Die Jubelfeier der Universität Halle
Die Jubelfeier der Universität Halle.
Welchen Anteil die deutschen Hochschulen an der Entwicklung unserer Kultur und des öffentlichen Geistes gehabt haben, darüber erteilt besonders die Geschichte unseres Jahrhunderts Auskunft. Und wenn dieser Anteil in der neuesten Zeit, in welcher Handel, Wirtschaft und vor allem der Krieg das entscheidende Gewicht in die Wagschale der nationalen Entwicklung warfen, etwas geringer geworden ist, so bleibt sich doch unsere Nation stets mit Stolz der hohen Bedeutung ihrer Universitäten bewußt. So erscheint bei uns die Jubelfeier einer Universität nicht als ein Fest, das nur in abgeschlossenen Kreisen gefeiert zu werden verdient; sie gewinnt mehr oder weniger das Gepräge eines volkstümlichen Festes, und wenn auch im Laufe der Jahrhunderte in den Universitätshallen viel Staub und Moder aufgewühlt worden ist und viele gelehrte Perücken auf unfähigen Köpfen gesessen haben, so berichtet doch auch die Chronik der Hochschulen davon, wie lebhaft die Geister hier aufeinander geplatzt sind im Kampf um die höchsten Güter der Menschheit und wie die Leuchten der Wissenschaft weit hinein ins Volk ein segensreiches Licht getragen haben.
Die Hallenser Universität, die am 12. Juli dieses Jahres ihr zweihundertjähriges Jubiläum feiert, hat stets zu denen gehört, an welchen sich ein reges geistiges Leben entfaltet hat; schon ihre Gründer zählten zu den freien Geistern deutscher Nation, die ihre eigenen Wege gingen und von der strengen Gelehrsamkeit, die besonders an der Pleiße ihren Sitz hatte, in Acht und Bann gethan worden waren. Thomasius und Francke bauten die Universität Halle auf im Kampfe mit der engherzigen Fakultätsweisheit, die sie von Leipzig vertrieben hatte.
Christian Thomasius, der Sohn des Rektors der Leipziger Thomasschule, geboren am 1. Januar 1655, studierte anfangs Philosophie, später die Rechte. Er erregte Anstoß durch die von ihm verfolgte freiere Richtung, durch seine Vorlesung über den damals in Sachsen verbotenen Pufendorf, durch die deutsche Ankündigung seiner Vorlesung 1687, durch die Herausgabe deutscher Monatsgespräche, „Freimütige, Lustige und Ernsthaffte, jedoch Vernunfft- und Gesetzmäßige Gedanken“ und durch seine rückhaltlose Verurteilung des verzopften Universitätswesens. „Es herrschte,“ sagte er später einmal, „auf denen evangelischen Universitäten folgender Zustand des Vorurtheils menschlicher Autorität: z. E. in der Philosophie anstatt der Logik eine grobe Zankkunst, anstatt der natürlichen Gotteslehre tumme, aber dabey tollkühne und ketzermacherische Grillen; anstatt einer ächten Sitten- und Regimentslehre unnütze Pedantereyen, damit man nicht einen Hund hätte aus dem Ofen locken können, oder handgreifliche Jesuitische Lehren, die denen Regenten zwar schmeichelten, aber ihnen das Regiment aus der Hand zu drehen trachteten.“ Ueberall bezeichnete er die Mängel der Universitäten in rückhaltloser Weise. Seine Hauptgegner waren der Leipziger Theologe Joh. Ben. Carpzow und dessen Bruder, der Oberhofprediger Samuel H. Carpzow; der letztere nannte ihn in einem Schreiben an den Kurfürsten einen „bösen Menschen“, ja einen „notorischen Erzbösewicht“. Thomasius wurden anfangs die Privatvorlesungen, dann die öffentlichen untersagt, und als er die lutherisch-reformierte Mischehe des Herzogs Moritz Wilhelm von Sachsen mit Maria Amalie, der Tochter des Großen Kurfürsten von Brandenburg, verteidigt hatte gegen lutherische Unduldsamkeit, wurde er beim sächsischen Hofe in hohem Maße mißliebig. Es wurde ihm verboten, in Sachsen zu lehren und zu schreiben, ja er sollte verhaftet und vor Gericht gestellt werden, aber durch schleunige Abreise von Leipzig entzog er sich der Untersuchung. Er begab sich nach Berlin, um die schon schriftlich nachgesuchte Aufnahme in den brandenburgischen Dienst durchzusetzen. Dort war er seiner Richtung wegen sehr willkommen und wurde 1690 zum kurfürstlichen Rat und Professor des gesamten Rechts an der 1688 umgestalteten Ritterakademie nach Halle berufen.
Auch einem anderen jungen Docenten war die Berechtigung, in Leipzig Vorlesungen zu halten, entzogen worden, es war dies August Hermann Francke, geboren am 22. März 1663 zu Lübeck, der 1685 in Leipzig Magister geworden war. Ein Jünger des damals in Dresden lebenden Theologen Spener, stellte er der engherzigen Glaubenslehre, die an den Universitäten herrschte, den lebendigen Glauben entgegen, der im religiösen Gefühl wurzelt und dessen Früchte Demut, Geduld und alle christlichen Tugenden seien. Er fand indes eine ebenso erbitterte Gegnerschaft wie Thomasius, der, als gegen Francke ein Verhör und Untersuchung stattfand, in einem gründlichen Gutachten die Rechtswidrigkeit des ganzen Verfahrens nachwies. Gleichwohl wurden Francke die Vorlesungen verboten. Nach kurzem geistlichen Wirken in Erfurt, von wo ihn wiedernm die Gegner seiner religiösen Richtung vertrieben, begab auch er sich nach Berlin, und der damalige Minister von Danckelmann stellte ihn 1692 in Glaucha bei Halle als Pfarrer und zugleich als Professor der hebräischen und griechischen Sprache für Halle an.
Das waren die beiden Männer, die gleichsam an der Wiege der Haller Universität standen, und diese erschien von Hause aus [379] als eine Freistatt der von Leipzig Verbannten; an der Saale erstand das Heim einer freieren Wissenschaft, die an der Pleiße in Acht erklärt worden war.
Unmerklich wuchs aus der Ritterakademie, zu welcher außer Thomasius und Francke auch andere Lehrkräfte herangezogen wurden, die Universität heraus. Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg, nachher als Friedrich I. erster König von Preußen, Gemahl der geistvollen Königin Sophie Charlotte, war bei aller körperlichen Schwächlichkeit doch ein geistig hochstrebender Fürst, der nicht bloß nach äußerem Prunk und Glanz, sondern auch nach dem Ruhm strebte, ein Förderer der Wissenschaft zu sein. Die Gründung einer Universität in Halle lag schon längere Zeit in der Luft; der Große Kurfürst dachte wenigstens an die Errichtung einer allgemeinen Landesschule; als Friedrich III. mit dem Plane Ernst machte, kam ihm die bestehende Ritterakademie, die einen Stamm von Lehrern und Schülern hatte, sehr zu statten. Als Friedrich 1691, von Karlsbad zurückkehrend, von berittenen Zöglingen der Akademie eingeholt wurde, bestärkte ihn dies in seinem Vorhaben und er sprach alsbald in einem Erlaß seine Absicht aus. Zur Seite stand ihm dabei der später mit so schnödem Undank belohnte Minister Eberhard von Danckelmann, ein stolzer düsterer Herr, aber hochverdient um den Staat durch die eifrige Fürsorge für alle wichtigen Angelegenheiten, auch die wissenschaftlichen Anstalten. Ein zweiter Erlaß bestimmte die ersten Berufungen der Professoren, ihre Gehälter sowie die Summe zur Unterstützung bedürftiger Studenten, die Einrichtung eines theologischen Seminars; er setzte ferner fest, daß den juristischen Studenten zu ihrer praktischen Ausbildung der Zutritt zu den dortigen Gerichts- und Verwaltungsbehörden gestattet werden solle. Die allgemeine Leitung übertrug Friedrich dem zum Kanzler ernannten Veit Ludwig von Seckendorff, einem durch Gelehrsamkeit und edle Gesinnung gleich ausgezeichneten Manne, der aber schon gegen Ende desselben Jahres 1692, in welchem er sein Amt angetreten hatte, verstarb. Kleinliche Intriguen traten der Gründung der Universität und den Anfängen ihres Wirkens entgegen; die Konsistorien nahmen die Bevormundung der Theologen, der Professoren und Studenten, für sich in Anspruch; merkwürdigerweise begrüßte auch die Stadt Halle die Anlage der Universität keineswegs mit freudiger Zustimmung. Schon 1690 hatte sie über die Hergabe städtischer Gebäude, namentlich des geräumigen und für öffentliche Feste benutzten Wagehauses, zu Lehrzwecken heftigen Streit geführt; sie fürchtete die Kosten, welche die neue Anstalt verursachen würde, und legte im November 1693 Einspruch gegen deren Sonderrechte ein. Doch Friedrich ließ sich durch keinerlei Widerstand beirren; es gelang ihm, am 19. Oktober 1693 die kaiserliche Bestätigung für seine Stiftung zu erhalten und am 1. Juli[1] 1694 fand die feierliche Einweihung derselben statt.
Derartige Feste waren ganz nach dem Geschmack des Kurfürsten: noch auf ihrem Sterbebette tröstete die geniale Kurfürstin sich und andere mit dem Gedanken, daß sie ihrem Gatten Gelegenheit gebe, ein prunkvolles Leichenbegängnis zu veranstalten und mitanzusehen. So lag ihm auch eine glänzende Feier bei der Einweihung der Halleschen Universität besonders am Herzen. Die Stände des Herzogtums Magdeburg, die fremden und die übrigen inländischen Universitäten wurden besonders eingeladen. Der Kurfürst traf am 30. Juni in Trotha bei Halle ein, der schon in der Stadt weilende Hofstaat zog ihm entgegen, ebenso 150 Studenten zu Pferde und die Halloren. Dreyhaupt liefert in seinen ehrwürdigen Folianten, welche die Geschichte des Saalkreises behandeln, von dem Einzug in die Stadt, sowie von allen darauffolgenden Feierlichkeiten eine genaue Beschreibung, welche uns von der Prachtliebe des Fürsten und den geschickten Anordnungen seines Ceremonienmeisters von Besser ein anschauliches Bild giebt. Den Einzug eröffneten Jäger zu Pferde, dann folgten zwei Kompagnien Halloren und drei Kompagnien kurfürstlicher Trabanten in ihren prächtigen Röcken, die eine auf weißen, die andere auf schwarzen, die dritte auf braunen Pferden; dann kamen die Kutschen der Landstände, dreißig an der Zahl, die Pagen, die Studenten, wohlgekleidet und wohlberitten, die Degen in der Hand, die Pauker und Trompeter, die Hofkavaliere; der Stadtrat schloß sich am Thor der äußeren Vorstadt dem Zuge an, die Professoren am innern Stadtthor; der Kurfürst und sein Bruder, Markgraf Philipp, der Statthalter von Magdeburg, fuhren in einer über und über vergoldeten Chaise, von sechs isabellenfarbenen Pferden gezogen und von Trabanten mit vergoldeten Hellebarden umgeben. Die Bürgerschaft der drei Städte Halle, Glaucha und Neumarkt stand vom äußersten Thor bis an die Residenz im Gewehr. An einer prachtvollen Ehrenpforte, reich mit Sinnbildern und Statuen und den Bildnissen der vier Kurfürsten geschmückt, welche die vier brandenburgischen Universitäten Halle, Duisburg, Frankfurt an der Oder und Königsberg gegründet hatten, hielt der Student v. Rochow die Begrüßungsrede. Am Tage der Einweihung selbst begab sich der Kurfürst mit seinem Gefolge in die „Alte Wage“ auf den Marktplatze, übergab den Professoren den mit Bildern geschmückten, für akademische Feierlichkeiten bestimmten Festsaal und die Hörsäle. Von hier bewegte sich der Festzug nach der Domkirche; es beteiligten sich daran etwa 2000 Studenten, von denen 700 damals in Halle studierten. Die Professoren erschienen in langen Talaren oder Chorröcken von verschiedenfarbigem Tuch je nach den Fakultäten; der Hut und Mantel des Rektors waren von feinstem Sammet, mit goldnen Posamenten besetzt. Die Professoren wurden an diesem Ehrentage der jungen Universität von je zwei kurfürstlichen Räten begleitet. Acht Grafen, welche auf der Universität studierten, trugen die Insignien derselben auf acht karmoisinroten, mit goldenen Franzen besetzten Sammetkissen; die zahlreichen Herolde, welche die einzelnen Gruppen des Zuges leiteten, waren Hallesche Bürger von ansehnlicher, gleicher Größe, in gold- und silbergestickten Wappenröcken, auf jedem das Wappen einer Provinz, mit gekrönten, silbernen achtpfündigen Heroldstäben in den Händen und Federbüschen auf den Hüten. Bürger in Waffen bildeten Spalier und alle Glocken läuteten; zudem waren Einrichtungen getroffen, um auf den Estraden allen Abstufungen des Ranges von den Fürstlichkeiten abwärts gerecht zu werden. Nach der Predigt hielt der Geheime Rat von Fuchs die lateinische Festrede und verkündete die Namen der neuangestellten Professoren der „Friedrichsuniversität“, denen dann von dem Staatssekretär Ilgen der Eid abgenommen wurde. Volksbelustigungen beschlossen den festlichen Tag.
Fast alle, welche über die Geschichte der deutschen Wissenschaften geschrieben haben, heben die Bedeutung der Halleschen Universität hervor, die, nach einen Ausspruch Giesebrechts, einen Einfluß auf die Nation ausgeübt, wie man ihn seit der Blütezeit Wittenbergs keiner anderen Universität habe nachrühmen können. [380] Einen unschätzbaren Dienst hat besonders Thomasius den deutschen Universitäten erwiesen, indem durch ihn nicht allein die deutsche Sprache in der gelehrten Litteratur wieder in Uebung gebracht, sondern auch die alleinige Geltung des Lateins auf dem Katheder beseitigt worden ist. Unvergängliche Verdienste hat er sich auch durch seinen Kampf gegen die Folter und die empörenden Hexenprozesse erworben, Verdienste, die auch Friedrich der Große anerkannte, wenn er Thomasius und Leibniz zu den Gelehrten rechnete, welche der deutschen Nation zur Zierde gereichten. Mit dem andern Opfer der Leipziger Achterklärung, mit Francke, geriet Thomasius in Streitigkeiten, denn die geächtete Gefühlsreligion des letzteren verwandelte sich, wenigstens bei seinen Anhängern, immer mehr in Unduldsamkeit und Kopfhängerei. Franckes Verdienste liegen weniger im Bereich der Fakultät, als auf dem Gebiete menschenfreundlicher und erzieherischer Thätigkeit. Die Gründung des Waisenhauses, des Pädagogiums, der Bürgerschule und Lateinischen Schule, des Missionsinstituts für Ostindien sind seine großen Ruhmestitel. Von allen Seiten liefen ihm Unterstützungen für diese jetzt noch blühenden Stiftungen zu, und er selbst wußte durch allerlei geschäftliche Unternehmungen, wie eine Apotheke und eine Buchhandlung, die Mittel für seine guten Zwecke zu vermehren. Neben Thomasius wirkte Stryk als gerühmter Lehrer des römischen Rechts, während jener mehr Naturrecht und Staatsrecht vortrug.
Wesentlich zum Aufschwung der Universität trug es aber bei, daß sie in Christian Wolff eine bedentende geistige Kraft gewann, welche dem Zeitalter ihr Gepräge fast in gleichem Maße aufzudrücken verstand wie später Hegel dem seinigen. Christian Wolff, am 24. Januar 1679 als Sohn eines Gerbers in Breslau geboren, zeigte schon auf dem Gymnasium das Bestreben, Mathematik und Theologie zu vereinigen. In Jena und Leipzig hat er noch gepredigt, sich aber dann der Philosophie und Mathematik zugewendet, 1706 wurde er ordentlicher Professor beider Fächer in Halle. Sein klarer freier Vortrag in deutscher Sprache sicherte ihm eine stets wachsende Hörerschaft; seine Schriften, in denen er besonders im Anschluß an Leibniz die ganze Weltweisheit in ein System brachte, verschafften ihm einen großen Ruf in den weitesten Kreisen, er gehörte zu den anerkannten Leuchten der deutschen Wissenschaft. Doch dies entwaffnete nicht den Haß seiner Gegner. Die Schüler Franckes waren allmählich eine mächtige und herrschende Partei geworden, und einer derselben, Professor Joachim Lange, wandte sich an zwei Generale in der Umgebung des Königs Friedrich Wilhelm I. und klagte Wolff des Atheismus an. Diese gaben den Rat, Wolff von Halle zu entfernen; sie kannten die empfindlichste Seite des Soldatenkönigs und stellten ihm vor, daß die Wolffsche Lehre vom Fatum, dem Verhängnis, die großen Grenadiere in Potsdam durchzugehen zwinge. Wolff bewiese, daß sie dem Fatum nicht widerstehen könnten und der König also unrecht thue, sie deshalb zu bestrafen. Weil diesem nun damals eben viele seiner blauen Riesen durchgegangen waren, so unterzeichnete er die berühmte strenge Ordre vom 8. November 1723, wonach Wolff als ein Unchrist binnen achtundvierzig Stunden bei Strafe des Stranges Halle zu verlassen habe. Wolffs Bücher wurden wegen ihrer Gottlosigkeit bei Karrenstrafe verboten.
Als der König bei einer Hoftafel die lieblose Gesinnung des Anklägers Lange kennenlernte, ließ er die Schriften Wolffs durch einen Ausschuß von vier lutherischen und reformierten Theologen prüfen; diese erklärten, die gefährlichen Irrtümer, welche Lange darin gefunden, ständen nicht in Wolffs Schriften. Nun bot er Wolff 1739 eine Professur und später das Vicekanzleramt der Universität in Halle an. Doch Wolff, der inzwischen eine Stellung an der Universität in Marburg gefunden hatte, lehnte ab und folgte erst 1740 einem Rufe Friedrichs II., der ihn gleich nach seiner Thronbesteigung als Geheimen Rat und Vicekanzler wieder an der Halleschen Universität anstellte. Später wurde er noch Kanzler (1743) und in den Reichsfreiherrnstand erhoben. Er starb 1754.
Gleichen Ruhm hat kein nachfolgender Lehrer der Halleschen Hochschule errungen; aber die Geschichte der deutschen Gelehrsamkeit hat noch eine lange Reihe von Namen in dem vorigen Jahrhundert und in diesem zu verzeichnen, welche der Friedrichsuniversität zur Zierde gereichten; nur waren es großenteils Fachgelehrte, von denen nicht unmittelbar eine große Wirkung auf die allgemeine Bildung ausging. In unserer klassischen Epoche war es besonders der große Altertumsforscher Friedrich August Wolf, seit 1783 Professor in Halle, der mit Goethe in Beziehungen stand, damals der ausgezeichnetste unter seinen Fachgenossen. Nicht bloß durch die meisterhafte Kritik, die er bei Herausgabe der Klassiker übte, nicht bloß durch seine bahnbrechende, wenn auch vielfach angegriffene Theorie von den Homeriden, nach welcher die Homerischen Gesänge „Ilias“ und „Odyssee“ nicht das Werk eines Dichters, sondern Sammlungen von Gesängen mehrerer Rhapsoden darstellen sollten – mehr noch durch seine hohe Auffassung der Altertumswissenschaft überhaupt, die sich nicht auf die Betrachtung der Sprache und der Sprachdenkmäler der Griechen und Römer beschränken, sondern alle Thaten ihres Lebens im Zusammenhang und als ein lebendiges Ganze erfassen solle, kann er als der Schöpfer einer neuen echt wissenschaftlichen Philologie betrachtet werden. Halle wurde durch Friedrich August Wolf auf diesem Gebiete ebenso tonangebend wie durch Christian Wolff auf dem Gebiete der Philosophie. Daneben her gingen die Kämpfe innerhalb der Theologie; die pietistische Richtung vermochte sich gegen den von Johann Semler und den beiden Niemeyer vertretenen Rationalismus nicht zu behaupten, wenn auch einer der flachsten Aufklärer, Bahrdt „mit der eisernen Stirne“, eine Zeit lang in diesen Hallen der Wissenschaft sein Wesen trieb, eine durch litterarischen und sonstigen Skandal berüchtigte Persönlichkeit. [381] Das Wöllnersche Religionsedikt vom Jahre 1788, das jede Abweichung von den Lehren der Symbolischen Bücher mit bürgerlichen Strafen und Amtsentsetzung bedrohte und der akademischen Lehr- und Lernfreiheit den schwersten Schaden bereitete, stieß in Halle auf den heftigsten Widerstand; mit seinen Maßregelungen anders denkender Professoren vermochte der derbe und herrschsüchtige Gewalthaber nicht durchzudringen.
Verhängnisvoller als das innere engherzige Zwangsregiment Wöllners wurde für die Universität die Herrschaft des siegreichen äußeren Feindes, diejenige Napoleons, als er durch die Schlacht bei Jena die Macht Preußens niedergeworfen hatte. Sein Haß richtete sich mit besonderer Heftigkeit gegen die Universitäten als die Brutstätten des rebellischen Geistes. Die milden Anordnungen Bernadottes betreffs der Universität Halle hob Napoleon selbst 1806 auf. Die Universität wurde geschlossen, aber nach Begründung des Westfälischen Königtums wieder eröffnet und der Staatsverwaltung Jeromes unterstellt. Von namhaften Lehrern wanderte Schleiermacher damals nach Berlin aus. Steffens aber, dem glänzenden Beispiel Fichtes in Berlin nacheifernd, blieb und hielt patriotische Vorträge, durch welche die vaterländische Gesinnung, der sittliche Ernst der studierenden Jugend mächtig erregt wurde, ohne daß sie der Staatsgewalt Anlaß zum Einschreiten gegeben hätten. Abermals im Jahre 1813 wurde die Universität auf Napoleons Geheiß geschlossen, doch nach dessen Sturz vom König von Preußen wieder eröffnet und am 6. März 1816 mit der Universität Wittenberg vereinigt unter dem Namen „Vereinigte Friedrichsuniversität Halle-Wittenberg“.
Was die äußeren Schicksale derselben im Laufe dieses Jahrhunderts betrifft, so ist das wichtigste wohl die Uebersiedlung aus der „Alten Wage“ in das neuerbaute Universitätsgebäude, dessen Einweihung am 31. Oktober 1834 vollzogen wurde. Dies neue Gebäude ist auf dem Platze errichtet, wo früher das Schauspielhaus stand und der städtische Trockenplatz sich befand. Die Wissenschaft hatte bisher fast nur zur Miete gewohnt – jetzt war ihr ein neues selbständiges Heim gegründet; doch wurde der ursprüngliche von Schinkel entworfene Plan nur unvollständig ausgeführt, denn die beiden Seitenflügel, welche dem Hauptbau beigefügt werden sollten, fehlen bis heute; sie waren für die Bibliothek und die Verwaltung der Universität bestimmt und für beides mußte durch selbständige Bauten gesorgt werden. Im Jahre 1842 wurde eine allen wissenschaftlichen Anforderungen genügende Klinik errichtet; doch erst in den Jahren 1874 bis 1886 erstanden auf der von der Regierung angekauften sogenannten Maillenbreite jene Kliniken, welche zusammen mit anderen wissenschaftlichen Anlagen ein großartiges Gebäudeviertel bilden: die chirurgische Klinik mit fünf, die medizinische mit vier Blocks und einem Isolierhause, die geburtshilfliche Klinik, die Augen- und Ohrenklinik, die Anatomie, die physiologische und pathologische Anstalt. Abgesondert von diesen wurde 1892 eine Pflegestätte für die Nerven- und Geisteskranken geschaffen, ein aufs reichlichste ausgestatteter Bau wie kaum ein anderer an den preußischen Universitäten. Ein neues Bibliothekgebäude wurde 1878 bis 1882 gebaut. Das seit 1865 bestehende landwirtschaftliche Institut wurde 1876 bis 1879 durch neue Wirtschaftsgebäude erweitert; zahlreiche andere Bauten für Sammlungen und Verwaltungszwecke schlossen sich an.
Mit dieser äußeren glanzvollen Entwicklung, durch welche gerade in den letzten Jahrzehnten die Hallesche Universität vor mancher Schwesterakademie den Vorsprung gewann, ging Hand in Hand ein reges geistiges Leben. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts waren es die theologischen Kämpfe, welche die Geister aufs lebhafteste bewegten: auf der einen Seite freisinnige Professoren, ein Wegscheider und Gesenius, wenn auch zum Teil auf dem Standpunkte einer beschränkten Aufklärung stehend, auf der anderen Seite ein Tholuck als Vertreter „gläubiger“ Anschauungen, die er mit Geist und Ironie verfocht. Heinrich Leo, der Geschichtschreiber der italienischen Freistaaten, der eine Weltgeschichte verfaßte vom Standpunkte der äußersten Rechten, war ein Poltergeist, der jahrzehntelang durch seine Kraftausdrücke und neuerfundenen Stichwörter Aufsehen erregte. Im schroffsten Gegensatz zu ihm stand der junge Privatdocent Arnold Ruge, der hier 1838 die einflußreichen „Halleschen Jahrbücher“ gründete. Auch die ältere Hegelsche Richtung gab bis in die neueste Zeit hervorragende Vertreter in Hinrichs, Schaller, Erdmann und Haym, einem geistvollen Litterarhistoriker. Abseits stand Ulrici, der Erläuterer Shakespeares, Kunsthistoriker und Schöpfer einer Philosophie, deren Hauptwerk „Gott und die Natur“ in weiten Kreisen Anklang fand.
Alle Fakultäten hatten bis in die neueste Zeit in Halle ausgezeichnete Kräfte: wir nennen den vor wenigen Jahren verstorbenen Chirurgen Volkmann, der sich als Richard Leander auch als Dichter einen Namen gemacht hat; den Vetter des berühmten Albrecht von Gräfe, den vortrefflichen Augenarzt Karl Alfred Gräfe, der sich allerdings seit Jahren von der Universität zurückgezogen hat; den hervorragenden Strafrechtslehrer v. Liszt, den trefflichen Pandektisten Fitting – wir müßten tiefer eingreifen in die Geschichte der Wissenschaften, als es uns hier möglich ist, um alle die Namen aufzuführen, die der Friedrichsuniversität, deren Frequenz in diesem Semester 1528 Studierende beträgt, zur Zierde gereichten und noch gereichen.
Allen denen aber, die einst an den Quellen der Alma mater Fridericiana ihren Wissensdurst gestillt haben, wird in den Jubeltagen dieses Sommers[2] das Bild der lieben alten Saalestadt in besonderem Glanze vor der Seele schweben, und gerne werden sie bei den Ausschnitten aus diesem Bilde verweilen, welche die „Gartenlaube“ ihnen vor Augen führt (S. 377). Da thut er sich auf, der geräumige Marktplatz mit der schon genannten „Alten Wage“ und dem Rathaus, mit den kühn zum Himmel emporstrebenden Markttürmen; es sind dies die Türme der Marienkirche und dann der „Rote Turm“, an dessen Fuß das alte Sinnbild der Marktfreiheit und des Gerichtsbanns, eine Rolandsäule, über den weiten Platz [382] mit seinem Siegesbrunnen und seinem Händeldenkmal hinwegschaut. Da erscheinen sie wieder, die reizenden Ansichten am Strom entlang, die Bergschenke gegenüber Giebichenstein, das Saaleschlößchen, die Felsenburg bei den Saalefelsen und wie die lieblichen, meist auch „trinkbaren“ Stätten alle heißen. Als eine Erinnerung aus alten Tagen ragt der „runde“ oder „Leipziger Turm“ in die Gegenwart herein; ein besonders stattliches Denkmal der Vergangenheit aber, die künstlerisch und geschichtlich gleich bedeutsame Moritzburg, wird nicht nur bei der Jubelfeier selbst von festlichem Getriebe widerhallen, sie ist auch berufen, künftig mehr als bisher in den Dienst der akademischen Jugend gezogen zu werden. Die Magdalenenkapelle, die alte Burgkirche, wird zu einem Universitätsgotteshause hergerichtet und innerhalb der Burg sollen Reit-, Turn- und Fechthallen angelegt werden, dem ganzen Bau zugleich Sicherheit für seine würdige Erhaltung gewährend. So wird die heilige Elisabeth mit den Rosen, deren Bild über dem Haupteingang zur Moritzburg thront, wieder wie einst dem Klingen und Klirren ritterlicher Spiele lauschen.
Der Halleschen Hochschule aber wünschen wir, daß sie noch lange blühen möge als ein Hort deutschen Geisteslebens, als eine jener befruchtenden Quellen, von denen der Segen ausströmt auf die jüngeren und älteren Zeitgenossen und die kommenden Geschlechter.
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