ADB:Jordanus Nemorarius

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Artikel „Jordanus Nemorarius“ von Moritz Cantor, Franz Stanonik in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 14 (1881), S. 501–504, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Jordanus_Nemorarius&oldid=- (Version vom 25. April 2024, 11:27 Uhr UTC)
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Jordanus Nemorarius, ein Mathematiker, dessen Lebenszeit ebenso räthselhaft wie dessen Heimath war, bevor es dem Prinzen Bald. Boncompagni gelang, eine wichtige Stelle aufzufinden, welche es mindestens möglich erscheinen läßt, daß er mit dem Nachfolger des H. Dominicus im Generalate des Predigerordens identificirt werden muß, der insgemein Jordanus Teutonicus genannt zu werden pflegt. Die entscheidende Stelle findet sich in der dem XIV. J. entstammenden Chronik eines englischen Schriftstellers mit Namen Nicolaus Trivet und bezeugt, daß J., von Nation ein Deutscher, aus der Diöcese Mainz, der 1222 zum Generale des Predigerordens erwählt wurde, in Paris eines großen Namens in den weltlichen Wissenschaften, insbesondere in der Mathematik, genoß und zwei äußerst nützliche Bücher schrieb, das eine „De Ponderi“ (sic!), das andere „De lineis datis“. Ebensolche Schriften hat aber auch J. N. verfaßt. Dazu kommt, daß sowol das Alter der Handschriften der von J. N. [502] herrührenden Werke als deren Inhalt dahin weisen, daß er um 1200 gelebt habe. Allerdings ist in den Acta Sanctorum, welche unter dem 13. Februar von Jordanus dem Deutschen handeln, weder dessen mathematische Tüchtigkeit gerühmt noch der Name Nemorarius erwähnt. Ersteres könnte sich jedoch aus dem Zwecke jener Werke erklären, und in letzterer Beziehung ist wenigstens ein Widerspruch des Beinamens gegen die angegebene Heimath nicht vorhanden. Die Scriptores ord. praedicat. von Quétif und Echard führen dagegen I. 98 die Bücher „De Pondere“ und „De Lineis“ mit auf. J. N., der Dominicanergeneral, soll nach den Act. sanct. in Borrentrick (gegenwärtig Borgentreich) bei Warburg im Paderbornschen geboren sein, einstmals zur Mainzer Diöcese gehörig. Dort aber zieht das Waldgebirge des Eggegebirges, welches bis zum Teutoburger Walde sich fortsetzt, und wol den Namen des Waldgeborenen veranlassen konnte. Werden diese Gründe für stichhaltig erklärt, wozu wir persönlich sehr hinneigen, so wäre J. N. 1220 dem im December 1216 gegründeten Orden in Paris beigetreten, wäre bereits 1232 zum Generale desselben erwählt worden und am 13. Februar 1237 (d. h. nach damaliger Rechnung, die das neue Jahr erst mit dem 25. März oder mit Ostern begann, 1236) auf der Rückreise aus dem hl. Lande ertrunken. Seine Stellung brachte ihn, wie es heißt, in persönliche Beziehung zu Kaiser Friedrich II., eine nicht unwichtige Thatsache mit Rücksicht auf die Verwandtschaft der mathematischen Schriften des J. N., zu denen des Leonardo von Pisa, der gleichfalls an jenem Kaiserhofe verkehrte. J. N. war ein sehr fruchtbarer Schriftsteller, und immer vorausgesetzt, daß die mehrerwähnte Identification gestattet wäre, möchten wir annehmen, seine Thätigkeit in dieser Richtung habe schon vor 1222 angefangen und zur Wahl des verhältnißmäßig jungen, aber berühmten Ordensgenossen mit beigetragen. J. N. hat eine Arithmetik, eine Algebra unter dem Titel „De numeris datis“, eine Statik unter dem Titel „De ponderibus“, eine geometrische Abhandlung „De triangulis“, einen Algorithmus, eine Perspective geschrieben. Vielleicht ist er auch der Verfasser des berühmten Algorithmus demonstratus, welcher bis in das XVI. J. hinein verdienter Werthschätzung sich erfreute. Mindestens gibt es Sammelhandschriften aus dem XIV. J., in welchen der Algorithmus demonstratus mit Abhandlungen des J. N. vereinigt vorkommt. Außerdem ist für diese, wie für jene kennzeichnend ein Vorkommen von Buchstaben in einer Art und Weise, daß man nicht umhin kann, wenigstens Spuren einer wirklichen Buchstabenrechnung darin zu erkennen. Unter den Quellen, von welchen J. N. Gebrauch gemacht hat, waren unbedingt auch arabische, ob aber im Urtexte oder bereits in Bearbeitung dürfte schwer zu entscheiden sein. Um so gewisser ist der Einfluß, den die „Numeri dati“ des J. N. auf die Entwicklung der Algebra, der sogenannten Coß, in Deutschland im XVI. J. ausgeübt haben, und der genügen würde, den Verfasser zu einer der bedeutendsten Erscheinungen der früheren Geschichte der Mathematik in Deutschland zu machen, auch für den Fall, daß er selbst unserem Vaterlande nicht angehören sollte.

Acta Sanctorum, 13. Februar. – Chasles, Aperçu historique sur l’origine et le développement des méthodes en géométrie, p. 516–517 (deutsche Uebersetzung von Sohncke, S. 603–605). – P. Treutlein, Der Tractat des Jordanus Nemorarius „De numeris datis“ in dem Supplementhefte der Histor. litterar. Abtheilung des XXIV. Bandes der Zeitschr. Math. Phys. S. 125–166.

Nicht minder aber hat Jordan der „Sachse“ (Saxo) oder der „Deutsche“ (Teutonicus), der nach der Angabe der Bollandisten dem Geschlecht der Grafen von Eberstein, nach anderen Ueberlieferungen der Familie v. Dach angehörte, [503] als Ordensgeneral und theologischer Schriftsteller einen ehrenvollen Namen hinterlassen. Unter seiner Leitung breitete sich der Orden bis nach Dänemark, Polen, Griechenland und Palästina aus, so daß zu den früheren acht Provinzen weitere vier hinzukamen und die Zahl der Klöster, welche beim Tode des hl. Dominicus ungefähr 60 betrug, sich nahezu verdoppelte. Hierzu trug die persönliche Würde Jordanus Nemorarius’, der Ruf der Wissenschaft, Heiligkeit und Wunderkraft, der ihm voranging, und seine glühende Beredtsamkeit nicht wenig bei. Er war der Rede in so vollendetem Grade Meister, daß man vor ihm, wie vor einem Verführer warnte, der die Gemüther wider ihren Willen mit sich fortreiße. Von Jahr zu Jahr hielt er abwechselnd zu Bologna und zu Paris die Fastenpredigten und machte diese beiden Universitäten gewissermaßen zu Seminarien seines Ordens. Schon vor Beginn der Fastenzeit ließ er eine große Anzahl Ordenskleider anfertigen, im Vertrauen, daß ihm Gott Brüder zusenden werde und öfter traf es sich, daß sie für die sich zur Aufnahme Meldenden nicht ausreichten. Nicht selten verpfändete er sogar seine Bibel, um die Schulden armer Scholaren zu bezahlen und ihnen den Eintritt in den Orden zu ermöglichen. Er allein soll über 1000 Jünglinge „durch das Netz der Heilspredigten aus dem Meere der Welt gezogen“ und für seinen Orden gewonnen haben. Viele von diesen sind später durch Tugend und Wissenschaft ausgezeichnete Leuchten der Kirche geworden, wie Hugo von St. Caro, der spätere Cardinal, Humbert von Romanis, Raimund von Pennafort, Vincenz von Beauvais, Albert der Große u. A. Von großer Wichtigkeit für das Ansehen des Ordens und für seinen Einfluß auf die Jugend und im Reiche der Wissenschaften war auch die Erringung zweier Lehrkanzeln auf der Pariser Hochschule in den J. 1228 und 30, deren Besitz zwar von der Universität durch nahezu 40 Jahre in Wort und Schrift bekämpft, am Ende aber doch anerkannt wurde. – Von seinen theologischen Schriften sind nur folgende gedruckt worden: „De principio ordinis fratrum praedicatorum“, bei Echard et Quétif, Scriptores ord. praed. I. 2–24 und 93–99 und Acta sanctorum, 4. August (jedoch nicht schon zu Rom 1587, wie Oudin, Cave und Fabricius in Folge Verwechselung mit den Vitae fratrum Jordans von Quedlinburg angeben); „Epistola encyclica ad universum ordinem de actis in translatione corporis b. Dominici“, bei Bzovius, Annal. eccles. ad ann. 1233 n. 5; vier andere Briefe bei Martène, Thesaur. anecdot. I. 920 ff. und einige Bruchstücke in Mamachi Annal. ord. praed. (Romae 1756), 253; die unter seiner Leitung gefaßten Beschlüsse der Generalcapitel bei Martène, l. c. IV. 169 ff.; „Oratio ad B. M. Virg. et ad B. Dominicum“ im Dominicanerbrevier, Venedig 1492; „Corona B. Virg. ex hymno Ave maris stella et 5 psalmis constans“, Piacenza 1599 (deren durch die ältesten Biographien bezeugte Echtheit von Oudin mit Unrecht bezweifelt wird). Ungedruckt sind geblieben: „Super Priscianum minorem et quaedam grammaticalia delicata“; „Postilla super Apocalypsin“ (wird von Echard für echt gehalten; die Bollandisten dagegen vermuthen, die Chronisten hätten die gleichnamige Schrift Jordan’s von Quedlinburg unserem J. N. irrthümlich zugeschrieben); „Postilla super Lucam“; „Volumen sermonum“; „Litterae encyclicae ad Provincias e 15 capitulis generalibus datae“; „Litterae speciales ad quosdam conventus“.

Vgl. Nicol. Trivetti Chronic. ad ann. 1222 et 1237 (D’Acheri, Spicileg. VIII 572 f., 581 f.). Antonini Chron. tit. 23, c. 9 et 12 (ed. Lugd. 1586, III 664 ff., 684.) Trithem. Script. eccl. n. 436. Echard et Quétif, Script. O. Praed. I. 93 ss. Mamachi, l. c. p. XXVI, p. 503, 620 ss. 638. 643. Bzovii Annal. eccl. ad. ann. 1222 n. 15, 1236 n. 2. Cave, Script. eccl. (ed. 1745), II. 290. Oudin, III. 85. Fabricius, IV. 177 (ed. Patav. [504] 1755). Ersch und Gruber, Encykl. II. 23 Th., 24 f. Werner, Thomas von Aquin, I. 21. Sighart, Albert d. Gr., 19. Leider ist uns das Hauptwerk: Ant. Danzas, Etudes sur les temps primitifs de l’ordre de Saint-Dominique, le bx. Jourdain de Saxe, Paris 1874 f., 3 Voll., nicht zugänglich.