilgia. „Und wie uns die Sonne eint, so wollen wir in ihrem Licht zusammenbleiben!“

Sie lehnte ihr Haupt an seine Schulter und er küßte ihre Stirn und sie litt es errötend.

Vor ihnen aber lag der Morteratschgletscher in der Pracht des milden Herbsttages und hinter ihm flammte schneeweiß der Piz Bernina in das tiefe Blau des Himmels. Ein überirdisches Licht fällt von seinen Schneewänden auf den Gletscher, der in einem fleckenlos reinen Halbkreis von Winterbergen wie ein Gebilde des Märchens ruht.

In mächtigen Burgen blauen Eises steigt er auf zur Jsola Persa, der verlornen Insel, und umspannt sie, und neben ihr baut sich eine wunderliche Stadt von Eis, mit Giebeln, Spitzen, Bogen und Brücken und gähnenden Gassen, und weißes und azurnes Licht traumwandelt durch das Schweigen der Zauberstadt.

[715] Stumm ergeben sich die Liebenden dem mächtigen Eindruck des Bildes und stehen eng beisammen.

Da geht ein gewaltiges Rollen durch die Burgen der Stille, fast ein Donnerhall.

„Der Gletscher redet,“ sagt Markus.

„Geliebter, kennst du die Sage, die darin fortzittert von der Zeit zur Ewigkeit?“ fragt Cilgia zärtlich und ernst.

„Ich kenne sie – doch höre ich sie gerne von deinem lieben Mund,“ erwidert er.

Sie aber sagt:

„Alle, die sich lieben, sollten an diesen Ort pilgern und sie sich ins Gedächtnis rufen. Höre, Markus!“

Sie haben sich auf einen sonnbeschienenen Block im Angesicht des Gletschers gesetzt.

Und Cilgia erzählt:

„Wo jetzt der Gletscher donnert und seufzt, lag die schönste Alpe des Engadins. Der junge Hirt Aratsch, der darauf seine Herde hütete, liebte ein schönes reiches Mädchen von Pontresina. Ihre hartherzigen Eltern aber duldeten diese Liebe nicht. Da zog Aratsch, nachdem ihm das Mädchen das Versprechen ewiger Treue gegeben hatte, als Söldner in die Dienste Venedigs. Auf einem Schiff kämpfte er gegen die Türken, er wurde in kurzen Jahren Hauptmann, und der Anteil an den Beuten machte ihn reich. Mit großen Ehren gab man ihm, als seine Zeit abgelaufen war, den Abschied. Als er aber mit seinen Reichtümern wieder nach Pontresina kam, war das Mädchen die Braut eines andern. Er ließ alle seine Habe im Stich, ging auf die Alpe und niemand sah ihn wieder. Da starb die Maid. Ihre Seele aber fand keine Ruhe. In Mädchenschönheit schritt sie bergauf, bergab über die Alpe, sie klopfte an die Hütten an: ‚Habt ihr meinen Aratsch nicht gesehen?‘ Gütig segnete sie die Milch der Sennen, und viele Jahre noch wandelte sie in sanfter Anmut und leiser Klage. Eines Tages aber wies ihr ein hartherziger Senne die Thür. Nun glaubte sie an den Tod des Geliebten und sagte: ,Wohl, so will ich zu ihm niedersteigen und die Alpe mag vergehen!‘ Da donnerten in der Nacht die Berge, die stürzenden Gletscher deckten die Weide und bauten aus Säulen von Eis ein Grabmal über die Liebenden. Dort bei der Insel Persa ruhen sie in wunderbarer blauer Kluft auf einem Felsblock; im Rauschen der Bäche, die durch die Eishöhlen röhren, erklingen die Orgeln des Gletschers und Musik füllt die Hallen und das Herz der Maid mit unendlicher Wehmut, denn sie weiß nicht, wie nahe sie dem Geliebten ist. Einmal aber wird ihr Gott in seiner Güte doch Erlösung aus der Sehnsucht geben. Aber nur einen kurzen, kurzen Tag wird die Alpe wieder grün und dürfen die Liebenden wandeln. Denn am andern Tag ist Weltuntergang.“

Sie schwieg in tiefem Ernst und heißer Empfindung.

Eine Lohe innerer Glut stand in den schwarzblauen Augen Paltrams.

„O Cilgia, Cilgia – wie die Maid von Pontresina müßte ich dich suchen und mein Name in den Gletschern untergehen, wenn ich – – –“

„Sprich das schreckliche Wort nicht!“ flehte Cilgia. Sie zog ihn an sich und ihre Lippen fanden sich im ersten Kuß der Liebe.

Das Glück führte sie hinweg vom Gletscher, im Herbstsonnenschein zwischen mächtigen Bergen das schöne Berninathal empor. Sie schritten, ohne daß sie es achteten, im Gleichmaß der Bewegung wie im Rhythmus eines Liedes.

Und ist die junge, hoffnungsreiche Liebe nicht ein Lied?

Sie kamen zum Berninahaus unter den himmelhohen Mauern der Diavolezza – der Teufelshöhe.

Ein verwildert aussehender Mann stand unter der Thür und grüßte.

„Es ist der Vorgesetzte der Weger,“ sagte Markus, „er hat einen schweren Posten. Mit den Seinen kämpft er sich, wenn Unglück in den Bergen lauert, Tag und Nacht durch Schnee und Sturm – er warnt – er rettet.“

„Und wenn du nur so ein wilder Weger wärest, Markus, der sein Leben in die Schanze schlägt, wäre ich schon stolz auf dich!“ versetzte Cilgia.

Da hallte an den Felswänden ein Schuß wider.

„Siehst du dort, Cilgia, auf dem äußersten Vorsprung der Diavolezzafelfen steht ein Jäger. Er schwenkt den Hut – er hat einen glücklichen Schuß gethan.“

Eifrig sprach es Markus.

„Und thut dir das Herz nicht weh, daß du nicht jener bist?“ fragte sie ihn voll Spannung.

Er sah sie frei und offen an. „Einst war es mein liebster Gedanke, daß ich den stolzen Jägertod finde, den Tod einsam im Gebirge. Und Jahre hindurch kommt kein Mensch – endlich vielleicht ein Jäger – er findet ein Gerippe – ein Gewehr, und nachdem er alles untersucht hat, spricht er: ,Das ist Markus Paltram. – Gott habe dich selig, Kamerad!‘ – Jetzt aber möchte ich etwas anderes: recht lange, lange glücklich leben mit dir, Cilgia!“

Sie hatten die Paßhöhe erreicht. Vor ihnen stand in Herrlichkeit, unter einem Himmel wie eine Enzianenglocke, ein drängendes Heer kühner Felsengipfel, das italienische Gebirge.

Es war um die Mittagszeit, und auf der Höhe wechselten die Säumer von Nord und Süd ihre Grüße, und die Pferde, die sich kannten, wieherten sich zu.

Cilgia und Markus aber schritten über den Steinplattenweg, der sich zwischen den seltsamen Hochgebirgsseen hindurchzieht, die unschlüssig und gottverlassen in der furchtbaren Oede des nackten Gesteins liegen und zitternde Ringe um die Blöcke werfen, die aus ihren Fluten ragen.

Der eine See ist hell, der andere dunkel, sie heißen der Weiße und der Schwarze, aus dem hellen fließt ein Bach und seine Wellen ruhen, wenn sie genug gewandert sind, im Schwarzen Meer, aus dem Schwarzen See strömt wieder ein Bach und seine Wasser gehen in die blaue Adria.

Doch sonderbar! – Ein Lüftchen weht über den Paß und sein Säuseln genügt, daß die Fluten des einen Sees unter den Platten des alten Schicksalswegs, auf dem Herren nach Süden zogen und als Bettler heimkehrten, Bettler nach Norden wanderten und als Herren wiederkamen, in die Fluten des andern Sees schlagen, und die ins Schwarze Meer hätten wandern sollen, gehen zur Adria und die Adriawasser fluten wegen eines Windhauchs ins Schwarze Meer.

Und wenn der Tag noch so hell und sonnig über die Oede der Paßhöhe zieht, die Berge wie Lichter stehen, es liegt doch etwas wie geheimnisvolle Schicksalsstimmung über den Seen, denn so leicht wie hier oben Meer und Meer sich scheiden, scheiden sich Glück und Unglück.

Daran denkt das junge Paar nicht, das den Gesteinsweg schreitet. Sie gehen den einsamen steinichten Weg am Südhang der Bernina und sind auf Sassal Masone, der menschenfernen Bergaltane, neben der vom weißen Gebirge herab furchtbar jäh der Palügletscher mit herrlich schillernden Brüchen herunterhängt und ununterbrochen in Eisstürzen grollt, die prasselnd in die Tiefe gehen.

„O Markus, sieh meine Heimat, mein Puschlav, da liegt es tief wie eine Ewigkeit unter uns, in seinem Kessel lacht es wie ein in die Hölle versunkenes Paradies, mein Dorf am blauen See – und o Schönheit! – durch die dunkle Kluft hinter dem Dorf glänzt die Madonna di Tirano, wie ein Funke glänzt das Muttergottesbild, der Gruß des Veltlins. Und siehst du dort das große Dach links hin? Das ist mein Haus – und einmal dein Haus, Markus!“

Wie zwei Kinder staunen sie hinab in den grünen schönen Schlund.

„Fürchte also nicht, Liebster, daß ich ganz arm sei,“ fährt Cilgia fort; „wohl hat mein Vater, wie jedermann weiß, durch den Veltliner Raub das meiste verloren, aber Markus, es ist genug da, damit, wenn ich es eines Tages in deine Hände lege, du ein freier Mann bist, der sich zu kehren weiß.“

„Cilgia, habe ich je danach gefragt?“ antwortet er mit leichtem Vorwurf. „Ich schlage mich mit dir gewiß durch die Welt!“

„Es ist doch wertvoll,“ sagt sie.

Sie streiten, und zuletzt küssen sie sich.

Und nun hangen beider Augen wieder am schimmernden Dach von Puschlav. Es winkt wie das gelobte Land – eine Oase des Friedens – eine Oase des Glücks.

[716] In der Sonne selig sind die Liebenden und schmieden in der großen stillen Einsamkeit des Gebirgs Pläne der Zukunft.

Viel zu früh kommt Thomas mit den Pferden auf die Berninahöhe, aber er kommt.

Und Markus steht und grüßt und grüßt Cilgia, so lange er im Abendlicht einen Schein der Reitenden erhaschen kann.

Als er sich umwendet, erblickt er ein Rudel Gemsen.

Sie sprengen davon.

Er aber spricht: „Ihr närrischen Tiere – was fürchtet ihr Markus Paltram?“

Und einen Blick wirft er in die blauen Abendtiefen von Puschlav:

„Behüte und begleite dich Gott, meine liebe, herrliche Cilgia!“


9.

Sonngolden zieht der Herbst über die Berge. Es jagt der fröhliche Pfarrer Taß, es jagt, wer eine Flinte besitzt und ehr- und wehrfähig ist; mit dem Vater oder Großvater geht der halbwüchsige Bub in die Gemsreviere, hochklopfenden Herzens kniet er neben dem ersten erlegten Tier und fängt mit zitternden Händen das Blut in die Jagdschale auf.

Einer aber jagt nicht – jener, der schon als Knabe zu Madulein als unvergleichlicher Jäger galt.

Allen Verhöhnungen zum Trotz bleibt Markus Paltram daheim am Schraubstock.

Eines Tages jedoch hat die fröhliche Jagd im Hochgebirge ein Ende.

Wenn die Winzer drunten im Veltlin jauchzend Weinlese halten, so erbeben die Glieder der Bernina und im Erwachen flüstert sie: „Schmückt euch, ihr Kinder!“ – Und die Felsspitzen, die ihr am nächsten stehen, adeln sich mit Schnee. „Schnee aufs Haupt!“ betteln da die Kleinen; eines Morgens, wenn die ferne Welt der Tiefe sich noch in goldigen Herbstträumen wiegt, setzt sich jeder Zaunkönig von Berg die Krone auf, ja jede Tanne im tiefen Thal schmückt sich, und eines Sonnenaufgangs flammt alles Land im Schnee.

Eine gewaltige Freude erfaßt das Volk. Denn barfuß und im Strahlengewand schreitet die Sonne durch die Winterlandschaft des hohen, hellen Engadins und schickt seinem Volk einen Weckruf ins ruhige Herz; was an Weltlust in den behäbigen Seelen lebt, erwacht.

„Schlitteda – Schlittenfahrt!“ heißt das Zauberwort.

In vollen Zügen genießt Cilgia die Freuden des Winters. Durch die Dörfer fliegen die altertümlichen Gespanne, zwanzig, dreißig, einmal im Winter, wenn sich die Dörfer zu einem großen Ausflug nach Puschlav oder nach Casaccia im Bergell oder nach Süs am Eingang des Unterengadins vereinigen, wohl über hundert. Das Vorderteil jedes Schlittens ist ein seltsames Tier, bald ein geschnitzter Steinbock mit einem echten mächtigen Hörnerpaar, bald ein Löwenhaupt mit fast menschlichen Zügen, ein schlanker Schwan, ein eingetrocknetes Bärenhaupt oder ein Pelikan, der sich die Brust aufreißt. Eine fröhliche Menagerie ländlicher Holzschnitzerei und Farbenkunst ist beisammen, fröhlicher aber ist das junge Volk, das mit klingendem Spiel auf den Fabeltieren durch den Sonnenglast der weißen Landschaft saust.

Die Gesellschaft der vom Reif gepuderten Jünglinge und Mädchen könnte von einem Fürstenhofe sein. Mit dem herrlichsten Pelzwerk, das die Läden der Großstädte bieten, haben von jeher die aus der Fremde heimkehrenden Engadiner den Ihrigen Angebinde gemacht, mit so köstlichen Stücken, daß sie keinem Wechsel der Kleidersitte unterworfen sind und sich in fast frischem Glanze von der Mutter auf das Kind und die Enkelin vererben. Wird aber einmal in der scharfen Luft ein Mädchenhals oder ein Handgelenk bloß, so schimmern sie von altem Gold.

Und die fröhlichste unter den Jungfrauen ist Cilgia. Der Sturm hat den tiefen sandigen Schnee vom Eis der Seen weggefegt. Es liegt in mauerdicken Spiegeln so durchsichtig und krystallen über den Wassern, daß man wie durch ein Fenster in die Tiefe sieht und die Felsenriffe und die Baumtrümmer im Grunde erkennt. Ueber die zerbrechlichen, gläsernen Spiegel von St. Moritz, Camphér, Silvaplana und Sils bis zur einsamen Höhe von Maloja sprengen mit hartem dröhnenden Huf die Pferde. Da erbangt die mutige Cilgia, Markus legt den Arm um ihre Hüfte und sie hindert es nicht; in träumendem Glück jagen sie über die Schrecknisse der Tiefen.

„Geschähe was wollte, in Leben und Tod blieben wir beisammen, Markus!“ flüstert sie.

„Aber doch lieber im Leben,“ antwortet er lachend.

O, er ist so hellauf, so stillglücklich, ihr Markus, er lacht jetzt im Tage mehr als früher im Jahr, er hat aus seinem Ersparten einen Pelzmantel gekauft und die Pelzmütze mit dem schmalen, auch wieder verbrämten Dächelchen steht ihm gut. Was für ein schönes männliches Antlitz schaut darunter hervor. Es ist, als habe sich das Ueberkühne, für viele fast Beängstigende in seinen Zügen gemildert: sie seien offener geworden, der Blick seines Auges habe etwas vom Ausdruck der Adlerschärfe verloren und sei wärmer geworden.

Er ist der liebste junge Mann im ganzen Engadin, denkt Cilgia mit heimlichem Stolze.

„Und der geachtetste,“ darf sie sich wohl sagen.

Markus ist nicht eigentlich eine gesellige, am wenigsten eine laute Natur. Nur im unbelauschten Zwiegespräch mit ihr geht ihm das Herz ganz auf, im Verein mit andern ist er der ruhige, kluge Beobachter, er spricht selten einen andern jungen Mann oder ein Mädchen an; wenden sie sich aber an ihn, so findet er oft ein bestrickendes Wort, ein hinreißendes Lächeln und einen Herzenerobernden Blick.

In dem von Fortunatus Lorsa gestifteten Jugendbund, der sich bald da, bald dort zur Beratung der Dinge der Heimat zusammenfindet, ist er der Schweigsamste, er läßt die andern sprechen; aber wenn keiner mehr etwas Kluges weiß, so steht er auf und trifft mit knappem Wort den Nagel auf den Kopf, ja er zerstört nicht selten mit einer fast grausamen Ueberlegenheit die kühnen Hoffnungen, die die Jünglinge an den Liedern Konradins von Flugi, des heimlichen Poeten, entzünden. Das Gesicht des Landammanns müßte man sehen, wenn er diese Lieder hörte, wenn er erführe, daß sein Jüngster ein nichtsnutziger Dichter ist! – Gotts Blitz! – wenn er erführe, daß sein Herz an Menja Melcher hängt, an der lieblichen siebzehnjährigen Hagrose!

Der Landammann hat für Herrn Konradin andere Pläne. Warum kommt er so oft vor das Pfarrhaus gefahren, warum führt er mit Cilgia so feine verbindliche Redensarten, der alte schlaue Diplomat?

Verlorene Liebesmühe, Herr Junker, denkt Cilgia und läßt voll Mutwillen den alten Herrn zappeln wie einen Fisch und tröstet Menja, die über diese Besuche unglücklich ist: „Ich will mit dem Landammann einmal offen reden!“

„Ums Himmels willen, nein,“ bat Menja erschreckt, „das wäre das Ende! Mein Vater ist ja fast mehr gegen unsere Liebe als der Landammann.“

Sie ist sehr unglücklich, die arme Kleine.

Dafür sonnt sich Cilgia im eigenen Glück.

Wie schön sind die Abende, wenn Markus nach Einbruch der Nacht ins Pfarrhaus gegangen kommt! Der Onkel hat alles Mißtrauen und alle Zurückhaltung gegen ihn aufgegeben, er liebt ihn und vermißt ihn, wenn er einmal nicht an die Thüre pocht; man liest, wenn draußen der Sturm seufzt, die Bündnerchroniken und spricht verständig über die alte und neue Zeit; man sitzt oft bis spät in die Nacht in glücklichem Verein zusammen und der Pfarrer ist dann immer besonders aufgeräumt. Hie und da spielt er früh den Müden, bietet ein freundliches Gute Nacht und sagt, Markus die Hand reichend: „Ihr könnt schon noch ein Stündchen dableiben und Cilgia, wenn sie nicht müde ist, Gesellschaft leisten.“

Das ist sehr rücksichtsvoll vom Onkel Taß und beide danken es ihm. – –

Am St. Nikolaus-Markt brachte der Pfarrer als Geschenk die Verlobungsringe von Chur, und in der Neujahrsnacht, als die Glocken der Dörfer fern und nah’ im feierlichen Schweigen des verschneiten Hochgebirgs das alte Jahr aus-, das neue einläuteten, steckte er ihnen die Ringe an die Finger.

In jubelnder Hoffnung, in inniger Andacht blickten sie auf

[717]

Wildkatzenmutter mit ihren Jungen.
Nach einer Originalzeichnung von Ludw. Beckmann.

[718] zum gestirnten Himmel, der seine leuchtenden Bilder über den schemenhaften Gipfel der Bernina zog.

„Was für ein glückliches Jahr jetzt kommt – Gott im Himmel erhalte mir meinen Markus gesund!“

Cilgia sprach es in träumender Seligkeit.

„Er hat ein wahnsinniges Glück – aber von der Landsgemeinde in Samaden an hat man es kommen sehen.“

So sprach man im Oberengadin, und der Neid stachelte noch einmal die Camogaskersage gegen Markus Paltram auf und Cilgia erhielt manche geheimnisvolle schriftliche Warnung vor ihrem Bräutigam, die sie lächelnd ins Feuer warf. –

Die ersten Wochen des Jahres führten eine so grimmige Kälte heran, daß selbst die Hitzigsten nicht an Schlittenfahrten dachten. In der klaren Luft hörte man Markus Paltrams Hammer bis nach Samaden und St. Moritz hinüberklingen, auf eine halbe Stunde Entfernung verstand man jedes gesprochene Wort, von den Saumzügen, die vom Berninapaß kamen, schwebte eine dampfende Wolke auf, Männer und Pferde erschienen, vom Reif überzogen, wie auferstandene Schatten der Vorzeit, und der Schnee knarrte und sang unter den Schlitten.

Tag um Tag besuchte jetzt Cilgia ihren Verlobten in der Werkstatt, sie sah ihn gern hantieren und liebte seine fleißige Arbeit, besonders aber eine kleine Winteridylle. Er hatte allerlei Sämereien kommen lassen, er fütterte vor seiner Hütte die Vögel des Gebirgs, die die erbarmungslose Kälte in die Nähe des Dorfes getrieben, und Pia, die große Lust zeigte, ihm die Freude an dem muntern Leben der bunten Bergfinken, Ammern, Bachstelzen, Blutspechte und Bergdohlen zu verderben, hütete sich davor.

Eines Tages aber bereitete er Cilgia eine besondere Freude.

„Siehst du, Gemsen! – ich habe ihnen Heu hingelegt.“

Ganz nahe naschten die hungrigen Tiere und hoben die Köpfe und spähten mit ihren muntern Lichtern nach ihnen.

„O Markus, du mußt es im Innersten spüren, daß dich das glücklicher macht als die Jagd!“

„Ich spüre es auch,“ erwiderte er in warmem Herzenston, und das Paar tauschte Hand in Hand die leuchtenden Blicke innersten Einverständnisses.

Selbst die mißtrauische Pia, an der alle Genesungshoffnungen sich erfüllt hatten, faßte etwas Zutrauen zu ihrem Hausgenossen. Mit kleinen Geschenken ließ sie sich, als das Wasserrad eingefroren war, gewinnen, daß sie ihm dann und wann den Blasebalg der Esse zog. Und Cilgia lobte den Waldteufel dafür.

Eines Tages aber, als sie eben wieder die fast zutraulich gewordenen Gemsen fütterten – es war schon gegen die Fastnacht – gingen in Pontresina die Sturmglocken.

Die Schneeböen sind im Gebirge los. Ein Bote vom Wegerhaus unter der Berninahöhe meldet, daß oben ein Zug Maduleiner mit Roß und Waren, an eine Felswand hingeduckt, begraben ist.

Da läßt Markus Braut und Esse: den Spaten auf der Schulter, zieht er mit den andern Männern zur Rettung der Verunglückten in die Wetterschlacht.

Tag und Nacht bleiben sie fort – am andern Abend kommen sie, die geborgenen Männer und Rosse in der Mitte. Aus zitternder Angst jauchzt das Dorf auf – die heimkehrenden Maduleiner aber umringen Markus Paltram, ihren jungen Mitbürger, der mit grenzenloser Mühe drei Erstarrten den geschwundenen Atem aus der Brust gezogen und mit wohlberechneten Bewegungen das Leben wieder gegeben hat. Vergessen und verziehen sind seine tollen Jugendstreiche, er muß ihnen versprechen, daß er zur Fastnacht mit seiner schönen Braut nach Madulein zu Besuch komme.

Und die Bündner Fastnacht ist da, jener Tag wild aufjauchzender Volkslust, der mit manchem unvorbereiteten schweren Ereignis in die Geschichte des Landes eingetragen ist, aber auch die Dörferfreundschaft wie kein anderer weckt. Wer wirft sich da nicht ins bunte Fabelkleid, wer tanzt da nicht wenigstens eine Nacht durch und erlabt sich an Maskenscherz! So herzlahm ist kein Bündnerbursch, kein Bündnermädchen.

Cilgia bringt es nicht über sich, das Gesicht mit einer Larve zu verhüllen, aber von Puschlav herüber aus dem Vaterhaus holen die Säumer zwei Kisten schweren bunten Sammets, der aus Triest stammt, und auf einem zweispännigen Schlitten, dem Tuons im Kleid eines venetianischen Stadtknechts vorreitet, fahren Cilgia und Markus als Doge und Dogaressa von Venedig in weißen Pelzmänteln durchs Land. Auf jugendschönen Häuptern funkeln die vergoldeten Kronen – die Kronen des Glücks!

Es ist ein heller Tag und überall jagen Kostümierte mit klingenden Schlitten zu zweien und in Gesellschaften durchs Thal – und mit jauchzenden Zurufen grüßt man sich.

Gewiß ist unter allen kein schöneres Paar als der Doge und die Dogaressa von Venedig.

Vor ihm schimmern aus der weißen Landschaft die Häuser von Madulein, und über dem Dorf an der Bergwand klebt grau wie ein böser Traum die Feste Guardaval.

Im Dorf ist ungeteilte Freude über den stolzen Besuch, überall strecken sich Hände zum Gruß, in jedes Haus müssen der Doge und die Dogaressa treten und werden bewundert und bewirtet. Besonders in der Hütte des schlichten Bruders Rosius ist lauter Freude, denn Cilgia hat die Kinder, die selbst in farbigen Flicken stecken, nicht vergessen, sie beschenkt sie, und zaghaft, doch mit glänzenden Augen schmiegen sich die Kleinen an die Prachtgestalt.

„Markus, wie kommst du zu so viel Glück? Du bist geachtet im Land und die herrlichste Jungfrau wird dein Weib,“ spricht Rosius in staunender Lust.

„Alles durch sie,“ erwidert Markus bewegt.

Im Vaterhaus des verlornen Sohnes der Bibel kann bei seiner Wiederkehr keine herzlichere Freude gewesen sein als im Dörfchen Madulein, wie Markus Paltram, der Junge, der einst dem Teufel vom Karren gefallen schien, als geachteter Mann und mit einer herrlichen Braut wiederkehrt.

Denn ein verkommener Mann ist des Dorfes Schmach, ein Ehrenmann aber seine Ehre.

Und in Lustbarkeiten vergeht der Tag.

Man berät, wie man dem werten Besuch Vergnügen bereite, und die Jungmannschaft beschließt, daß sie den Dogen und die Dogaressa am Abend im Schlittenzug mit Fackeln und Laternen nach Samaden begleiten und dort bis in den Morgen tanzen wollen. – – –

Eine tolle nächtliche Lichterfahrt Kostümierter im blassen Schneefeld – ein beängstigendes Bild, ein Zug der Hölle fast, würde man sagen, erklänge von den Schlitten nicht Lachen, Musik und Gesang. Allen voran fliegt der Doge und die Dogaressa.

Mit einem traumsüßen Lächeln, schon etwas ermüdet, ruht sie in seinem Arm.

Er aber ist stolz wie ein Fürst, der sich die verlorne Heimat wieder erobert hat. Und er lacht und redet in seligem Taumel Kluges und Thörichtes.

Wer würde glauben, daß Markus Paltram, der Hinterhältige, so kindlich glücklich sein kann!

„O, wenn’s nur meine tote Mutter wüßte,“ stammelt er immer wieder. „Cilgia – Cilgia – wie bin ich glücklich!“

In Samaden tanzt das Engadin. Wer hört den Stundenschlag der Nacht? Wer denkt an Heimkehr?

Der Doge und die Dogaressa tanzen im Wirbel und die Masken haben sich längst gelüftet. Schwül ist die Luft im Saal. Die Geigen aber locken unaufhörlich wie die Musik des Teufels.

„Markus, ich bin müde. Genug ist genug. Ich kann nicht mehr. Lasse einspannen!“ flüstert die Dogaressa, sie bittet, sie fleht.

Aber der Doge hat noch nicht genug, er drängt, daß sie mit ihm tanze, sie versagt sich ihm mit einem leichten Groll, er wendet sich mißmutig von ihr ab – er tanzt mit anderen – seine Augen glühen wie Feuer, und Markus, der sonst keinen Wein trinkt, trinkt Wein!

Die Dogaressa ist nicht nur müde, vor allem ist ihr der Doge zu leidenschaftlich und wild, er ist schreckhaft wild, in seinem Kleide fühlt er sich als oberster Herr, er reißt den andern Burschen die Mädchen aus dem Arm – ein paar übermütige Runden, er läßt sie stehen und fliegt andern zu.

[719] Und seine Augen funkeln.

Die Burschen beginnen zu grollen, die Mädchen fürchten ihn, aber auf alle Vorstellungen seiner Braut und der Freunde antwortet er nur mit einem tollen Lachen: „Ich bin der Doge von Venedig!“

„Es geht in die Fastnacht,“ hofft die Dogaressa, aber sie sitzt wie auf Kohlen und ist doch blaß; sie plaudert, um ihr Inneres zu verbergen, zerstreut mit Pia, die als armseliges Mäsklein eben noch mit andern geringen Masken durch den stolzen Schwarm der schön Kostümierten geflogen war.

„Du Närrchen, schau mich doch nicht so grenzenlos neidisch an! Das ist ja nur Fastnachtsgewand!“

Und Cilgia ärgert sich auch über Pia.

Endlich, endlich ist die ersehnte Stunde erlebt. Wie wird sie daheim im Pfarrhaus den Mummenschanz von sich reißen!

Der Doge und die Dogaressa tanzen die letzte Runde.

Im Sonnenaufgang des Winters ist die Bernina rot wie Blut, und ein Gespann gleitet aus Samaden in den rötlich erflimmernden Schnee.

Doch Markus und Cilgia, die ein Bärenfell vor der beißenden Kälte des Morgens schützt, haben kaum das äußerste Haus des Fleckens hinter sich, so spricht jener:

„Dogaressa, einen Kuß!“

Er spricht es, den Kopf voll Musik und Wein, im Ton des Befehles. Er zittert vor Leidenschaft.

„Jetzt nicht, Markus!“ antwortet die Dogaressa traurig, „ich mag nicht.“

„Einen Kuß!“ herrscht er sie an – und plötzlich richtet er, ihre Hand unter dem Bärenfell ergreifend, die Augen in schwüler Gier auf sie – die Augen, mit denen er Leidenden die Schmerzen stillte – die schrecklichen Augen, die sie im Rosegthal an ihm gesehen hat.

Ein stummes Ringen der Blicke spielt zwischen Doge und Dogaressa.

Ihr blasses schönes Haupt übergießt sich mit Rot – sie flammt auf:

„Geh mit deinen Faxen zu Pia!“

Er hört es kaum, was sie spricht; er sieht nur, wie schön sie ist in ihrem bebenden Zorn, sein glühendes Gesicht verzerrt sich, mit heftigem Arm umfaßt er ihre Hüfte, er reißt sie an sich und will sie mit Gewalt küssen.

„Tuons, halt!“ schreit die Dogaressa.

Und das Krönchen gleitet ihr vom Haupt.

Der Säumer, der mit den heimwärtsdrängenden Tieren so viel zu thun hat, daß er sich nicht darum kümmern kann, was hinter ihm vorgeht, hält verwundert an.

Der Doge hat einen Augenblick wieder die Vernunft erlangt und die Dogaressa losgelassen. „Es ist nichts, Tuons – wir haben das Krönchen –“ sagt der Doge.

Wie die Pferde wieder anziehen, sinkt die zitternde Dogaressa, die sich erhoben hat, durch den Ruck von selbst auf ihren Sitz zurück.

Der Schlitten jagt weiter, und zwischen den beiden herrscht peinvolles Schweigen.

Da springt im Morgensonnenstrahl ein armseliges Mäskchen, dem Gefährt ausweichend in den Schnee.

Cilgia erkennt Pia.

„Tuons,“ ruft sie, „laßt Euer Bäslein Pia zu uns hereinsteigen!“ Und die frierende Kleine klettert bereitwillig in den weichen Polsterschlitten.

Es ist nicht nur Mitleid, was die Dogaressa so thun heißt, es ist die Hoffnung, daß die Gegenwart des Schützlings beruhigend auf Markus wirken werde. – –

Sie haben Pontresina erreicht, vor dem Pfarrhaus hält der Schlitten, die Dogaressa verabschiedet sich:

„Nein, Markus, begleite mich lieber nicht, fahre gleich mit Pia heim!“

Müde Und traurig spricht es die Dogaressa.

Er aber wirft ihr einen Blick voll Wut und Elend nach. – –

Von einer wundervollen Liebe ist der erste Duft gewischt – Cilgia möchte in Thränen ausbrechen – aber sie muß stark sein vor dem Pfarrer.

Er sitzt beim Morgenkaffee und lacht, wie sie so blaß und übernächtig ins Zimmer tritt.

Und ob das Herz bricht, sie erzählt, wie schön der Besuch in Madulein gewesen sei. – – –

Am zweitfolgenden Tag fragt der Pfarrer: „Markus braucht aber lange, bis er sich ausgeschlafen hat. Wo bleibt er?“

„Ich will ihn holen,“ erwidert Cilgia.

Sie tritt in seine Werkstatt, er lehnt blaß und finster mit unterschlagenen Armen an der kalten Esse.

„Cilgia!“ schreit er auf.

Etwas wie Grauen und Entsetzen steht in seinem Gesicht.

„Wir wollen doch keine grollenden Kinder sein, uns gegenseitig verzeihen und nie wieder Doge und Dogaressa spielen. Das Maskenkleid entwürdigt – das haben wir schrecklich erfahren.“

Sie spricht es gütig und hoffnungsvoll.

„So lache doch ein wenig, Markus,“ bettelt sie ängstlich.

Aber er lacht nicht – er verharrt in seinem Schweigen.

„Thu’ mir den Gefallen und komm wieder ins Pfarrhaus! Der Onkel darf nichts merken von unserm häßlichen Streit.“

Er stöhnt überrascht auf. Und er kommt wieder ins Pfarrhaus, doch er kommt wie ein gezüchtigtes Tier, er kann nicht mehr lieb sein, er zittert nicht mehr nach einem Kuß – freudlos kommt er, freudlos geht er.

„Liebst du mich nicht mehr, Markus?“ Durch ihre Stimme zuckt das heiße Verlangen. „Markus, rede, sonst sterbe ich!“

„Ich liebe dich wahnsinnig,“ antwortet er traurig, und eines Abends spricht er wie ein Sterbender: „Lebe wohl, Cilgia, mich siehst du nie wieder!“

Und wie ein Sterbender wankt er davon. – –

Es ist am Abend vor Chalanda Mars, dem Frühlingsfest des Engadins. Cilgia schließt in dumpfer Verzweiflung kein Auge, sie ahnt immer noch nicht, was geschehen ist. Da tönen durch den Schnee die Rufe der Jugend in den kaum ergrauenden Tag:

„Chalanda Mars – Frühling! – Frühling!“ – Und mit Hörnern und Trommeln, mit Pfannendeckeln und Kuhglocken, mit allem, was Lärm macht, zieht die Knabenschar durch das schlafende Dorf, und in jedes Fenster und in jede Thüre gellt ihr „Frühling! – Frühling!“

Es ist noch nicht Frühling: noch zwei Monate wird das Engadin unter Eis und Schnee schlafen, ehe sich die erste Blüte regt – aber die Jugend ist sein Herold: „Frühling – Frühling!“

„Lebe wohl, mein Frühling,“ wimmert Cilgia und tritt blaß in die Pfarrstube.

Um sechs Uhr schon kommt Tuons und treibt mit Faustschlägen die keifende, weinende Pia vor sich her.

Er läßt das Mädchen im Flur stehen und tritt in die Studierstube beim Pfarrer ein. Da naht sich Cilgia dem trotzigen Wildling:

„Was ist geschehen, Pia?“ fragt sie angstvoll.

„Jetzt habe ich Euch halt gebissen, Fräulein!“ erwidert die Hirtin voll höhnischer Genugthuung und schielt Cilgia, die Thränen zurückhaltend, mit den schönen Raubtieraugen wie im Genuß der Rache an.

„Armer Tropf!“ spricht Cilgia verachtungsvoll und wankt wieder in die Pfarrstube.

Da steht sie vor dem Bild der istrianischen Dulderin. Sie ahnt, ja sie weiß jetzt, was geschehen ist.

„O, wenn ich nur die Kraft hätte, zu verzeihen, wie du verziehen hast! Aber es ist schrecklich – ich habe die Kraft nicht“ – und sie hebt ihre Hände empor: „Sei barmherzig, Katharina Dianti – spende mir deine Stärke, siehe, ich leide wie du – ich leide mehr als du!“

So steht sie und hebt die gekreuzten Hände zu dem Bild empor.

Sie sieht es nicht, daß Pfarrer Taß schon eine Weile hinter ihr steht, erst sein Schluchzen weckt sie.

„O, Cilgia, du weißt noch immer nicht genug – selbst wenn du verzeihen könntest wie Katharina Dianti – es hälfe dir nichts!“

[720] Sie horcht wie geistesabwesend – dann stürzt sie hin.

Sie liegt mit gebrochenen Flügeln wie der Adler, den Markus Paltram am Landsgemeindetag geschossen hat.

Der Pfarrer hebt sie auf.

Da flüstert die Taumelnde wie in einem wirren Traum: „Nicht wahr, er muß Pia zum Altar führen – er muß?“

Und ihr Schluchzen füllt das Gemach, in das die Morgensonne scheint.

„So wird es wohl sein,“ spricht Pfarrer Taß mit halber Stimme, „sonst ist er vor Gott und Menschen ehrlos. Doch Schuld über Schuld – er ist geflohen von der verratenen Braut und von der zukünftigen Mutter seines Kindes hinweg. – Tuons hat ihn am weißen Stein gesehen – o, schon vorgestern wußte es das Dorf.“

Drei Tage brütete Cilgia wortlos, thränenlos – sie hört nichts von dem Entrüstungsschrei, der die engadinischen Dörfer durchbebt: „Er ist halt doch ein Camogasker!“, nichts von dem Jammer des alten Mesners, der es allen Leuten erzählt: von Paolo Vergerios Zeiten an sei nie eine Braut im Strohkranz über die Kirchenschwelle von Pontresina geschritten – nur Pia müsse es jetzt thun!

Pfarrer Taß nimmt Cilgias Hand: „O, Cilgia, Leid ist schon vielen widerfahren, und ich weiß auch ein Lied davon! Wenn du in Tirano in die Häuser der Armseligen trittst, so findest du an den Betten der Kranken eine Nonne in weißem Haar, doch mit glanzvollen Augen. Jedes Kind kennt sie: Salome Forte! – wir konnten Glaubens halber nicht zusammenkommen.“

Doch Cilgia ist es, als ob den gleichen sengenden Schmerz Wie sie noch keine menschliche Brust erduldet habe, keine mehr erdulden werde. Sie reicht dem Pfarrer die Hand: „Onkel, ich habe einmal über dein Junggesellentum gescherzt – es thut mir leid!“

Und wie aus tiefem Schlummer erwachend, spricht sie mit ergreifendem Ton:

„Fort – fort von Pontresina – schon morgen, Onkel! Führe mich nach Fetan zu meinem geliebten Lehrer a Porta – hier kann ich nicht leben, und doch auch nicht sterben!“

Und der Pfarrer verstand sie und hatte Erbarmen.

000000000000000

Es schneite, als müßte das Engadin in den Flocken untergehen, als der Schlitten, der Cilgia Premont entführte, thalwärts glitt.

Tuons führte sie und den Pfarrer.

Als sie aber an einem Wäldchen vorbeifuhren, reckte sich plötzlich eine Gestalt zwischen den seufzenden Tannen.

„Markus!“ wimmerte das Mädchen.

„Cilgia!“ stöhnte er wie ein wunder Stier.

Doch das Gespann verschwand in den Flocken. – –

So endete der herrliche Winter. Das Engadin wurde grün und die Blumen stickten ihre Pracht in den weichen Sammet der Fluren.

Da schritt Markus mit der würdigen Ergebung eines Mannes, der es weiß, daß er eine himmelanschreiende Thorheit begangen hat, mit Pia Colani, die einen Strohkranz trug, zum Altar.

Er wollte ein Ehrenmann bleiben, und vor grimmigen Schmerzen sah er es nicht, wie die lose Jugend mit den Fingern Rübchen gegen sein Strohbräutchen schabte.

(Fortsetzung folgt.)     


Nachdruck verboten. 0
Alle Rechte vorbehalten.

Die deutschen Achtundvierziger in Amerika.

Von General Franz Sigel.

Die stolzen Hoffnungen auf Deutschlands Einigung und freiheitliche Gestaltung, welche der „Völkerfrühling“ des Jahres 1848 erweckt hatte, waren gescheitert. Weder durch Reform noch durch Revolution sollte vor fünfzig Jahren das heißerstrebte Ziel erreicht werden. Fruchtlos schien die Arbeit des Frankfurter Parlaments, König Friedrich Wilhelm IV von Preußen sah sich bewogen, die ihm angebotene Kaiserwürde abzulehnen, und die revolutionären Schilderhebungen für die Reichsverfassung wurden niedergeworfen. Mit rücksichtsloser Strenge verfolgte nunmehr die siegreiche Reaktion die bezwungenen Freiheitskämpfer, und in dieser trüben Zeit verließen Tausende freigesinnter Deutscher ihr Heimatland und suchten Zuflucht in der weiten Fremde.

Viele von ihnen lockte das ferne Amerika. Schon seit Jahrzehnten hatten deutsche Auswanderer den Ocean durchquert, und von ihnen kam die Kunde, daß unter dem Sternenbanner der jungen Republik noch Tausende und Millionen in voller Freiheit ihre Thatkraft entfalten könnten. So gingen auch die deutschen Achtundvierziger in Scharen übers Meer.

Ein halbes Jahrhundert ist seit jenen Tagen dahingerauscht, und die Geschichte des Deutschtums in Amerika giebt uns wohl das Recht, die Erinnerung an diese Einwanderung besonders zu feiern, denn jene Flüchtlinge zählten zu den besten und bedeutsamsten Einwanderern, die je den Boden der Neuen Welt betraten.

Diese deutschen „Freiheitskämpfer“ und „Weltverbesserer“ ließen in der neuen Heimat in dem harten Kampfe ums Dasein ihre Ideale nicht fallen, und so wirkten sie schöpferisch und anregend auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens. Groß war vor allem ihr Einfluß auf ihre in den Vereinigten Staaten bereits eingesessenen Landsleute. Die Achtundvierziger weckten das deutschnationale Bewußtsein, wo es eingeschlummert war, und erwiesen sich als begeisterte Hüter und Förderer der deutschen Sitte, der deutschen Sprache und des deutschen Lieds, so ernst und treu sie auch die Bürgerpflichten dem neuen Heimatlande wahrten. Als Bürger des nordamerikanischen Freistaats gewannen viele von ihnen eine einflußreiche Stellung.

Unmöglich ist es, all die wackeren Männer namhaft zu machen, die sich, sei’s im Lehramt oder in der Presse, als Künstler oder Gelehrte, als Techniker oder Beamte, gleichzeitig als Pioniere deutscher Kultur und als Förderer des Staatsgedankens der nordamerikanischen Union bewährt haben. Doch sind wir in der erfreulichen Lage, eine Würdigung solcher Leistungen auf einem anderen Gebiete aus einer berufenen Feder unseren Lesern bieten zu können, eine Darstellung des großen Anteils, den das Deutschtum an dem Secessionskrieg von 1861 bis 1865 nahm, in welchem die für Beibehaltung der Sklaverei zu den Waffen greifenden Südstaaten von denen des Nordens sich losreißen wollten. Der von seinen Landsleuten in Amerika hochgeehrte Veteran General Franz Sigel, der 1849 Obergeneral im badisch-pfälzischen Aufstand war, im Secessionskrieg 1862 das I. Korps der Armee von Virginien kommandierte, schrieb, unserer Einladung folgend, die nachstehenden treffenden Ausführungen.Die Redaktion.     

*               *
*

„Sowohl in Deutschland wie in der Schweiz und ‚an dem fernen Strande Amerikas, wohin sie der Sturm von 1848 hinweg riß,‘ bewahrten die Deutschen mit herzlicher Wärme und mit dem Gefühl der jungen, trotz allen Mißgeschickes noch unbesiegten Kraft den hohen Glauben an die große Zukunft ihres Volkes. Uns, denen in jener Zeit die Vereinigten Staaten eine neue Heimat wurde, hat es immer mit freudiger Genugthuung erfüllt, wenn die amerikanischen Studenten, die nach Deutschland gezogen waren und deren Freundschaft wir uns erworben hatten, nach der Rückkehr erzählten, daß in unserer einstigen Heimat, an der Wiege unserer stolzen Hoffnungen und Träume, der ‚Völker-Frühling‘ noch nicht verblüht sei, daß an den Universitäten wie im Volke noch unausrottbar tief der Glaube wurzele an eine baldige Verwirklichung der deutschen ‚Einheit und Freiheit‘.

Männer wie Bancroft, Motley, Lowell, die längere oder kürzere Zeit in Deutschland gelebt hatten, berichteten in Wort und Schrift, daß ihnen in Deutschland neue Offenbarungen gekommen seien in Wissenschaft und Politik, und versicherten uns, daß aus dem Vertrauen in eine bessere Zukunft, das sie in Deutschland vorgefunden, auch über kurz oder lang die deutsche Einheit hervorgehen werde. Mit Bewunderung [721]

Die leere Wiege.
Nach dem Gemälde von Eug. Buland.


hätten sie dem Ringen des deutschen Volkes zugeschaut und seinen Dichtern gelauscht. Und wenn uns Longfellow von den Eindrücken, die er von deutschem Boden, deutschem Leben und deutscher Sitte erhielt, in seinen Liedern vom Rhein und der Donau, aus deutscher Sage und Weimars klassischer Zeit erzählte, so empfingen wir für unsere anfangs schwankende und oft schwierige Existenz in der neuen Heimat wieder einen festen, kräftigeren Inhalt. Angewiesen auf den Kampf ums Dasein, um unter ganz fremden Verhältnissen hier für das Notdürftigste an materiellen Gütern zu sorgen, war unser Leben oft arm an Freude und Genuß, und unser Bedürfnis, zu lieben und zu verehren, das in unserer deutschen Natur lag, klammerte sich an die großen Erinnerungen der Revolutionszeit und die Namen der Männer in Deutschland, mit denen wir Schulter an Schulter gekämpft hatten und von denen uns unsere amerikanischen Freunde erzählten, daß in ihnen das reine Feuer der politischen Begeisterung nicht erloschen sei. Vom Frankfurter Parlamente aber sagten sie, nach allem, was sie davon gehört hatten, daß es eine der großartigsten Volksversammlungen gewesen sei, deren man sich erinnern könne.

Ferner empfanden wir eine hohe Genugthuung, wenn wir in Amerika von hochgestellten und vorurteilslosen Männern rühmen hörten, welche große Zahl intelligenter und gebildeter Männer im besten Lebensalter durch unsere Einwanderung in ihr Land gekommen sei; wenn sie uns versicherten, daß sie diesen Zuwachs, der in der Geschichte kaum seinesgleichen finde, aufs freudigste begrüßten. Sie sagten uns, daß eigentlich erst die ,Achtundvierziger’, trotzdem sie als Flüchtlinge kamen, ihnen durch ihre Bildung, durch den hohen Ernst, mit dem sie sich in der Neuen Welt eine geachtete Stellung und den Einfluß auf das politische Leben in ehrlichem Kampfe zu erringen suchten, erst Achtung vor deutscher Kultur und Wissenschaft eingeflößt hätten.

In die Hochschulen Deutschlands, wo der Sinn für alles Gute, Wahre und Schöne gepflegt wird, ihre Söhne zu senden, kam erst zu jener Zeit in amerikanischen Familien in weiterem Umfange auf. Vor 1848 galt hier England als Hochsitz der Bildung. Das alte Mutterland der Angloamerikaner, obgleich es sich zu Zeiten als Stiefmutter gezeigt hat, steht ja auch heute bei uns wegen seiner Institutionen, sowie in Beziehung auf Kunst und Wissenschaft in hohem Ansehen. Aber in der neueren Zeit wurde Deutschland für viele Amerikaner und besonders für diejenigen, [722] die in den Neu-Englandstaaten geboren waren, wie die Söhne Bostons, gleichsam die ‚Alma Mater‘ frohen Lernens, freudigen Hoffens und Schaffens und der höchsten Ideale und Bestrebungen. In dieser Gesinnung kam auch der jetzige Gesandte der Vereinigten Staaten, Andrew D. White, im Jahre 1855 als Student nach Berlin. Die politischen Wogen von 1848, so erzählt er, fluteten noch, aber während man in seiner Heimat gerade jenes Gesetz betreffs der flüchtigen Sklaven in stürmischen Sitzungen durchzubringen sich mühte, welches die Sklaverei zu beschönigen suchte, fand er auf den deutschen Universitäten allgemein die Liebe zur Freiheit in allen Schattierungen und den freien Geistesflug im Lernen und Lehren. Gewaltig war der Kontrast. War das amerikanische ‚college‘ vom Sektengeiste angekränkelt, so fand der fremde Student auf der deutschen Hochschule die vollständigste Lehrfreiheit, ein unbegrenztes Forschungsgebiet, und kehrte er nach Amerika zurück, so war es sein Bestreben, mehr junge Landsleute für das Studium in unserer alten Heimat und für das veredelnde Leben der deutschen Universitäten zu begeistern. Hatten wir unseren neuen Freunden, welche bisher nicht über die kleinen egoistischen Interessen ihres Lebens hinausgekommen waren, mit Erfolg gezeigt, welche hohe begeisternde Freude es gewährt, das Leben mit idealem Inhalte zu erfüllen, so wurden uns dagegen – als wir das damalige Staatengewirr Deutschlands mit seinen vielen Grenzpfählen, seiner engherzigen Bevormundung und seinem Chaos drückender Gesetze vergleichen lernten mit dem freien Staatenbunde Amerikas und seiner freieren Auffassung menschlicher Rechte und Pflichten – die Vorteile vertraut, die sich aus einer freien Vereinigung zu einem bürgerlichen Staatswesen für den Bürger ergeben. Ihre Auffassung des Lebens trugen die Deutschen in die Politik ihrer neuen Heimat hinein zu einer Zeit, als dieselbe des begeisternden Einflusses erhebender Ideen und höherer Interessen am meisten bedurfte und der Geist Washingtons und seines glorreichen Zeitalters in der Alltäglichkeit des Parteihaders fast in Vergessenheit geriet. Sobald sie alsdann in dem Boden der Neuen Welt festere Wurzeln gefaßt hatten, da erwachte wieder in ihnen das alte deutsche Bedürfnis, sich für mehr hinzugeben als unsere engen persönlichen Interessen. Die Sehnsucht nach ,Einheit und Freiheit‘, die in den Kämpfen Deutschlands ungestillt geblieben war, in der neuen Heimat befriedigen zu können, dafür gewährte ihnen der Ausbruch des Bürgerkrieges gegen Ende 1860 die Gelegenheit.

Welche Dienste die Eingewanderten von 1848 und 1849 und diejenigen, die ihnen bis 1860 nachfolgten, der Union für die siegreiche Entscheidung dieses Kampfes geleistet haben, lehrt die Geschichte. Die Begeisterung für die Freiheit, welche die Kämpen von 1848 und 1849 erfüllt hatte, trugen sie jetzt in den Kampf für die Befreiung der unterdrückten Rasse von Sklaven, für eine höhere Civilisation und eine festere Staatseinheit, wie wir sie in Deutschland vergebens erstrebt hatten. Wie die Deutschen hier das geistige Agens, die sittliche Kraft an der Seite Lincolns gewesen sind, ohne die der große Krieg wahrscheinlich nicht siegreich oder nicht in vier Jahren hätte zu Ende geführt werden können, gestehen die Amerikaner selbst zu.

,Woraus erklären sich die großen Erfolge im öffentlichen Leben, welche so viele Achtundvierziger, namentlich Karl Schurz, in Amerika erzielten?‘ fragte Bismarck den Gesandten Andrew White. ,Aus den Reden,‘ antwortete White, ,die diese Männer vor Ausbruch des Krieges über die großen Ideen hielten, die unser Land bewegten, aus den hohen Gesichtspunkten, die sie in der Sklavenfrage und allen Streitpunkten unseres Bruderkrieges vertraten – alles neue, mächtige Ideen, von denen wir alle lernten, von den politischen und sozialverderblichen Einflüssen der Sklaverei auf das Land, seine Institutionen, die Sklavenhalter und die weiße Bevölkerung. Und ihre Argumente trugen sie mit einem Feuereifer der Ueberzeugung und einer Beredsamkeit vor, die alle Anhänger der Union mit fortriß und für die Gestaltung des Krieges und seinen Ausgang von größter Bedeutung war.‘ – ,So bin ich stolz als Deutscher auf die Erfolge dieser Männer in Amerika,‘ bemerkte Bismarck.

Waren es nicht dieselben Ideen, dieselbe begeisterte Hingabe an eine große Sache gewesen, die uns 1848 und 49 auf deutscher Erde in den Kampf trieben? Traten wir aber noch unsicher und unbehilflich den geschulten Armeen gegenüber wie der Jüngling, der aus der Schulstube ins reale Leben tritt, so war uns jetzt die Thatkraft geschult, der Mannesmut gehärtet, die politische Einsicht geschärft. Und wie viele aus der badischen und pfälzischen Heimat, aus Preußen und Oesterreich, aus den kleineren deutschen Staaten, die der Sturm von 1848 ,zum fernen Strande riß‘, zogen nicht mit uns in den Bürgerkrieg, die blutigen Lorbeeren zu erkämpfen, und trugen mit unermüdet treuem Arm die schwere Last des Krieges lange Jahre durch, im Osten, Westen und Süden des weiten Reiches! Sie waren unter den ersten Freiwilligen, welche für die Union die Waffen ergriffen, und zwar in allen nördlichen Staaten.

Es ist eine geschichtliche Thatsache, daß schon am 18. April 1861, drei Tage nach dem Bombardement und der Uebergabe von Fort Sumter, die Hauptstadt Washington in der höchsten Gefahr war, durch ein Komplott den Südstaaten in die Hände zu fallen, daß jedoch dieser Katastrophe vorgebeugt wurde durch die Ankunft eines Detachements von einigen hundert Mann Infanterie und Artilleristen von Pennsylvanien (im ganzen 530 Mann), die gerade noch im letzten Augenblicke ankamen und das Kapitol besetzten. Diese Truppen bestanden zum großen Teil aus ansässigen und eingewanderten Deutschen, wie aus der Liste der fünf Compagnien hervorgeht. Mit dem Besitze von Washington hätte der Süden einen ungeheuren Vorteil erlangt, denn auch Maryland war secessionistisch gesinnt, besonders die Stadt Baltimore, nur die Minderheit und darunter der deutsche Turnverein, blieb treu unionistisch und hatte deshalb eine schwere Zeit durchzumachen, bis die Stadt durch Unionstruppen befreit und besetzt wurde.

Wie Maryland, als Grenzstaat des Nordens und Südens, so war auch der Grenzstaat im fernen Westen, Missouri, mit der wichtigen Stadt St. Louis in höchster Gefahr, den Secessionisten vollständig in die Hände zu fallen, denn schon hatten etwa 1000 Mann secessionistischer Truppen ein Lager am äußeren Teile der Stadt bezogen und ihm den Namen Camp Jackson, nach dem secessionistischen Gouverneur Jackson, gegeben. Dort waren es vier Regimenter Freiwillige, Deutsche (mit Ausnahme von vier Compagnien), welche unter dem tapferen Kapitän Nathaniel Lyon der regulären Armee, den die genannten vier Regimenter, darunter auch das von mir kommandierte, zu ihrem Brigadegeneral wählten, am 10. Mai 1861 das feindliche Lager umzingelten und die secessionistischen Truppen nebst ihrem Kommandanten, Brigadegeneral Frost, gefangen nahmen. Die Stadt St. Louis mit dem dortigen Arsenal war gerettet und damit die Rettung des ganzen Staates angebahnt! Mit dem Verluste von Maryland und Missouri wäre die Unterwerfung des Südens wenigstens viel schwerer geworden. Die deutschen Freiwilligen haben dazu beigetragen, die Lage der Dinge besser zu gestalten, nach dem Spruche ,Bis dat qui cito dat‘ – ,Doppelt giebt, wer sogleich giebt.‘

Von den 2.213.167 Eingemusterten der Unionsarmee der Vereinigten Staaten, die Marine und Schiffsmannschaft nicht gerechnet, waren 1.532.267 als Bürger der Vereinigten Staaten geboren, 186.017 Farbige (Neger), 176.767 Deutsche, die meisten eingewanderte, 144.221 Irländer, 53.532 britische Amerikaner, 45.508 Engländer, 48.410 andere Ausländer (Ungarn, Polen, Italiener, Franzosen etc.) und 26.445 Fremde mit unbekannter Nationalität. In dem deutschen Kontingent dienten über 5000 Offiziere aller Waffengattungen, ein Teil davon, besonders im Stabe, waren Amerikaner von Geburt; außerdem waren unter den von der Nationalregierung direkt ernannten Stabsoffizieren (Aides-de-Camp, Quartier- und Proviantmeistern, Chirurgen etc.) 69 Deutsche.

Unter den Männern, welche in den Jahren 1848 und 1849 für ihre patriotischen Ideale in Deutschland zur Waffe griffen und später als Offiziere in der amerikanischen Unionsarmee dienten, haben viele durch ihre Tapferkeit und Intelligenz viel Verdienste und Ehren erworben.

Friedrich Hecker, der badische Volksmann, der beim Ausbruch der Märzbewegung so hohe Hoffnungen weckte und dann so bald den Boden des Vaterlandes meiden mußte, führte beim Ausbruch des Kriegs in Missouri dem General Fremont ein Freiwilligenregiment zu, nahm an dem ersten Feldzug nach dem Südwesten von Missouri und an dem Treffen von Carthage teil und wurde dann zum Obersten erst des 24., bald darauf des damals 82. Illinoisregimentes ernannt. In der Schlacht bei Chancellorsville [723] wurde er schwer verwundet, später diente er im Westen als Kommandeur einer Brigade, resignierte nach der Schlacht von Chattanooga und zog sich auf seine Farm in Illinois zurück, von wo aus er in der folgenden Zeit auch litterarisch und politisch thätig war. Im Jahre 1873 stattete er der deutschen Heimat einen Besuch ab. Er starb am 24. März 1881 in St. Louis an einem Lungenschlag. Die Deutschen von St. Louis errichteten ihm ein Denkmal.

Mit ganz besonderem Ruhm verzeichnet die Geschichte des Kriegs den Namen Louis Blenkers. Bereits mit zwanzig Jahren war der junge Pfälzer in die Bayrische Legion eingetreten, die den Prinzen Otto nach Griechenland begleitete. 1848 organisierte er in seiner Vaterstadt Worms die Bürgerwehr, deren Oberst er wurde. 1849 stand er in der Pfalz an der Spitze eines Freikorps. Gleich beim Ausbruch des Secessionskriegs organisierte er in New York das 8. Freiwilligen-Regiment, das nach ihm benannt ward. In der ersten Schlacht bei Bull Run im Juli 1861 stand er an der Spitze einer deutschen Brigade, mit der er den Rückzug der übrigen Unionstruppen unter General Mc. Dowell deckte. Danach zum Brigadegeneral ernannt, organisierte er die „Deutsche Division“, die zuerst in dem Sumnerschen Korps Dienste that, dann unter General Fremont in der Schlacht von Croß Keys sich auszeichnete. Durch einen Sturz mit seinem Pferde verletzt, nahm Blenker Urlaub; er kehrte nicht mehr zur Armee zurück und starb auf seiner Farm in Rockland County im Staate New York schon im Oktober 1863. Seine Witwe und der eine seiner beiden Söhne leben in Texas, der andere und eine Tochter im Staate New York. Seine ehemaligen Kameraden von der „New York Blenker Association“ haben ihm ein Denkmal gesetzt, das sie jedes Jahr besuchen.

Auch Heckers Genosse im Frankfurter Vorparlament und im badischen Aufstand, Gustav v. Struve, nahm als Offizier am Unionskriege teil. Er trat am 4. Juli 1861 in das 8. Freiwilligenregiment, dem er bis zum November 1862 angehörte. Um diese Zeit war Prinz Felix Salm-Salm dem Regiment als Oberst überwiesen worden, worauf Struve erklärte, er könne nicht unter einem „Prinzen“ dienen. Andere Achtundvierziger, die am ersten badischen Aufstand beteiligt waren und sich dann im Unionsheer bewährten, waren Joseph Fickler und Nep. Katzenmayer von Konstanz. Struve und Fickler kehrten nach dem Unionskriege nach Deutschland zurück, wo dieser 1865 in Konstanz, jener 1870 in Wien starb.

Peter J. Osterhaus, der im Juni 1849 in Mannheim Kommandant der Bürgerwehr war, rückte im Secessionskrieg zum Generalmajor auf. Bei der Einnahme von Camp Jackson, im Treffen von Boonville (Missouri), in der Schlacht von Wilsons Creek und von Pea Ridge in Arkansas, dann unter General Grant bei der Belagerung von Vicksburg zeichnete er sich ebenso aus wie bei Chattanooga, auf Shermans Marsche nach Atlanta und Savannah und als Chef des Stabes von General Canby bei der Einschließung und Uebergabe von Mobile. Er wurde später, während des Deutsch-französischen Krieges, als Konsul nach Lyon gesandt. Jetzt lebt er als Geschäftsmann in Mannheim. Einer seiner Söhne dient als Offizier auf einem Kriegsschiff der Vereinigten Staaten, ein zweiter ist in der preußischen Armee Offizier.

Alexander von Schimmelfennig, der 1848 in Schleswig-Holstein focht, 1849 in der Pfalz und in Baden als militärischer Führer thätig war, stand im amerikanischen Bürgerkrieg anfangs an der Spitze eines Regiments und rückte schnell zum Brigadegeneral auf, als welcher er schließlich eine Division kommandierte. An den Gefechten und Schlachten in Virginien wie von Gettysburg nahm er hervorragend teil. Er war der erste, der mit seinen Truppen Charleston in Südkarolina besetzte. Als er später in Wernersville Pa. gestorben war, haben ihm seine ehemaligen Kameraden ein Ehrendenkmal auf dem Kirchhof in Reading gesetzt.

Zum Brigadegeneral rückte auch Max Weber auf, der schon im Treffen von Waghäusel am 21. Juni 1849 sich ausgezeichnet hatte, wo er ein Bataillon des 2. badischen Infanterieregiments kommandierte, in dem er schon vorher gedient hatte. Als der Unionskrieg ausbrach, stellte der New Yorker Deutsche Turnverein ein Freiwilligenregiment, und dies deutsche „Turnerregiment“ wählte Weber zu seinem Obersten. Er war mit seinem Regiment bei der Expedition des General Butler gegen Hatteras und wurde nach der Einnahme von Norfolk General. In der Schlacht am Antietam wurde er am Arm schwer verwundet. Geheilt, blieb er noch längere Zeit im Dienste. Er lebt jetzt in Brooklyn.

Karl Schurz, der sich als Bonner Student an Gottfried Kinkel angeschlossen hatte, mit dem er sich im Frühjahr 1849 am Siegburger Zeughaussturm beteiligte und dann nach der Pfalz ging, wo er unter Oberst Annecke thätig war, führte im Secessionskrieg als Generalmajor zuerst eine Brigade, dann eine Division und in der Schlacht von Gettysburg an Stelle Howards das XI. Korps. Von seinen weltbekannten Verdiensten, die er sich in der Union als Politiker und Staatsmann des weiteren erworben hat, müssen wir hier absehen. Er lebt jetzt in der Nähe von New York-City.

August Willich, bekannt durch den Freischarenzug mit Hecker im April 1848, seinen Anteil am badisch-pfälzischen Aufstand 1849 und die Cernierung von Landau, zeichnete sich im Secessionskrieg rühmlich durch sein tapferes Verhalten als Kommandant eines Indianaregimentes und in der westlichen Armee unter den Generalen Buell und Rosecranz aus. Er starb 1878 in St. Marys, Ohio.

Noch eine ganze Reihe von ehemaligen „Achtundvierzigern“ führt die Chronik des Kriegs auf, die in der Stellung von Obersten sich während desselben hervorthaten. Ein Denkmal in Reading Pa. ist dem Obersten Karl Knoderer geweiht, der an der Spitze eines Pennsylvaniaregiments im Treffen von Suffolk fiel. Er stammte aus Emmendingen in Baden. – Adolph Schwarz, ehemals Artillerieoffizier in Baden, kommandierte unter General Grant in dessen erstem Treffen von Belmont (am 7. November 1861) mit glänzendem Erfolge die Artillerie. In der Schlacht von Shiloh, am 7. April 1862, wurde er schwer verwundet. Nach dem Kriege war er in New York als Architekt thätig, wo er auch starb. – An der Spitze einer Brigade fiel am 30. August 1862 Oberst J. A. Koltes aus Trier in der zweiten Schlacht bei Bull Run; ihm wurde auf dem Kirchhofe nahe Philadelphia ein Denkmal errichtet. – Die Schlacht in der Wilderneß forderte den Obersten Franz Mahler aus Baden als eins ihrer Opfer. Er war vor 1849 Leutnant im 2. badischen Infanterieregiment gewesen. Nach der Uebergabe von Rastatt wurde er gefangen und verurteilt. Er diente unter General Grant in einem Pennsylvaniaregiment, als er fiel. – Der Mainzer Germain Metternich, bekannt durch seine Beteiligung am Frankfurter Septemberaufstand, erhielt auf Tibu Island durch die Unvorsichtigkeit einer Schildwache einen Bajonettstich in den Hals, an welchem er gleich darauf starb. – Elias Peißner, einst in München an der gegen Lola Montez gerichteten Bewegung beteiligt, wurde 1863 in der Schlacht von Chancellorsville tödlich getroffen. – Louis Hoffmann, der 1849 eine Batterie in der badischen Revolutionsarmee kommandierte, flüchtete nach der Schweiz und dann nach Amerika. Er führte mit Auszeichnung eine Batterie in der Schlacht von Pearidge (6. bis 8. April 1862) und that dann noch fernere Dienste. Er lebt jetzt in Cincinnati, Ohio. – Adam Seng, er kommandierte ebenfalls 1849 eine Batterie in Baden, ging über die Schweiz nach Amerika und wurde Oberst eines schweren Artillerieregiments. Er starb vor vier Jahren in New Jork. – Franz Backoff, der 1849 in der Festung Rastatt die leichte Artillerie kommandierte, zeichnete sich jetzt als Kommandant eines Artillerieregiments aus. – Neben den aus der Provinz Sachsen stammenden Brüdern Karl Eberhard Salomon und Friedrich Salomon, von denen der erstere das 5. Missouriregiment im ersten Feldzuge kommandierte, während der letztere an der Spitze des 9. Wisconsinregiments stand, ist auch der dritte Bruder Eduard Salomon zu nennen, der damals Gouverneur von Wisconsin war und in dieser Stellung sehr viel für die Organisation der Unionstruppen that. Das tapfere 26. Wisconsinregiment unter Oberst Jacobi wurde auf Veranlassung des Gouverneurs im Oktober 1862 nach dem Osten beordert, um das XI. Korps zu verstärken.

Frühere „Freiheitskämpfer“ waren auch der Badenser Philipp Betz, später Ehrenkaplan von Post Koltes, gestorben in Brooklyn, N. Y., und Conrad Krez aus Landau, der sich auch als Dichter Ansehen erwarb und später in Wisconsin bis zu [724] seinem Ende lebte. Auch darf ich hier meines Bruders Albert Sigel gedenken, der 1848 als badischer Offizier im 3. Infanterieregiment zu Rastatt diente, dort aber zu einem Jahr Staatsgefängnis verurteilt wurde, weil er die in die Festung gebrachten Gefangenen vom Heckerschen Freischarenzuge vor brutaler Behandlung zu schützen suchte. Durch unseren Vater, Moritz Sigel, den früheren Oberamtmann von Sinsheim und Buchen, wurde er im folgenden Jahre mit Hilfe einer bewaffneten Bürgerschar von Bruchsal aus der Haft in Kislau befreit. Er nahm dann an den Kämpfen im badischen Unterland teil und that sich namentlich bei Ubstadt rühmlich hervor. Nachdem er in der Schweiz, dann in England Fuß zu fassen gesucht hatte, wanderte er im Frühjahr 1852 – etwas vor mir – nach Amerika aus. Er wurde Mitarbeiter einer Zeitung in Newark, wo damals auch mein Bruder Emil und mein Vater lebten, bis ihn der Bürgerkrieg zu den Waffen rief. Er diente zuerst als Hauptmann des 2. New Jerseyregiments, nebst meinem jüngsten Bruder Karl, kämpfte in der ersten Schlacht bei Bull Run und half dann in New York mit Paul Frank, einem Oesterreicher, das 52. New Yorkregiment („Regiment Sigel“) organisieren. Bald darauf begab er sich nach Missouri, wurde Oberst des 13. Kavallerieregiments, das er bis zum Ende des Kriegs kommandierte. Wegen seiner Tapferkeit und Umsicht während des großen Streifzugs der Südländer unter General Sterling Price im Jahre 1864 erwarb er sich besondere Anerkennung durch General Rosecranz. Nach dem Kriege wurde er Generaladjutant des Gouverneurs von Missouri, dann Staatspensionsagent. Zuletzt war er Notar in St. Louis, wo er am 15. März 1884 nach langer Krankheit, welche vom Kriege herrührte, starb. Außer anderen litterarischen Arbeiten gab er auch einen Band Gedichte heraus. Seine Witwe, drei Töchter und ein Sohn leben in St. Louis.

In diesem Ueberblick dürfen aber auch die Namen derjenigen Deutschen nicht fehlen, die sich während des Secessionskriegs in höherer Stellung hervorragende Verdienste erworben, die aber in keiner Beziehung zur deutschen Volkserhebung von 1848 und 1849 gestanden haben. Prinz Felix Salm wurde schon oben erwähnt; er war Blenkers Generalstabschef, während Oberstleutnant v. Radowitz, der Sohn des preußischen Generals, und Major von Hammerstein, ein Oesterreicher, dem Stab von General Mac Clellan angehörten. Salm war später Oberst im 68. New Yorker Freiwilligenregiment und erhielt 1864 den Rang eines Brigadegenerals. Besonders tüchtig unter den Kommandeuren der Deutschen Division war Oberst von Gilsa, der früher als Leutnant in einem preußischen Regiment gedient hatte.
Noch heute am Leben ist Julius Stahel, ein Oesterreicher, der nach der Errichtung des 8. Regiments Blenkers Oberstleutnant war; als Blenker General wurde, erhielt Stahel das Kommando des 8. Regiments; als Blenker das Kommando der Deutschen Division erhielt, übernahm Stahel seine Brigade. – August v. Kautz, der es zum Generalmajor in der regulären Armee brachte, war schon als Knabe mit seinen Eltern aus Baden ausgewandert. Am Mexikanischen Kriege beteiligte er sich im 1. Ohio-Freiwilligenregiment. Mit Grant besuchte er die Kriegsschule in West-Point. Während des Secessionskriegs that er sich als kühner und geschickter Reiterführer hervor. Er starb erst vor wenigen Jahren in Kalifornien. Ebenfalls ein „Westpointer“ war Gottfried Weitzel. Auch er stieg zum Generalmajor der regulären Armee auf. Er zeichnete sich besonders in den Kämpfen vor Richmond aus und nahm nach dem Rückzug der Feinde Besitz von der Stadt. Er ist erst vor kurzem gestorben. Noch sind hier zu nennen Brigadegeneral C. L. Matthies aus Preußen, Brigadegeneral Adolph Engelmann aus Halberstadt, der bei Shiloh fiel, Brigadegeneral August Moor aus Leipzig, Brigadegeneral Georg v. Schack, der sich beim Angriff von Fredericksburg unter General Hancock besonderen Ruhm erwarb, Brigadegeneral H. v. Bohlen aus Bremen, den bei Freemans Fort der Tod ereilte, Hugo Wangelin aus Mecklenburg, der im Treffen vor Ringgold einen Arm verlor, Joseph Conrad aus Hessen-Darmstadt, der erst in der freiwilligen, dann in der regulären Armee diente und mehreremal verwundet wurde, Gustav Körner aus Leipzig, einst Gouverneur von Illinois und Oberst im Stabe Fremonts, die Brevet Brigadegeneräle Alexander v. Schrader und Louis v. Blessing.

Trotz des verhältnismäßig großen Kontingents, das die Deutschen gleich im Anfang des Kriegs ins Feld stellten, und der Verdienste, die sich Truppen und Führer während des Kriegs erwarben, ist die gerechte Würdigung dieser letzteren vielfach ausgeblieben. Je mehr sich die Verhältnisse für den Norden günstig gestalteten, um so mehr trat auf Seiten der Armeeleitung und vieler anglo-amerikanischer Generale ein mißgünstiges Verhalten gegen die Deutschen hervor, das sich in Intriguen und Zurücksetzungen äußerte. Dazu kam der Umstand, daß die deutschen Truppen nur teilweise in Korps oder in Divisionen organisiert waren, während die übrigen in allen Armeen zerstreut waren.
Schon nach der Schlacht von Croß Keys hörte die „Deutsche Division“ auf, als solche zu existieren. Vor der zweiten Schlacht bei Bull Run mußte das I. Korps auf Befehl von General Pope eine Brigade nach Winchester schicken, wo sie vom General der Südstaaten Lee zum großen Teil vernichtet oder gefangen genommen wurde. Nach der genannten Schlacht wurde eine andere Brigade unter General Milroy vom I. Korps abkommandiert, so daß das letztere, die Verluste in der Schlacht von Bull Run mit gerechnet, schließlich nur 6000 Mann zählte. Später, nach der Schlacht von Gettysburg, wurde General von Schimmelfennig mit einer Division des nämlichen Korps, das jetzt den Namen des XI. Korps trug, nach Südcarolina (Charlestown) geschickt und die beiden anderen Divisionen nach dem Westen, wo sie einen Teil des XX. Korps unter General Hooker bildeten.
Damit hörte auch das XI. Korps auf, als solches zu existieren. Es ist auch jetzt erwiesen, daß die unglückliche Schlacht von Chancellorsville durch unzweckmäßige strategische Anordnungen und nachlässige taktische Maßregeln verloren wurde und daß die Niederlage des isolierten XI. Korps von nur 12.000 Mann gegenüber 20.000 Mann Südländern diesen fehlerhaften Anordnungen zuzuschreiben ist und nicht dem Verhalten des XI. Korps, das sich trotz seiner ungünstigen Stellung mit großer Tapferkeit schlug. Außerdem bestand das Korps nicht allein aus deutschen, sondern auch aus anglo-amerikanischen und irländischen Truppen und Kommandanten. Der Korpskommandeur selbst, Generalmajor O. O. Howard, war ein Anglo-Amerikaner. Trotzdem hat man die Schuld der Niederlage von Chancellorsville den „Deutschen“ zugeschoben und damit die Animosität gegen dieselben beschönigt. Sie aber haben die Scharte bei Gettysburg rühmlichst ausgewetzt.

Es würde zu weit führen, bis ins einzelne zu verfolgen, welchen Anteil dem ruhmreichen Ausgang des Krieges das Deutschamerikanertum gehabt hat, und schwer würde es sein, die Vollständigkeit zu wahren. Genug, wir dürfen stolz sein, wenn wir dieses Anteils gedenken, und im besonderen haben die Veteranen der deutschen Freiheitskämpfer von 1848 und 1849 ein Recht zu dem Bewußtsein, viel beigetragen zu haben, ihr neues Heimatland vor Entzweiung zu bewahren und es zu dem zu machen, was es geworden ist.“


Aus Andreas Hofers Heimatsthal.

Von Karl Wolf.

In dem Wirtshause genannt „Am Sande“ zu Sankt Leonhard im Passeierthal kam 1767 Andreas Hofer, der Führer Tirols im Freiheitskampfe, zur Welt. „Am Sande“ hieß der Ort, weil die hier sich ausdehnenden Thalwiesen infolge der übermäßigen Abholzungen an den steilen Berglehnen durch gewaltige Muhren häufig verschüttet und übersandet wurden. Noch heute steht das Wirtshaus am Sande, der Sandhof, in welchem 1809 die ersten Beratungen zum Aufstande gegen die verhaßte Fremdherrschaft gehalten wurden, von wo aus Andreas Hofer die Tiroler zu den Waffen rief, um dem Lande die Freiheit wiederzugeben. Dort sagte er zu den Anführern, welche aus dem ganzen Lande zur Beratung gekommen waren: „Nun denn mit [725] Gottes Hilf und unter seinem Schutz, so wollen miar die verabredete Botschaft ausschicken: Es ist Zeit! Von alle Kirchthürm soll Sturm gläutet werden. Suacht’s fürer enkere Stutzen und Waffen, laßt’s aufmarschirn die Schwögler und Trummler, Kriag werd, a heiliger Kriag! Auf denn Mander: Mit Gott für Kaiser und Vaterland!“

Hundert Jahre nach Hofers Geburt wurde auf einer dicht bei dem Geburtshaus gelegenen kleinen Anhöhe der Grundstein zu einer Kapelle gelegt, zum Gedächtnis daran, daß sich Tirol in den Jahren der Bedrängnis dem Herzen Jesu verlobte. Diese nach den Plänen des Architekten Josef Vonstedt erbaute „Herz Jesu-Kapelle“, die vom Volksmunde treffend „Die Hofer-Kapelln“ genannt wird, ist jetzt endlich vollendet und am 21. September feierlich in Gegenwart des Kaisers Franz Josef von Oesterreich und des Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand eingeweiht worden. Im Gefolge waren ferner der Erzherzog Franz Karl, Erzherzog Eugen, der Hoch- und Deutschmeister, Fürst-Primas Kardinal Haller, ein geborener Passeirer, die Fürstbischöfe von Brixen und Trient etc. Aus allen Gauen waren die Tiroler Schützen, weit über achttausend an der Zahl, in ihren verschiedenen Landestrachten in das Heimatsthal Andreas Hofers gekommen, um dem Feste beizuwohnen – die Enkelkinder jener Tapferen, deren Stutzen am Berg Jsel krachten, bei der Pontlatzer Brücke, an der Mühlbacher Klause und auf dem Küchelberge bei Meran. Tausende trugen dabei noch die Tracht der Vorfahren und die alten Waffen, die als Reliquien allenthalben aufbewahrt werden.

Der Sandhof und die neue Hofer-Kapelle im Passeier.
Nach photographischen Aufnahmen von Wilh. Müller in Gries bei Bozen.

Die zahlreichen Festgäste, welche im Jahre 1867 der Grundsteinlegung der Kapelle anwohnten, konnten nur auf beschwerlichen Wegen in das Thal kommen; die meisten wählten die Uebergänge über den Jaufen, über Tümmels aus dem Oetz- und Schnalserthale. Von Meran aus führte ins Passeierthal nur eine Saumstraße, auf welcher Kraxenträger und zahlreiche schwerbeladene Bötinnen den ganzen Verkehr der Thalbewohner mit der Stadt vermittelten. Auch das Brennholz lieferte das waldreiche Thal der Stadt, Bauholz jedoch konnte auf dem Saumweg nicht gefördert werden. Ueber die Dörfer Riffian-Kuens und den Schildhof Saltaus rechnete man fünf Gehstunden bis St. Leonhard, dem Hauptorte des Thales. Jetzt aber führt eine schöne Straße dorthin und durch sie wurde wieder ein herrliches Stück Tiroler Land dem Verkehre eröffnet. Der schaffensfreudige und unermüdliche Bürgermeister des Kurortes Meran Herr Dr. Roman Weinberger hat dieses Werk, trotz mancher Gegnerschaft, durchgesetzt und damit den ersten Grund zu einem neuen Straßenzug gelegt, welcher zu den interessantesten des Landes zählen wird. Diese neue Straße wird vom Fuße des Brenners bei Sterzing über den Jaufen führen, in ihren Serpentinen, gegen Passeier zu abfallend, einen herrlichen Ausblick in das Etschthal gewähren. Man erreicht das sonnige Meran, durchquert den Fruchtgarten des Burggrafenamtes, um bei Lana, in die Hohe steigend, durch ein Mittelgebirge von entzückender Scenerie, endlich die Höhe des Gampens zu gewinnen und mit ihr den Anschluß an die prächtigen Alpenstraßen Welschtirols.

Am Morgen des 21. September d. J. zogen von Meran aus auf der neuen Straße nach St. Leonhard die Tiroler Schützen mit ihren Fahnen in kolonnenmäßigem Aufzuge; mehr als dreihundert Wagen mit Festgästen belebten sie; um 9 Uhr trat der Kaiser mit den Erzherzögen unter dem Donner der Böllerschüsse die Fahrt [726] von Meran zum Sandhofe an, wo zwei Stunden später die Ankunft erfolgte. Bereits um 8 Uhr hatte der Fürstbischof von Brixen die Einweihung der Gedächtniskapelle vorgenommen.

Die auf unserer Abbildung rechts sichtbare Kapelle ist ein romanischer Centralbau aus behauenen Steinen, über den sich in der Mitte der kräftige Turm erhebt. Das Innere ziert ein einfacher Steinaltar mit einer Herz Jesu-Statue vom Tiroler Bildhauer Trenkwalder. Die Wände decken historische Gemälde von Edmund v. Wörndle, die Dekorationsmalerei ist von Josef Pattis. Nur von den Seiten, durch die zwölf Fenster, fällt Licht in den Raum, und zum gründlichen Beschauen der Bilder ist es fast nötig, eine Früh- und eine Nachmittagsstunde zu wählen, da das Licht sich selbstverständlich nach dem Stande der Sonne ungleichmäßig verteilt. Diese sehenswerten und besonders für jeden Verehrer Hofers hochinteressanten Gemälde finden eine eingehende Besprechung in der zum Feste erschienenen Schrift von Alois Menghin: „Tirols Ruhmesblatt in der Weltgeschichte“ (bei C. Jandl, Meran), ein wertvolles illustriertes Büchlein, das jedem Freunde Tirols Freude machen wird.

Die Heldenthaten vom Jahre 1809 sind freilich weltbekannt, und was Andreas Hofer in jenen Kämpfen für sein Vaterland geleistet hat, ist hundertfach dargestellt worden. Weniger bekannt aber ist Andreas Hofers Jugendzeit und die Eigenart des Passeirervolkes überhaupt. Da hat nun Herr Dr. Franz Jnnerhofer in Meran, der einer Altmeraner Familie entstammt, einen glücklichen Fund gemacht. Ein unermüdlicher Sammler von Dokumenten der Heimatsgeschichte, hat er ein Manuskript entdeckt, das von einem gewissen Josef Thaler, vulgo Hasler, aus St. Martin in Passeier stammt, einem einfachen, schlichten Bauern, der Zeitgenosse und Freund Hofers war. Obwohl Thaler das Konzept seiner „Hofer-Geschicht“ vollendete, kam er mit der Reinschrift nur bis zum 24. Abschnitt, als ihn der Tod ereilte. Diese Reinschrift vollendete der Direktor der Bozener Bürgerschule Jakob Pöll, auch ein Zeitgenosse Hofers. Dr. Jnnerhofer hat diese Schrift jetzt zum Fest drucken lassen (Meran, Ellmenreichs Verlag). Die Vorrede dieses Büchleins ist in der Originalschreibweise des bäuerlichen Verfassers wiedergegeben. Als ein Beispiel folge hier die Einleitung: Vorrede an den ginstigen Leser. Mein gedreister Leser ich mues Dich ja schon zuvorauf um Verzeichen Biten, das ich mich Joseph Thaler unterstanden Ein geschichten Zu Schreiben oder Ein Buch dariber zu verförtig Weil ich von einer Rechtschreibung ganz und gahr kein Erkentes Besitze, doch wage ich Es und könnte Mihrs Ja Ein Jeder Rechts und wohl gelernter Leser Wohl verzeichen Weil ich das Schreiben Erst in die vierzig Jahr von Mihr selbsten und Hochen alter ohne lehrn Meister gelehrnt hab, Meine Hochgeehrthen leser das ich das geschichten Buech geschriben hab ist Mein Innerlicher und vor Nembster Antrib gewesen, da mit die Nach Welt auch noch sechen kann Was ich in Zeit Meines Lebens von aintausent Siben Hundert finf und Sechzig, bis aintausent achthundert Neun und Zbaunzigesten Jahrs, Neues gesechen Erfahren und Erlebet hab.“ Den übrigen Teil der Geschichte hat Herr Dr. Jnnerhofer in die jetzige Rechtschreibung übertragen.

Hofers Heimatshaus heißt eigentlich „Zur Krone“ und führt auch eine solche als Schild. Dreiviertel Stunden hinter St. Martin steht das schlichte, einfache Bauernhaus an der Straße, dem ehemaligen Saumwege, und gehört zur Gemeinde St. Leonhard. Der Hof ist nun Eigentum der Tiroler Adelsmatrikel, welche, im Bestreben, das Anwesen aus dem eigenen Pacht- und Bodenertrag zu erhalten, einen argen Mißgriff gemacht hat. Das schon etwas baufällige Haus wurde restauriert – ich möchte mich nicht hart ausdrücken und will daher sagen: in gedankenloser Weise. Das Originellste in einem Passeirerhause ist immer die Küche, die um so mehr Bedeutung im Leben der Bewohner hat, als sie im Winter der Plauschwinkel ist. Darum sagt auch der Passeirer zum Beispiel: „Heunt gian miar zen Kommerer Veita in der Kuchl auf’n Hoamgart“. Auf dem mächtigen Herde, wo immer die Hühnersteige steht, sitzen die Burschen, der Bauer auf dem Herdrande, und rauchen aus den kleinen eisernen Pfeifchen. Ein mächtiges Feuer prasselt auf dem Herde, und an einer aus dem mit Selchfleisch gefüllten weiten Rauchmantel hängenden Kette ist der Kessel befestigt, in welchem die Jungmagd für ihre Ferkel, „die Facklen, a Trankl kocht“. Die Mägde bringen sogar ihre Spinnräder nicht ungern in die Küche, denn da wird allerlei erzählt, von den Hexen, den Erzsuchern, dem Gottseibeiuns, der in Gestalt eines Stieres mit feurigen Augen die „Kellerlahn“, eine große, verheerende Muhre, „angelassen“ hat, und so weiter.

Heute hat Hofers Haus eine mächtige, moderne Küche mit einem Sparherd, an dem die wackere Hoferin sicherlich nicht zurecht gekommen wäre. Eine helle Glasveranda verunziert als Anbau das Haus, an Stelle des alten Schießstandes steht ein vernachlässigter Wagenschuppen, und im Garten, wo unter Hofers Zeiten Rosen und Nelken blühten und der Rosmarin duftete, stehen schlecht gepflegte Cypressen. Wenn es schon nötig war, aus dieser historischen Stätte, um sie zu erhalten, eine Erwerbsquelle zu machen, dann hätten die Herren der Verwaltung für die Matrikelkasse besser gesorgt, wenn sie am Waldesrand hinter Hofers Haus, ohne den herrlichen Ausblick auf das freundliche St. Leonhard, auf die romantische Jaufenburg und das Gebirge zu stören, einen der Bauart des Thales angepaßten Gasthof errichtet hätten zur Unterkunft für die Hofer-Pilger. Aus Hofers Haus aber hätte man sollen ein Museum machen mit Reliquien aus den Jahren 1797 und 1809, deren noch genug vorhanden sind. Es wäre aber durchaus nicht nötig gewesen, eingreifende bauliche Veränderungen vorzunehmen, sondern pietätvoll hätte man dabei das alte Haus erhalten können. Es verdirbt jedem Besucher die Stimmung, wenn er an Sonntagen zum Beispiel zu Hofers Haus wallfahrtet und findet Stuben und Kammern, Hausgang und Söller gefüllt mit zechenden Menschen, die an alles eher denken als an die Heimats- und Geburtsstätte Andreas Hofers, des Helden von Tirol.

Andreas Hofer wurde am 22. November 1767 geboren, in St. Leonhard getauft, und sein Pate war der Junggeselle Johann Pichler auf der „Mörra“. Eine kleine Wallfahrtskapelle stand schon damals bei dem Vaterhause mit einem Gnadenbilde, zu welchem Andreas Hofer immer einen frommen Gruß hinaufsendete, ob er thalaus oder thalein zog. Er war der einzige Sohn im Hause und hatte drei ältere rechte und eine jüngere Stiefschwester. In der Schule war er zwar kein hervorragender Schüler, aber fleißig und gehorsam. Er war der Liebling der Lehrer und auch seiner Mitschüler. Seine rasche Auffassung, seine Geistesgegenwart und seine geradezu verblüffende Ruhe fielen schon in der Jugend auf. Kaum war er der Schule entwachsen, als sein Vater starb. Hofer kam selbstverständlich unter Vormundschaft und dadurch auch wirtschaftlich zu Schaden.

Seine Stiefmutter war keine gute Hausfrau. Sie führte das Hauswesen so ungeschickt, daß sie aus dem Vermögen der Kinder in kurzer Zeit 1700 fl. verhauste. Als die älteste Schwester Hofers heiratete und die Zügel der Wirtschaft in die Hand nahm, begab sich Andreas nach Welschtirol, um die italienische Sprache zu erlernen, denn damals kamen viele welsche Händler und Kaufleute über den Jaufen, und die Passeirer zogen mit ihrem Kleinvieh bis nach Mailand und Genua nach dem Abtrieb von den Alpen: die Passeirer Schafe und Ziegen waren sehr gesucht.

Mit vielen Kenntnissen in der welschen Sprache und der Art und Weise des Handels in Italien, kam Andreas Hofer wieder nach Passeier zurück, ein schöner, kräftiger Bursche, der nicht ungern eine Aufforderung zu den unter den Bergleuten üblichen Ringkämpfen annahm, aus denen er zumeist auch als Sieger hervorging. Ein Zeitgenosse Hofers, das alte „Waltner Anderle“, schilderte mir das Aussehen desselben vor vielen Jahren, und ich habe gelegentlich der Vorbereitungen zu der diesjährigen Hoferfeier die damalige Aufzeichnung wieder hervorgesucht und gebe sie wörtlich, nur die Mundart des Verständnisses halber mildernd, wieder:

„Der Hofer Anderl ist a saubrer Mensch gwest. Stocket in der Gestalt und broat in die Achslen, daß ma gsechn hat, der Mensch, wenn er unpackt zelm kracht’s. ’s Gsicht ist kugelet gwest und die Nasn a fezzele eindruckt, nit grad was die Diandlen sauber hoaßn. Aber mit seine braun Augn hat er rödn kennen, der Anderle, und wenn er a Beichtvater gwest war, in verstockteste Sünder hätt’ er ’s Bekenntniß fürerglockt, a sou hat er schaugn können. Zwegn dem ist er aber döcht sanft gwest; wie a [727] Lampl und um fremds Load ist ’n öfter ’s Wasser in die Augn gschossn, wie um ’s oagne.“

Am 21. Juli 1789 verehelichte sich Hofer mit Anna Ladurner, aus einem in der Meraner Gegend weit verbreiteten Geschlechte. Sie war eine verständige, treue Frau, schweigsam und still, die mit großer Zärtlichkeit an ihrer Familie hing.

Unter schweren Bedingungen übernahmen die jungen Eheleute den Sandhof. Andreas Hofer mußte bei einem Kaufpreis von 12000 Gulden seinen Geschwistern 9000 Gulden verzinsen. Dies war auch der Grund, warum Hofer im Handel mit Vieh, Wein und Branntwein Nebenerwerb suchte und so im ganzen Lande bekannt wurde. Ueberall wurde der Passeirer Wirt freundlich aufgenommen, denn er erfreute sich eines schlagfertigen Witzes und ließ mit seinen Bemerkungen und Anspielungen nicht auf sich warten. Hofer war ungemein gutmütig und nicht sonderlich sparsam, weshalb er eigentlich wirtschaftlich immer zu kämpfen hatte. Er war aber grundehrlich und verabscheute jedes unerlaubte Mittel der Bereicherung.

Eigentlich unmäßig im Trinken war er nicht. Was aber so ein Tiroler Wirt an Wein konsumiert, ist schon ein anständiges Quantum. Auf körperliche Bequemlichkeit in jeder Beziehung legte er wenig Wert und verlachte andere, wenn sie auf Reisen über schlechte Betten und so weiter klagten.

Seine Reisen machte er zumeist reitend, trug auf ihnen immer die Passeirertracht. Er war fromm aus tiefinnerster Ueberzeugung und erfüllte strengstens die Pflichten der Religion.

Andreas Hofer.
Nach dem Gemälde von Wachter.

Das Passeierthal, bis zu seiner westlichen Abzweigung am Fuße des Jaufens, hat ein äußerst angenehmes Klima, in den sonnig gelegenen Hausgärten blühen bis weit in den Spätherbst die Rosen. Die Thalebene ist durch die Passer arg verwüstet, auf allen Geländen aber, auf allen Blößen stehen die sauberen Häuser und Hütten, der Unterteil gemauert, der Oberbau aus Stämmen gezimmert, und in den Dachluken eine Menge von Nelkenstöcken, denn der Bursche liebt es, solange es nur angeht, sich vom Diendl einen frischen Strauß auf den Hut stecken zu lassen. Auch der fremde Gast wird bei einem Besuche selten ohne eine Blumenspende verabschiedet. Herrliche Hochgebirgsscenerien bietet der Hinterpasseier, mit seinen prächtigen Waldungen, den Wasserfällen, Alpen und Firnern. In Außerpasseier findet sich noch Obst und Getreide; die Rebe rankt sogar an manchen Häusern. In Hinterpasseier hingegen leben die Leute nur von der Viehzucht und in manchen Seitenthälern schneien sie im Winter vollständig ein. Einem alten Rechte zufolge kommen die Passeirer dreimal im Winter mit einer Masse von Schafen und Ziegen nach Meran, welche sie selbst schlachten und auf offener Straße ausschroten.

Die Passeirer zeichnen sich aus durch hohen Wuchs und schöne Haltung, durch einen robusten, abgehärteten Körperbau und eine seltene Kraft. Die Leute sind religiös, verständig, manchmal sogar verschlagen, und in Handelsgeschäften außerordentlich gewandt.

Die Passeirer, wegen ihrer Treue und Anhänglichkeit an den Landesfürsten rühmlichst bekannt, genossen die Gunst, daß gewisse Höfe zu „Schildhöfen“ ernannt wurden, die heute noch bestehen. Bei besonders feierlichen Anlässen bildeten die Schildhöfler die Leibwache der Fürsten, und es wurde erst in jüngster Zeit den Passeirern während der Anwesenheit des Kaisers in Tirol diese Ehre zu teil.

Ein Volksbrauch hat sich in Passeier auch noch erhalten, der bemerkenswert ist: „der Ehehaftthading“. Es ist dies ein Volksgerichtstag, an welchem sich die Leute in St. Leonhard versammeln und ohne jeden juridischen oder richterlichen Beistand Streitigkeiten schlichten, Verträge und Geldgeschäfte abschließen etc.

Schildhöfe bestehen heute noch elf. Die Schildhöfler waren die einzigen im Thale, welche dem Rufe zum Ehehaftthadingtag keine Folge zu leisten brauchten. Es braucht wohl kaum erwähnt zu werden, daß im Jahre 1809 die Passeirer infolge ihrer Ausdauer, ihrer Kühnheit und Verschlagenheit zu den Elitetruppen Hofers gehörten, und allenthalben finden sich in den Häusern noch Waff und Wehr, mit welchen die Vorfahren einst ausrückten unter dem „Hofer Anderl“, dem „Sandwirt von Passeier“.


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Ein Lichtprüfer für Arbeitsplätze.

Ungenügende Beleuchtung bei Arbeiten, die ein genaueres Sehen erfordern, wie Lesen und Schreiben, verdirbt die Augen. Der Arbeitende wird, um deutlich sehen zu können, gezwungen, die Schrift dem Auge näher zu bringen. Dieses Nahesehen führt aber bei vielen zur Entstehung oder Vermehrung der Kurzsichtigkeit. Es ist darum von hoher hygieinischer Bedeutung, in Schulen und in Familienhäusern auf eine genügende Beleuchtung der Arbeitsplätze zu achten. Sehr willkommen wird aus diesem Grunde Lehrern und Eltern ein von Prof. Dr. Hermann Cohn in Breslau hergestellter Apparat sein, der auch den Laien in stand setzt, die Beleuchtung eines Arbeitsplatzes zu prüfen.

Unsere Abbildungen veranschaulichen die Zusammenstellung des Apparates.

Er besteht zunächst aus dem hölzernen Teil (A), der vor Augen gebracht wird. Derselbe ist mit einem Kästchen aus Pappe (B), das alles Seitenlicht von den Augen abhält, und einem hölzernen Handgriff (H) versehen. Ferner sind an dem senkrechten Teil des Holzkörpers drei emporklappbare graue Gläser (G1, G2 und G3) angebracht. Daran schließt sich ein metallener, in Centimeter geteilter, 40 cm langer Maßstab an. Er ist in zwei Hälften (M1 und M2) zerlegt, welche durch eine Schraube (Q) miteinander verbunden werden können. Am Ende des Maßstabs sehen wir einen Schieber (E) mit zwei messingenen Klammern (K), die das Kartontäfelchen (P) festhalten. Auf dem letzteren befinden sich zwölf senkrechte Reihen von je dreißig sehr klein gedruckten vierstelligen Zahlen.

Diesen Apparat kann nun jeder zur Prüfung der Beleuchtung der Arbeitsplätze benutzen, der imstande ist, an hellen Mittagsstunden, mit dem Rücken gegen das Fenster gewandt, alle Ziffern in 40 cm Entfernung leicht und fließend zu lesen, gleichviel ob er dies mit bloßem Auge oder mit Hilfe der Brille fertig bringt. Wer dies jedoch nicht vermag, der kann die Lichtprüfung nicht selbst vornehmen, sondern muß sich jemand dazu auswählen, der dies kann, und zwar am besten jemand, der die Aufgabe ohne jede Brille löst, was jeder normale Schüler zu thun leicht imstande sein wird.

Die Prüfung geschieht in folgender Weise. Der Untersuchende liest, während die grauen Gläser am Apparat aufgeklappt sind, am Fenster eine der senkrechten Reihen laut und so schnell er kann von oben nach unten vor. Dabei werden aber die Zahlen nicht als vierstellige, sondern als zweistellige ausgesprochen. 2463 wird z. B. vierundzwanzig, dreiundsechzig vorgelesen. Die Zahlen sind so gewählt, daß jede zweistellig ausgesprochene je vier Silben enthält. Ein Gehilfe mit der Sekundenuhr steht dabei und giebt dem Untersuchenden das Zeichen, wann er mit dem Lesen einer senkrechten Reihe beginnen soll; er unterbricht aber das Weiterlesen der Zahlen, welche in einer Reihe untereinander stehen, sobald eine halbe Minute vorüber ist, und notiert, wie viel vierstellige Zahlen in der beschriebenen Weise in 30 Sekunden vorgelesen worden sind.

Dies hängt nicht nur vom deutlichen Sehen, sondern auch von dem Temperament des Vorlesenden ab. Der eine bringt es in einer halben Minute auf 20, der andere vielleicht auf 30 Zahlen.

Nehmen wir nun an, daß der betreffende Untersuchende 20 Zahlen

[728]

Lichtprüfer für Arbeitsplätze.

vorgelesen hat. Will er jetzt einen Arbeitsplatz beim künstlichen Lichte prüfen, so setzt er den Apparat an die Stelle des Buches oder Heftes und sucht die Zahlen in 40 cm Entfernung vorzulesen. Kann er wiederum wie am hellen Fenster 20 Zahlen in einer halben Minute fließend vorlesen, so ist der Arbeitsplatz vom künstlichen Lichte genügend beleuchtet. Werden weniger Zahlen gelesen, so ist der Platz unbrauchbar.

Wenn wir aber erfahren wollen, ob ein Arbeitsplatz genügendes Tageslicht erhält, so müssen wir in Betracht ziehen, daß das Tageslicht durch Bewölkung u.a. Schwankungen ausgesetzt ist. Diese Verdunkelung wird in dem Apparat durch die grauen Gläser künstlich erzeugt.

Um den Arbeitsplatz zu prüfen, setzt sich der Untersuchende in einer hellen Mittagsstunde an ihn und sucht die Zahlenreihen durch die grauen Gläser zu lesen. Gelingt ihm dies fließend durch alle drei Gläser, so ist der Arbeitsplatz vorzüglich beleuchtet; ist das Vorlesen bei zwei Gläsern ebenso leicht, so gilt der Platz als gut, und er ist noch brauchbar, wenn noch durch ein graues Glas fließend und fehlerfrei vorgelesen werden kann.

Weitere Einzelheiten sind in der Gebrauchsanweisung enthalten, die dem Apparate beigegeben wird. Zu beziehen ist der Lichtprüfer von Mechanikus Tiessen in Breslau, Adalbertstraße 16.

Der Elektromotor im Dienste der Hausfrau.

Mehr und mehr verschafft sich die Elektricität, diese in alltäglichen und schwierigen Fällen gleich hilfsbereite Dienerin des Menschen, Eingang auch in den Privathaushalt, nachdem sie sich die Fabriken, das öffentliche Leben, die Werkstätten des Kleingewerbes längst erobert hat.

Wäschemangeln mit elektrischem Antrieb.

Wohl fragt noch mancher verwundert, was der elektrische Strom denn, abgesehen von den Zwecken der Beleuchtung, im Haushalte zu thun hat, aber giebt es nicht eine Fülle von Arbeiten, die ebenso unumgänglich wie – beim Handbetriebe wenigstens – unbequem und zeitraubend sind? Da sind nicht allein Stiefel zu wichsen, Messer zu putzen, Flaschen zu spülen, Kaffeeröster und Eismaschinen zu drehen, zuweilen auch noch Pumpen zu treiben, Nähmaschinen zu bewegen und in ländlichen Haushalten oft genug auch noch Buttermaschinen u. dgl. anzutreiben! Vor allem sind es aber die so oft notwendigen Arbeiten der Wäschereinigung, die ein ziemlich großes Maß körperlicher Anstrengung erfordern und mehr und mehr der Maschine übertragen werden.

Der Elektromotor ist nun für alle diese Arbeiten besser geeignet als jede andere Kraftmaschine. Klein und leicht, bequem zu handhaben, bei geringem Kraftbedarf nicht mehr Strom erfordernd als eine sechzehnkerzige Glühlampe, im Gebrauch weder Hitze noch üble Dünste oder Gase, ja nicht einmal starkes Geräusch verursachend, bildet er eben für die Zwecke der Haushaltung eine ideale Kraftquelle.

Die „Gartenlaube“ hat bereits vor zwei Jahren (vgl. Jahrgang 1897, S. 31) in dem reich illustrierten Aufsatz „Die Elektricität im Hause“ an einer Reihe von Beispielen diese Thatsache erläutert.

Unsere heutige Abbildung zeigt einen stärkeren Motor der Aktiengesellschaft Siemens u. Halske in Berlin für den Antrieb mehrerer Wäschemangeln; häufig zieht man es jedoch vor, jede anzutreibende Maschine mit einem besonderen kleineren Motor fest zu verbinden, wodurch die Bedienung sich, beim Fortfallen jeder Transmission, wesentlich vereinfacht.

Der wachsende Bedarf an kleineren Elektromotoren, die in Städten mit elektrischen Centralstationen schon zu vielen Tausenden gebraucht werden, hat ihre Massenfabrikation bereits so begünstigt, daß jetzt ein 6/10 Pferdekraft leistender Motor der erwähnten Gesellschaft nur noch 300 Mark kostet, doch ist es wahrscheinlich, daß der wachsende Massenbedarf auch diesen Preis noch weiter herabdrücken wird. Bw.     


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Galeerensklaven!

Ein Mädchenschicksal, erzählt von Hans Arnold.

Der Herbst war selten so schön, aber auch selten so früh in den Bergen eingekehrt wie dieses Jahr. Schon im September hatte der Wald – scheinbar über Nacht – sein Prachtgewand angelegt, er prangte in Kupferrot und tiefem Purpur, in bräunlichem Gold und hellleuchtendem Gelb – wo die Sonne hindurchschien, flammten die Blätter. Die scharlachroten Trauben der Eberesche hingen schwer dazwischen herunter. An dem niederen Strauchwerke standen die stumpfroten Rosenkönige und Hagebutten, die Pfaffenhütchen glühten aus dem hier und da noch grünen Laube, im zierlichen Gerank der Brombeersträucher hingen die reifen Früchte wie schwarze Kugeltrauben. Es war eine Farbenpracht und ein Farbengewirr im Herbstwalde, die fast etwas Berauschendes hatten, und über alle dem lag doch schon der leise, schmerzliche Hauch der Vergänglichkeit; er schwebte in der blassen Farbe des Septemberhimmels und in dem zarten, bläulichen Duft, der die Welt umgrenzte und sie doch wieder so unendlich weit, so lockend und so verheißungsvoll erscheinen ließ.

Wenn man in den Thüringer Wald tief hinein gewandert ist, wenn man die laute, lärmende, staubige Touristenstraße verläßt mit ihren Sonntagsausflüglern und Radfahrern, mit ihrem Geschrei und Rostwürstelgeruch, wenn man dem Flüßchen nachgeht, welches dieser Straße ein Stückchen das Geleite giebt und mit ihm eine scharfe Biegung macht, so kann man das wilde, eiskalte, fröhliche Bergwasser bis dahin begleiten, wo es als winziges Quellchen aus einer Wiese entspringt.

Von dieser Wiese, auf der man versucht ist, sich nach dem „Elfenreigen“ umzusehen, führt ein baumumstandener Weg nach einem einsamen Haus auf der Höhe.

Dies Haus hat ein so schweres großes Giebeldach – wie ein Hut, trotzig in die Stirn gezogen, daß man zuerst denkt, es könne gar nicht darunter vorsehen, ein Giebeldach, auf dem Moos zwischen den kleinen Schornsteinen wächst und unter dem man alles vermuten würde, nur keine Fremdenpension.

Aber doch hat eine solche sich darunter eingenistet, und wenn die laute geschwätzige Herde der eigentlichen Sommerfrischler auch noch in schwacher Anzahl hier vertreten ist, so hat sie doch auch zu diesem stillsten Fleckchen den Weg gefunden, und in den Sommerferien ist hier so wenig gut sein wie in den meisten Fremdenhotels, wenn auch vielleicht ein bißchen besser.

Wenn aber der Juli und August vergangen sind und der große Strom der Touristen sich verlaufen hat, von den langen Abenden und der scharfen Septemberluft in die Häuser und in die Geselligkeit zurückgejagt, dann findet sich hier alljährlich eine kleine Anzahl von Menschen zusammen. Das sind zumeist

[729]

Mostpresse in Oberösterreich.
Nach einer Skizze von O. Pinsker gezeichnet von W. Gause.

[730] Leute, die von der Natur noch etwas anderes wollen als sie anjodeln, schlechte Witze über sie machen und ihr zum Ruhme Ansichtskarten schreiben. Es sind vielfach Leute, die manches in sich und um sich loswerden wollen und die in dieser tiefen Stille über was denken und sprechen mögen, was „von Menschen nicht gewußt oder nicht bedacht“ wird und was im Lärm, im Treiben und Jagen des Alltagslebens selten zu Worte kommt.

Eine dieser alljährlichen Stammgästinnen der Pension, von den übrigen kurzweg „die Excellenz“ genannt, eine schöne, alte Dame mit weißen Haaren, strahlenden blauen Augen und dem fein ironischen Rokokogesicht, das dazu paßte, saß auf der breiten Plattform, die hinter dem Hause liegt und durch deren Glaswände man den prächtigsten Blick ins Thal hinunter hat, wie es so herrlich im Schutz und Schirm der Berge daliegt, in deren bunte Laubwände der Herbst mit seinem Pinsel noch unermüdlich neue Farbeneffekte hineinzaubert.

Die Excellenz hatte eine Schreibmappe vor sich liegen und schrieb eifrig, während ihr belebtes Gesicht das, was sie schrieb, durch sprechendes Mienenspiel gleichsam illustrierte.

Sie schrieb: „Du mußt mir schon noch acht Tage Nachurlaub bewilligen, mein lieber Alter – der kleine Roman, den wir hier alle miterleben, interessiert mich zu sehr, und das Schlußkapitel kann meiner Ansicht nach nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Ich schrieb Dir ja von den beiden Hauptpersonen, in die ich mich tout bonnement verliebt habe. Mir sind selten im Leben zwei Menschen begegnet, die auch äußerlich so ganz und gar zu einander stimmen. Denke Dir sie – das Mädchen – groß, schlank – fast zu schlank – von der Sorte, bei der Gemüt, Geist und Nerven zu viel mitsprechen, um den Körper ganz zu seinem Rechte kommen zu lassen – mit einem ernsthaften, stolzen, leidenschaftlichen Gesicht, mit den vornehmsten Händen und Füßen, mit krausen Haaren, in einer Farbe, wie bräunliches Herbstlaub mit einem Goldton darin; denke Dir in diesem Gesicht Augen, die durch jede Schattierung des Empfindens anders gefärbt werden, wie das Meer durch den Himmel. Und das Interessanteste an diesem interessanten Wesen ist, daß sie scheinbar erst hier so interessant geworden ist. Als sie ankam, machte sie den Eindruck eines scheuen, verschlossenen, fast finsteren Mädchens, das an der Grenze der Jugend und jenseit der Grenze der Illusionen steht. Sie erinnerte mich damals an eine Landschaft, über der ein düsterer Regenhimmel hängt. Aber ich sagte mir in den ersten zehn Minuten – Du weißt, Physiognomien studieren ist meine Leidenschaft – also ich sagte mir damals sofort: wenn da noch einmal die Sonne durch die Wolken bricht, wird das alles strahlen und funkeln, und in den Fenstern der unscheinbaren Häuser wird eine große, prachtvolle Glut entflammen. Und jetzt ist es so weit – jetzt steht sie in der Sonne!

Diese Sonne ist natürlich ein Mann – bitte, höhne ruhig über meine absolut lahmen Gleichnisse, mit denen ich doch weiter komme, wo es gilt, einen anschaulichen Begriff zu geben, als Du auf den beiden gesunden Füßen Deiner logischen Beschreibungen. Ja, bei dem Signalement dieses Mannes werde ich Dich gleich durch eine Unmenge von Fremdwörtern zur Verzweiflung bringen – für ihn giebt es trotz seines urdeutschen Aussehens nur Fremdwörter. Er ist fascinierend, er hat eine indolente Grazie, er hat Charme. Und damit sollst Du für die nächste Viertelstunde genug gestraft sein, denn die Bezeichnung ,Egoist‘, die den pikanten Schatten auf diesem sonnenhellen Bilde abgeben muß und die ich ihm nicht ersparen kann, ist heutzutage kein Fremdwort mehr – leider! Aber ich setze gleich einen kleinen Lichtreflex neben den Schatten – er ist ein Egoist, doch ein liebenswürdiger, ein unbefangener, einer, den alle Welt so lange verwöhnt hat, bis er es selbstverständlich findet. – Da Du nun, Deiner pedantischen Natur entsprechend, Näheres über diesen Vogel Phönix wirst wissen wollen, so kann ich Dir sagen, daß er sich für einen Maler ausgiebt und daß ich ihm kein Wort davon glaube. Ich halte ihn für einen angehenden Diplomaten oder dergleichen, denn er hat keine Spur von dem fatalen ‚Sichgehenlassen‘, das mich an diesen Künstlern schon so oft unheilbar gestört hat. Er kam vor vierzehn Tagen hier an; sie – aber ich will Dir die beiden mit Namen vorstellen: er heißt Kurt von Groden – sie Agnete Nordeck – Agnete, und wenn ich Dir sage, das; sie gar nicht anders heißen könnte, so machst Du Dir eine deutliche Vorstellung von ihr. Wer heißt heutzutage Agnete?

Die beiden jungen Menschen gingen einander zuerst so geflissentlich aus dem Wege, daß ich ganz ärgerlich wurde, sie streifte einsam, stumm und finster mit ihrem Skizzenbuche herum, achtlos auf alles und auf alle – er sah nicht einmal nach ihr hin bei Tisch, obwohl ihm sonst ein sehenswerter Anblick nicht zu entgehen pflegt. Ich sagte ihm einmal in meiner Ungeduld darüber: ,Wie können Sie nur einem so schönen Gesichte gegenüber sitzen und es nicht ansehen – das bringe ich als alte Frau nicht einmal zustande!‘ ,Ja, meine gnädigste Excellenz, Sie sind eben viel jünger als ich und als meine ganze Generation‘, erwiderte er mit seinem angenehmsten Lachen. Und ich lachte mit. ,Nun, da steht ja zu hoffen, daß wir mit der Zeit noch einmal Altersgenossen werden‘, sagte ich, und dabei blieb es. Denn denkst Du, daß selbst dieser direkte Appell an sein Schönheitsgefühl etwas genützt hätte? Nein, gar nichts! Erst eines Abends, als es früh dunkel und kühl wurde, wie es jetzt schon immer wird – als Agnete am Fenster saß und in dem aufsteigenden, klaren Vollmondlicht sich ihr Profil rein und scharf von dem dunklen Hintergrunde des Nachthimmels abhob – erst da erlebte ich es, daß er eine ganze Weile wie selbstvergessen dasaß und sein Auge nicht von ihrem Gesicht los bekam. – Ich wollte erst diskret sein, aber eine Silbe konnte ich nicht unterdrücken, ich sagte mit einem leisen Triumphgefühl zu ihm: ,Nun?‘ Da atmete er ganz tief auf und sagte auch nur eine Silbe – nämlich: ,Ja!‘ Aber wir hatten uns beide ganz gut verstanden und konnten uns füglich längere Sätze schenken.

Seit diesem Abend sind die beiden unzertrennlich geworden, sie sehen und hören eigentlich niemand anders als sich gegenseitig, aber es bleibt anscheinend dabei. – Ich möchte für mein Leben gern wissen, was es mit diesem Mädchen für eine Bewandtnis hat, was für eine Geschichte sie hat! Denn daß sie eine hat, ist mir so sicher, wie daß zweimal zwei vier ist – nein, viel sicherer, denn das werdet Ihr einem ja eines schönen Tages auch noch mal abdisputieren wollen.

Was ich über Agnete erfuhr – aus sicherster Quelle –, ist ganz alltäglich. Sie ist die verwaiste Tochter eines hohen Beamten in sehr guter Vermögenslage, wofür auch ihre ganze Erscheinung und Ausrüstung im Kleinkram spricht; sie lebt mit einer alten unverheirateten Stiefschwester zusammen. Es ist alles klipp und klar und einfach, und dabei hat sie – auch jetzt, wo sie sich so glücklich fühlt, wie man es nur ein einziges Mal im Leben fertig zu bringen pflegt – auch jetzt hat sie das Gesicht eines Menschen, der ein schweres Schicksal mit sich herum schleppt. Ein Zug, der besonders anfangs fast immer um ihren Mund lag, ist nicht der Zug von jemand, der etwas hinter sich hat, sondern der es noch bei jedem Schritt auf den Schultern fühlt. Du kennst mich nun, wo unsere Silberhochzeitskränze schon einen bedenklich goldenen Schimmer bekommen, gut genug, um zu wissen, daß ich nicht abreisen kann, ehe ich erlebt habe, was aus diesem Paar – meinem Paar, wie ich sie nenne – wird! Ich käme vielleicht, wenn Du es mir befehlen würdest, aber sicher nur, um mit dem nächsten Zuge wieder hierher zu reisen. Denn ich möchte zu gern wissen, was er sagen wird, was sie sagen wird, und wie sie beide aussehen werden, nachdem sie es gesagt haben. Und ich möchte auch wissen, weshalb es so lange dauert, bis er es ihr sagt. Sie sind freilich fast gleich alt, aber das kommt doch öfter vor. Du siehst, ich bin noch unbedingt nötig hier, und darum mußt Du noch acht Tage länger allein haushalten. Warum mag er es ihr bloß noch nicht sagen?“


Indessen die alte Dame diesen Brief schrieb, saß Agnete allein im Walde an ihrem Lieblingsplatz und ließ die Gedanken mit den weißen Herbstfäden in die sonnendurchwärmte Luft flattern – und zerflattern. Sie sprach leise vor sich hin, wie sie das öfters that, wenn sie allein war, aber sie war hier nicht ganz allein – sie war bei „ihrem Baum“!

In den allerersten Tagen nach ihrer Ankunft in der Pension hatte sie einen Gang in den Wald unternommen und war am Eingang einer kleinen Wiese stehen geblieben. Unter dem stämmigen Buschwerk, das diese Wiese einfaßte, wuchs ein [731] einziger, ernsthafter, schlanker Buchenstamm in die Höhe mit einer prachtvollen Krone, die er königlich trug. Jetzt war diese Krone auch schon goldfarbig geworden, nur ein einziger Zweig ragte noch in sommerlicher Schönheit frisch und grün empor und triumphierte gleichsam über die andern. Diesen Baum liebte Agnete vom ersten Blick an, wie sie bis dahin nie ein belebtes oder unbelebtes Etwas geliebt hatte. Sie hatte in seiner Nähe ein seltsames, märchenhaftes Gefühl, als wenn sie einander verständen, sie erzählte ihm alles, was sie erlebte und was sie hoffte und dachte, sie konnte auch den fröhlichsten Unsinn an ihn hin plaudern, seit sie wieder jung und glückselig thöricht geworden war wie mit sechzehn Jahren. Jawohl, sie war wieder jung geworden, und das heimliche Entzücken, mit dem sie sich das sagte, war auch so jung! Sie sah die Zukunft seit einigen Tagen nicht vor sich wie eine große graue Nebelwand, die näher kommt mit leisen, gespenstigen Schritten und uns einmal in ihrem farblosen Mantel mitnehmen wird – sie sah sie vor sich wie eine wundervolle Sternennacht, in die man abends schweigend hineinsieht, in die man ungezählte, funkelnde, flimmernde Luftschlösser hineinbaut, in der man von einem unglaublichen Glück träumt und ganz wahrscheinlich findet, daß es einmal wie eine Sternschnuppe auf einen hernieder fallen wird.

Agnete war eine verschlossene Natur, sie hatte ihre Mutter nie gekannt, nie eine Freundin gehabt und hätte ihr auch nichts zu vertrauen gewußt; aber diesem Baume gegenüber konnte sie alles sagen, und wenn es dann so sachte in seinen Wipfeln rauschte, dann hatte sie immer das Gefühl, daß er ihr antwortete.

Als sie Kurt Groden kennenlernte und schon in der ersten Stunde des Zusammenseins den Zauber seines Wesens an sich empfand mit einer Tiefe und Gewalt, vor der sie selbst erschrak, weil sie nie etwas Aehnliches erlebt hatte, da hatte sie auch das „ihrem Baume“ erzählt. Er erinnerte sie oft an diesen Liebling: in der stolzen Art, wie er den Kopf trug, wie in der eigenen Klangfarbe seiner Stimme, die bei aller Wärme und Frische doch einen Anklang von liebenswürdigem Spott hatte. Sie saß jetzt ganz still am Fuße des Baumes und schloß die Augen: sie versuchte diese Stimme zu hören. Sie schalt sich selbst, wenn sie daran zurückdachte, wie alt sie sich schon vorgekommen war, wie fertig und wie abgeschlossen, wie sie in diesem Gefühl so ohne Fragen und Bedenken die täglichen Waldspaziergänge mit dem neugewonnenen Freunde unternommen hatte! Ich altes Mädchen! hatte sie halb bitter, halb wegwerfend zu sich selbst gesagt, als ihr der Gedanke zuerst befremdend erschien, sich so über das Hergebrachte hinwegzusetzen. Und jetzt? „Ich bin ja doch noch jung!“ sagte sie laut vor sich hin, mit einem rührenden Zweifel in der Stimme, „ich bin ja doch noch jung; meine Jugend hatte nur ihre Flügel zusammengefaltet, weil ich so lange im Schatten gelebt habe, und jetzt wird sie wieder fliegen lernen.“ –

Während sie so saß und träumte und von der Außenwelt nichts sah und hörte, war ein leichter, rascher Schritt näher gekommen und hielt jetzt vor ihr still.

Sie schlug die Augen auf und sprang mit einem leichten Erröten auf die Füße, während sie die Arme, wie schutzsuchend, um den Buchenstamm legte.

„Immer bei diesem Baum!“ sagte die tiefe Stimme, die sie eben in Gedanken so deutlich gehört hatte, mit einem leichten Anflug von Ungeduld, „wissen Sie, daß ich auf diesen Baum eifersüchtig bin?“

Sie schüttelte leicht den Kopf, ohne zu antworten.

„Und das nennen Sie malen?“ fuhr er strafend fort und nahm den Hut vom Kopfe, „und jagen mich seit einer Stunde umher, an allen unseren Skizzierplätzen? Mit was wollen Sie nun bestraft sein?“

Seine kecken, lachenden Augen wichen nicht einen Augenblick von ihrem Gesicht.

„Indem ich Sie belohne,“ sagte sie, verwirrt und hastig sprechend. „Sehen Sie die kleine Wiese? Dort wollte ich heute skizzieren und bin nur wieder nicht von meinem Lieblingsplatz losgekommen. Dort können Sie herrlich nichtsthun, und ich werde nun wirklich zeichnen!“ – Und wenig Minuten später waren sie beide auf der Waldwiese.

Sie saß auf einem Baumstumpf, das Skizzenbuch auf den Knieen; er lag der Länge nach im Grase und trank aus dem krystallklaren Bache der reizenden Gegenwart, als wenn er nie etwas anderes zu thun dächte.

Und daß diese Gegenwart reizend war, wer wollte es leugnen! So im herbstwarmen, goldgrünen Grase zu liegen, den Kopf auf den Armen, in das Stückchen Septemberhimmel zu blinzeln, das durch die Bäume schien, den leisen Heuduft zu spüren, der in der Luft schwamm, und nichts zu hören als den jeweiligen, leisen Fall einer überreifen Kastanie oder Nuß, die sachte auf dem Boden fortrollte, und das Glucksen und Schluchzen des kleinen Baches, der ein paar Schritte weiter fast unsichtbar durch das Waldmoos kroch und seine geheimnisvolle Geschichte vor sich hin erzählte!

Und bei alledem noch das Bewußtsein, daß zehn Schritte weiter ein reizendes Mädchen sitzt, ihr Skizzenbuch vor sich, und es verstohlen versucht, das ihr sichtlich sympathische Gesicht des Gegenübers aufs Papier zu bringen, trotzdem sie thut, als wenn sie den alten Eichbaum abzeichne – was will man mehr?

So gab sich Kurt Groden sorglos und fraglos dem Zauber der Minuten hin, eine fast zärtliche Freude an seiner Umgebung kam mit träumerischer Gewalt über ihn.

Auch er hatte sein Skizzenbuch mit sich, es lag aufgeklappt neben ihm, der Stift ein Stückchen davon, als wenn er in der bewußtesten Freude am Nichtsthun weggeschleudert worden wäre – und das war er auch.

Die beiden sprachen zunächst kein Wort, er aus elementarem Wohlbehagen an seiner augenblicklichen Situation, sie in der ungeteilten Hingabe an ihren Versuch, seinen Kopf wiederzugeben. Jetzt – jetzt hatte sie den unnachahmlichen, kecken und dabei träumerischen Ausdruck getroffen, der ihr so oft vorschwebte, wenn sie allein war, und mit einem leisen Aufatmen ließ sie einen Augenblick den Bleistift sinken.

Er hob den Kopf und stützte ihn in die Hand – ihm schwebte einen Augenblick die neckende Frage auf den Lippen: Nun, bin ich ähnlich geworden? Aber er unterdrückte sie ebenso schnell, denn er wußte, daß sie sie ihm nicht verzeihen würde.

Schon bei seiner leisen Bewegung deckte sie hastig die Hand über das Blatt und wandte den Kopf ab, aber er sah doch, daß ein tiefes Rot sich langsam über ihr Gesicht ergoß, bis unter die Haare hinauf.

Er lächelte vor sich hin und ließ dann sein Auge wieder traumverloren in die Wipfel gehen, die noch grün und sommerlich aussahen in dieser tiefen Waldstille, wo die Sonne den Weg nicht oft hin fand.

„Das ist es, was mich in der Stadt oft so unglücklich macht,“ sagte sie, ohne Einleitung oder Uebergang, wie es ihre Art war, „das Ruhelose, daß so ein Lärm den andern ablöst und man auch in der Nacht das Gefühl hat: es schläft nicht alles, und hier dies entzückende absolute Stillsein, dies Hören auf die Stille – dabei kommt man auch selbst mal innerlich zu Worte!“

„Und ganz still ist es doch auch hier nicht,“ sagte er und wies mit der Hand auf die Baumwipfel, die sich leise rauschend bewegten.

Sie schüttelte abwehrend den Kopf.

„Das ist auch Stille,“ erwiderte sie lebhaft, „dies Geflüster der Bäume – vergleichen Sie damit einmal das Geschwirr und Geschrei der Menschenstimmen, das Räderrollen und Fußstapfen und alle die undefinierbaren Partikelchen, die Lärm machen! Nein – für mich ist dies Stille!“

Er sah nachdenklich aus. „Als Abwechslung, ja,“ gab er zurück, „aber als Norm für mein Leben brauche ich Bewegung, Unruhe und auch ein gewisses Durcheinander von Eindrücken, was man wohl mit ,Lärm‘ bezeichnen könnte. Denken Sie sich ein Leben hier!“

Sie sah still vor sich hin.

„Ich könnte es sehr gut aushalten,“ sagte sie dann träumerisch.

Er sah sie fest an.

Allein?“ frug er bedeutsam.

Sie wich seinem Blick unsicher aus, stand auf und klappte ihr Skizzenbuch zusammen.

[732] „Wir wollen heimgehen,“ sagte sie, „es ist bald Mittagszeit.“

Er entgegnete nichts, und sie gingen zusammen den Waldweg entlang, in dem glückseligen Schlendertritt, der ihnen durch so manche gemeinsame Wanderung zur Gewohnheit geworden war.

Die Sonne schien wie traumhaft durch die Blätter, sie zeichnete helle, wechselnde Flecken auf den Sandboden und in das kurze stämmige Moos, in dem unzählige Käfer, Würmer und Spinnen eilfertig und wichtigthuend durcheinander krochen.

Der kräftige, harzige Tannenduft strömte aus den geraden schlanken Stämmen, die lackierten, steifen Blättchen der Preiselbeersträucher glänzten und die festen roten Kügelchen der Preiselbeere glühten auf in der Herbstsonne.

„Wie lange wird man nun hier noch so beisammen sein?“ frug er plötzlich und unvermittelt.

Sie wurde ganz blaß und blieb stehen.

„Nicht davon sprechen!“ sagte sie mit bebender Stimme.

Er sah sie gedankenvoll an.

„Es kommt ja doch einmal!“ erwiderte er.

„Ja!“ sagte sie, „es kommt alles einmal, das Alter, der Tod, das Voneinandergehen; aber so lange es noch nicht da ist –“

Sie schüttelte den Kopf und preßte die Lippen zusammen, dann ging sie rasch weiter, daß er ihr kaum zu folgen vermochte.

„Aber muß es denn kommen?“ fragte er wie gegen seinen Willen.

„Was meinen Sie?“ gab sie fast unhörbar zurück.

„Das Voneinandergehen meine ich!“ sagte er ebenso leise.

Sie sah ihn verwirrt an, es kämpfte eine große Unsicherheit und eine plötzliche Seligkeit in ihr, keines sprach ein Wort.

Da schlug plötzlich die kleine Uhr der Dorfkirche scharf und klingend die Stunde. Er strich sich, wie aufatmend, das blonde Haar von der Stirn.

„Es ist schon sehr spät,“ sagte er, „wir müssen uns wohl beeilen, hinunter zu kommen.“

Sie sprachen kein Wort mehr und sahen sich nicht mehr an, bis sie vor der Pension angelangt waren.

Er hielt ihr mit ceremoniöser Höflichkeit die Thür offen und ließ sie vorübergehen; sie warf ihm einen scheuen Blick zu und verschwand im Hause, er sah ihr nach, wie sie so schlank und groß die dunkle Holztreppe hinaufging.

„Ich habe eigentlich schon mehr gesagt, als ich wollte,“ murmelte er etwas unzufrieden vor sich hin, „aber wenn ich es mir recht überlege, habe ich eigentlich gar nichts gesagt – das war ja nur eine ganz allgemeine Redensart.“

Er fehlte am Abendtisch.

„Herr von Groden ist auf den Anstand gegangen, der Rehbock tritt heute abend heraus,“ sagte der Oberkellner und nahm das leere Couvert neben Agnete fort. Es störte sie nicht, daß er nicht da war. Sie befand sich noch immer in dem Zustand verworrener Glückseligkeit, der sie den ganzen Tag wie ein taufunkelndes Spinngewebe eingeschlossen hatte. – Sie sagte sich die Worte „Muß man denn voneinander gehen?“ so oft vor, daß sie ihr von Zeit zu Zeit gar nicht wie Worte erschienen, die etwas bedeuteten, sondern wie ein sinnloser, leerer Klang, und dann jagte sie ihnen gleichsam nach, bis sie ihr wieder etwas zu sagen hatten.

In diesem Traumleben sah sie so schön aus, so blaß mit strahlenden Augen, daß alle Blicke sich an diesem Abend wieder und wieder nach ihr hinwandten.

Die alte Excellenz strich ihr über das Haar, als sie sich zum Gutenachtsagen über ihre Hand beugte.

„Sie sehen aus, als ob Sie der Waldfee begegnet wären, Kind,“ sagte sie lächelnd.

„Das bin ich vielleicht,“ erwiderte Agnete mit einem lieblichen Uebermut, der ihr um so reizender stand, als man ihn so gar nicht an ihr gewöhnt war.

„Nun, wir werden wohl etwas erleben,“ sagte die Konsistorialrätin zu ihrer unzertrennlichen Nachbarin, der Majorin, die wohlwollend zu der Bemerkung lächelte, „die Sache mit unserem Fräulein Nordeck und Herrn von Groden scheint mir nunmehr in Richtigkeit zu sein.“

Die Majorin sah etwas bedenklich aus. „Aber warum war er den ganzen Abend nicht da, liebe Frau Konsistorialrätin; das schien mir, offen gestanden, ein bißchen unheimlich.“

„Der Rehbock, beste Seele – der Rehbock! Man sieht, daß Ihr Herr Gemahl kein Jäger ist – über den Rehbock geht den Herren nichts!“

„Nun, mich sollte es freuen,“ bemerkte die Majorin, „und Vermögen ist ja auch beiderseits da!“

„Wissen Sie das gewiß?“ frug die Konsistorialrätin.

„Haben Sie sein Gepäck nicht gesehen, liebste Frau Konsistorialrätin? die gelbe Ledertasche und den Juchtenkoffer? Solche Kleinigkeiten reden lauter als Worte.“

„Na, und sie ist auch verwöhnt, das merkt man bei jedem Schritt; da ist es auch nötig, daß die äußeren Verhältnisse stimmen,“ schloß die Konsistorialrätin.

Und während so die Welt mit ihrem Rechnen und Wägen und Reden sich anschickte, den Blütenstaub unter die Lupe zu nehmen, stand Agnete in ihrer Stube und horchte auf das Sausen und Raunen der Herbstnacht – und sah auf den düstern Himmel, an dem hier und da ein blasser Stern auftauchte, beim Gedanken an das große nahe Glück so atemlos wie jemand, der in das Meer springen will, es so wundervoll findet und sich doch davor fürchtet. – „Aber es kommt – es kommt!“ sagte sie zuversichtlich vor sich hin, und ihre Augen strahlten.

Und die Sterne schwiegen geheimnisvoll.


Am nächsten Tage war die Gesellschaft, wie immer um diese Stunde, auf der Plattform versammelt, um den Nachmittagskaffee zu nehmen und gleichzeitig die Ankunft des Postboten zu erwarten, der in dem gleichmäßigen Verlauf des Tages hier die wichtigste und willkommenste Unterbrechung war.

Die Gruppen hatten sich heute etwas aus der gewohnten Ordnung verschoben. Groden, der sonst immer seinen Platz neben Agnete fand, war heute sichtlich verlegen und gezwungen, er vermied es, sie anzusehen oder anzureden.

Er umgab sich mit einer Phalanx von Herren, denen er seine gestrigen Jagderlebnisse erzählte. Sein lebhaftes Gesicht mit den feurigen Augen erzählte mit, er verstand es, scheinbar unabsichtlich, sich immer zum Mittelpunkt des Kreises zu machen, den er gerade unterhalten wollte.

Agnete saß auf der hölzernen Balustrade der Plattform, den Arm um einen der Stützpfeiler geschlungen, und sah stumm in die Weite, in den Himmel, an dem heute in der Tiefbläue sich ein paar weißgelbliche, drohende Wolken zusammenballten. Es zitterte alles fast sichtlich unter der schwülen Glut der ersten Nachmittagsstunde, die ihr ehernes Scepter über den müden Menschen schwang.

Die Stimmung war ohnehin heute gedrückter, als sie es sonst in dem kleinen Kreise zu sein pflegte. Man hatte soeben ein abreisendes Ehepaar zum Wagen geleitet, welches nur für kurze Zeit in der Pension war und durch sein finsteres, gleichgültiges Miteinanderleben, das nur durch einzelne heftig bittere Meinungsverschiedenheiten unterbrochen wurde, einen beklemmenden und traurigen Eindruck auf die übrige Gesellschaft hervorbrachte.

Man stand diesen beiden mit der Empfindung gegenüber, daß es Menschen seien, die hier in der Einsamkeit und Stille noch einen erneuten – vielleicht letzten – Versuch gewagt hatten, sich zu verstehen, sich einander innerlich zu nähern – und daß dieser Versuch wieder gescheitert war. Dies Paar, so eng verbunden, erschien sich und anderen wohl weiter getrennt als je, da sie so schweigsam und düster im offenen Wägelchen miteinander in die herrliche Natur hinein fuhren, die ihnen von ihrem köstlichen Herbstfrieden nichts zu verleihen vermochte.

Ein allgemeines, gedankenvolles Verstummen folgte dem Abschied und dem Verschwinden des Gefährtes, das eben dort um die Ecke der Fahrstraße bog.

„Wir reden so viel von Sklaverei, von Lohnsklaverei und Sklavenhandel und ziehen mit der ganzen Armatur unserer sittlichen Empörung dagegen zu Felde,“ sagte Groden, der dem Wagen noch immer nachblickte; „die traurigsten Sklaven sind doch die Menschen, die durch ein voreiliges Wort, durch ein unbesonnenes Hineintappen oder Hineinspringen in die Ehe sich selbst zeitlebens an die Kette legen oder daran gelegt werden. Ich kann darum keinen Polterabend, keine fröhlichen Hochzeiten mit

[733]

Copyright 1899 by Franz Hanfstaengl in München.
Ein Freund in der Not.
Nach dem Gemälde von Heywood Hardy.

[734] den Verheißungen für Silber- und Goldhochzeit leiden – ich habe so oft die Empfindung, daß solche Feste das erste Glied jener Sklavenkette bilden, an der sich schon ungezählte Tausende Wund und müde getragen haben und noch tragen werden!“

„Solche Menschen sind aber nicht wie Sklaven,“ erwiderte die Excellenz, „die sich beugen, sich bücken und krümmen müssen unter Lasten, die dann aber nach des Tages Hitze doch wieder sich selbst gehören und das bißchen armselige, zerquälte Ich, das ihnen bleibt, wieder retten können – oder doch den Versuch dazu machen, so lange ihre Kraft reicht! Sie sind Galeerensklaven – zwei, die an eine Kette geschmiedet sind, deren einzelne Glieder noch dazu mit schönen, hochtönenden Namen, wie Treue, Liebe, Pflicht oder dergleichen, benannt werden – die sich des Hohnes dieser Bezeichnungen bewußt sind und an der Kette zerren, Tag und Nacht – die mit jedem Versuch, ihre Gefangenschaft zu erleichtern, nicht nur sich, sondern den andern unheilbar mit verwunden – und sie sind die Unglücklichsten, von ihnen gilt Dantes Wort, daß sie alle Hoffnung fallen lassen sollen!“

Agnete hatte während dieses Gespräches kein Wort gesagt, sie war nur bei der Bezeichnung „Galeerensklaven“ zusammengezuckt und hatte die Sprecherin einen Augenblick mit dem starren, entsetzten Blick des Schlafwandlers angesehen, den man bei Namen ruft und der sich plötzlich bewußt wird, daß er über einem Abgrunde schwebt. Dann wandte sie den Kopf und schien der Unterhaltung keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken.

„Ja, solange wir eben die Ehe nicht abschaffen, wird es auch noch solche Galeerensklaven geben!“ bemerkte ein anderer aus der Gesellschaft. „Das ist wieder einer jener zahllosen Fälle, wo man von zwei Uebeln das kleinere wählen muß.“

„Es giebt ja doch auch nicht nur in der Ehe Galeerensklaven,“ erwiderte die Excellenz gedankenvoll. „Sehen Sie in die scheinbar glattesten und glücklichsten Verhältnisse einmal tiefer hinein, nehmen Sie Eltern und Kinder, Geschwister – was Sie wollen – als Beispiel: jeder Verwandtschaftsgrad kann zum Galeerensklaventum werden, wenn er ein Loslösen unmöglich macht und wenn gerade solche Menschen vom Geschick zusammengeschmiedet sind, die sich an diesem Zusammenleben wund reiben.“

„Solche Möglichkeiten darf man eben sich und anderen nicht zugestehen,“ nahm die Konsistorialrätin in sehr überlegenem Tone das Wort, „die Familie ist dazu da, daß ihre einzelnen Mitglieder sich ineinander fügen lernen und jeder des anderen Schwächen erträgt. Wohin kämen wir, wenn wir das nicht mehr gelten lassen wollten?“

Ein derartiger Gemeinplatz pflegt allgemeine Gespräche erfolgreich zu beenden, weil sich zu wenig, oder – zu viel darauf entgegnen ließe, und so geschah es auch hier. Jeder spann seine Gedanken für sich fort, und eine allgemeine Stille folgte den letzten Worten.

Agnete war während dieser Zeit von niemand beobachtet worden als von Kurt Groden. Nur er hatte gesehen, daß der Postbote ihr im Vorübergehen einen Brief hineinreichte, daß sie beim Erblicken der Handschrift sichtlich erblaßte und zusammenfuhr – nur er hatte gesehen, daß sie beim Lesen dieses Briefes noch immer blässer wurde und ihn schließlich mit einer Gebärde unaussprechlicher Müdigkeit in den Schoß sinken ließ. Dann saß sie regungslos und sah vor sich hin, mit einem so besiegten fertigen Ausdruck wie jemand, der wieder einmal erkannt hat, wie schwach der Mensch und wie stark das Leben ist.

Groden biß die Zähne zusammen bei dem Gedanken an die Möglichkeiten, die ihre Erregung zuließ. – Daß ein Geheimnis in ihrem Leben war, hatte er ja auch schon manchmal geahnt, aber worin dieses Geheimnis bestand, dafür fehlte ihm jeder, auch der kleinste Anhalt. Dieser Brief gab vielleicht – nein, wahrscheinlich darüber Aufschluß.

Groden beteiligte sich mit keinem Worte mehr an der Unterhaltung der übrigen Gesellschaft, die allgemach wieder in Fluß gekommen war, er saß im Schaukelstuhl, anscheinend mit den Rauchwölkchen seiner Cigarette beschäftigt, in Wirklichkeit verwandte er über diese hinweg keinen Blick von Agnetens blassem Gesicht.

Die strickenden, plaudernden Damen fanden während ihrer Gespräche genügend Zeit, allerlei Kommentare zu diesem leidenschaftlichen, unverwandten Hinstarren in die Fäden und Maschen ihrer Arbeiten zu verweben und sich durch kleine, vieldeutige Augenwinke darauf aufmerksam zu machen – die Sache machte ja anscheinend rasende Fortschritte – man würde wohl heute oder morgen etwas erleben!

Und in Grodens Gedanken reifte in den Nachmittagsstunden dieses glühheißen Gewittertages wirklich der Entschluß, zu sprechen – womöglich heute noch.

Er wußte durch geschickt gethane Fragen und Erkundigungen genug von Agnetens äußeren Verhältnissen, um seine Absicht nicht übereilt zu finden. Als echt moderner Mensch hatte er diesen Haupt- und Kardinalpunkt sehr energisch in die Wagschale seiner Fragen und Bedenken geworfen.

Daß ihn nebenbei – oder nicht nebenbei! – dies schöne, herbe, hochmütige Mädchen, dies nicht mehr junge, nicht blendende, nicht gewandte Mädchen mehr und gewaltsamer anzog als die ungezählten anderen, die ihn für kurze Zeit zu fesseln vermocht hatten, das war ihm klar. Er hatte die instinktive Empfindung, daß sein Einfluß auf sie so groß war, wie es selbst ihn überraschte, der in dieser Beziehung schon genügende Erfahrung besaß.

Wie anders war sie nicht schon unter diesem Einfluß, unter dem Zauber seiner ganzen Persönlichkeit, geworden! Wirklicher Schmerz und wirkliches Glück gleichen ja darin der südlichen Sonne, daß sie mit Sturmesschnelle einen ganzen Blütenwald von Eigenschaften, von Gefühlen und Gedanken reifen, die in der blassen Alltagstemperatur vielleicht alle verkümmert wären!

Aber stärker als diese Erwägung, die ihm nicht einmal ganz klar wurde, war im gegenwärtigen Augenblick ein anderes Gefühl, eine brennende Eifersucht auf den unbekannten Schreiber jenes Briefes, der das Mädchengesicht dort drüben so tief und so schmerzlich erblassen ließ – der plötzlich wieder den bittern, hoffnungslosen Zug um ihren Mund zeichnete, den die letzten sonnigen Tage so ganz verwischt und verlöscht hatten.

„So soll sie nicht mehr aussehen – nie mehr, wenn ich es ändern und hindern kann!“ gelobte er sich, in dem heißen Aufwallen der Empfindung, ein Glücksspender sein zu können, als welcher sich grenzenlos verwöhnte Menschen so gern einmal erscheinen – der Abwechslung halber.

Und in diesem Gefühl sprang er plötzlich auf und trat zu ihr. „Wollen wir heute die Skizze von gestern fertig machen?“ fragte er mit dem bedeutsamen Ton, durch den er auch die alltäglichsten Dinge so beredt zu machen verstand.

Sie erhob sich schweigend und verbarg den Brief in ihrer Tasche. Er hatte im ersten Augenblick das Gefühl, als könnte er ihr das Blatt mit Gewalt entreißen – als müßte er vor all diesen Menschen sagen: Was steht in dem Brief? Wie darf dich etwas so erregen, das nicht im unmittelbaren Zusammenhange mit mir steht?

Aber er beherrschte sich und vermochte im nächsten Augenblick fast über seine eigene Erregung zu lächeln – sie würde ihm schon sagen, was er wissen wollte, davor war ihm nicht bange!

„Wollen wir skizzieren?“ frug er noch einmal, da sie nicht geantwortet hatte.

Sie nickte stumm und nahm den großen Hut vom Nagel.

Als die beiden, nach flüchtigem Abschied von der übrigen Gesellschaft, den glühheißen Weg nach dem Walde dahingingen – nicht, wie sonst immer, plaudernd und lachend, sondern jedes still für sich in Gedanken versunken, die vielleicht recht verschiedene Wege führten, da sahen ihnen die Damen von der Plattform aus eine ganze Weile mit befriedigten Blicken nach.

Endlich sagte die Konsistorialrätin mit vielsagendem Lächeln: „Heute wird wohl die bewußte Angelegenheit zum Klappen kommen!“

Die Excellenz schüttelte leicht den Kopf. „Sie hätte nicht mit gehen sollen!“ meinte sie nachdenklich und zweifelhaft.


Die schwüle, drückende Luft, die wie ein Mantel herniederhing, schien sich auch auf die Stimmung der beiden Menschenkinder zu legen, die da so langsam und schweigsam miteinander in den Wald schritten.

[735] Kurt Groden warf von Zeit zu Zeit einen raschen, scharf forschenden Blick auf seine Begleiterin. Sie trug den Kopf tief gesenkt, wie unter einer unsichtbaren Last, und sah nicht ein einziges Mal nach ihm hin, der große Strohhut warf einen fremden Schatten über das verdüsterte Gesicht. Die weiche Lieblichkeit der Züge war so sonderbar verändert, als wenn eine erbarmungslose Hand darüber hinweg gewischt und den Zauber und Schmelz der Jugendfrische abgestreift hätte.

Sie sieht heute nicht gut aus, dachte Groden mit einem leisen Unbehagen und zog die Augenbrauen zusammen; es störte ihn mehr, als er selbst für möglich gehalten hätte.

In dem Augenblick sah Agnete zu ihm in die Höhe und gewahrte den finsteren verdrossenen Ausdruck ihres Begleiters.

„Sind Sie verstimmt?“ frug sie hastig und mit einer unverkennbaren Angst im Ton; „seien Sie es nicht! bitte! nur heute nicht! wer weiß, was morgen kommt! Heute sollen Sie noch lustig sein, so wie sonst immer!“

Er schwieg einen Augenblick, wie unschlüssig; sein Gesicht hatte sich nicht aufgehellt. „Sie sind ja selbst verstimmt!“ erwiderte er zögernd.

„Ja, eben darum! Wenn man im Schatten sitzt und friert, möchte man doppelt gern Sonnenschein um sich haben,“ gab sie traurig zurück.

Er blieb stehen und sah wie prüfend in ihr Gesicht.

„Und warum sind Sie im Schatten?“ frug er, „was hat sich seit heute mittag so Wichtiges verändert? Haben Sie schlechte Nachrichten mit der Post erhalten?“

Sie wurde noch einen Schein blässer, ein bitteres Lächeln spielte flüchtig um ihren Mund. Sie zuckte die Achseln. „Ja – und nein – wie man es auffassen will,“ antwortete sie in herbem Ton.

„Ich dachte es mir,“ erwiderte er und sprach dann nichts mehr: er köpfte nur im Weiterschreiten Gräser und Blätter mit seinem Stocke, als müßte er seiner Heftigkeit irgendwie Ausdruck schaffen.

Sie sah ihn, wie plötzlich aufgeweckt, an. „Ach, hat Sie das verstimmt?“ frug sie dann mit einem unsicheren, zweifelnden Ton. „Was dachten Sie denn?“

Er schwieg noch eine ganze Weile und sah in den Himmel, der jetzt mit bleigrauen, schweren Wolkenmassen sich versteckte und verpackte; ein sausender, pfeifender Wind strich pötzlich durch die Bäume und ließ sie tief aufstöhnen wie in ahnungsvoller Qual.

„Das Wetter kommt näher“, bemerkte Groden statt jeder anderen Antwort auf ihre Frage.

Sie blieb stehen. „Was dachten Sie denn? Bitte – was?“ wiederholte sie, und in ihrem Ton klang es durch wie eine versteckte, zitternde große Freude.

„Ich dachte – wenn ich es denn durchaus sagen soll – der Brief käme von einem Menschen, der augenscheinlich mehr Einfluß auf Ihre Stimmungen hat, als ich das von mir behaupten kann,“ sagte er kalt.

Sie ließ den Kopf sinken und erhob ihn nicht, während sie sprach.

„Da haben Sie recht!“ antwortete sie düster, „aber warum fragen Sie nicht weiter?“

„Ich habe keine Berechtigung dazu, mich in Ihr Vertrauen zu drängen,“ erwiderte er, immer in demselben kalten Ton.

Sie lächelte mit einem gequälten Ausdruck.

„Sie denken natürlich, es handle sich um eine Liebesgeschichte,“ sagte sie hart und verächtlich; „in den Augen der meisten Menschen kann ja ein Mädchen durch nichts glücklich oder unglücklich gemacht werden als durch eine Liebesgeschichte. Und wenn Sie wüßten, wie wenig Liebe – in jedem – jedem Sinn genommen, mit meiner Geschichte zu thun hat, mit meiner dummen, unerklärlichen, den meisten Menschen so absolut unverständlichen Geschichte – wie in dem ganzen öden Buch, das ich über mein Leben schreiben könnte, das Kapitel ,Liebe‘ gar nicht vorkommt! Nein, es handelt sich um ein viel nüchterneres Verhältnis – Sie würden arg enttäuscht werden, wenn Sie etwa einen Roman erwarten.“

Er sah plötzlich erheitert und froh aus, sein Gesicht hatte dann gleich etwas so seltsam Strahlendes, es warf einen Wiederschein auf die Menschen, die mit ihm zusammenkamen.

„Ich weiß nicht, was ich erwartete,“ sagte er, „ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt etwas erwartete; mich hat nur der Gedanke heute so namenlos ungeduldig gemacht, daß ein Brief, ein Blatt bekritzeltes Papier die Macht haben sollte, Sie so ganz zu verwandeln – so zu verwandeln, wie es einem Menschen in dieser ganzen Zeit unsers Zusammenlebens noch nicht gelungen ist.“

Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu.

„Glauben Sie?“ frug sie dann.

Sie gingen eine ganze Weile stumm nebeneinander her, ohne darauf zu achten, daß das Unwetter mit Pfeilgeschwindigkeit näher kam, daß eine plötzliche Dunkelheit hereinbrach, die mit der Tagesstunde nichts zu thun hatte, und daß in der graugelben Wolkenwand vor ihnen schon ein unaufhörliches Blitzen und Leuchten begann. Ganz in der Ferne ließ sich ein dumpfes Grollen hören, wie das Knurren eines gereizten Raubtieres, das nur den geeigneten Augenblick erwartet, um sich auf seine Beute zu stürzen.

Es lag etwas Gespanntes, finster Erwartungsvolles in der Luft – plötzlich lohte ein greller, verderblich schöner Blitz in ihrer nächsten Nähe nieder, ein krachender, majestätischer Donnerschlag folgte, und in Strömen goß der Gewitterregen über die beiden Wanderer herab und peitschte in langen Schnüren auf sie nieder. Der Sturm schrie ein wildes, gewaltiges Triumphlied durch den Wald, er brach Zweige und Aeste von den Bäumen, wirbelte sie umher und warf sie höhnend auf den Weg. „Ihr habt gegrünt – Ihr werdet nie mehr grünen!“ – Die nächsten Minuten waren von einem so betäubenden Rauschen, Prasseln und Dröhnen erfüllt, daß kein Raum für die kleinen Menschenstimmen blieb – mochten sie noch so Wichtiges zu sagen haben.

Die beiden sprachen auch nicht, nur einmal sagte Groden rasch und herrisch: „Fürchten Sie sich nicht!“ Und sie sah zu ihm auf und erwiderte atemlos: „Nein!“ – aber mit einer Welt von Vertrauen in dieser einen Silbe.

So kämpften sie sich ein paar hundert Schritt weiter durch das tobende Wetter, bis sie eine kleine, verfallene Jagdhütte vor sich sahen, deren Thür halb offen stand. Groden zog seine Begleiterin hinein, mehr, als sie ging; sie fühlte das schützende Dach über sich und atmete erleichtert auf. Er schob einen Heuhaufen zurecht, der noch an der Thüre lag, und legte seinen Mantel darüber.

„Ein primitives Sofa,“ sagte er halb lächelnd und wies mit der Hand darauf.

Sie ließ sich müde und erschöpft niedersinken, strich das regennasse Haar aus der Stirn und sah dankbar zu ihm auf, mit dem Ausdruck des verirrten Kindes im Märchen, das der Königssohn gefunden hat.

Das Wetter zog so rasch ab, wie es rasch gekommen war, der Donner wurde schon schwächer und schwächer. Der Regen ließ nach, es fing an zu tröpfeln, was rhythmisch klang – nun kam ein so wundervoller, frischer, herber Hauch mit den Regenwolken geschwommen, er brachte auf seinen Flügeln den Duft von allen erquickten Kräutern, von der Erde, die wieder lebt und ihre geheimnisvollen Kräfte in Millionen von Atomen durch die Luft streut – den Werdegeruch, der gegen das Vergehen stumm und leidenschaftlich Einspruch thut.

Die beiden Menschenkinder in dieser absoluten, weltvergessenen, weltfernen Einsamkeit sprachen zuerst kein Wort. Sie lebten mit der Natur auf, mit der sie vorhin verschmachtet waren.

Nach einer ganzen, langen Zeit wandte sich Groden zu seiner Begleiterin, eine bekämpfte Erregung lag auf seinem Gesicht.

„Wollen Sie mir jetzt sagen, was Sie heute so bekümmert hat?“ frug er in gepreßtem Ton.

Sie erhob einen Augenblick die Hände wie abwehrend und ließ sie dann schwer in den Schoß sinken.

„Nun haben Sie es wieder aufgeweckt,“ sagte sie halblaut „Aber es ist wohl besser, ich spreche es einmal aus, und nun, bitte, erwarten Sie keine Tragödie, keine heroischen Erlebnisse – erwarten Sie ein Nichts, ein Schemen, ein Schicksal, von dem die Menschen, wenn sie es kennten, sich mit Kopfschütteln abwenden würden, und dem sie mit Achselzucken gegenüberstehen, weil sie es nicht begreifen!“

(Schluß folgt.)     

0 [736] Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

’S ischt über d’ Nacht e Rife cho.

(Alemannisch.)


’S ischt über d’ Nacht e Rife[1] cho,
Ha’s lang scho denkt – do hent mer’n jo!
Die Strücher schtöhnd so kahl, so wiß,
Und d’ Dachtrauf hangt voll dickem Is.

5
Min Rosestock im Garte drus,

Wie sieht er welk und elend us!
Er hängt sie Chöpfli stumm und still
Wie ’s Chind, wenn’s liesli briegge[2] will.

’S ischt mol um di voll Veilin[3] gsi,

10
Ums Hus het’s grüent vu wilde Wi –

Gar mäng’s hat’s dert so liebli g’ha,
Jetzt ischt es welk und übel dra.

Du, Chind, bischt au so trüeb und stumm,
Sitzscht wie e schüch, fremd Vögli rum,

15
Und d’ Lieb het kurz dir doch im G’müe[t]

Als fröhlich Pflänzli duft’ und blüeht.

Us helle Aeugli het es g’lacht
Und het di froh und glückli g’macht:
Hescht g’scherzt und küßt, hescht g’hofft und bangt,

20
Und ’s Pflänzli ischt voll Knöschpli g’hangt.


Sell lit jetzt all’s so wit, so wit –
’S ischt Winterszit, ’s ischt Winterszit!
Erstorbe, welk lit ’s Pflänzli do –
’S ischt über d’ Nacht e Rife cho.
 F. Vochazer.


  1. Reif.
  2. weinen.
  3. Veilchen.

Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Der angebliche Weltuntergang im November.

Von Dr. H. J. Klein.

Der November des gegenwärtigen Jahres wird eine Himmelserscheinung bringen, auf die schon seit Jahren aufmerksam gemacht wurde, ja, die von manchen als ein der Erde und vor allem dem Menschengeschlecht höchst gefährliches Ereignis dargestellt worden ist. In der That konnte man schon vor Jahren in den Wandervorträgen von R. Falb hören, daß der Erde im November 1899 etwas sehr Unangenehmes bevorstehe, und wenn es gegenwärtig nicht dazu kommt wie anno 1533 (für welches Jahr der Prediger Stiefel den Weltuntergang prophezeit hatte), daß nämlich Leute sich auf das Weltende vorbereiten, so liegt dies kaum daran, daß die heutige Menschheit weniger religiös, sondern nur, daß sie weniger leichtgläubig ist als die frühere. Freilich haben auch die modernen Weltuntergangspropheten selbst nicht mehr den Mut ihrer Ueberzeugung, welche ihre Vorgänger an den Tag legten. Denn wir hören, daß der obenerwähnte Prediger Stiefel an dem von ihm für den Weltuntergang prophezeiten Tage seine gläubige Herde um sich versammelte, die Kanzel bestieg und betete, was ihm freilich abends, als der Weltuntergang einzutreten zögerte, übel bekam, da die Gemeinde ihren Prediger ohne Luthers Vermittlung umgebracht hätte.

Seit jenem Tage ist der Weltuntergang wiederholt angekündigt worden, so für das Jahr 1613, dann für das Jahr 1784, von dem gelehrten Prälaten Konsistorialrat Bengel für den 18. Juni 1836, gleichzeitig mit der Wiederkunft Christi, nachdem vier Jahre vorher der Antichrist aufgetaucht sei. Mit Recht lächelt man heute über solche thörichte Vorhersagungen, dennoch aber giebt es, wie verschiedene mir zugekommene Anfragen beweisen, viele Leute, welche glauben, daß in diesem November dem Menschengeschlecht durch einen Kometen großes Unheil drohe, womöglich sogar der Untergang bevorstehe. Der vielfach verbreiteten Meinung nach handelt es sich hierbei um den Kometen, welcher die Sternschnuppen in der Nacht des 13. November verursacht, oder auch um denjenigen Kometen, der zu den Meteoren vom 23. bis 27. November in Beziehung steht.

Nun ist es eine in ihrer Art interessante Thatsache, daß die Astronomen, deren Aufgabe es ist, die Bewegung dieser Kometen zu überwachen und das Erscheinen dieser Himmelskörper voraus zu berechnen, zur Zeit durchaus nicht mit Sicherheit genauer angeben können, wo diese beiden Kometen sich befinden.

Was zunächst den letztgenannten Kometen (derjenige, welcher mit den Meteoren des 23. bis 27. November in Verbindung ist) anbetrifft, so heißt er nach seinem Entdecker der Bielasche Komet. Er wurde am 28. Februar 1826 durch den österreichischen Hauptmann v. Biela zu Josefstadt in Böhmen entdeckt, und gleichzeitig erkannte derselbe, daß dieser Komet eine Umlaufszeit von 6 Jahren 270 Tagen besitzt. Die Bahn, welche der Komet um die Sonne beschreibt, liegt nun im Weltraum so, daß sie der Erdbahn in einem Punkte äußerst nahe kommt. Wenn demnach beide Weltkörper, der Komet und die Erde, gleichzeitig sich an diesem Punkte befinden, so muß es zwischen denselben zu einer Art Zusammenstoß kommen. Diesen Umstand hat man schon vor 70 Jahren erkannt, aber auch, daß das gleichzeitige Zusammentreffen beider Weltkörper in absehbarer Zeit nicht eintreten wird.

Als der Komet im Winter 1845 bis 1846 wieder erschien, ereignete sich unter den Augen der Astronomen die merkwürdige Thatsache, daß er sich in zwei Kometen teilte, von denen jeder einen Kopf mit Nebelhülle und einen kleinen Schweif zeigte. Die Entfernung beider voneinander betrug im Februar 1846 etwa 40 000 deutsche Meilen. Dieser Vorgang, ein wahrhaftes Weltereignis, erregte mit Recht das größte Aufsehen, und nachdem beide Kometen im Frühjahr mit zunehmender Entfernung immer lichtschwächer geworden und endlich verschwunden waren, erwarteten die Astronomen mit Ungeduld das Jahr 1852, in welchem das Doppelgestirn wieder zurückkehren mußte. Im Spätsommer wurde es sichtbar, und man fand, daß beide Kometen in der Zwischenzeit sich bis auf 350 000 Meilen voneinander entfernt hatten.

Die nächste Rückkehr im Jahre 1859 konnte nicht beobachtet werden, da der Rechnung gemäß die Kometen eine solche Stellung zur Sonne hatten, daß sie von der Erde nicht zu sehen waren; im Frühling 1866 mußten sie dagegen wieder gut sichtbar werden. Allein sie blieben aus. Alle Bemühungen der Astronomen, das Doppelgestirn oder einen Teil desselben zu sehen, war vergebens, und so ist es geblieben bis zur heutigen Stunde.

Würde der Komet sich in seiner früheren Bahn seit 1852 fortbewegen, so mußte er im gegenwärtigen Jahre schon zur Sommerszeit in der Sonnennähe sein, ohne freilich von der Erde aus gesehen werden zu können. Indessen hat die Bewegung des Kometen seit 1852 zweifellos erhebliche Veränderungen erlitten, infolge deren die Astronomen erklären müssen, sie wissen nicht, wo der Komet sich zur Zeit befindet. Wie soll man überhaupt das Verschwinden dieses Gestirns deuten? Die Zerteilung 1846 legt den Gedanken nahe, daß sich die beiden Kometen noch weiter aufgelöst haben, und zwar bis zur gänzlichen Unsichtbarkeit von der Erde aus. Aber in was haben sich die Kometen aufgelöst?

[737] Diese Frage erhielt eine klare Antwort in der Nacht vom 27. zum 28. November 1872.

In dieser Nacht befand sich die Erde an jenem Punkte ihrer Bahn, welcher der Bahn des Bielaschen Kometen außerordentlich nahe kommt, und nun ereignete sich ein ungeheurer Sternschnuppenfall, bei welchem Tausende von Meteoren aus dem Sternbilde der Andromeda wie Leuchtkugeln aufblitzten, unzählige auch gleich Raketen am Himmel dahinschossen. Es blieb kein Zweifel: die Erde war mit einem ungeheuren Schwarm von Sternschnuppen zusammengetroffen, der sich in der Bahn des Bielaschen Kometen bewegte. Klinkerfues, der sich zuerst und sogleich über die Verhältnisse klar war, schloß, der Bielasche Komet könne auch nicht weit von diesem Sternschnuppenschwarm entfernt sein und man müsse ihn an dem dem Sternbilde Andromeda gerade entgegengesetzten Punkte des Himmels sehen. Sogleich telegraphierte er an die Sternwarte zu Madras: „Bielas Komet hat die Erde berührt, suchen Sie ihn im Sternbilde des Centauren!“ In Madras herrschte leider schlechtes Wetter, und erst in der Nacht vom 2. zum 3. Dezember konnte der dortige Astronom Pogson der Aufforderung nachkommen. Wirklich fand er nahe dem bezeichneten Orte einen kleinen Kometen, von dem es aber zweifelhaft geblieben ist, ob er einer der verschwundenen Bielas oder die aus großer Entfernung wie ein Kometennebel sich darstellende Sternschnuppenwolke war. Am 27. November 1885, als die Verhältnisse der Erde zu der Meteorwolke in der Bahn des Biela ähnlich lagen, ereignete sich abermals ein Sternschnuppenfall, noch großartiger als 1872, aber weder die sich entfernende Meteorwolke noch ein Komet ist auf der südlichen Erdhälfte wahrgenommen worden. In der Nacht des 23. November 1892 wiederholte sich der Sternschnuppenfall aus der Konstellation der Andromeda, doch war er dieses Mal nur in Nordamerika sichtbar (weil sein Erscheinen für uns in die Tagesstunden fiel) und auch nicht so großartig wie 1885. Im Jahre 1890 ist der Schwarm bei seinem Laufe durch den Himmelsraum dem Planeten Jupiter ziemlich nahe gekommen und durch dessen Einwirkung wahrscheinlich erheblich auseinandergerissen worden, seine Auflösung hat also zugenommen.

Im gegenwärtigen Jahre wird die Erde sich um den 23. November wieder an dem Punkte ihrer Bahn befinden, wo sie dem Meteorschwarm begegnete, und da nun außerdem um diese Zeit der Mondschein nicht eben hinderlich sein wird, so darf man einen ansehnlichen Sternschnuppenfall erwarten; möglicherweise gelingt es auch den Astronomen dieses Mal, ein Ueberbleibsel des Bielaschen Kometen zu entdecken, vielleicht auch nicht.

[ Die Abbildung (weil „nach Hans Breuer“) wird erst 2032 gemeinfrei ]

Jedenfalls wird die Erscheinung nicht großartiger als 1885, und daß dabei vollends von einer Gefahr für die Erde oder die Menschheit keine Rede sein kann, ist nach dem Vorhergehenden klar genug.

Aber im heurigen November tritt noch ein anderer Sternschnuppenschwarm in Aktion, der ebenfalls mit einem Kometen in Beziehung steht, nämlich mit dem ersten Kometen des Jahres 1866, der nach seinem Entdecker der Tempelsche Komet heißt.

Auch auf diesen haben die Weltuntergangspropheten ein Auge geworfen und ihn als verderblich für die Erde dargestellt. Nun ist es aber merkwürdig, daß auch bezüglich dieses Kometen die Astronomen nicht in der Lage sind, den Zeitpunkt seiner Rückkehr zur Sonne mit Sicherheit anzugeben. Man kennt nämlich seine Umlaufsdauer nicht genau, sondern die Rechnungen darüber schwanken zwischen 31⅔, und 34⅘ Jahren; sonach kann der Komet schon seit Herbst 1897 unbemerkt vorübergezogen sein, er kann aber auch noch bis zum Herbst 1900 erwartet werden.

Dieser Komet ist vor uralter Zeit durch die anziehende Wirkung der Planeten Uranus und Saturn in seine heutige Bahn geworfen worden. Wahrscheinlich hat sich auch damals ein Teil dieses Kometen abgelöst, der seitdem als Meteorwolke durch die Himmelsräume zieht und auf der Erde großartige Sternschnuppenfälle verursacht, die über 1000 Jahre in den Annalen der Völker verfolgt werden können. So sind die „grewliche Feuerzeichen am Himmel als ob zwei oder drei Heer gegeneinander zögen“, deren die Chronik Braunschweigs für das Jahr 979 gedenkt, nichts anderes als ein Sternschnuppenfall der in Rede stehenden kosmischen Wolke, ebenso das Ereignis von 1202, als die Sterne in Aegypten „wie Heuschrecken“ durch die Luft flogen. Am bekanntesten ist dieser Meteorschwarm durch den ungeheuren Sternschnuppenregen am 12. November 1799 geworden, den man auf der ganzen Nordhalbkugel der Erde sah. Ihm folgte das großartige Ereignis in der Nacht vom 12. zum 13. November 1833, welches in Nordamerika gesehen wurde und bei dem die Sternschnuppen zahlreich gleich Schneeflocken den Himmel durchzogen und viele darunter so groß und hell erschienen wie der Vollmond! Etwas Gleiches hatte die Welt bis dahin nicht gesehen; auch fand man damals, daß diese Meteore aus dem Sternbilde des großen Löwen gekommen schienen, weshalb man sie gegenwärtig als Schwarm der Leoniden bezeichnet. Der amerikanische Naturforscher Olmstedt bezeichnete den Vorgang ganz richtig als das Zusammentreffen der Erde mit einem Kometen und berechnete die Größe mehrerer Meteore des Schwarmes zu 170 m im Durchmesser. Aber keine der Millionen Sternschnuppen, welche damals hoch durch die Atmosphäre sausten, ist auf den Erdboden herabgekommen, und ebensowenig geschah dies, als der Vorgang sich im November 1866 in großartiger Weise wiederholte.

[738] Dieses Mal kam die Erscheinung den Astronomen nicht mehr unerwartet, sondern dieselben hatten sich aufs beste zu deren Beobachtung vorbereitet, ja man kann wohl sagen, daß nur selten ein astronomisches Ereignis mit größerer Aufmerksamkeit erwartet worden ist. Die Sternschnuppen kamen fast sämtlich aus dem Sternbilde des großen Löwen, gegen welches hin die Bewegung der Erde gerichtet war, und stürzten in die Atmosphäre mit einer Geschwindigkeit von 60 km in der Sekunde, wodurch sie infolge der Hemmung dieser Bewegung in den obersten Luftschichten in Glut gerieten und völlig vergasten. Kein Meteor aus diesem ungeheuren Schwarm hat den Erdboden erreicht. Das Aufleuchten der Meteore fand den Beobachtungen zufolge in Höhen von durchschnittlich 150 km statt, und sie erloschen, nachdem sie sich etwa 50 km tiefer herabgesenkt hatten. Die Zahl dieser Sternschnuppen, welche zwischen 1 und 2 Uhr früh gesehen wurden, beziffert sich auf 75 000, während nach begründeten Rechnungen die Gesamtmenge der überhaupt in die Atmosphäre der Erde damals eingedrungenen Sternschnuppen auf 1000 Millionen anzunehmen ist. Diese ungeheure Anzahl macht es begreiflich, daß die Meteore dicht wie Schneeflocken die Lufthülle zu durchziehen schienen; aber sehr würde man irren, daraus den Schluß zu ziehen, daß die Meteorwolke auch nur im entferntesten so dicht von Sternschnuppen erfüllt sei wie die Flocken in einer Schneewolke. Im Gegenteil war die Dichtigkeit der Meteorschwärme außerordentlich gering, ja so weit waren die einzelnen Körperchen voneinander entfernt, daß das Ergebnis der Berechnung derselben sogar den Fachmann überraschte. Es fand sich nämlich, daß zur Zeit der größten Häufigkeit der Sternschnuppen in jener Nacht (zwischen 1 und 2 Uhr morgens) in der Erdatmosphäre jede Sternschnuppe von der andern durchschnittlich 10–15 Meilen entfernt war, indem auf je 3000 Kubikmeilen Raum je 1 Sternschnuppe kam! Nur die große Entfernung und die ungeheure Ausdehnung, innerhalb deren der Raum um die Erde mit Sternschnuppen erfüllt war, verursachte den Beobachtern auf dem Erdboden den Eindruck, als seien die Sternschnuppen dicht geschart wie die Schneeflocken. Jetzt begreift man auch schon eher, weshalb die Meteore sämtlich in der Höhe sich auflösten und keins davon auf den Erdboden herabkam, besonders wenn man annimmt, daß das Gewicht jedes derselben, nach Schätzungen, die auf ihrer durch Erglühen verursachten Helligkeit beruhen, meist nur wenige Gramm betragen kann.

Ob die Erscheinung im kommenden November an Großartigkeit diejenige von 1866 erreichen wird, ist fraglich, vielleicht wird sie ihr kaum nahe kommen, denn die kürzeste Entfernung der Bahn des Schwarmes von der Erdbahn hat sich mittlerweile nicht unbedeutend vergrößert infolge der Einwirkung der Planeten Saturn und Jupiter. Auch der Zeitpunkt der Sichtbarkeit wird sich etwas verschieben, so daß man den Hauptschwarm erst in der Nacht vom 16. zum 17. November erwarten darf. Genaueres hierüber läßt sich zur Zeit nicht angeben, vielmehr müssen die Beobachtungen abgewartet werden. So viel nur ist unter allen Umständen gewiß, daß der Erde durch die Annäherung der Sternschnuppenwolke kein Unheil droht und ebensowenig dem Menschengeschlechte. Die aufleuchtenden Meteore werden in den höchsten Regionen der Atmosphäre zergehen, der Schwarm selbst aber wird durch die Anziehung der Erde noch mehr aufgelöst werden, als er ohnehin schon ist, denn die gewaltige Erdmasse wirkt auf ihn wie ein heftiger Sturm auf eine Rauchwolke.



Blätter und Blüten


Franz Reuleaux. (Zu dem Bildnis S. 709.) Seitdem die Maschinen zu den treuesten Gehilfinnen des Menschen bei der Verrichtung der verschiedensten Arbeiten geworden sind, nimmt die Maschinenbaukunde in der Technik eine überaus wichtige Stellung ein. Unter den Förderern dieser Wissenschaft ragt Franz Reuleaux als einer der bedeutendsten hervor. Er ist vor allem der Schöpfer der Maschinenkinematik, d. h. der Lehre „von den Mitteln zur Erzwingung der vorausbestimmten, gewollten Bewegung“, und sein Werk „Theoretische Kinematik“ hat ihm für immer einen Ehrenplatz in der Geschichte der Technik gesichert. – Franz Reuleaux hat vor kurzem seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert. In dem industriereichen Rheinlande erblickte er am 30. September 1829 zu Eschweiler bei Aachen das Licht der Welt. Er studierte zunächst auf dem Polytechnikum in Karlsruhe, wo er in dem berühmten Ingenieur Redtenbacher einen trefflichen Meister fand, dessen Werk er später fortführen sollte. Dann bezog er die Universitäten Bonn und Berlin und wurde 1855 Direktor einer Maschinenfabrik in Köln. Durch das Werk „Die Konstruktionslehre für den Maschinenbau“, das er im Verein mit Moll herausgab, lenkte er die Aufmerksamkeit der Fachgenossen auf sich; er erhielt im Jahre 1856 den Ruf nach Zürich als Professor der Maschinenbaukunde an dem dortigen Polytechnikum. Seit dem Jahre 1864 wirkte er in Berlin zunächst als Professor der Kinematik an dem königl. Gewerbeinstitut, das später in die Gewerbeakademie umgewandelt wurde. 1868 wurde er unter Ernennung zum Geh. Regierungsrat Direktor dieser Anstalt, die er im Laufe der Zeit zu einer wahrhaften technischen Hochschule entwickeln half. 1877–1887 war er Mitglied des kaiserl. Deutschen Patentamts. Eine überaus fruchtbringende Thätigkeit entfaltete Reuleaux auf verschiedenen Weltausstellungen, bei denen er als Sachverständiger oder Reichsvertreter wirkte. Die Berichte, die er über die Ausstellung in Philadelphia im Jahre 1876 in der „National-Zeitung“ veröffentlichte, machten seinen Namen in den weitesten Kreisen bekannt. Reuleaux unterzog damals die deutsche Industrie einer überaus scharfen Kritik, die in den Worten „billig und schlecht“ ihren prägnanten Ausdruck fand. Diese Kritik rief einen lebhaften Streit hervor, sie führte aber auch zu einer Reform der Produktion, und der Aufschwung Deutschlands nach dieser Richtung hin, besonders auch auf dem Gebiete des Kunstgewerbes, ist in gewissem Maße Reuleaux’ Mitwirkung zu verdanken. *      

Heinrich der Löwe vor Kaiser Barbarossa. (Zu dem Bilde S. 712 u. 713.) In der deutschen Kaisergeschichte giebt es keinen bedeutsameren Kampf als denjenigen zwischen dem machtvollen Kaiser Friedrich dem Rotbart und seinem hochstrebenden Vasallen Heinrich dem Löwen. Zwei großgeartete Naturen standen sich hier gegenüber, und dieser Zwiespalt drohte das ganze Deutsche Reich zu zerdrücken und aus den Fugen zu reißen. Heinrich der Löwe, der Sohn Heinrichs des Stolzen, Herzogs von Bayern und Sachsen, vereinigte beide Länder wieder unter seiner Herrschaft, nachdem er anfangs auf Bayern verzichtet hatte. Doch Kaiser Friedrich gab ihm Bayern zurück. Seitdem war Heinrich sein treuester Vasall, begleitete den Kaiser auf dessen Römerzügen, kämpfte mit ihm tapfer in Rom selbst und war im Kirchenstreit sein eifrigster Parteigänger. In Bayern gründete er München; Sachsen aber erweiterte er durch seine Siege über die Slaven, er eroberte Mecklenburg und Vorpommern.

Doch mit seiner Macht wuchs auch sein Selbstgefühl. Die Fürsten und Bischöfe des deutschen Nordens vereinigten sich wider ihn. Der Kaiser legte den Streit bei, zu Gunsten des Herzogs, dessen mächtige Hilfe er in Italien nicht entbehren wollte. Doch als der Kaiser sich durch einen Vertrag mit Welf III[.] die Erbfolge in den welfischen Gütern in Schwaben gesichert hatte, da wurde Heinrich gegen ihn verstimmt, und nach seiner zweiten Ehe, mit der englischen Prinzessin Mathilde, aus welcher er männliche Erben erhielt, erkaltete die Freundschaft zwischen den beiden Gewaltigen plötzlich. Heinrich war nur auf Vermehrung seiner Hausmacht bedacht und mußte so mit dem Kaiser, der des ganzen Reiches Wohlfahrt im Auge behielt, in stets wachsenden Zwiespalt geraten. Er beteiligte sich infolgedessen nicht an dem Römerzuge 1174, und als der Kaiser, nach vergeblicher Belagerung von Alessandria, ihn 1176 in Partenkirchen persönlich um seine bewaffnete Hilfe bat, verweigerte er dieselbe trotzigen Sinnes und wandte sich nach Norden, wo er in Pommern einfiel, um dort die Grenzen seiner Macht zu erweitern. Kaiser Friedrich wurde bei Legnano von dem lombardischen Städtebund geschlagen, schloß indes 1178 Frieden mit dem Papst und kehrte nach Deutschland zurück. Jetzt galt es, den übermütigen Vasallen zu beugen, der ihn treulos im Stich gelassen hatte, doch Heinrich leistete keiner Ladung auf die Reichstage Folge; er wurde in die Acht erklärt, kämpfte aber hartnäckig und oft siegreich mit den benachbarten Fürsten, die sie vollstrecken wollten. Erst als der Kaiser selbst in Sachsen einbrach, wurde Heinrich von seinen Getreuen verlassen; Lübeck sogar öffnete dem Barbarossa die Thore. Jetzt erst unterwarf sich der Welfe; auf dem Reichstage zu Erfurt 1181 that er einen Kniefall vor dem Kaiser; er erhielt Braunschweig und Lüneburg zurück, mußte aber drei Jahre nach England in die Verbannung gehen. – Peter Janssen zeigt uns auf seinem Gemälde den stolzen Herzog als Büßer, den der gewaltige Kaiser wieder in Gnaden aufnimmt, nachdem er eine harte [739] Strafe über ihn verhängt hat. Der Demütigung des Stolzen wohnen die deutschen Bischöfe und Fürsten mit Genugthuung bei. †      

Der Rhumesprung. (Mit Abbildung.) Unweit der Landstraße, welche von Duderstadt nach Herzberg im Harz führt, ungefähr eine Viertelstunde hinter dem Dorfe Rhumspringe liegt die Rhumequelle oder, wie dieselbe im Volksmunde heißt: „Der Rhumesprung“, eine der größten Quellen Deutschlands. Ein kleiner Abstecher von der Chaussee führt den Wanderer an einen nur ungefähr 200 Schritt im Umfang messenden, ringsherum mit Bäumen und Sträuchern bewachsenen Teich, der, ohne sichtbaren Zufluß, einen nur wenige Meter breiten, aber stark strömenden Bach abfließen läßt, welcher in einer Entfernung von etwa 300 Schritt bereits eine große Papierfabrik und etwas weiter hin die zu derselben gehörende Holzschleiferei mit den nötigen Wasserkräften versieht. Da ein Zufluß zu dem Teiche, wie gesagt, nicht bemerkbar ist, erscheinen die starken abfließenden Wassermassen rätselhaft. Allein bei näherer Betrachtung fallen zwei Stellen des Teiches durch ihre kreisrunden Bewegungen auf. Dies sind zwei größere Quellen. Das Wasser einer dritten kleineren wird nach der in der Nähe befindlichen großen Forellenzüchterei abgeleitet. Diese drei Quellen sollen in der Sekunde 3500 l, also täglich 300000 cbm oder 30 Millionen Eimer Wasser geben, und durch ihre ungeheure Wassermenge sind die genannten Werke instand gesetzt, fast ohne Gefälle von dem abfließenden Bache getrieben zu werden. Der abfließende Bach verbreitert sich dann allmählich und wird die Rhume genannt; diese berührt in ihrem weiteren Laufe die Ortschaften Gieboldehausen, Bilshausen, Catlenburg und Northeim und giebt zahlreichen Mühlen und anderen industriellen Werken die nötige Wasserkraft. Unweit der Stadt Northeim mündet sie in die Leine, die nun flößbar wird.

Der Rhumesprung.
Nach einer Aufnahme von Photograph F. Petz in Duderstadt.

Die neue Elbbrücke zwischen Hamburg und Harburg. (Mit Abbildung.) Seit dem Jahre 1853 wurde der Verkehr zwischen der Stadt Harburg und der Insel Wilhelmsburg, bzw. Hamburg durch eine Dampffähre vermittelt, welche dem gesteigerten Verkehr aber schon lange nicht mehr genügte. Deshalb vereinigten sich 1897 die interessierten Gemeinden und Staaten zu dem Bau einer großen Brücke, die, von der Nürnberger Maschinenbau-Aktiengesellschaft erbaut, am 30. September d. J. feierlich eingeweiht wurde. Die aus 4 Strombrücken und 6 Flutöffnungen bestehende Brücke ist 600 m lang. Die Spannweite der Strombrücken beträgt 100,96 m, die der Flutöffnungen 31,15 m. Das Material der Brücke ist Thomasflußeisen, für die Auflagen Gußstahl. Für eine elektrische Straßenbahnverbindung von Harburg nach Hamburg sind 2 Geleise bereits vorgesehen, 2,50 m breite Fußwege befinden sich zu beiden Seiten der Fahrbahn. Diese ist 7 m breit und mit schwedischem Granitreihenpflaster auf Betonunterlage versehen. Ihren Abschluß erhält die ebenso schöne als großartige Brücke an beiden Uferseiten durch ein burgthorartiges steinernes Portal, zu welchem der Hamburger Architekt Thielen den Entwurf lieferte.

[ Das Foto wird erst 2032 gemeinfrei (da nach Photo von Hans Breuer, † 1961). ]

Wildkatzenmutter mit ihren Jungen. (Zu dem Bilde S. 717.) Ein Familienbild aus der Raubtierwelt! Die für ihre Jungen mütterlich besorgte Wildkatze hat ihnen einen erbeuteten Fasan herbeigeschleppt, und die Kleinen stürzen sich, über den Rücken der Mutter kletternd, gierig auf die leckere Beute. Die jungen Wildkatzen kommen im Frühjahr meistens viel später zum Vorschein als junge Dächse und Füchse. Die Mutter wartet ihrer am liebsten in einem alten, verlassenen Dachs- oder Fuchsbau; in felsigem und schwer zugänglichem Terrain genügt eine flache Aushöhlung des Bodens unterhalb eines größeren Steines. Gern wird auch ein hohler Eichenstamm benutzt, vorausgesetzt, daß das Eingangsloch zu dem Hohlraume nicht viel über Mannshöhe vom Boden entfernt ist. Von der Hauskatze unterscheidet sich unsere Wildkatze äußerlich zunächst durch die bedeutendere Größe, die höheren und stärkeren Läufe und die weit kürzere, dick behaarte, fast keulenförmig endende Rute. Die ganze Behaarung des Körpers ist länger, glanzloser und lockerer abstehend als das dichtere und glatt aufliegende Haar der Hauskatze. Die Färbung ist ein warmes, lebhaftes Gelb oder Rötlichgrau, das mit regelmäßigen sammetschwarzen Streifen geziert ist. Die brandschwarzen Fußsohlen haben – namentlich an den Hinteren Branken – zwischen den nackten Ballen einen kleinen rein weißen Fleck, welcher bei der Hauskatze nicht gefunden wird.

Die leere Wiege. (Zu dem Bilde S. 721.) Das Begräbnis ist vorüber, der kleine Sarg im Erdenschoß verschwunden, und die heimgekehrten Eltern, schlichte Arbeitsleute, sitzen noch ein Weilchen still vor der Wiege, die nun leer steht und die vorher so viel des Glückes und dann so viel des Leids für sie barg. Der junge Vater, der zum Gebet die Hände gefaltet hat, starrt bedrückt vor sich hin. Hier vor der Wiege, aus der ihm das herzige Kind die Aermchen so oft freudig entgegenstreckte, wird er sich des jähen Verlusts in seiner ganzen Herbheit inne. Die abgehärmte Mutter greift sehnsuchtsvoll nach dem Leinen, auf dem noch vor kurzem der blasse Liebling ruhte: ihr ist das Liebste gestorben, was sie auf der Welt besaß, das verraten die müd’ gemeinten Augen und die ganze kummervolle Haltung, die doch zugleich auch wieder eine so rührende Geduld ausspricht.

Mostpresse in Oberösterreich. (Zu dem Bilde S. 729.) Oberösterreich ist bei der Austeilung der Gaben der Natur wahrlich nicht zu kurz gekommen: die mannigfaltigsten Bilder landschaftlicher Schönheit erfreuen das Auge, wohin es auch immer den Blick wendet, und der hoch hinauf bis ins rauhe Gebirge emporreichende fruchtbare Boden mit seinen goldig wogenden Aehrenfeldern, grasreichen Wiesen und mächtigen Forsten, mit seinen fischreichen Seen und weiten Obstbaumhainen sorgt dafür, daß die Bewohner dieses herrlichen Kronlandes zu den wohlhabendsten des ganzen Kaiserstaates zählen. Nur Eines versagt die sonst so reichlich spendende Scholle dem Oberösterreicher: den Anbau des Weines. Einen Ersatz hierfür aber bietet ihm der sogenannte „Most“, den das ungemein obstreiche Land mit leichter Mühe gewinnen läßt. Ein gut Teil des bäuerlichen Denkens ist daher auf die vielen Obstbäume gerichtet; der Verlauf ihrer Blüte und das Reifen der Früchte ist für den Wohlstand des Landes von großer Bedeutung, werden doch alljährlich auch Tausende von Centnern verschiedenen [740] Obstes nach Deutschland und Ungarn ausgeführt. In günstigen Jahren beträgt der gesamte Ertrag gegen 600000 Metercentner Kern- und 700000 Metercentner Steinobst, und ein einzelner Bauer lagert hiervon durchschnittlich 400 bis 500 Hektoliter Most ab. Man unterscheidet je nach der Gattung des verarbeiteten Obstes Apfel- und Birnmost oder, wenn Aepfel und Birnen vermengt werden, den sogenannten Mischling.

In unserem Bilde sehen wir die einzelnen Phasen der Mostgewinnung, wozu in der Regel nicht die Sommer-, sondern die saftreicheren und zuckerhaltigeren Herbst- und Wintersorten verwendet werden, sehr instruktiv veranschaulicht. Der stattliche Apfelbaum im Hintergrunde rechts liefert das Rohmaterial für das köstliche Naß; eine Dirne langt die reifen schönen Aepfel mittels eines an eine Stange befestigten Sackes herunter; neuerdings wird dieser öfter durch eine selbstthätige Klappe aus Filz oder ähnlichem Stoff ersetzt. Bei diesem Verfahren wird jede Beschädigung der Aepfel vermieden. Die in Körben gesammelten Früchte wandern nun in die „Mühle“ (links auf unserem Bilde). In dem großen, nach oben trichterförmig geöffneten würfelartigen Kasten, der auf Holzböcken steht, befinden sich unten zwei steinerne Walzen, die von außen gedreht werden. Der links auf einer Bank stehende Mann sorgt mit einer Stange für die gleichmäßige Verteilung der Aepfel zwischen den Walzen. Der Brei der zermahlenen Aepfel, die Maische, ergießt sich in einen unter der Mühle aufgestellten Bottich, der, wenn er gefüllt ist, sofort zu der nebenan stehenden „Presse“ oder „Kelter“ getragen wird. Dieselbe setzt sich im wesentlichen aus einem großen viereckigen Trog von Eichenholz und einer Schraubvorrichtung zusammen, die über dem abhebbaren Deckel des Troges so angebracht ist, daß sie von einer oder zwei Personen bequem bedient werden kann. In der Mitte des Troges befindet sich ein Loch mit einer Röhre, durch welche der aus der Maische ausgepreßte Saft meist unmittelbar in die schon längst vorbereiteten, im Keller lagernden Fässer abfließt, aus denen er dann nach einer drei- bis vierwöchigen Gärung als ungemein erfrischendes und angenehm mundendes Getränk, als „Most“, wieder emporgeholt wird. Dr. L. W.     

Karl Ditters v. Dittersdorf. (Mit Bildnis.) Als ein Vorgänger Mozarts auf dem Gebiete der Oper von echt volkstümlicher Richtung ist der Wiener Komponist Karl Ditters v. Dittersdorf, der am 2. November 1739 zur Welt kam und vor hundert Jahren am 31. Oktober verstarb, uns Heutigen vornehmlich bekannt. Seine komische Volksoper „Doktor und Apotheker“ hat sich auf vielen deutschen Bühnen in der Gunst des Publikums erhalten, und auch „Hieronymns Knicker“, „Das rote Käppchen“ sind unvergessen. Die erstgenannten Opern sind erst neuerdings von Kleinmichel für den modernen Geschmack bearbeitet worden. Der liebenswürdige Komponist hat aber auch auf anderen Gebieten der Tonkunst eine ungemein fruchtbare und von seinen Zeitgenossen hochgeschätzte Thätigkeit entfallet. Er schrieb die Oratorien „Esther“, „Isaac“ und „Hiob“, zahlreiche Orchester- und Kammermusikwerke, darunter gegen hundert Symphonien und sechs Streichquartette. Eine Auswahl des Schönsten und Lebensfähigsten aus der Fülle dieser Werke hat jetzt ein Verein von Musikern im Verlag der Gebrüder Reinecke in Leipzig in sorgfältiger Bearbeitung herausgegeben. Es befinden sich darunter sechs Symphonien, die er in Anlehnung an Ovids „Metamorphosen“ schrieb und welche zu den frühesten Versuchen orchestraler Programmmusik gehören.

Karl Ditters v. Dittersdorf.
Nach dem Kupferstich von C. T. Riedel.

Karl Ditters, der 1773 durch Vermittelung des Grafen v. Schaffgotsch vom Kaiser geadelt wurde und den Zunamen v. Dittersdorf erhielt, hat ein buntbewegtes Leben geführt. Schon frühzeitig erhielt er guten Violinunterricht und wirkte als Knabe im Orchester der Wiener Benediktinerkirche mit. Sein überraschendes Talent erregte die Teilnahme des Generalfeldzeugmeisters Prinz Joseph v. Hildburghausen, der ihn als Pagen in sein Haus nahm, hier von Trani auf der Violine, vom Hofkapellmeister Bono in der Komposition ausbilden ließ und 1760 seine Aufnahme in das Hoforchester bewirkte. Nach einigen Jahren wurde Ditters Nachfolger Michael Haydns als Kapellmeister des Bischofs von Großwardein. Hier komponierte er viele seiner Orchesterwerke. Als 1769 der Bischof seine Kapelle auflöste, begab sich der bereits zu Ruhm gelangte junge Musiker von Ungarn nach Schlesien, wo ihn Graf Schaffgotsch, Fürstbischof von Breslau, zum Direktor der Kapelle in seiner Residenz zu Johannisberg machte. Zum Hofhalt des Fürstbischofs gehörte auch ein kleines Theater, und für dieses schrieb er seine heiteren Volksopern, die von hier aus ihren Siegeszug über die deutschen Bühnen antraten. Nach dem 1795 erfolgenden Tode seines Gönners, dem er auch die Stellung eines Forstmeisters des Fürstentums Neisse und dann die eines Amtshauptmanns zu Freienwaldau zu danken gehabt hatte, geriet der schaffensfrohe Meister in eine bedrängte Lage. Zwar fand er auf dem Schlosse Rothlhotta des Freiherrn Ignaz v. Stillfried bei Neuhaus in Böhmen ein Unterkommen, doch erlag er hier bald einem schmerzlichen Leiden, das ihn schon vorher befallen hatte. Zwei Tage vor seinem Tode war seine Lebensbeschreibung zur Vollendung gelangt, die er auf Rothlhotta seinem Sohne in die Feder diktiert hatte.

Ein Freund in der Not. (Zu dem Bilde S. 733.) Wenn ein junges Mädchen einen so treuen und tapferen Begleiter hat wie das unternehmungslustige Fräulein auf unserem Bilde in ihrem Neufundländer besitzt, da kann es unbesorgt und ungefährdet durch Wald und Thal streifen, auch wenn ihm die Gegend noch fremd ist. Heute jedoch hat sie sich gründlich verlaufen. Das melodische Rauschen des Waldbachs, an dessen Ufer sie hinschritt, hatte sie in Träume gelullt, die sie ganz der Gegenwart entrückten. Auf einmal hat der Weg ein Ende, aber gerade vor ihr im Bache ragt eine ganze Reihe von Felsblöcken aus dem Wasser, die sich zum anderen Ufer hinzieht. Schnell entschlossen springt sie auf den nächsten Stein, sucht dort Halt zum zweiten Absprung und so kommt sie zum dritten und vierten. Hier aber stutzt sie … die Entfernung bis zum Ufer erscheint ihr bedenklich weit. Sie zaudert. Aengstlich blickt sie zu dem treuen Caro herab, der neben ihr im Wasser steht und durch lautes Bellen sein Bedauern kund thut, daß er in dieser Notlage der geliebten Herrin nicht helfen kann. Aber sein Bellen ruft einen Helfer herbei. Unweit von der Stelle hat ein junger Sommerfrischler dem Forellenfang obgelegen. Seine Angel und das Handnetz im Arm, kommt er geeilt: seine Augen erstrahlen, als er die Ursache des Hundegebells entdeckt. Leonore aber errötet heftig, denn der hübsche junge Mann ist ja derselbe, an den sie in ihren Träumen hat denken müssen. Zart und doch fest reicht er ihr jetzt die Hand zur Stütze – da erzittert die ihre, ehe sie sich seiner Führung anvertraut: fühlt sie, wie gern dieser „Freund in der Not“ ihr Führer sein und bleiben würde durch alle Nöte, durch alle Freuden des Lebens?

Die Verlängerung eines Kriegsschiffes. (Zu dem Bilde S.737.) Aus seetechnischen Gründen sieht man sich zuweilen veranlaßt, ein Schiff durch Einfügung eines Rumpfteiles zu verlängern. Man schneidet, schematisch gesprochen, den Schiffskörper zu diesem Zwecke in der Mitte durch, bewegt die Hälften nach vorn und hinten um so viel Meter auseinander, als die Verlängerung betragen soll, und fügt in die Lücke den neuen Rumpfteil ein, der dann mit dem alten Vorder- und Hinterteil fest und seetüchtig verbunden wird. Bei Kauffahrteischiffen hat man derartige Verlängerungen vielfach mit gutem Erfolg ausgeführt, und man versucht nun auch bei Panzerfahrzeugen dieselbe Operation vorzunehmen. Unser Bild führt uns den höchst interessanten Vorgang deutlicher und leichter verständlich als die beste theoretische Beschreibung vor Augen. Es stellt den Küstenpanzer „Hagen“ im Trockendock der Kaiserlichen Werft zu Kiel dar. Man hat dem Schiff den Panzergürtel und die Panzerdrehturmkappen abgenommen, um es zu erleichtern. Während des Losnietens der an der Trennungsstelle befindlichen Platten hatte man unter dem Schiffsboden einen entsprechend starken „Laufschlitten“ angebracht, der wie beim Stapellauf mit Schmierseife gestrichen wurde. Mit starken hinter dem Heckteil des Panzers verankerten Flaschenzügen wurde dieses dann Centimeter um Centimeter zurückgezogen, bis der Abstand an der Trennungsstelle sieben Meter betrug. Ohne Störung wurde diese Riesenarbeit vollendet, und nicht lange mehr wird es dauern, bis der um sieben Meter in die Länge gewachsene „Hagen“ wieder fröhlich in See sticht.

Die Chronica. (Zu unserer Kunstbeilage.) Wir blicken in das behagliche Refektorium, wo nach eingenommenem Vesperbrot die Brüder im weißen Ordensgewand noch beisammen sitzen und der Unterhaltung pflegen. Von alten Zeiten wurde geredet, und es fand sich, daß die Meinungen über des Klosters Gründung stark auseinandergingen, um mehr als zweihundert Jahre. Da blieb nichts anderes übrig, als die uralte Chronik herbeizuholen, um den Streit zu schlichten. Sie giebt dem rechts sitzenden klugen Prior recht, und der jüngst eingetretene Bruder Eusebius neben ihm muß den Anspruch auf die Karolingerzeit fahren lassen. Aber beide vergessen rasch den Anlaß des Streites über dem Interesse an dem merkwürdigen Buche, das sie so bald nicht mehr los läßt. Der Chronist von heute liest und erklärt, was seine Vorgänger in langen Jahrhunderten schrieben: von des Klösterleins allmählichem Wachstum, dem Bau der Kirche, von Wassersnot und großem Sterben, Fehden mit adeligen Widersachern, kriegerischen Zeitläuften. Sinnend hören’s die Heutigen und gedenken ihrer Vorgänger, die einstmals am selben Tische hier saßen und den gleichen uralten Leuchter entzündeten, der noch heute dem Schlafensgang des Priors leuchtet.


Kleiner Briefkasten.

R. St. in R. Von den im Artikel „Die Heilbarkeit der Trunksucht“ genannten Asylen nimmt die Kurpension für Alkoholkranke in Nesse bei Loxstedt (Prov. Hannover) ebenfalls Damen auf. Bezüglich der Bedingungen müssen Sie sich direkt an diese Anstalt wenden.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

[740 a] 0


Allerlei Winke für jung und alt.


Lederarbeit für ein Cigarrenetui.

Lederarkeit. Die untenstehend abgebildete Lederarbeit ist für ein Cigarrenetui bestimmt. Das zur Verarbeitung für die Hülle dienende Leder wird mit Seide abgefüttert und bis auf den geschweiften oberen Rand zusammengenäht. Ein zweites ebensolches Lederteil wird etwas kleiner geschnitten und, nachdem es zusammengenäht ist, in das erste Teil geschoben. So hat man ein Etui, wie es allgemein von den Herren gern geführt wird.

Das Muster ist in getriebenem Lederschnitt gearbeitet und mit Wachs unterkittet. Der Grund ist mit dem Platinastift gebrannt, was durch den dunklen Ton gut wirkt und sehr viel rascher geht als das mühsame Punzen.

Deckchen in ausgesparter Leinenstickerei.

Malerei auf Glanzleinwand. Die Leinwand, aus der man unsere bedruckten Bucheinbände herstellt, wird neuerdings auch glatt als Einband für Mappen, Notizblocks etc. verarbeitet und bietet so ein neues Feld für den Liebhaberkünstler. Am besten sieht darauf die Art von Malerei aus, die sich dem Druck etwas nähert, entweder ganz in Schwarz, als Silhouette wirkend, oder mit gleichmäßig aufgetragenen Deckfarben, stark konturiert. Die Umrisse zeichnet man nach dem Uebertragen durch Rötelpapier am besten zuerst mit nicht zu spitzer Feder in Tusche auf und füllt dann mit dem Pinsel die Flächen. Bei unserer Vorzeichnung für eine kleine Schreibmappe würden die Blätter und Stiele der Brombeerranke gleichmäßig schwarz zu decken sein, nur die Hauptadern der Blätter müßten ausgespart werden. Die Blüte ist schwarz zu zeichnen und mit weißer Oelfarbe fein zu decken; Wasserfarbe wird im Gebrauch leicht schmutzig. Firnis ist nicht nötig, der matte Ton der Tusche steht gut auf dem Leinwandgrund, doch kann man die Fläche auch leicht mit einem Lack übergehen, um die Malerei zu schützen. J.     

Hyazinthenzwiebeln. Jeder kennt die früh getriebenen Hyazinthen aus den Gläsern, die, kaum aus der Zwiebel geschlüpft, sofort aufblühen, rund und dick werden und das Streben nach oben ganz vergessen. So werden sie, wenn man die Zwiebeln zu früh dem Licht aussetzt; abzuhelfen ist durch eine kleine, etwa 15 cm hohe, spitze Tüte von dünnem Karton, die in Blumenläden zu haben, aber auch leicht selbst anzufertigen ist. Diese stellt man die erste Zeit über die junge Pflanze auf dem Glas und nimmt sie erst weg, wenn der grüne Trieb sich schon kräftig entwickelt hat.

Papierständer für den Schreibtisch. Im Gegensatz zu den üblichen kleinen Kästen mit mehreren Abteilungen bietet diese Form mit offenen Fächern den Vorteil, daß hier keine Beschränkung in Bezug auf Format der Papiere stattfindet. Wo ähnliche Formen nicht vorrätig sind, findet sich wohl ein Liebhaberkünstler mit der Laubsäge, oder der Buchbinder stellt sie aus Karton, Holzpappe etc. her. Die Verzierung ergiebt der Brandstift, Motive in entsprechender Größe finden sich reichlich in den „Liebhaberkünsten“ oder in illustrierten Blättern. Unsere kleine Landschaft ist in den natürlichen Farben gedacht, die Stämme und Blätter im Vordergrund sehr dunkel, die Blüten hellgelb oder rötlich, die Ränder braun. J.     

Papierständer.

Seidenes Opernguckerfutteral. Aus irgend einem hellen, hübsch gemusterten Stück Seidenstoff von etwa 20 cm Breite und 38 cm Länge wird eine Art Beutel folgendermaßen gebildet. Man näht am linken Längsrande einen nach innen umgebogenen Saum, legt dann den Stoff in der Mitte seiner Länge zusammen und schließt ihn durch zwei Nähte ab, eine, welche die aufeinandergepreßten Ränder der Breitseiten verbindet, und eine an den unteren, mit dem Saum korrespondierenden Rändern. Nun trifft man mittels zweier Seidenbänder, etwa 3 cm breit und 70 cm lang, deren Enden man zu beiden Seiten des Täschchens annäht, die Einrichtung zum Tragen wie zum Auf- und Zuziehen desselben. Es bietet gerade Raum für den Operngucker, das Theaterbillet und vielleicht ein Flacon oder Bonbondöschen.

Opernguckerfutteral aus Seide.

Ausgesparte Leinenstickerei. Wie sehr man mit einfachen Mitteln große Wirkungen erzielen kann, ersieht man einigermaßen aus der rechts obenstehenden, nach einem Modell angefertigten Abbildung. Die Vorlage besteht aus weißem altdeutschen Leinen, die Konturen sind mit dunkelgoldgelber Seide in Stielstich ausgeführt, die Füllungen des Zwischengrundes mit hellgoldgelber Seide in Zierstichen. Das eigentliche Muster ist völlig ausgespart und hebt sich mit seinen weißen Flächen von dem gestickten Grunde ab. Man fertigt zuerst die Stielstichumrandung der einzelnen Figuren und beginnt dann an einer Ecke die Zwischenflächen auszusticken. Hierfür legt man jedesmal 3 Fäden über 6 Webefäden hinweg eng aneinander, läßt dann einen gleichgroßen Raum und stickt nun die zweite derartige Figur. Bei jeder ferneren Reihe werden diese Stichmuster schachbrettartig versetzt. Ein ziemlich breiter Hohlsaum ergiebt den äußeren Abschluß des hübschen Deckchens.

Malerei auf Glanzleinwand für eine Schreibmappe.

Schürze für zehn- bis zwölfjährige Mädchen.

Schürze für zehn- bis zwölfjährige Mädchen. Die Schnittmuster, Figur 1 bis 3, zeigen den Latz (Figur 1), die Schulterverzierung (Figur 2) und den Gürtel zur Schürze, deren unterer Teil 64 cm lang und 122 cm weit zu schneiden ist. (Stoff für zwei bis drei Fältchen und Saum ist zuzugeben.) Am oberen Rande wird der Stoff nach der Mitte zu bis auf 59 cm Länge abgeschrägt, eingekraust und zwischen die doppelte Stofflage des nach Abbildung 3 hergestellten Gürtels gesteppt. Der Latz (das Schnittmuster zeigt wie beim Gürtel die Hälfte, die punktierte Linie ist die Mitte) ist an der Linie *** auf jeder Seite in zwei Fältchen zu legen und hier, X auf X treffend mit dem Gürtel zu verbinden. Den Achselteilen näht man bei der Linie oooo 54 cm lange, 5 cm breite Achselbänder an, die in der hinteren Mitte gekreuzt am Gürtel anzuknöpfen sind. Nach Figur 2 ist ein sehr hübscher Garniturteil herzustellen, aus doppeltem Stoff, beliebig durch Stickereieinsatz, aufgesteppte Streifen oder Zierstiche geschmückt und an den Außenrändern mit Stickerei besetzt. Der gebogene Rand wird von * bis : den gleichen Zeichen am Latz aufgesetzt, von : bis X den Achselbändern; von links angenäht – nach rechts umgeschlagen. A. H.     

[740 b]
Allerlei Kurzweil.


Bilderrätsel. Von Erh. Lipka.


 Rätsel.
Ein wertvoll nützlich Ding, doch hart wie Stein,
Ein Zeichen vor, und Härte wird zum Tadel,
Zwei Lettern noch voraus, anmutig, fein,
Wird es verschmäht selbst nicht vom Geistesadel;
Doch schiebet nochmals einen Laut ihr ein,
Wird abhold es dem letzten Worte sein!
  Th. Biedermann.


 Buchstabenrätsel.
Mit weichem Kopf ist’s eines Dichters Name,
Hartköpfig eine dir verwandte Dame.
  Oscar Leede.


Auflösung der Umstellungsaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 22.

1. Donner, 2. Irene, 3. Edgar, 4. Fahne, 5. Oberst, 6. Larve, 7. Kamin, 8. Unart, 9. Norma, 10. Genua, 11. Erbse, 12. Reblaus.
 = „Die Folkunger“.


Auflösung des Worträtsels auf dem Umschlag von Halbheft 22.   Eichen, eichen.


Auflösung des Kreisarithmogriphs auf dem Umschlag von Halbheft 22.
I. Semele, II. Selle, III. Helene, IV. Mehul, V. Elche, VI. Lethe, VII. Zettel, VIII. Pleschen, IX. Unke, X. Nessel, XI. Klette, XII. Tennessee.
 O. Schmelzpunkt.


 Skataufgabe. Von J. Kühn
Vorhand hat folgende Karten:

und würde Eichel-Solo mit Schneider gewinnen, spielt aber Grand und muß nun so vorsichtig spielen, daß sie nicht selbst Schneider wird. Im Skate liegen zwei leere Blätter. Wie sind die übrigen Karten verteilt? Wie muß Vorhand spielen, damit sie nicht Schneider wird? Würde sie mit Mittelhand eine 8 gegen eine 9 tauschen, würde Grand gewonnen werden.


 Scherzrätsel.
Ob von den Lesern einer wohl so schlau ist
Und rät die Frucht, die in der Mitte lau ist?  E. S.


Auflösung der Damespielausgabe auf dem Umschlag von Halbheft 22.

1. e1 – d2   Db4 x e1
2. d6 – c7   Da5 x d8
3. g1 – f 2   De1 x g3
4. De7 – b4   a3 x c5
5. Dg5 – h6   Dd8 x g5
6. Dh6 x c1 x a3 x d6 x h2 und gewinnt.

Auflösung des Bilderrätsels „Wappen von Tirol“ auf dem Umschlag von Halbheft 22.

Liest man von der Umschrift des Wappenschildes von links nach rechts zu alle Buchstaben, bei denen ein Nadelbüschel des Krummholzes ausläuft, und in gleicher Richtung dann die übriggebliebenen Buchstaben, so erhält man den Namen:
Andreas Hofer.


Auflösung des Quadraträtsels auf dem Umschlag von Halbheft 22.

Mount Everest.


Auflösung des Königszugs auf dem Umschlag von Halbheft 22.

Einsam wandle deine Bahnen,
Stilles Herz, und unverzagt!
Viel erkennen, vieles ahnen
Wirst du, was dir keiner sagt.

Wo in stürmischem Gedränge
Kleines Volk um Kleines schreit,
Da erlauschest du Gesänge,
Siehst die Welt du groß und weit.

Andern laß den Staub der Straße,
Deinen Geist halt frisch und blank,
Spiegel sei er, wie die Meerflut,
Drin die Sonne niedersank.
 Victor von Scheffel.


Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 22.  Posen.


Auflösung des Wechselrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 22.       Gau, Gnu.



[Verlags- und andere Werbeanzeigen, hier nicht dargestellt.]


Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.