Zum Inhalt springen

Die Offenbarung Johannis/Die Apokalypse bei den Vorreformatoren

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
« Joachim von Floris Wilhelm Bousset
Die Offenbarung Johannis
Die weltgeschichtliche Deutung der Apk; Nicolaus von Lyra »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
[81]
7. Die Apokalypse bei den Vorreformatoren.

Es wäre eine lohnende Aufgabe, den mannigfaltigen Einflüssen der Apk auf die sogenannten vorreformatorischen antikatholischen Gemeinden und Kirchenbildungen nachzugehen[1]. Besonderes Interesse verdienen hier die Vorläufer Hussens in Böhmen. Was Neander an Auszügen aus Miličs Schrift de antichristo und aus Matthias v. Janows Werk „de regulis veteris et novi testamentum“ mitteilt, berechtigt zu dem Schluß, daß auch diese Reformer mit ihren Grundgedanken in den mittelalterlichen eschatologischen Ideen und speziell in joachimitischen Gedanken wurzeln[2].

Wycliffe selbst schrieb seine erste Schrift über die letzten Zeiten der Kirche als eine Frucht seiner Studien der Weissagung des Abtes Joachims[3]. Seit den Verhandlungen von Brügge[4] scheint W. überzeugt gewesen zu sein, daß das Papsttum das Antichristentum sei. In dem Dialogus[5] führt er seine Deutung von Apk 20 aus. In dem zweiten Jahrtausend der Kirche (bei Beginn desselben) sei der Satan von neuem losgelassen, die Kirche sei damals von der Nachfolge Christi abgefallen. Daher seien die Bestrebungen frommer Männer Franciskus und Dominikus entstanden. Die ihnen folgenden entarteten Mönchsorden greift W. freilich aufs heftigste an. Aber der Zusammenhang mit Joachim ist deutlich.

Direkt von einem Schüler W.s stammt der commentarius in apocalypsin ante centum annos editus[6], den Luther (Wittenberg 1528) als ein Wahrheitszeugnis aus früherer Zeit herausgegeben hat. Der Kommentar[82] wurde ihm zugeschickt: per optimos viros ab extremis finibus Germaniae nempe e Sarmaticis Livonicisque. — Der Kommentar ist im Jahre 1390[7]geschrieben. Er scheint aus der unmittelbaren Umgebung Wycliffes zu stammen. Die Überzeugung, daß tausend Jahre nach dem Leiden Christi der Antichrist in die Kirche eingebrochen sei, teilt auch der Verfasser. Die ganze Auslegung der Apk wird ihm zu einer Streitschrift wider den Papa antichristus. p. 60A findet sich eine scharfe Polemik gegen die Indulgenzen, p. 64A führt der Verfasser mit Wycliffe Polemik gegen die Bettelmönche. Er kennt (p. 60B) das Erdbeben von 1382, das in Wycliffes Leben eine große Rolle spielt. Er spricht 130B von „quilibet praedicator de corpore Christi mystico existens“. Der erste Posaunenengel ist der „qui primus omnium papam Romanum declarat Antichristum“ 78A. — Es gewinnt endlich nach den Ausführungen über die beiden Zeugen den Anschein als schreibe der Verfasser im Gefängnis[8]. Bengel vermutete daher vielleicht mit Recht, daß der Verfasser des Kommentars Joh. Purväus ein Schüler Wycliffes sei, der im Gefängnis (1390) nach seines Meisters Lektionen den Kommentar verfaßt habe.

Der Kommentar zeigt keine Beeinflussung von Seiten Joachims. Zitiert sind die glossa interlinearis (63B), Augustin (82B), Beda (83A), Haymo (75). Im Anfang findet sich das gebräuchliche Schema der Erklärung. Aber schon beim vierten Siegel sind die „hypocritae“ oder „falsi fratres“ der gewöhnlichen Auslegung die Anhänger des Papsttums geworden. Vom sechsten Siegel an ist alles auf die letzte Zeit bezogen und jedes Wort eine bittere, schneidende Polemik gegen das Papsttum. Im sechsten Siegel sieht der Verfasser das unheilvolle Schisma der römischen Kirche geweissagt, namentlich gegen Urban VI. (1378-89) richtet er seine Polemik. Die alte Einteilung der Apk in sieben Visionen behält er bei.

So verläuft also die Geschichte der Auslegung der Apk vom vierten bis ins dreizehnte und vierzehnte Jahrhundert hinein unter dem Einfluß hauptsächlich zweier Werke, der Kommentare des Ticonius und des Joachim von Floris. Es haben sich bis jetzt zwei Stilarten derselben herausgebildet; eine vollkommen nüchterne,[83] abstrakte, fast jeder Anspielung auf Zeitverhältnisse des Auslegers ermangelnde und eine mehr phantastisch apokalyptische, welche die großen Ereignisse der jeweiligen Gegenwart in der Apk angedeutet findet und aus ihr auch die Zukunft zu berechnen unternimmt. Die letztere lehnt sich dabei an die erstere an. Eine eigentliche „weltgeschichtliche“ Ausdeutung der Apk bringen beide noch nicht. Man findet nur ganz allgemein die Hauptmomente der Entwickelung angedeutet. Beide Methoden basieren außerdem auf der Rekapitulationstheorie.


  1. Lücke teilt 1011 mit, daß die Waldenser die dreieinhalb Zeiten der Herrschaft des Antichrist auf 350 Jahre berechnet. Lückes Notiz geht wahrscheinlich auf Bengel, erklärte Offenb. Joh. (3. Aufl. S. 1110) zurück. Bengel, der dazu die 350 Jahre des Ticonius vergleicht, verweist auf Vitringas Kommentar z. Apk p. 464. Vitringa aber trägt hier nur eine Vermutung Scaligers vor, der die 350 Jahre von den Waldensern bis zu Luthers Reformation rechnete. Daß die Rechnung auf die W. zurückführt, ist hier nicht gesagt. Über eventuelle Beziehung der „Nobla Leiczon“ der W. zur Weissagung Joachims vgl. Lehrb. d. Kirchen-Gesch. I hrsg. v. Bonwetsch 1899 S. 270.
  2. Miličs Schrift ist in dem noch ungedruckten Werk Janows erhalten. Vgl. Neander VI 234f. (Milič), VI 255ff. (Matthias v. Janow).
  3. Neander VI 176.
  4. Ebenda 178.
  5. Ebenda 224.
  6. Ein Exemplar dieser seltenen Ausgabe befindet sich in der Göttinger Bibliothek 8. Theol. bibl. 236a.
  7. 170 heißt es: per annos mille, scilicet a tempore passionis Christi usque ad antichristum. sed mille anni elapsi sunt a passione Christi et ultra trecenti quinquaginta septem, quia Christus passus est tricesimo tertio suae aetatis anno, qui additi numero faciunt trecentos nonaginta annos, quae est praesens data nostra, quia sumus in anno ab incarnatione (sollte heißen passione) Chr. milesimo trecentesimo quinquagesimo septimo, ergo trecenti septuaginta (sollte heißen quinquaginta) septem anni elapsi sunt, postquam antichristus primo regnavit. Der Text ist verderbt, werden die genannten Verbesserungen eingesetzt, so ist alles klar. Man darf sich durch die Fehler im Text nicht verleiten lassen 1357 als Zeit des Kommentars zu bestimmen. Im Kommentar selbst ist 61B das Jahr 1382, 122B gar 1389 erwähnt.
  8. Vgl. 101ff. (104: et steterunt .... super pedes suos i. e. propriis doctrinis tam in carcere elaboratis incumbunt, qui prius minus instructi et nimis debiles contra antichristum fuerunt, tam propter defectum sanctitatis vitae, quam intellectus scripturarum, quibus longa vexatione virtutis et studii jam sufficienter imbuuntur).
« Joachim von Floris Wilhelm Bousset
Die Offenbarung Johannis
Die weltgeschichtliche Deutung der Apk; Nicolaus von Lyra »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).