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Die Hüterin des Rheins

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Textdaten
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Autor: J. Venedey
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Titel: Die Hüterin des Rheins
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 712, 714–718
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[712]
Die Hüterin des Rheins.
Von J. Venedey.

Wir warteten in Müllheim auf den Zug von Basel nach Kehl. Es war Verspätung eingetreten; um so ungeduldiger nahmen wir die Nachricht auf, daß der angekommene Zug ein paar Schritte vor dem Bahnhofe stillstehen müsse, bis alle Wagen durchsucht seien. Ein preußischer Kürassierlieutenant mit zwei Ulanen trat an jede Wagenthür, sah sich die Reisenden alle scharf an und bat endlich Einen derselben auszusteigen. Dieser war ein stattlicher Mann, der rothes Haar hatte; an dem hatte man ihn erkannt. Eine telegraphische Depesche hatte den Stab der in Müllheim liegenden Bataillone benachrichtigt, daß mit dem nächsten Zuge ein [714] Adjutant des Commandanten von Belfort verkleidet, in Civil, ankommen werde, um das Land auszukundschaften, wo sich eine große Heeresmasse, um in den obern Elsaß überzuschreiten, sammelte. Jetzt war der arme Teufel gefangen. Sein Benehmen klagte ihn offenbar an. Blaß und immer blasser werdend, konnte er kaum die einfachen Fragen, die der als Polizei auftretende Lieutenant an ihn stellte, beantworten. Bald verzogen sich seine Lippen krankhaft. Es war kein Zweifel. Er besaß prachtvolle Papiere, eben in Bern ausgestellt, die ihn als Arzt bezeichneten, und als Reisezweck den Besuch der deutschen Lazarethe angaben. Der Lieutenant bat den „armen Sünder“, seine Sachen aus dem Wagen zu nehmen und ihm zu folgen, Alles mit dem feinsten Anstand. Erst dann durften alle anderen Reisenden aus- und wir einsteigen. Auf und davon flogen wir und es war mir schon im Geiste, als sähe ich den „armen Sünder“ baumeln.

„Schauerlich,“ dachte ich, „der Kerl, der ihn verrathen hat und jetzt ruhig in Basel sitzt, während dieser hier hängen muß, ist doch des Hängens eigentlich ebenso würdig oder noch mehr!“

Und dann flog ein Gedanke durch meinen Sinn: „Wolle Gott, daß er sich geirrt,“ nämlich der Küradsierlieutenant, der so fein, klug und gentlemanartig den armen Teufel heimführte, um ihn dem Galgen zu überliefern.

Der Krieg ist entsetzlich!

Das war der Prolog zu unserer Reise.

In dem Zuge war ein sehr gemischtes Publicum. Es bestand zum Theil aus gewöhnlichen Reisenden, wie sie zu allen Zeiten zusammenströmen, dann aber auch aus Reisenden, welche die große Zeit unserer Tage zusammengeführt hatte. Nicht wenige waren Officiere der sich im Markgräflerländchen zur Besetzung des Oberelsasses sammelnden Heeresabtheilung (vierte Reservedivision); zwei Wagen waren mit „heimgeschickten“ päpstlichen Zuaven besetzt, lauter deutsche Tröpfe, in Afrikaner verkleidet. Wenn sie nur ein klein wenig Menschenverstand mit nach Hause bringen, dann wird der geistliche Herr, der sie nach Rom geschickt hat, wenig Freude mehr an ihnen erleben. Der Gegensatz zwischen diesem maskirten Gesindel und der tapferen norddeutschen Landwehr an der wir vorbeifuhren war schlagend.

Ein anderer Theil der Mitreisenden waren Straßburger, durch die telegraphische Depesche, die ihnen gestern die Nachricht von der Uebergabe Straßburgs brachte, aus der Verbannung erlöst. Unsere Wagennachbarn waren zwei dieser Glücklichen, die, als sie merkten, daß wir ebenfalls mit wohlwollendem Herzen für die Elsasser und Straßburger in ihre Vaterstadt eilten, uns ihr Herz groß und weit öffneten.

Der Eine der Beiden war ein bejahrter Herr, der nach einer dornenreichen Laufbahn in praktischer Thätigkeit jetzt sich den theoretischen Studien wieder widmete; der Andere war ein junger Künstler, Beide liebevolle und geistvolle Menschen, die sehr bald sich nicht scheuten, ihren deutschen Herzen deutsch Luft zu machen. -

Ich hatte lange in Straßburg gelebt, ich war im Elsaß umhergereist, hatte das Volk nach allen Richtungen kennen gelernt und wußte, wie viel deutsches Wesen und auch Zuneigung zu Deutschland noch an Elsaß lebendig sind. So war ich nicht im Entferntesten überrascht, wohl aber freudig berührt, daß die ersten Straßburger die ich nach der Rückeroberung der Stadt durch die Deutschen sah, gute Deutsche waren. Der ältere Herr erzählte sehr viel von seinem Leben in Elsaß und Lothringen unter den „Franzosen“, klagte bitter über die französische Wirthschaft, über Napoleon und die „Pfaffen“, die gemeinsam das Volk haben verkommen lassen, über die schlechten Schulen, insbesondere über die entsetzliche Verwilderung des sonst so guten Volkes, die das Ergebniß von zwei Jahrhunderten der Mißregierung war. Er sah die Rückeroberung des Elsasses als eine wahre Erlösung des Volkes von einem überall gefühlten, aber nur selten erkannten Joche an.

„Wenn Sie heute abstimmen ließen,“ sagte der junge Künstler, „dann würde freilich die Mehrzahl im Elsaß sagen: ‚Wir wollen französisch bleiben.‘ Aber wenn der Elsaß erst wieder zehn Jahre deutsches Leben, deutsche Zucht, deutsche Sitte, deutsche Ordnung gehabt haben wird, dann können Sie ruhig abstimmen lassen, dann wird Alles mit seltener Ausnahme freudig ausrufen: ‚Wir sind und wollen Deutsche bleiben!‘“

Mein Begleiter, ein Officier, der bei Metz verwundet worden war und der dort überall Franzosenthum und Deutschenhaß im Volke beobachtet hatte, hörte ganz erstaunt zu. Mir sagte der brave Straßburger nichts Neues, meine Erlebnisse im Elsaß, meine Erlebnisse in Stadt und Dorf, meine Studien über den Elsaß hatten längst in mir die Ueberzeugung festgestellt, die jetzt unser Wagennachbar aussprach. Der Elsaß ist das verkommenste Stückchen Land, das unter Frankreichs Herrschaft steht. In der französischen Criminalstatistik ist unter neunzig Departements der Oberelsaß in der Regel das dritte, vierte, der Unterelsaß das siebente, achte. Ebenso auf der schwarz und weiß gezeichneten statistischen Karte über den Unterricht im Volke ist der Elsaß einer der dunkelsten Theile von ganz Frankreich. Nur ein paar der ärmsten, elendesten, verkommensten Departements machen hier dem Elsaß den Rang streitig. Die Elsasser sind ohne gebildete Sprache; sie verstehen, natürlich mit Ausnahmen, aber ziemlich seltenen, weder deutsch noch französisch; wenn sie auch ihre Bedürfnisse meist in beiden Sprachen geltend machen können. Aber ein höheres Wort, einen geistigen Gedanken – die wissen sie weder deutsch noch französisch richtig auszudrücken, noch verstehen sie dieselben von Deutschen oder Franzosen ausgedrückt. Wie gesagt, es giebt Ausnahmen, aber sie sind selten. – Wer aber keine gebildete Sprache spricht oder versteht, nimmt auch an der Cultur dieser Sprache und des Volkes, das sie spricht, nicht Theil. Daher die Verkommenheit, Rohheit, Verwilderung des im Kern so tüchtigen Elsasser Volkes, das übrigens leider kein Privilegium des Elsasses, sondern ein Gemeingut oder Gemeinunglück aller Volkstheile ist, die die Cultursprache ihres Volkes nicht verstehen. In Irland, ja selbst in manchem deutschen Volksstamme, theilweise auch in der Schweiz und Holland, hat dieselbe Ursache dieselben Folgen.

Der Elsaß wird erst die Möglichkeit des Besserwerdens, der Cultur wiedergewinnen, wenn er wieder deutsch sprechen lernt, wieder deutsche Schulen hat und dann an den Culturfortschritten der deutschen Nation wieder theilnehmen kann.

Darüber waren unsere Elsasser Wagennachbarn einverstanden, wie ziemlich sicher jeder deutsche Elsasser, der offenen Sinnes vorurtheilslos zu urtheilen im Stande ist und überhaupt über dergleichen nachdenkt. –

So waren wir, uns ausplaudernd, gute Freunde, ehe wir in Kehl ankamen. Hier wären die armen Straßburger fast noch einmal aus ihrer Vaterstadt ausgeschlossen worden, wenn der Officier, der uns begleitete, sie nicht in Schutz und so mit auf die fliegende Fähre, die sonst Civilpersonen nur mit besonderem Ausweis von Seiten der Militärbehörde betreten durften, genommen hätte. Dafür fühlten sich die heimkehrenden Verbannten doppelt verpflichtet und boten uns ein Bett bei ihnen an, wenn – ihr Haus noch stehe. Wir nahmen das Anerbieten gern an, denn wir wußten schon, daß ein Nachtlager kaum zu haben sein werde. Und das Haus stand noch; aber Alles war so durcheinander, daß wir Alle, auch die Wirthe, nur auf Matratzen, auf den Boden gelegt, schlafen konnten. Wir hatten aber deswegen nicht weniger, sondern nur um so mehr Gelegenheit, die liebenswürdige Gastfreundschaft der braven Straßburger – die uns erst, als wir Abschied nahmen, unsern Namen abfrugen – kennen zu lernen. Abends speisten wir noch Gefangenen- oder Belagertenkost - etwas Pferdefleisch und trockenes Brod mit prachtvollem Elsasser „Bordeauxwein“ –; am andern Morgen aber gab es, zum ersten Male seit vielen Wochen, wieder Milch und Butter zum Kaffee.

Die aufwartende Magd war eine – Französin und kündigte augenblicklich, als wir eintraten, den preußischen Officieren den Krieg an, um – eine halbe Stunde später eine zur Uebergabe bereite Festung zu sein, das heißt so freundlich und herzlich mit scherzte, als ob wir geborene Franzosen wären. Es wird wohl nicht viel schwerer mit den Anderen werden.

In dem Hause unseres Gastfreundes selbst, das zwar noch stand und glücklich weggekommen war, hatte eine Kugel, durch das Fenster kommend, die Zwischenmauer zweier Zimmer zerschlagen. Im Nachbarhause war das Dach zerrissen und eine Kugel von oben bis unten durch alle Stockwerke durchgeschlagen. Nicht weit von dem Hause unseres Gastfreundes hatte eine Granate einem Vorübergehenden den halben Schädel abgerissen, so daß die Spuren des verspritzten Gehirns noch an den Wänden zu sehen waren.

Wir kamen schon Abends am Dom vorbei und hatten mit hoher Beruhigung gesehen, daß er noch ganz und stolz aufrecht stehe. Am andern Morgen aber statteten wir ihm einen förmlichen Besuch ab und sahen dann leider, daß das herrliche Werk dennoch [715] an vielen Stellen stark gelitten hat. Das Dach des Chorschiffes ist gänzlich abgebrannt, die Wölbung des Schiffes aber nur an Einer Stelle von einer Bombe zerschlagen, die dann so unglücklich durchbrach, daß sie die schöne Orgel zerschmetterte; die großen riesenhaften Orgelpfeifen lagen zum Theil auf dem Boden, zum Theil hingen sie wie die hölzerne Umfassung in Fetzen herab. Die Uhr stand still; ein Fenster über derselben war zerschossen; das Eisenwerk und Drahtgeflechte, das das Fenster stützte, war in einen Knäuel verwickelt, und die Bombe, welche dort gehaust hatte und durchgezogen wär, könnte immerhin die Uhr beschädigt haben, dem äußeren Ansehen nach aber war sie unverletzt.

Ueberhaupt würde man dem Innern der Kirche die Belagerung kaum angesehen haben. Dagegen war der Schaden an der Außenkirche größer. Ueberall lagen Trümmerhaufen um die Kirche herum. Die Strebepfeiler des Schiffes waren vielfach zerschossen, hier und dort große Stücke ausgebrochen. Der Thurm steht so stolz wie je da, aber zerzaust, zerfetzt wie ein Soldat, der die wildeste Schlacht mitgemacht. Hier ist eine Ecke ausgebrochen, dort eine Statue zerschmettert; da steht eine Säule nur noch halb, die Hälfte liegt am Boden. Und so trägt der alte Riese Hunderte von Wunden zur Schau, dem Himmel Dank keine tödtliche. Die bezeichnendste aber ist die Entwurzelung des Kreuzes, die letzte Spitze des Thurmes. Es ist dasselbe in seiner Grundfeste zerschmettert und schwebt, auf die Seite geneigt, nur noch gehalten durch die vier eisernen Stangen, die es stützten, stets wie zum Falle bereit in der Luft.

Wer Lust hat, ziehe daraus Schlüsse, finde darin ein Omen; uns aber that es wohler, als wir, ehe wir von dem schönen Riesenwerke deutscher Kunst für heute Abschied nahmen, noch einmal das Ganze überblickten und dann ganz oben in der Ecke des Thurmes die weiße Fahne des Friedens, der Versöhnung bemerkten. Es war dieselbe, die den Belagerern das Ende ihres harten Tage- und Nachtwerkes verkündete. In der That, das ist die Fahne, das Banner des Doms, es sollte die aller Kirchen sein. Und es mag ja ein gutes Zeichen für die Zukunft sein, daß in den Tagen, wo der Papst in Rom seinen Untergang als Herrscher dadurch besiegelte, daß auch er glaubte, es müsse Blut fließen, es müsse die Militärehre seines Heeres gerettet werden, ehe er Rom den Römern und Italien zurückgab, daß gerade in diesen Tagen der zerschossene Münsterthurm zu Straßburg die Friedensfahne aufsteckte.

Möge das Symbol begriffen werden von Katholiken und Protestanten, von Christen und Philosophen, von Deutschen und Franzosen! Wolle Gott es!

Dann zogen wir durch die Straßen. Man hatte ja viel von den Bränden, der Zerstörung gelesen. Aber was wir sahen, überstieg weit unsere Befürchtungen. Von dem Breuil, der Steinstraße, dem Steinthor bis zum Nationalthor lagen Haus an Haus, vielleicht sechs- bis siebentausend und am Ende mehr Häuser am Boden. Die Zerstörung Jerusalems in den schauerlichsten Bildern nach den haarsträubendsten Schilderungen eines Josephus konnte nicht schauerlicher sein. Ueberall streckten nur noch Stücke der Umfassungsmauern der Häuser ihre zerrissenen Reste in die Höhe; hier und dort stieg ein Giebel ohne Haus, mit durchstoßenen Wänden vier, fünf Stockwerk in die Höhe, jeden Augenblick den Einsturz drohend. Hier lagen die eisernen Bettstellen zwischen den ausgebrannten Möbeln; dort streckten aus einer Vertiefung, einem ehemaligen großen Weinkeller, die mächtigen Reifen großer ausgebrannter Fässer ihre rußigen Arme über den Schutt hinaus. An einzelnen Stellen rauchten noch die Trümmer; weiter hin stieg in diesem Rauche der Geruch verbrannten Fleisches, Menschenfleisches, uns entgegen. An manchen Mauern waren die Namen der Besitzer noch zu lesen; andere Häuser, ganze Straßen waren so im Schutte verschwunden, daß man die Grenze des Eigenthums wohl schwerlich wiederfinden wird. An einem der Häuser zogen sich wie gespenstiges Spinngewebe die eisernen Gitterverzierungen vor den Fenstern am ganzen Giebel vorbei, während das Mauerwerk zum großen Theile hinter denselben verschwunden war. Bild an Bild – die grausigste Zerstörung!

Und zwischen diesen Ruinen hausten die „Ruinirten“. An einer Stelle, wo ein viele Fuß hoher Brandschutt aufgehäuft lag, sah man durch eine brandige Lücke in einen dunkeln Keller hinein. Eben kam ein alter Mann mit seinem Bette auf der Schulter herausgekrochen, hinter ihm her seine Tochter mit ihrem Kinde, seinem Enkel, an der Brust. Tiefes Elend und schwerer Kummer lag in den Zügen der Armen: der Vater des Kindes war durch eine Granate zerrissen worden, als er aus dem Keller heraustrat, um Brod für Frau und Kind zu holen. Als der alte Mann das Bett auf ein Wägelchen gelegt hatte, sagte er, wie zu sich selbst. „Und dort, das zerstörte Haus, war einst mein Vermögen.“

Entsetzlich viel Unglück müsden diese Ruinen bergen. Ein Straßburger Banquier versicherte uns, daß dreizehn Millionen Wechsel in der Filialbank der Staatsbank lägen, die er nicht um eine Million kaufen möchte. Die Schuldner dieser Wechsel waren einst alle wohlhabende Familienhäupter, jetzt sind sie Bettler.

Wir kamen über eine Brücke. Unten am Ufer waren Bretter gegen die Wand des Quais angelehnt. Dort wohnten die Unglücklichen. Drei Stangen in die Erde gesteckt, an denen ein eiserner Kessel hing, war ihr – Heerd. Und dieser Heerd – und ein Bett hinter jenen Brettern war Alles, was ihnen geblieben war von der Wohlhabenheit, die sie besaßen an dem Tage, als Napoleon der Dritte glaubte, seiner Dynastie durch den Krieg in deutschem Blute einen festern Boden sichern zu können. Es ist entsetzlich!

Man erzählte uns die Geschichte, oder besser, den Ausdruck der Verzweiflung eines wohlhabenden Mannes, dem mit seinem Hause, seinem Laden, seinem Waarenlager Alles, was er hatte, verbrannt war. „Weißt Du nun, was ich noch wünsche?“ sagte er einem Freunde. „Nun, was?“ – „Daß die ganze Welt bis zum letzten Splitter in Brand stände!“ Es ist das ein furchtbarer Ausbruch der Verzweiflung! Mich schauderte, als ich ihn hörte. Mir kam es so vor, als könnte ein Fluch gegen die ganze Welt in diesem Worte liegen. Und in meiner Seele antwortete eine Stimme auf diesen Fluch, wie zum Schutz gegen denselben mit dem Gebet, dem Seufzer: „O Herr, gieb Frieden!“ „Friede! Friede!“ rufen alle diese Trümmer, all’ das Elend, all’ dieser Kummer, all’ die rauchenden Ruinen und eiternden Wunden. Friede! Friede! Ihr stolzen Lenker der Erde – wenn Ihr den Weltbrand nicht zu verantworten haben wollt. Friede! Friede! um der Menschen und der Menschlichkeit willen!

Erst auf den Wällen aber sah man den ganzen Umfang des furchtbaren Wüstens der Kanonen. Von ihnen aus lag ein Fünftel der Stadt in Trümmern zu unsern Füßen. Die Wälle selbst boten das Bild der wilden Wuth der Sturmbrecher, aus weiter Ferne wirkend, dar. Riesige Kanonenlafetten lagen in Splittern herum; die Wälle selbst waren überall aufgewühlt. Ueberall Spuren der Zerstörung. – Endlich standen wir über der Hauptbresche selbst, rechts neben uns die zweite Bresche im „todten Winkel“ der Bastion – dem Winkel, den die Kanonen rechts und links nicht bestreichen können, der das Leben schützt, und den deswegen die todsuchende Kriegskunst den „todten Winkel“ nennt. – Hier bekam man die volle Achtung vor der schauerlichen Macht der Geschosse. Die Quadersteine waren zersplittert, die Mauer lag am Boden, der Wall sank nach; dreißig, vierzig Schritte breit mochte die Hauptbresche sein.

Gegenüber lagen die beiden eroberten Lünetten 52 und 53, von der einen derselben führte ein Weg bis zum Wassergraben vor der Bresche. Es würde noch ein hartes Stück Arbeit gekostet haben, wenn die Angreifenden über diesen offenen Weg fünfhundert Schritte lang zum Wassergraben vorgedrungen, diesen im Feuer des Feindes überbrückt, und dann die Bresche bis zur Höhe des Walles, zwanzig, dreißig Fuß hinauf, gestürmt hätten. Es schien nicht zweifelhaft, daß bei tapferer Vertheidigung der Sturm sehr schwer gewesen, jedenfalls sehr große Opfer noch gekostet haben würde.

Unser Begleiter, der Verwundete von Gravelotte, zweifelte nicht einen Augenblick, daß seine Kampfgenossen von Metz die Festung im Sturme durch die Bresche zu unseren Füßen genommen hätten; aber – er zweifelte ebenso wenig, daß sie, als Besatzung, den Sturm abgeschlagen haben würden. „Recht so!“ dachte ich. Es scheint aber fast, als ob auch nicht wenige von den Vertheidigern Straßburgs selbst letztere Ansicht getheilt, denn französische Officiere, die wir später sprachen, behaupteten alle, die Munituon habe nicht mehr gereicht und daher sei die Uebergabe unerläßlich gewesen.

In einem Anschlage an den Mauern belehrte der Maire von Straßburg uns heute, daß eine Festung nach Kriegsbrauch sich übergeben dürfe, wenn zwei Breschen geschossen, und daß, nachdem das der Fall gewesen, der Commandant der Festung in die Uebergabe gewilligt habe. Wir hörten später auch erzählen, daß [716] man in den letzten Tagen die zweite Bresche mit einer gewissen Sehnsucht erwartet habe. Jedenfalls war dieselbe kaum begonnen, als die Uebergabe stattfand.

Wir hatten den General Uhrich beim Halten auf der Station Dinglingen, wo er den nächsten Zug abwartete, gesehen. Er ist eher klein als groß, nicht größer als etwa Napoleon; er ist gesetzt, sieht eher wie ein Fünfziger, denn wie ein Sechsziger aus; hat in Gang, Miene, Bewegung etwas sehr Entschiedenes; – aber er sieht doch eher aus wie ein bürgerlicher Beamter, ein hoher, selbstbewußter Polizeidirector, denn wie ein Kriegsheld. Die Straßburger sind nicht gut auf ihn zu sprechen, wenigstens die nicht, die wir gesprochen. Viele Straßburger haben es nicht begriffen, daß Marseille eine Geldsammlung zu einem Ehrendegen für den General begonnen, ehe die Belagerung zu Ende, und – daß unterdeß in Frankreich kein Mensch daran gedacht, für die Straßburger selbst Etwas zu thun, Hülfe für sie zu schaffen, Ersatz für ihre Verluste vorzubereiten. Jedenfalls aber macht das letzte Wort, das der General selbst über die Belagerung sprach, keinen sonderlichen Eindruck. Eine ellenlange Ansprache an alle Welt, die neben der Ansprache des Maire heute an den Mauern der Stadt zu lesen war, endigte mit der Phrase: „Fermons les yeux, si nous le pouvons, sur le triste et douloureux présent, et tournons-les vers l’avenir; là vous trouverez ce soutien des malheureux, l’espoir!“ (Schließen wir die Augen, wenn wir es können, über die traurige und schmerzliche Gegenwart, und richten wir sie auf die Zukunft; dort werdet ihr jene Stütze der Unglücklichen, die Hoffnung, finden!) Ist das nicht fast – deutsch gedacht, deutsch, wie wir vor Zeiten dachten und schmachteten, hofften und harrten?

Alle Kanonen auf den Wällen, viele, viele Hunderte, waren vernagelt. Viele französische Soldaten selbst hatten ihre Waffen bei der Uebergabe im Angesicht der deutschen Soldaten, die zum Empfange derselben aufgestellt waren, auf dem Boden zerschlagen. Die deutschen Soldaten hielten das nicht für schön und nicht für soldatisch; aber sie hatten mit der Ruhe und Würde, die dem Sieger gebührt, dies Gebahren, als ob sie es nicht sähen, geschehen lassen. –

Unsere Gastfreunde hatten uns zu einem Imbiß eingeladen. Ich kam vor den Anderen an und saß eine Weile allein in dem Speisesaal. Auf einem Tische lagen mehrere schöne Bilderbücher. Dasjenige, welches ich zufällig aufgriff, war ein „Album für Deutschlands Frauen. Leipzig, Amelang 1858“. Ich öffnete dasselbe. Das einführende Gedichtchen des ersten Blattes hieß:

„Willst Du lesen ein Gedicht,
Sammle Dich wie zum Gebete,
Daß vor Deine Seele licht
Das Gebild des Dichters trete;
Daß durch seine Form hinan
Du den Blick Dir aufwärts bahnest,
Und, wie’s Dichteraugen sah’n,
Selbst der Schönheit Urbild ahnest.“

Ist das nicht ein recht schönes Gedichtchen? Versuch’ einmal die zwei letzten Verschen zu übersetzen! Und doch hat ein ‚Franzose‘ dieselben gedichtet! Und der ‚Franzose‘ heißt Adolph Stoeber und ist ein Elsasser, ein Straßburger. Ist es nun nicht wunderbar, daß so ein ‚Franzose‘ der Einführer der deutschen Dichterwelt in den Kreis der deutschen Frauen sein muß? Liegt in diesem Buch, das mir so zufällig in dieser Stunde in die Hand fiel, nicht ein wenig von dem, „was kein Verstand der Verständigen sieht“?

Die Elsasser haben bis zu diesem Tage eine ganze Schule deutscher Dichter, die eben in deutscher Sprache dichten. Ich glaube nicht, daß ein Elsasser je in französischer Sprache gedichtet hat. Und das von Rechtswegen; denn das Herz im Elsaß, in dem die Dichtung keimt, ist deutsch geblieben. Dagegen giebt es einzelne gute elsasser Prosaisten in französischer Sprache. Der Verstand, der Kopf konnte im Elsaß französisch lernen. Und darin liegt eigentlich des Pudels Kern, – das inwohnende Deutschthum und das angewohnte Franzosenthum der Elsasser!

Wird der Elsasser wieder deutsch, so wird er das angewohnte Französeln sich bald wieder abgewöhnt haben.

Meine Gastfreunde, die eben eintraten, als mir dieser Gedanke durch den Kopf ging, waren einverstanden. Sie setzten nur hinzu, daß ein großer Theil der wirklich gebildeten Elsasser sich nicht viel „abzugewöhnen“ brauchen würden, um wieder gute Deutsche zu sein.

Nach dem Imbiß, dessen letztes Glas auf Deutschlands Wohl geleert wurde, ging ich hinab in die Straßen und überließ mich dem Eindrucke des äußeren Straßenlebens.

Vom Guttenbergplatze bis zum Kleberplatze ist die Hauptader des Straßenlebens. Guttenberg? Ist denn der etwa auch ein Franzose? Wozu die Frage? –

Das Leben in den Straßen war so, als ob ein Fest, eine Kirchweih oder dergleichen stattfinde. Daß wir in einer eben bombardirten und übergebenen Stadt, halb in Trümmern liegend, umherzögen, das hätte sicher Niemand geahnt, der etwa aus einem Luftballon, vom Himmel fallend, in diese Straßen hineingeraten wäre. Frohe Gesichter, freudiges Geplauder, rasches, leichtes, sorgenloses Hin- und Herlaufen.

Ein ganz eigenthümlicher Gegensatz aber trat hervor, wenn zufällig ein Trupp deutscher Soldaten, Landwehrleute Norddeutschlands, vorbeizog und eben ein paar französische Soldaten ihnen begegneten. Der Gegensatz war in die Augen fallend. Dort Ruhe, Stärke, Einfachheit – hier leichtes Auftreten, nervenzuckendes Hin und Her, patziges Umsichblicken. Man brauchte nur das Auge von dem Einen auf den Andern zu werfen, um sicher zu sein, wer von Beiden im ernsten Zusammenstoße auf Leben und Tod siegen werde. Der Eindruck wiederholte sich, so oft das Begegnen der Gegensätze uns auffiel. Auf einmal stutzte die Menge; Alles schaute auf eine Scene in der Straße hin. Ein halbes Dutzend Landwehrleute, eine Patrouille, führte einen Mann in grauem Wams, am Halse und am Arme ihn festhaltend, durch die Menge. Wir frugen: „Was ist vorgefallen?“ Die Soldaten zeigten zwei Revolver vor, die man dem „armen Sünder“ – auch er sah so aus – abgenommen hatte, nachdem er auf preußische Soldaten geschossen. Was aus ihm geworden, weiß ich nicht; aber Tags vorher hatte man in einem ähnlichen Falle vor der Thorwache den gefangenen Verbrecher augenblicklich zum Jenseits hinübergeschickt. Nach fünf Minuten war das Straßenleben wieder ganz dasselbe laute, gesprächige, geschäftige; Keiner fragte mehr, Keiner dachte mehr an den armen Sünder, der eben vielleicht seinen letzten Gang machte.

Auf einmal hörte man die Regimentsmusik am Ende der Straße wiederhallen. Ein Bataillon badischer Linie zog mit der „Wacht am Rhein“ durch die Hauptstraße. Die Fenster öffneten sich, die Mägde kamen in die Straße, die Frauen blieben stehen, die Männer sahen dem „Schauspiel“ zu. In der That, in Karlsruhe, Mannheim, Kassel, Berlin würde eine Regimentsmusik vollkommen denselben Erfolg haben, wie heute in Straßburg.

Und eben als das Regiment vorüber war, kam aus einer Nebengasse ein Zug gefangener Zuaven, alles echte Zigeuner- und Spitzbubenerscheinungen; preußische Landwehr begleitete sie und kein Mensch kümmerte sich um sie, kaum daß Jemand sie ansah. Doch ja, dort oben auf der Altane des Kaffeehauses standen mehrere junge französische Officiere; einzelne zogen sich zurück, als der Gefangenenzug vorbeiging, ein paar blieben stehen, sahen trüben Blickes auf die Gefangenen hin – das war Alles.

Es war kein Ernst in dem ganzen Kampfe, dem ganzen Getriebe, dem Frankreich zum Opfer fiel, für das Frankreich heute so schwer büßen muß.

Mit diesem Gedanken bog ich um die Ecke der Straße, die zum Münster führt, von dem ich noch einmal Abschied nehmen wollte. Da war ein prunkender Laden für Modespielereien der großen Welt. Eine Reihe von Photographien fesselte meine Aufmerksamkeit. Es waren immer ein Herr neben einer Dame, die Helden und Heldinnen des Tages, der Zeit, Seite an Seite, eine Photographie neben der andern, Peletan und neben ihm Lionie, Thiers und Gabriele, Rochefort mit Patti Marie (die dich durch einen Nasenzwicker so keck ansieht, wie es einer Dame neben Rochefort zukommt), Fionville und Helene, Jules Ferry und Mademoiselle Bloch. Und so weiter noch ein halb Dutzend Helden des Tages, Seite an Seite neben den Heldinnen der Demi-monde.

Das war der Geschmack des Tages, der Zeit. Wenn nach Jahrhunderten ein philosophischer Cuvier diese Pärchen, Eines neben dem Andern, in irgend einer untergegangenen Villa oder Boutique des Jahres 1870 findet, dann wird das ihm genügen, die Zeit [717] zu charakterisiren, zu classificiren, und ihr Name wird heißen: „Fäulniß und Untergang“. -

Wie wir auf dem Hinwege mit deutschen Straßburgern und Elsassern zusammentrafen, so fanden wir auf dem Rückwege Gelegenheit auch ein paar französische Elsasser kennen zu lernen.

Ein junger Mann, der Officier in der Mobilgarde gewesen war, sprach, obgleich Gefangener, in unserer Gegenwart sein Franzosenthum sehr entschieden aus. „Wenn Elsaß und Straßburg deutsch werden. so komme ich nie wieder nach Straßburg.“ Eine deutsche Dame, mit der er sich in gebrochenem Deutsch unterhielt, glaubte ihn bekehren zu müssen, indem sie ihm sagte, Straßburg und Elsaß seien ja deutsch gewesen.

„Nie!“ erwiderte der junge Mann ganz bestimmt. „Straßburg war eine freie Stadt, hatte weder Kaiser noch König! Also – ist es französisch!“

Als die Dame erwiderte: „Es gehörte aber ja doch zum deutschen Reiche!“ sah sie der Franzose schlau an und sagte freundlich lächelnd:

„Sie irren, Madame, Straßburg war niemals deutsch!“

Und damit basta!

Später stieg ein älterer Herr in unser Coupé. Wir kamen in’s Gespräch. Er war ein hochstehender Geschäftsmann von Straßburg, der durch die Belagerung unendlich gelitten hatte. Er bekundete sich als ein französischer Elsasser, das heißt als ein solcher, der ein Franzose zu sein glaubte.

Ich sagte ihm: „Die Elsasser sind Deutsche und bleiben deutsch. Es ist Keiner Franzose, weil er Franzose sein will, wie kein Adler ein Falke, kein Rabe eine Krähe wird, weil sie es vielleicht möchten.“

„Aber wozu ist es dann nöthig, daß der Elsaß wieder deutsch werden muß? Würde Deutschland nicht die Freundschaft von Frankreich sicherer gewinnen, wenn es Elsaß bei Frankreich ließe? Würde es nicht viel humaner sein, wenn Deutschland sich auf den hohen Standpunkt stellte, gar keine Eroberung machen zu wollen?“

Gerne erkannte ich diesen „höhern“ Standpunkt an. Aber die Natur der Dinge ist nicht diesem Standpunkte angemessen. Wie kein Adler zum Geier wird, so wird kein Volk seine Geschichte, sein Wesen, seine Geistes- und Seelenrichtung verleugnen können. Dem deutschen Volke ist die deutsche Geschichte lebendig in’s Blut übergegangen. Es weiß, daß Frankreich den Elsaß und Straßburg auf die ungerechtfertigtste Weise Deutschland entrissen; daß es seit Jahrhunderten Deutschland mißhandelt; daß Deutschland durch Ränke veranlaßt wurde, dazu stets theilweise hülfreiche Hand zu leisten; daß bis 1813 der Rheinbund die erste Armee Frankreichs gegen Deutschland war, daß bis zum Jahre 1870 der Elsaß den Franzosen die Elite ihres Heeres gegen Deutschland liefern mußte. Das Alles war nie vergessen in Deutschland, das Alles wurmte in allen Herzen aller denkenden Deutschen.

Endlich kam Napoleon der Dritte mit Zustimmung, mit Hülfe von ganz Frankreich und wieder auch mit Elsasser Elitencorps und begann ohne alle Veranlassung den Krieg um den Rhein! – Da wurden alle die schlummernden Gefühle wach; jede Schlacht, jedes Blutfeld, bedeckt mit Deutschen, rief den Gedanken lebendiger in der Seele des deutschen Volkes: „Jetzt ist es aus! Jetzt muß Frankreich den Elsaß herausgeben!“

Es ist philosophisch vielleicht ein berechtigter, ein berechtigterer Standpunkt, wenn der Philosoph sagt: „Gewinnen wir Frankreich durch Großmuth!“ Aber das Volk, die Geschichte Deutschlands, die Geschichte der Franzosen in Deutschland, auf allen Bergen, in allen Thälern Deutschlands in Ruinen eingeschrieben, die Geschichte des Krieges von 1870, wie er herbeigeführt, wie er Deutschland aufgezwungen wurde; wie ganz Frankreich von Girardin und Thiers bis zu Victor Hugo hinauf dabei an den Gewinn der Rheinprovinzen dachte; wie Deutschland diesen Kampf mit dem Herzblut seiner besten Söhne zurückweisen mußte – das Alles zusammen hat eine Seelenströmung im ganzen deutschen Volke geschaffen, naturgemäß heraufwachsen lassen, die heute entweder den Elsaß gewinnt oder das deutsche Volk bis zum Untergange kämpfen läßt, ehe es diesen Kampfpreis, den es im Namen seiner Geschichte, seiner Väter, seiner Enkel fordert, aufgeben wird. Es ist keine philosophische Schlußfolge, keine philisterhafte Berechnung, keine Großmachtlust, keine militärische Angst und Vorsicht vor der Zukunft – es ist einfach ein naturgewachsener Entschluß des deutschen Volkes, mit Frankreich abzurechnen und den Elsaß[WS 1], der deutsch ist, als deutsches Volk und Land zurückzufordern.

„Ja,“ erwiderte der geistvolle elsasser Deutsche, der Franzose zu sein glaubte. „Ja, wenn wir nun nicht Deutsche sein wollen?“

„Adler sind keine Geier, ob sie auch wollten! Doch ernster; Ihr werdet es sein wollen, in Bälde! In zweihundert Jahren seid Ihr keine Franzosen geworden; in zehn Jahren werdet Ihr keine mehr sein wollen.“

„So viel ist sicher, daß, wenn Sie uns fragen, wenn Sie alle Elsässer fragen, wir in großer Mehrzahl sagen: wir wollen Franzosen sein!“ erwiderte mein Wagennachbar.

„Daran zweifle auch ich nicht!“

„Und deswegen wollt Ihr keine Abstimmung!“ fiel mein Gegner ein.

„Zum Theil, ja! – Aber es giebt noch andere Gründe, Kinder und Unmündige läßt man nur selten ihr Geschick selbst entscheiden. Ihr Elsässer. aber seid Unmündige!“

Der Mann lachte und zog die Schulter.

„Ich bin sicher, Sie geben das am Ende selbst zu. Jedenfalls werden Sie ja zugeben, daß, wer keine Sprache sprechen kann, nicht mündig ist. Ihr Volk in Masse, und bis zu einem gewissen Grade selbst die Feinstgebildeten im Elsaß, sprechen weder deutsch noch französisch!“

„O! nicht französisch!“ lachte mein Sitznachbar.

„Nun ja, wenn Herr Humann, der Finanzminister Louis Philipp’s, sagte: ‚Tous mes brochets sont des truites!‘ (alle meine Hechte sind Forellen), wo er sagen wollte: ‚Alle meine Projecte sind zerstört!‘ (tous mes projets sont détruits), so werden Sie doch nicht behaupten wollen, daß er französisch sprechen konnte!“

Mein Wagennachbar lächelte noch einmal halb mitleidig.

„Und Sie selbst, lieber Herr Nachbar, Sie sprechen sehr gut deutsch, aber können nicht französisch sprechen. Sie haben mir eben noch gesagt, daß die ganze Straße de bière abgebrannt sei!“

„Das ist auch so!“ erwiderte er.

„Sie irren; nicht die Rue de bière, sondern die Rue de pierre, nicht die Bierstraße, sondern die Steinstraße ist abgebrannt.“

Er lachte nicht mehr.

„Und unmündig sind doch wahrlich sehr viele Elsasser, wenigstens alle elsasser Bauern mit seltener Ausnahme, denn – Verzeihung – ich hasse Niemanden, und die Juden sind bei mir in vieler Beziehung hoch angeschrieben.“

Der Mann sah mich groß an, er war ein Israelit. Ich fuhr fort:

„Sie werden es ja selbst wissen, daß im Elsaß jeder Bauer thatsächlich einen Vormund hat, und daß dieser Vormund sein Hofjude ist, der ihm selbst den Act aufsetzen muß, den der Bauer seinem Maire bringt, wenn er seine Tochter verheirathen oder sein jüngstes Kind taufen lassen will.“

Der französisch sein wollende Straßburger sagte nichts mehr.

„Lassen Sie Ihre Bauern,“ schloß ich, „erst zehn Jahre in deutschen Schulen deutsch sprechen gelernt haben, dann werden sie mündig sein, mündig zur Abstimmung und mündig zur Abschüttelung des Pfaffen- und Judenjochs, unter dem sie heute fast alle, mit seltenen Ausnahmen, schmachten!“ –

Als ich meinem Nachbar sagte, daß die französischen Verwüstungen auf allen Bergen von halb Deutschland in Ruinen angeschrieben stehe, antwortete derselbe: „Die der Deutschen in Frankreich, in Straßburg werden ein ebenso unvergeßliches Andenken bleiben. Die halbe Stadt ist zusammengeschossen, der Dom ist zerfetzt, die prachtvolle Bibliothek ist bis auf das letzte Stück Papier verbrannt.“

Ich gestehe, daß dieser Einwurf mir sehr wehe that. Die Zerstörungen mochten militärisch unerläßlich sein. Aber sie sind dennoch ein schauerliches Andenken im Geiste des Volkes. Und dabei fiel mir dann der heimkehrende verlorene Sohn wieder ein, das Fest, das der Vater ihm bereitete, das Festkleid, das er um seine Schultern legte. Hätte mein Wort Macht, so müßte das ganze deutsche Volk für Straßburg eintreten; träfe es das Ohr eines der gebietenden Herrscher, das Herz eines mächtigen Staatsmannes, so sollte Straßburg ein neues Festkleid bekommen, schöner als es je eines besessen.

Es läßt sich Allerlei dagegen sagen, daß Deutschland heute [718] den Elsaß zurückfordert. Es hieße den Elsaß gewinnen, wenn das deutsche Volk, wenn die deutschen Fürsten und Staatsmänner sich sagten: „Wir übernehmen die Vater- und Bruderpflicht, das neue Festkleid des heimkehrenden verlorenen Sohnes herbeizuschaffen!“ -

Als wir in Müllheim den Wagen verließen, galt unsere erste Frage dem unglücklichen Adjutanten von Belfort. Der Krieg hat seine Nothwendigkeiten, aber diese Nothwendigkeiten sind meist entsetzlich. Der Gefangene hatte – sein Examen ganz vorzüglich bestanden und war summa cum laude als Doctor medicinae entlassen worden. Im Hauptquartier angelangt, hatte er kaltes Blut genug gewonnen, um ruhig seinen Doctor der Medicin zu vertheidigen. Jetzt flößte seine Ruhe Vertrauen ein. Der Commandirende ließ den Regimentsarzt kommen, und durch diesen den Gefangenen in Wahrheit – examiniren. Und da stellte sich bald heraus, daß der Gefangene in der That ein gelehrter Doctor medicinae war. Er durfte weiter reisen. Ob nun der Adjutant von Belfort wirklich im Zuge war? Dann dankt er seine Rettung dem Umstande, daß er – rothes Haar hatte, denn nur des rothen Haares willen hatte man den Doctor verhaftet.

Wie diese kleine Geschichte den Prolog, so mag sie auch den Epilog zu unserer Reise nach Straßburg bilden.

Ende gut, Alles gut! Möge das Ende auch gut für den Elsaß, für Straßburg, für Deutschland – und warum nicht auch für Frankreich ausfallen!

Es war das arme Frankreich, so edel und ritterlich sonst, furchtbar verkommen. Mögen die harten Schläge, die es getroffen, es bessern und bessere Tage ihm zuführen, in denen es mit Ruhe und ohne Schmerz die Heimkehr des lange verlorenen Sohnes deutscher Familie in sein Vaterhaus mit ansehen kann! –

Trügen diese Zeilen zu diesem Ergebniß, zum Verständniß und zur Erkenntniß der naturbegründeten Verhältnisse, welche die Frage[WS 2] des Elsasses beherrschen, auch nur ein Geringes mit bei, dann wäre der Lohn Dessen, der sie geschrieben, groß genug.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Elaß
  2. Vorlage: Fage