Die Heilung einer Wahnsinnigen

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Titel: Die Heilung einer Wahnsinnigen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 553-554
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[553]

Die Heilung einer Wahnsinnigen.

(Aus dem Leben.)

Ich war 17 Jahre alt, lebenslustig, Freund von Abenteuern und von Kindheit mit dem Hange versehen, ungewöhnliche Wege zu betreten. Ein solcher war auch der, auf welchem ich mich im August 1844 befand. Ich war durch widrige Geschicke aus meinen Gymnasialstudien gerissen worden, den regelmäßigen Studiengang fortzusetzen, wie ihn die osterreichischen Gesetze vorschrieben, war für mich zu spät, da fiel ich auf den Gedanken, von Böhmen nach Ungarn zu wandern, um an einem der zahllosen dortigen Gymnasien mich prüfen zu lassen und dann in die Philosophie einzutreten. Ein solcher Entschluß galt trotz der schon benützten Eisenbahnen für so außerordentlich und abenteuerlich, als etwa der zur Aufsuchung der Nilquellen, auf den nur geniale Köpfe verfallen konnten. Aber zu diesen rechnete ich mich schon von meinen zehnten Jahre an, und darum nahm ich getrost meinen Ranzen auf den Rücken, und trat – da mein Geld kaum für die Prüfungstaxen hinreichte – meine kühne Reise zu Fuß an.

Die Grenze Ungarns – wohin einen Paß zu erlangen schwer hielt – wurde mit Schmugglerlist überschritten, und der ungarische Grenzort Holitsch ohne Fährniß in Gesellschaft eines Holitscher, den ich auf dem Wege getroffen, erreicht. Er lud mich für die Nacht in seine Wohnung, und die Einladung wurde angenommen

Die Familie, zu der ich kam, wohnte zur Miethe in einer ebenerdigen Stube, in der alle Familienglieder schliefen, und wo auch mir ein Lager zubereitet wurde.

Des Morgens kam eine weibliche Person von köchinartigem Aussehen ins Zimmer.

„Was sagen Sie nur, Frau Tauber,“ redete sie meine Wirthin mit ängstlicher Miene an, „heute haben wir die ganze Nacht wieder nicht schlafen können, so hat sie immerfort geklagt und gejammert. Ich werde sterben, ich muß sterben! das ist Ihnen immerfort so gegangen. Gegen Mitternacht hat sie sich Gabriel zum Bett hingerufen, und ihm Moral gepredigt, wenn er sich nicht bessern und seine losen Streiche lassen werde, werde es ihm schlecht ergeben, er werde ein schlechtes Ende nehmen und alle ....“ „Pauline, Pauline!“ rief [554] eine Kinderstimme von außen, und die Sprecherin verschwand.

Aus den Reden der Hausleute entnahm ich, daß die Rede von der Schwester der Hausfrau gewesen, daß diese seit zwei Monaten in Folge einer schweren Entbindung in eine tiefe Schwermuth und endlich in Wahnsinn verfallen sei, von nichts als Tod und Gräbern spreche, und unaufhörlich rufe, sie müsse sterben. Ich erfuhr ferner, daß sie nicht im Orte, sondern in dem zwei Meilen entfernten Scharschin wohne, und nur auf Besuch bei ihrer Schwester da sei.

Ich nahm an der Sache nur so viel Theil, als man von einem fremden Durchreisenden erwarten kann, und hatte, sobald ich wieder auf dem Wege war, von süßen Zukunftsträumen eingenommen, der Geschichte ganz vergessen. Mein Reiseziel war vorläufig Preßburg, wohin die Straße über Scharschin führt. Als ich eine halbe Stunde in heiterer Stimmung fortgewandert war, kam mir eine viersitzige „Britschka“ nachgefahren, worin sich ein Mann und eine Frau befanden. Die Rücksitze waren leer. Ich hatte von Jugend auf den amerikanischen Geist des „Go ahead,“ Vorwärts! war meine Losung, für die Romantik des Zufußgehens hatte ich keinen Sinn, und ich hätte keinen Anstand genommen, mit Hunden zu fahren, wenn ich nur schneller mein Ziel erreichte. Ich bat daher um Aufnahme, der Wagen hielt und ich stieg ein. Die Frau wurde mein Gegenüber. Ich befand mich in der Periode, wo man mit gleichem Appetit riesige Butterbemmen und riesige Romane verschlingt, Bulwer genoß damals meiner höchsten Gunst, ich verlegte mich gar eifrig auf Physiognomik, und begann daher, sobald ich nur Platz genommen hatte, die Züge meines Gegenüber, nach den Anleitungen meines vielbewunderten englischen Meisters zu untersuchen. Die Frau mochte im Spätherhst der Dreißiger stehen, hatte sanfte, regelmäßige Züge und blaue Augen, in denen eine tiefe Schwermuth zu lesen war. Diese erweckte mein ganzes Interesse, und nahm mich für den Gegenstand meines Studiums ganz ein. Ich ersann tausend Scenen, in denen meine arme Leidende die Rolle eines schuldlosen Opfers fremder Bosheit und Laster spielte, und Engelsmilde und eine himmlische Sanftmuth ihren Peinigern gegenüber an den Tag legte. Plötzlich wurde ich aus meinen Träumen durch einen schweren Seufzer geweckt. Wir waren an einem niedern steinernen Kreuze vorübergekommen, das man hier einem Erfrornen gesetzt hatte. „Wie bald werde ich hier in der Erde liegen!“ waren die den Seufzer erläuternden Worte. Da wurde es hell in meinem Hirn, wie bei einer patriotischen Schreckensillumination. Und so schnell, wie der Gedanke: „Das ist die“ kam auch der Entschluß: „Der muß geholfen werden.“

Mit feierlicher Miene und Betonung wendete ich mich an die bekannte Unbekannte; „Liebe Frau, Sie sind krank.“ Sie schwieg und sah mich verwundert an.

„Ich weiß nicht nur, daß Sie krank sind, ich weiß auch, wie lange Sie krank sind: seit zwei Monaten.“

Schweigen; steigende Verwunderung.

„Ich weiß nicht nur, wie lange Sie krank sind, ich weiß auch, wodurch Sie krank sind: in Folge einer schweren Entbindung.“

Schweigen; Erstaunen.

„Sie erstaunen; ich weiß noch viel mehr; ich kenne alle Ihre Handlungen, Ihre geheimsten Gedanken; ich weiß was Sie thun in der Mitternacht und an Orten, wo kein menschliches Auge Sie sieht, kein menschliches Ohr Sie hört. Haben Sie nicht heute in der Mitternacht, als Sie nicht schlafen konnten, und von allerlei quälenden Gedanken und schrecklichen Bildern verfolgt wurden, Ihren Gabriel an’s Bett gerufen und ihm warm an’s Herz gelegt, daß er sich bessern solle, weil er sonst sich und Andern großes Leid zuziehen werde? Sie staunen, weil ich das Alles weiß, und Sie sich nicht erinnern können, mich je gesehen zu haben; wohl haben Sie mich noch nicht gesehen, aber ich kenne Sie von Ihrer Kindheit an.“

„Sie?“ entgegnete die Kranke halb erschreckt, halb ungläubig. „Ich!“ entgegnete ich mit festem Tone und feierlichem Ernst. „Dieses junge Gesicht, das Ihnen vielleicht 17 Jahre zu zählen scheint, hat sich schon über die Wiege Ihrer Großmutter und über deren Großvater herabgebeugt, als er an der Mutterbrust lag. Ich gehöre zu denen, die wohl alt werden, aber nie alt sind.“

Das Erstaunen ging in Schrecken über.

„Erschrecken Sie nicht,“ sagte ich mit mildem, freundlichem Tone, „meine Lust ist Wohlthun, und zu Ihrem Heile sind Sie mir begegnet. Seien Sie getrosten Muthes; ich banne hiermit die Schreckgestalten Ihres Geistes (dabei legte ich ihr segnend die Hand auf’s Haupt) und der Tod soll Ihnen nicht erscheinen, ehe Sie das Greisenalter erreicht. Auch wegen Gabriel’s können Sie sich beruhigen; sein Leichtsinn wird sich mit den Jahren legen. Gott segne Sie.“ Eine plötzliche Umwandlung ging während meiner Worte mit der Kranken vor. Das Auge schien wie ausgewechselt. Das von Trübsinn umdüsterte war verschwunden und ein Glaube und Hoffnung strahlendes an die Stelle getreten.

Wir waren vor Scharschin angekommen. Ich stieg vor der Stadt aus. „Ich werde bald wieder in diesen Ort kommen,“ sagte ich vor dem Weggehen, „und werde Sie finden fröhlich in fröhlicher Gesellschaft. Aber Eins müssen Sie genau befolgen. Sie müssen jeden Morgen, Mittag und Abend sieben Mal um einen Brunnen herumgehen, der reines Wasser giebt, und nach jeder einmaligen Umkreisung ein Glas davon trinken und meiner dabei gedenken.“ Ich war verschwunden, ehe sich die Fahrenden von ihrem Staunen erholen konnten.

Einige Monate später kam ich wieder durch Scharschin. In einer Gasse wurde ich durch einen Hochzeitszug aufgehalten. Mein Auge traf auf das einer heitern Frau von blühender Gesundheit, dessen Blick zuerst Ueberraschung, dann inbrünstigen Dank ausdrückte – meine Prophezeiung war buchstäblich in Erfüllung gegangen.