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ADB:Stifel, Michael

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Artikel „Stifel, Michael“ von Moritz Cantor in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 36 (1893), S. 208–216, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stifel,_Michael&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 01:41 Uhr UTC)
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Stifel: Michael St., Theologe und namentlich Mathematiker, geboren 1486 oder 1487 in Eßlingen, † am 19. April 1567 in Jena. Er war der Sohn von Konrad St., von welchem man nichts weiter weiß, als daß er eine nahe Kirchenverbesserung verkündete und darum von den Schriftstellern des Reformationszeitalters unter die testes veritatis eingereiht worden ist. St. trat frühzeitig in das Augustinerkloster seiner Vaterstadt. Gleich die ersten Schriften Luther’s gaben ihm das Gefühl „das Müncherey für Gott ein grewel were“, und insbesondere der Zwang des täglichen Messelesens bedrückte sein Gewissen, während die Zweifel „wie ich mich außer dem Kloster erneren künte“ ihn dort fesselten. In dieser Gemüthsstimmung las St. wiederholt in der Apokalypse, welche bald, nebst dem Buche Daniel, zu seinen liebsten Büchern aus der heiligen Schrift gehörte. Immer mehr vertiefte er sich in die Mystik jener Werke, immer deutlicher wurde es seinem grübelnden Geiste, daß das Thier im 13. Capitel der Offenbarung Johannis den Papst Leo X. bedeuten müsse, „vnter welchem das Evangelium ist auffgangen“. Als er im J. 1520 vollends in den Zahlenbedeutung besitzenden Buchstaben der Worte Leo De CIMVs X, die Summe 666 erkannte, nur um M vermehrt, welches darum hier nicht als tausend, sondern als Mysterium gelesen werden mußte, da schwanden alle früheren Scrupel, und er warf sich mit Entschiedenheit in den entbrannten Kirchenstreit. Im Frühjahr 1522 erschien seine erste Streitschrift „Bruder Michael Styfel Augustiner von Eßlingen, Von der Christfermigen rechtgegründten leer Doctoris Martini Luthers, ain überauß schönkunstlich Lied, sampt seyner nebenaußlegung. In Bruder Veyten Thon“. War es schon kühn für einen Mönch, wenn auch für einen Ordensgenossen des Wittenberger Reformators, seinen Namen auf ein solches Titelblatt drucken zu lassen, so blieb der Inhalt keineswegs an Kühnheit zurück. Gleich die Vorrede bekennt laut, daß St. Luthern für einen von Gott zur Enthüllung des Truges des Antichrist Auserwählten halte, daß das Verbot des Lesens Lutherscher Schriften deshalb nicht zu beachten sei. Dann folgt die Ausführung dieser Meinung in 4zeiligen Reimstrophen, denen jeweils[WS 1] eine längere [209] Erläuterung in Prosa angefügt ist. Die erste Strophe knüpft an die Offenbarung Johannis XIV, 6 an:

Johannes thut uns schreiben von einem Engel klar,
Der Gottes wort soll treiben ganz luter offenbar.
Zu vns thut sich auch schieben, es fält nit vmb ein hor.
Daruff will ich belieben, das sag ich euch fürwor.

Und nun wird auseinandergesetzt, der Engel, der mitten durch den Himmel fliege, der ein ewiges Evangelium halte, welches er den Bewohnern der Erde verkündige, sei Doctor Martinus Luther, eine Deutung, welche von da an in unzähligen Wiederholungen breitgetreten worden ist. St. sieht im Geiste des Dichters, an welchen er fortwährend, auch stilistisch, sich anlehnt, den jüngsten Tag herannahen. Aber auch Sagen aus der Vergangenheit der letzten Jahrhunderte müssen ihm dienen. So sieht er Kaiser Friedrich, der das heilige Grab gewinnen werde, in Friedrich dem Weisen, Kurfürst von Sachsen (s. A. D. B. VII, 779 ff.). Das wiedergewonnene heilige Grab sei die aus dem Grabe erstandene Wahrheit des göttlichen Wortes. Das Lied erschien in drei Auflagen, von welchen die beiden ersten 36 Strophen zählten, während in der dritten 14 weitere Strophen hinzutraten, in welchen ganz besonders von dem Herannahen des jüngsten Tages die Rede ist. Gegen Stifel’s Verherrlichung Luther’s trat kein geringerer Gegner als Thomas Murner (s. A. D. B. XXIII, 67 ff.) auf. Der elsasser Satyriker, dem Spottsucht so eigen war, daß er sogar seinen eigenen Ordensgenossen, den Franciscanern, die Epigramme nicht ersparte, und welcher schon mit Luther selbst angebunden hatte, wandte sich in einem Gegenliede „Ain new lied von dem vndergang des Christlichen glaubens in Bruder Veiten thon“, gegen den eßlinger Augustiner. St. antwortete, indem er Murner’s Lied wiederholt zum Abdruck bringend, dasselbe erläuterte und bekämpfte „Aller glerten Murr Narr must du sein“, redet er jenen an, ein damals schon häufig benutztes Wortspiel gebrauchend, welches durch den Gebrauch nicht gerade besser wurde. Nun folgte von seiten Murner’s „Antwort, Entschuldigung und Clag wider Stiefeln“, von seiten Stifel’s „Antwort Michel Styfels vff Doctor Thoman Murnars murnarrische phantasey, so er wider yn erdichtet hat u. s. w.“ Letztere Schrift trägt schon die Angabe: „Geben zu Wittenberg 1523.“ In der Zwischenzeit, welche zwischen dem Erscheinen dieser verschiedenen Streitschriften lag, hatte demnach St. sein heimathliches Kloster verlassen.

Wie es sich mit dieser Flucht verhielt, hat St. zu Anfang der zuletzt genannten Antwort erzählt. Das Kloster Eßlingen stand bis zu einem gewissen Grade unter dem Weihbischofe von Konstanz, welcher insbesondere „das gelt des sündzols“ für die Freisprechung von etlichen Gattungen von Sünden sich vorbehalten hatte. St. aber absolvirte ein Beichtkind unter Mißachtung dieses Rechtes. Schon darüber stellte der Weihbischof ihn zur Rede; zugleich ließ er ihn über sein Lied befragen, ob er geständig sei, es verfaßt zu haben. Das wolle Gott ewiglich nimmer, antwortete St., daß ich das Büchlein verleugne; es enthält die Wahrheit, und ich habe es gemacht. Er wußte wohl, daß dieser Freimuth für ihn die gefährlichsten Folgen haben konnte. Karl V. hatte am 7. Februar 1522 von Brüssel aus seinem Bruder, Erzherzog Ferdinand (nachmalig Kaiser Ferdinand I.), neben anderem Landbesitze, auch das Herzogthum Württemberg verliehen, und im Mai des gleichen Jahres nahm der neue Regent einen kurzen Aufenthalt in Stuttgart. Man warnte St., der Herzog werde gegen ihn vorgehen, und wenn auch die Bürgerschaft von Eßlingen bereit schien, sich auf Stifel’s Seite zu stellen, so ließ er es auf die Probe nicht ankommen, und floh. Schon im September 1522 war er Prediger der neuen Lehre bei [210] Hartmuth v. Kronberg, dem nahen Verwandten von Franz v. Sickingen, und wohnte auf dessen Stammschlosse Kronberg bei Frankfurt a. M. „Er hat sein kütlein vßgeschwenckt vnd an einen baum gehenckt, und lauft jetzunder rumpliren und mit der welt furt trumphiren.“ So lauten die Spottverse Murner’s auf den Flüchtling. Wieder etwa ein halbes Jahr später, gegen Ende März 1523, wurde er Prediger beim Grafen Albrecht von Mansfeld, wohin er durch Luther’s Vermittlung berufen wurde.

Während des Mansfelder Aufenthaltes entwickelte sich mehr und mehr eine Geistesrichtung Stifel’s, von der wir schon gesprochen haben, die aber jetzt aufs lebhafteste hervortrat. Wir meinen die Neigung zu halbwegs mathematischen Grübeleien über die Zahlen in der Offenbarung Johannis und in dem Buche Daniel. Versiegle, was die sieben Donner geredet haben, heißt es in der Offenbarung Johannis X, 4, und diese versiegelten Worte können nach Stifel’s Ueberzeugung nichts anderes sein, als der geheimnißvolle Sinn der genannten Zahlen, vor allem also der Zahlen 666 und 1260 in der Offenb. Joh., der Zahlen 1290, 1335, 2300 im Buche Daniel. Den Sinn zu enthüllen, bedarf es einer Wortrechnung, und zwar genügt es nicht, aus einer Wortverbindung diejenigen Buchstaben herauszuziehen, welche Zahlenbedeutung haben, wie es St. 1520 mit Glück an Leo decimus X versucht hatte, jeder Buchstabe vielmehr muß einer Zahl entsprechen. Wie St. auf diesen Gedanken kam, ist unbekannt. Keinesfalls kann er von der Zahlenbedeutung der griechischen und der hebräischen Buchstaben ihm eingeflößt worden sein, da diese beiden Sprachen ihm fremd waren und blieben. Jedenfalls ersann ferner St. nicht später als 1524 seine Wortrechnung, denn an Cantate dieses Jahres war er schon wieder in Wittenberg als Gast im Lutherischen Hause; an einen Einfluß eines 1525 gedruckten Werkes, von welchem wir nachher zu reden haben, ist also auch nicht zu denken. Sei dem nun, wie da wolle, Stifel’s Wortrechnung fußt auf der Gleichsetzung der Buchstaben mit den auf einander folgenden Dreieckszahlen. So nannte man die Anzahl von Punkten, welche, untereinander gereiht, mit je einem Punkte mehr, in jeder folgenden Zeile das Bild eines gleichseitigen Dreiecks abgeben. Die Zahl 1 wird uneigentlich als erste Dreieckszahl, die Summe der Zahlen 1 und 2 oder 3, als zweite Dreieckszahl benannt. Dritte Dreieckszahl ist die Summe von 1, 2, 3 oder 6, vierte demnach 10, dreiundzwanzigste 276, und somit bedeutet a=1, b=3, c=6, d=10, … z=276 (k wird als 10. Buchstabe mit der Zahl 55 versehen, v als 20. Buchstabe mit der Zahl 210, u und w kommen in dem Zahlenalphabete nicht vor). Wie St. auf Anwendung der Dreieckszahlen geführt wurde, ist wieder nicht klar; vielleicht geschah es durch Herumtasten an der Zahl 666, welche selbst eine Dreieckszahl, und zwar die 36 ist, wie St. wußte. („Es ist aber 666 ein Trigonal zal vnd jr trigonal würtzel ist 36“, heißt es in Stifel’s Wortrechnung von 1553, der einzigen Quelle für alle diese Dinge.) Eines lernen wir aus Stifel’s Bemühungen mit aller Gewißheit: daß er um 1524 so viel von den Eigenschaften der Zahlen wußte, daß ihm der Begriff der Dreieckszahlen geläufig war, ein Begriff allerdings, den er im klösterlichen Unterrichte bereits sich angeeignet haben mochte, da er bei Boethius vielfach vorkommt, und Schriften dieses Verfassers noch immer zu den häufig gebrauchten gehörten. Das Alphabet, welchem, wie wir zeigten, St. die Dreieckszahlen zutheilt, ist das lateinische, jedenfalls deshalb, weil er mit anderen Sprachen nicht Bescheid wußte, wenn er selbst auch vier andere Gründe nennt, weshalb „die lateinische rechnung mehr gelte in dieser sach denn die Grichische oder Hebraische“. Erstens seien die Geheimnisse der Offenb. Joh. in der lateinischen und nicht in der griechischen Kirche vollbracht; zweitens haben sie sollen unter der lateinischen Kirche erklärt werden; drittens dienen die Rechnungen in lateinischer Sprache viel mehr Leuten, als im Griechischen; viertens [211] erfreue die lateinische Sprache sich einer beständigeren Rechtschreibung als die griechische. St. zeigte seine Rechnung seinem Gastfreunde Luther. Der aber meinte, es wäre nichts gewisses daran, und so „ließ ichs (sagt St.) gar fallen bis auff das Jar 1532“.

Stifel’s Aufenthalt wechselte bis dahin wiederholt. Am 3. Juni 1525 geht St. wieder mit einer Empfehlung Luther’s nach Oesterreich. Er wird Prediger bei einem oberösterreichischen Edelmanne, Christoph Jörger v. Tollet und Kreusbach. In dieser Stellung wird er mit einem Glaubens- und Amtsgenossen, Leonhard Kayser (s. A. D. B. XV, 435), bekannt, der 1527 in Scherding auf dem Scheiterhaufen endete. St. schrieb ihm einen Nachruf, welchen Luther mit einer Vorrede versah und in Wittenberg zum Druck beförderte, aber Stifel’s Bleiben war nun nicht mehr in Oesterreich, er kehrte aufs neue zu Luther zurück. Im September 1528 wurde in Lochau, in der Nähe von Wittenberg, eine Pfarre frei. Luther verschaffte sie seinem Freunde, führte ihn am 25. October in sein Amt ein und traute ihn zugleich mit der Wittwe seines Amtsvorgängers, mit welcher St. fortan in glücklichster Ehe lebte. Auch die Beziehungen zur Lutherschen Familie blieben gleich freundschaftlich. Ein kleiner Brief z. B. hat sich erhalten, in welchem Luther sich und seine Kinder bei St. zum Kirschenessen anmeldet. Inzwischen führte das verhältnißmäßig unthätige Leben auf dem kleinen Pfarrorte St. zu erneuten Zahlengrübeleien, welche 1532 zu Wittenberg ohne Verfassernamen gedruckt erschienen unter dem Titel „Ein Rechenbüchlin Vom End Christ. Apocalypsis in Apocalypsin.“ Den Weltuntergang weissage die heilige Schrift. Zwar setze das Evangelium (Marcus XIII, 32) der Weissagung hinzu, von dem Tage und der Stunde wisse niemand, auch die Engel nicht im Himmel, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater, aber dieses Nichtwissen habe nur Geltung für jene Zeit, als die Weissagung ausgesprochen wurde. Jetzt stehe der jüngste Tag unmittelbar bevor, und jetzt sei es gelungen, aus den Zahlen des Buches Daniel Tag und Stunde genau zu ermitteln. Darauf rechnet der Verfasser „ungeschickt und ungereimt“, wie St. 1553 eingestand, bis „die Zalen Danielis misbrauchet waren“, und findet den 19. October 1533 früh 8 Uhr, als den Zeitpunkt der Offenbarung des Herrn. Ein Augenzeuge hat in einem im Drucke erhaltenen Briefe beschrieben, wie jener Tag in Lochau vorüberging. St. hatte zu seiner Veröffentlichung Luther um eine Vorrede gebeten und, als dieser sich weigerte, ihn brieflich mit Schmähungen überhäuft. Der Geist, der sonst in ihm gewohnt habe, sei erloschen, ein Pilatus, ein Herodes sei aus ihm geworden. Luther ließ den Tadel ruhig über sich ergehen, aber Kurfürst Johann Friedrich der Großmüthige war nahe daran, den Schwärmer ins Gefängniß werfen zu lassen, und beruhigte sich nur auf Luther’s Fürbitte mit Stifel’s Versprechen, wenigstens in der Kirche der aufregenden Weissagung nicht ferner zu gedenken. Unter der Hand freilich verbreitete sich die wundersame Mähre in immer weiteren Kreisen. Die Bauern verkauften Haus und Feld und verpraßten den Ertrag, um sich vor Untergang der Welt noch einmal gütlich zu thun. St. selbst verschenkte Hausgeräthe und Bücher, weil er sie nicht mehr nöthig haben werde, als wenn die Beschenkten nicht das gleiche Schicksal mit ihm zu erleiden bestimmt gewesen wären! Die letzten Tage vor dem 19. October hatte St. nur Beichte zu sitzen. Bis aus Schlesien und aus der Mark kamen Leute, die in Lochau untergehen, vorher noch einmal durch den Propheten erbaut sein wollten. Am 19. October selbst hielt St., der am jüngsten Tage an sein Gelöbniß zu schweigen sich nicht mehr gebunden glaubte, von frühester Morgenstunde an Gottesdienst ab, zu welchem er durch das Horn des Kuhhirten – von manchen, die es hörten, für die Posaune des jüngsten Gerichtes gehalten – die allenfalls Schlafenden wecken ließ. In erschütternder [212] Predigt beweist St. den Gläubigen nochmals, daß die letzte Stunde nahe sei. Darob großes Wehklagen insbesondere der anwesenden Frauen. Gegen 9 Uhr entläßt St. die Gemeinde nach Hause, ihnen die Trostworte noch zurufend: Erschrecket nicht, er kommt als ein Bruder und nicht als ein Feind! Als aber 9 Uhr vorüber war, kamen statt des jüngsten Gerichtes Abgesandte des Kurfürsten, welche den Propheten in einen Wagen setzten und nach Wittenberg führten, wo er versprechen mußte, vom Amte entfernt das Urtheil des Fürsten erwarten zu wollen. Luther berichtete darüber an die Jörgerische Herrschaft in Tollet mit den kurzen Worten: Er Michel hat ein kleines Anfechtlein bekommen, aber es soll ihm nicht schaden, gottlob, sondern nütze sein.

Luther’s Worte erwiesen sich zum Segen der mathematischen Wissenschaften als durchaus wahr. Das „Anfechtlein“ vertrieb St. auf lange, wenn auch nicht auf immer, die Lust an mystischen Zahlenübungen. Sein zahlengewohnter und zahlengeübter Geist suchte dafür Beschäftigung in der Coß Christoph Rudolff’s (s. A. D. B. XXIX, 571–572). Wohl wurde St., namentlich auf Melanchthon’s warmes Eintreten zu seinen Gunsten, bereits 1535 oder gar schon Ende 1534 wieder als Pfarrer in Holzdorf bei Wittenberg angestellt, aber die nächsten zehn Jahre haben weder theologische noch der Wortrechnung angehörende Schriften von St. entstehen sehen, während seine „Arithmetica integra“ der Vollendung entgegen reifte, in welcher sie 1544 bei Petreius in Nürnberg im Drucke erschien. Im Manuscripte war das mit Recht hochberühmte Werk schon mindestens 1540 vollendet, verschiedene Umstände aber, Ueberarbeitung einzelner Theile, Einschiebung neuer Capitel, Herstellung schwieriger Figuren u. s. w. verzögerten das Erscheinen fast bis zur Ungeduld des Verfassers.

Die große Ausführlichkeit, in welcher die Geschichte der Mathematik verpflichtet ist, über die „Arithmetica integra“ zu berichten, muß in dieser Darstellung, wo einem Eingehen auf einzelne Aufgaben der Rahmen der Allgemeinen Deutschen Biographie sich widersetzt, umgekehrt einer ganz knapp gehaltenen Schilderung weichen. Die Lebensbeschreibungen von Heinrich Grammateus (s. A. D. B. IX, 578), Jakob Köbel (s. A. D. B. XVI, 345–349), Adam Riese (s. A. D. B. XXVIII, 576–577), Christoph Rudolff (s. A. D. B. XXIX, 571 bis 572) bieten Gelegenheit, in aller Kürze die Ueberzeugung zu gewinnen, daß, wenn Deutschland in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts reich, ja überreich an Rechenmeistern und Cossisten war, wenn manche von diesen eines weitverbreiteten Ruhmes sich erfreuten, doch die Eigenleistungen derselben diesen Ruhm nur in geringem Maaße rechtfertigten. Das Rechnen mit Rechenpfennigen oder auf der Linie, das Rechnen mit Ziffern oder auf der Feder, die mit Dutzenden von Namen versehenen Einzelfälle, welche im kaufmännischen Geschäftsleben sich darbieten, waren längst überkommenes Erbe. Nicht anders verhielt es sich mit der Regel des falschen Ansatzes. Die wälsche Praktik, die darauf hinaus läuft, Brüche, mit welchen zu rechnen ist, in Summen anderer Brüche von kleinerem Nenner zu verwandeln, die womöglich wieder untereinander das Verhältniß einfacher Vervielfachung aufweisen, giebt in ihrem Namen den italienischen Ursprung zu erkennen. Die Coß oder Algebra trägt desgleichen einen fremdländischen Namen, Coß von dem italienischen Worte la cosa = die unbekannte Sache, Algebra aus dem Arabischen und zwar, wie man wähnte, von einem alten arabischen Gelehrten Algebras. So war, wenn nicht alles, doch bei weitem das meiste, was jene deutschen Rechenmeister und Cossisten lehrten, alte, oftmals sehr alte Erfindung, und es war eine, wenn auch nicht ganz leichte, doch lösbare Aufgabe für die geschichtliche Forschung, die Quellen zu ermitteln, welche dem einen, dem anderen Schriftsteller geflossen waren. Und nun trat die „Arithmetica integra“ des Michael Stifel in die Erscheinung, ein Werk, wie [213] es in Deutschland mindestens seit drei Jahrhunderten, seit den Zeiten des Jordanus Nemorarius (s. A. D. B. XIV, 501–504), nicht geschrieben worden war! Daß nicht alles in ihr neu war, versteht sich von selbst; wie hätte der Name einer vollständigen Arithmetik, den der allseitig gebildete Professor der Medicin Milichius (s. A. D. B. XXI, 745) in Wittenberg dem Werke beilegte, sich nur halbwegs rechtfertigen lassen, wenn nicht aufgenommen gewesen wäre, was sonst als Arithmetik bezeichnet wurde? Aber kräftig war unter dem Althergebrachten aufgeräumt. Das eigentliche Rechnen war auf das engste zusammengedrängt, das Linienrechnen ganz entfernt. Die zahllosen Einzelregeln werden mit dem einen Worte beseitigt, sie seien Menschenquälerei (vexationes populi), die 8 Fälle der Coß, welche bei manchen Schriftstellern auf 24 sich ausgedehnt hatten, werden in eine einzige Vorschrift zusammengedrängt. Und neben diese alten Dinge in wesentlich neuer Form stellt nun St. seine eigenen Untersuchungen auf dem Gebiete der Zahlenlehre. Es verschlägt nicht viel, daß das meiste ohne wesentliche praktische Verwendbarkeit ist, daß z. B. die Reste, welche bei Theilung einer Geheimzahl durch zweierlei Divisoren übrig bleiben, nur zur Auffindung dieser Geheimzahl, mithin zu einer Spielerei benutzt werden, daß die Herstellung von Zauberquadraten ohne Nutzen geblieben ist u. s. w. Es waren doch neue Aufgaben, welche gestellt und gelöst wurden. Es hatte der erfinderische Geist eines Zahlentheoretikers, wie die heutige Mathematik diese Richtung nennt, sich zu erkennen gegeben. Und manches war auch fruchtbar. Der Zusammengehörigkeit einer arithmetischen und einer geometrischen Progression legte St. einen höheren Grad von Nützlichkeit bei, als es seine Vorgänger gethan hatten, und er machte damit einen weiteren Schritt auf dem Wege zur Erfindung der Logarithmen. Die Binomialcoefficienten aber und ihre Bildungsweise aus einander entdeckt zu haben, ist vollends Stifel’s unbestreitbares Verdienst. Wir haben früher gesagt, daß St. an dem Studium von Rudolff’s Coß sich zum Mathematiker ausbildete, aber das war nicht das einzige Werk, mit welchem er sich vertraut machte; auch Schriften von Riese, von Campanus, dem Uebersetzer der euklidischen Elemente, ja ein Werk des Italieners Cardano, welches gleichzeitig mit der „Arithmetica integra“ bei Petreius in Nürnberg gedruckt wurde, hat St. in der „Arithmetica integra“ benutzt und genannt.

Ein Jahr später, also 1545, erschien wieder bei Petreius eine „Deutsche Arithmetica, inhaltend die Haußrechnung, die deutsche Coß, die Kirchrechnung. Alles durch Herr Michael Stifel auff ein besondere newe und leichte weis gestellet.“ Sie ist nicht „sollichen geübten leuthen“ geschrieben, sondern für die große Menge, welche nicht einmal der lateinischen Sprache kundig ist, und darum ist auch die deutsche Coß in ihr enthalten, worunter St. versteht, er wolle sich ausschließlich deutscher Ausdrücke bedienen, nicht fremdländischer, von welchen Rudolff’s Coß wimmle, und durch dieses Bestreben tritt St. auch in die Reihe der Verbesserer unserer Muttersprache. Es ist vielleicht bemerkenswerth, daß er, der sonst so leicht über das Ziel Hinausschweifende, hier die richtigen Schranken beachtet und die Wörter addiren, subtrahiren, multipliciren, dividiren beibehält, welche schon nicht mehr fremdländisch seien. Ueber den mathematischen Inhalt der „Deutschen Arithmetica“ berichten wir nur, daß hier auf das Linienrechnen das Hauptgewicht gelegt ist, und daß St. sogar bis zur Ausziehung von Kubikwurzeln mittelst Rechenpfennigen sich versteigt, was weder vor noch nachher jemals versucht worden ist. Die allgemeine Regel zur Ansetzung und Auflösung von Gleichungen hat aus der „Arithmetica integra“ hier Eingang gefunden, ebenso die Tafel der Binomialcoefficienten, wodurch die Behauptung sich belegen lassen dürfte, daß St. diesen beiden Neuerungen eine große Bedeutung zuschrieb. Die letzte Abtheilung enthält einen von St. verfaßten deutschen Cisiojanus. Es war [214] von Wichtigkeit in einer Zeit, wo jährlich erscheinende Kalender noch zu den Seltenheiten gehörten, durch Gedächtnißverse die Anzahl der in jedem Monate enthaltenen Tage und die Hauptfeste sich merken zu können. Ursprünglich waren es lateinische Gedächtnißverse, und weil Circumcisio Domini auf den 1. Januar fiel, zog man beide Wörter zusammen in Cisiojanus, wie alsdann die Gesammtheit der Verse hieß. Solche hat nun St. in deutscher Sprache verfertigt.

Die nächste mathematische Veröffentlichung Stifel’s ist aus dem Jahre 1553, aber inzwischen hatte die wissenschaftliche Ruhe des Holzdorfer Aufenthaltes bereits wieder aufgehört, und wir müssen zur eigentlichen Lebensgeschichte zurückkehren. Der schmalkaldische Krieg war am 24. April 1547 durch den von Moritz von Sachsen auf der Lochauer Heide bei Mühlberg errungenen Sieg beendet, und dem Sieger war als Preis die Kurwürde zugefallen. Nach Stifel’s eigener Erzählung vertrieben damals die spanischen Schaaren ihn mit allen seinen Pfarrleuten, und er floh zunächst nach Frankfurt an der Oder, dann nach Preußen, wo er bei Herzog Albrecht freundliche Aufnahme fand. Die Angabe, daß nach einem Berichte über eine Holzdorfer Kirchenvisitation von 1551 St. damals noch dortiger Pfarrer gewesen und um Gehaltsaufbesserung eingekommen sei, muß daher auf einem Irrthum in der Jahreszahl beruhen. In jenen Nöthen des Jahres 1547 erwachte in St. die alte Neigung zur Wortrechnung. Die Coß Rudolff’s, mit welcher er sich, wie wir wissen, seit October 1533 anhaltend beschäftigt hatte, enthielt selbst eine Wortrechnung. Die Buchstaben A bis Z, mit Einschluß des W und alleinigem Ausschluß des U, waren, als der natürlichen Zahlenreihe von 1 bis 24 entsprechend, mit deren Werthen versehen, und nun waren Rechnungen, wenn auch nicht weissagender Natur, wie St. sie liebte, angestellt, was einen Anstoß, um nicht zu sagen den Anstoß, zu abermaligen Deutungsversuchen gegeben haben mag. Eines Tages, im Bade, kam ihm, auch hierfür besitzen wir Stifel’s eigene Erzählung, die Lust an, die Worte, welche er damals fortwährend im Munde führte „Vae tibi Papa, vae tibi“, nach ihrem Zahlenwerthe, jeder Buchstabe wie früher als Dreieckszahl aufgefaßt, zu untersuchen. Er ließ durch seinen herbeigerufenen Knaben die Einzelzahlen, welche er ihm angab, mit Rechenpfennigen anlegen. Als Summe entstand 1260, eine Zahl, die zweimal in der Offenb. Joh. (XI, 3 und XII, 6) genannt ist. Da sprang St. aus dem Bade, sah die Zahl an und fand, daß der Knabe richtig gelegt hatte. „Und, fährt St. in seiner Erzählung fort, als mir das gwissen kommen wolt, das ich widerumb vmbgangen wer mit einer verworffnen Rechnung, fieng ich an zu bedencken, wie es nicht der rechnung schuld were, sonder die schuld were mein, das ich sie vbel gebraucht vnd vnrecht appliciret het. Vnd fieng also die rechnung widerumb an zutreiben.“ Dabei blieb es auch, die Wortrechnung begleitete St. überall hin, und er beharrte bei ihr bis zu seinem Lebensende. Schreibt doch Osiander in einem Briefe vom 19. Februar 1549, St., der in Memel Anstellung gefunden, treibe es mit seinen Ausrechnungen toller als je, so daß man sich erbrechen möchte (rediit ad vomitum cum sua supputatione … et delirat multo ineptius quam antea). Von Memel kam St. 1550 nach Eichholz, von da kurz darauf nach Haffstrom (Haberstro) bei Königsberg, und von letzterem Aufenthalte aus überwachte er 1553 den in Königsberg sich vollziehenden Druck des dritten Werkes, um dessen willen die Geschichte der Mathematik sich ihm dankbar zu erweisen hat.

Die Coß des Christoff Rudolff, im J. 1525 erstmalig gedruckt, war etwa 25 Jahre später schon zu einer buchhändlerischen Seltenheit geworden, so daß man sie um den drei- und vierfachen Preis nicht zu kaufen bekam. Da entschloß sich St., eine neue Ausgabe dieser Coß mit reichen Zusätzen zu veranstalten und zugleich auch seine Wortrechnung, von welcher wir zum Ueberflusse oft gesprochen [215] haben, beizufügen. Ja in einer Vorrede bittet er darum, gerade den Druck des Anhangs zu beschleunigen, so lange er noch in der Nähe weile. Seine alten Pfarrkinder in Sachsen begehrten seiner, und es sei leicht möglich, daß er überraschend schnell sich zu ihnen zurückbegebe. Die Zusätze zur Coß enthalten neben vielerlei anderen Dingen auch wieder die allgemeine Gleichungsregel und die Binomialcoefficienten. In der Wortrechnung sind ganze Seiten voll Sätze, deren Buchstabensummen den räthselhaften biblischen Zahlen gleich kommen. Der Sinn der Sätze ist stets ein gegen das Papstthum gerichteter. So ist 666 die Summe von „Sed ecce Leo Papa“, von „Ecce bestia magna“, von „Leo et draco“; 1260 ist „En ex Ecclesia dei Papa fiet“ oder „Sed fidem odit Papa, fidem hanc“ u. s. w.

Wenn und auf welche Veranlassung hin St. die Stellung in Haffstrom wieder niederlegte ist nicht bekannt. Vielleicht folgte er wirklich einer an ihn ergangenen Berufung, wenn auch nicht zu seiner alten sächsischen Gemeinde. Vielleicht vertrieben ihn theologische Streitigkeiten, an welchen es damals nirgend in Deutschland fehlte. Die reformatorischen Gedanken, welche allerwärts sich Bahn zu brechen suchten, waren nur durch ihren Gegensatz gegen die lange Zeit alleinherrschende Lehre, aber nicht in ihren neuen Glaubensbehauptungen in Uebereinstimmung. Neben den großen Schlagworten, in denen Luther und Zwingli sich trennten, gab es kleinere, welche aber nicht minder haßerfüllte Spaltungen veranlaßten. So die Spaltung zwischen Osiander und seinen Freunden auf der einen, der Wittenberger Schule auf der andern Seite, welche von der Reformationsgeschichte unter dem Namen der osiandrischen Streitigkeiten erzählt wird, und welche noch über Osiander’s am 17. October 1552 in Königsberg erfolgten Tod sich hinauszog. An der Spitze von Osiander’s Gegnern stand bald Mörlin, ein geborner Wittenberger, der anfangs zu vermitteln gesucht hatte. Aus der Ferne schrieb Flacius gegen den Osiandrismus, wiewohl er selbst wegen anderer Fragen mit den Wittenbergern in Fehde lag. Auch von St. wird berichtet, daß er auf Mörlin’s Seite trat, und bei dem großen Einflusse, den Osiander am Hofe des Herzogs Albrecht besessen hatte, ist es nicht unmöglich, daß jene Parteinahme St. seine Stelle kostete. Jedenfalls war St. im Januar 1557 Pfarrer in Brück bei Treuenbrietzen und noch immer in nahen Beziehungen zu Mörlin, welcher ihn beauftragte, den Frieden zwischen Flacius und Melanchthon zu vermitteln.

Noch ein Aufenthaltswechsel Stifel’s ist bekannt. In der Matrikel der Universität Jena für 1559 ist eingetragen „Michael Stieffel, Senex, Artium Magister, et Minister verbi divini“. Dort also hat St. die acht letzten Lebensjahre zugebracht. Zur Universität hat er vermuthlich nicht in amtlicher Verbindung gestanden ohne mit Sicherheit in Abrede stellen zu können, daß er ab und zu mathematischen Unterricht ertheilte, wie er es ganz gewiß von Holzdorf aus in Wittenberg gethan hat. Seit 1557 war Flacius, von welchem oben die Rede war, Professor der Theologie in Jena. Dieser, mit drei anderen Collegen, fühlte sich gewissermaßen zum Ketzerrichter unter den Glaubensgenossen berufen. Auch St. entging ihren Anfeindungen nicht und wurde von der Kanzel herunter geschmäht, als „Antinomer, Gesetzschänder, wie sie es verdeutschen, deß mich Gott der Herr unschuldig weiß“, wie der alte Mann in einer Klagschrift an Herzog Johann Friedrich sich beschwert. Diese letzten Händel veranlaßten noch zwei ausgedehnte Streitschriften Stifel’s, in lateinischer Sprache die eine, die andere in deutscher Sprache. Der Druck derselben unterblieb aber, vielleicht mit Rücksicht auf die Verjagung des Flacius aus Jena 1562. Auch eine deutsch geschriebene Auslegung der Apokalypse hat St. nicht mehr durch den Druck veröffentlicht. Er vermachte sie bei seinem 1567 erfolgten Tode seinem Freunde, [216] dem Professor der Theologie Selnecker in Jena, welcher dann seinerseits die Handschrift der Thomasbibliothek in Leipzig schenkte.

Vgl. außer Stifel’s mathematischen Schriften, welche jedenfalls als die sichersten Quellen zu betrachten sind und hier hauptsächlich benutzt wurden, noch: G. Th. Strobel, Neue Beiträge zur Litteratur, besonders des sechzehnten Jahrhunderts. Ersten Bandes erstes Stück. S. 5–89. Nürnberg und Altdorf 1790 und den Artikel „Stiefel“ von G. Kawerau in der Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. 2. Auflage. XIV, 702–706. Leipzig 1884.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: jeweil