Die Originalität der römischen Litteratur
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[3]Es ist fast ein Herkommen, und gewiss in der Sache begründet, dass wer an diesem Tage von dieser Stelle zu reden das Amt hat, von seiner Wissenschaft redet oder doch über einen allgemeinen Gegenstand aus der Wissenschaft, die ihm den Weg in die Universität geöffnet hat und ihm auch im Grunde allein die innere Sicherheit gibt, die Korporation eine Zeit lang zu leiten und zu vertreten. Es kann keinem von uns, vielleicht am wenigsten darf es dem Philologen schwer fallen, innerhalb eines wissenschaftlichen Gedankenkreises in gemeinsame Wege des Denkens und Wissens einzulenken. Der Philologe beschäftigt sich mit der Geistesgeschichte der Menschheit; er geht von der Sprache aus als dem äusseren Mittel der Ueberlieferung, dem so geheimnissreichen wie offenherzigen Zeugen des Menschengeistes, und sucht in die Tiefe des menschlichen Sinnens zu dringen, dem Leben eines Volkes und den Werken der Persönlichkeit nachzugehn. Wenn es sich um vergangenes Leben oder doch vergangene Zeiten handelt, so tritt als vornehmster Anhalt und Wegweiser der Forschung neben die Sprache das Kunstwerk. Denn es gibt keine irdische Dauer die wahrer und fester wäre als die des Kunstwerks. Nicht der Künstler ist unsterblich, aber sein Werk, und mit ihm die Höhe einer nationalen Kultur die es bezeichnet. Dass ein Kunstwerk bleibt, ist niemals Zufall; oft dass es verloren geht; aber wenn es einmal lebendig war, so wirkt es fort, auch wenn es aus der Erscheinung verschwunden ist.
Das Leben eines Kunstwerks ist dass es Leben schafft; so wird es in wahrer Produktivität ein Bestandtheil der Kultur aller Zeiten. Wie jede Phase organischer Kunstentwickelung an vorhandene, oft in der Zeit sehr weit zurückliegende Werke anknüpft, so üben die halbvergessenen plötzlich, durch eine geheimnissvolle [4] Bewegung nach vorne getragen, ihre Wirkung auf die allgemeine Geistesbildung mächtig wie am ersten Tage wieder aus. Sie verschwinden zeitweise, um wie der Strom von Elis unter dem Meere herzufliessen und als Arethusa wieder aufzutauchen. So wurde die griechische Plastik, so Homer, so Shakespeare, nachdem sie ihre Perioden geheimer und indirekter Wirkung erfüllt hatten, für die Weltkultur gleichsam wiederentdeckt; so erwarten andere Gewaltige ruhig ihre Zeit, und wer sie gestorben glaubt oder verschwunden, da gewisse Leute aufgeklärt haben – nirgend häufiger als auf diesem Gebiete sind zu Narren geworden die sich weise dünkten.
Die Geschichte kennt kein Beispiel einer Kulturwirkung, die ununterbrochener angedauert hätte als die der römischen Litteratur. Sie hat den Occident kultivirt, sein Mittelalter beherrscht, und ist in der Bildung der Nationen, die ihre Sprachen aus der lateinischen abgeleitet haben, durch alle Trübung und Umbiegung so wirksam geblieben wie es noch am Ende jener Zeiten Dantes Gedicht bezeugt. Dann trat sie mit Petrarca jung und kräftig wieder auf den Plan, und Cicero und Virgil, Terenz und Seneca wurden die Meister und Muster einer neuen Zeit. Das Griechische war Eigenthum weniger Gelehrter, das Latein und die römischen Dichter gehörten der Welt; an ihnen wurde alle litterarische Grösse gemessen. Diese Geltung dauerte bis tief ins achtzehnte Jahrhundert hinein. Ihr Bann wurde in Deutschland gebrochen, als Homer und die griechische Poesie am Horizont unserer jungen Litteratur aufgingen. Da verscheuchte das Licht seinen Abglanz; die Römer traten zurück und überliessen ihren alten Meistern das Feld. Wie konnte Virgil mit Homer, Cicero mit Plato den Kampf aufnehmen? So wenig wie nach kurzer Frist Lessings und Winkelmanns Laokoon gegen den Ostgiebel des Parthenon bestehen konnte. Nur wo die griechische Ueberlieferung versagte, blieben Römer wie Properz in vorderer Linie.
Auch in der Wissenschaft war die Stunde des Griechenthums gekommen. Die historische Philologie, die in engem Zusammenhange mit dem Wachsthum der nationalen Litteratur in Deutschland aufblühte, musste auf die Wurzeln des antiken Lebens dringen und seine vollkommensten Gebilde erforschen: griechischer Glaube und Staat, griechische Verskunst und Sprache, griechische Poesie und Philosophie waren ihre Gegenstände und Ziele. Es war auch ein vollkommen organischer Zug der neuen Wissenschaft, dass die Gebiete des römischen Lebens, auf die sich die historische Forschung zunächst erstreckte, das römische Recht und die römische [5] Geschichte waren. Die schöne Litteratur der Römer ist erst durch Lachmann, Ritschl, Madvig in den Mittelpunkt der philologischen Arbeit gezogen worden; und wie mit einer selbstverständlichen Beschränkung richtet sich diese Forschung auf die Form, nicht auf den Gehalt der litterarischen Werke.
So ging der Maasstab für die Beurtheilung der römischen Litteratur allmählich verloren. Für das allgemeine litterarische Bewusstsein war sie entwerthet, die allgemeine Bildung kam auf ihren Romfahrten mit ihren allgemeinen gräcisirend klassizistischen Vorstellungen aus; die Wissenschaft stand mit einer Art von Verlegenheit vor der Aufgabe, an Stelle der selbstverständlichen Bewunderung früherer Zeiten Werthurtheile begründen zu sollen. Als nun der Mann erschien, der als der erste das römische Alterthum in seinem Geiste zusammenfasste und als ein Ganzes Geschichte, Staat und Recht nachschaffend vor Augen stellte, da schien der Prozess des Weltgerichts eine böse Wendung für die römischen Litteraten zu nehmen. Theodor Mommsen skizzirte in der römischen Geschichte die Entwickelung der Litteratur wie nur er es konnte. Aber der zur Vollendung gekommene Theil dieses Werkes reichte nur bis zu Cäsar und Cicero, über die grosse Poesie der augusteischen Zeit kam Mommsen nicht zu Worte; und Cicero erschien dem Historiker, der den Politiker Cicero verachtete, nicht als der Vollender der römischen Prosakunst und das Haupt der griechisch-römischen Bildung, das er war, sondern als ein gedankenloser Wortemacher und Schwächling. Dem Grossen folgten die Kleinen; und wenn der grosse Cicero von seinem Throne sank, so durfte sich Niemand scheuen, auch den Andern die Kränze vom Haupt zu reissen, die sie nun fast Jahrtausende lang mit Ehren trugen.
Intra muros et extra. Wo das Urtheil nicht umfiel, da schwankte es doch wie das Rohr im Winde. Freilich wehten die Winde scharf. Die Interpretation wies im Einzelnen die Vorlagen berühmter Dichter nach, die Quellenuntersuchung lehrte, dass berühmte Schriftsteller ihren Stoff aus zweiter oder dritter Hand entnommen hatten. Die Grössen der früheren Zeit wurden immer mehr zum wissenschaftlichen Stoffe. In der Schule wurde stets ein kleiner Kreis von Autoren gepflegt, um die man sich um ihrer selbst willen bemühte; aber diese ganze Produktion ist zu komplicirt für ein junges Gemüth, zu wenig im Kantischen Sinne naturgleich, zu sehr im Schillerschen Sinne sentimental; sie stellt die Schule, die das ästhetische Verständniss erschliessen möchte, vor überschwere Aufgaben.
[6] So musste, von der Wissenschaft und von der allgemeinen Bildung aus bedrängt, das Urtheil über die Werke der römischen Litteratur so unsicher werden wie es geworden ist. Am stärksten ist diese Unsicherheit bei uns; in Frankreich und Italien hat die Tradition der lateinischen Rasse, in England die festere Schultradition viel dazu gethan, die aus der Renaissance überkommene Schätzung festzuhalten. Aber das ist es nicht wessen wir bedürfen; sondern die Begründung einer neuen und wahren Anschauung vom eigenen Werthe der römischen Litteratur auf der historischen Grundlage, die wir durch die Forschung eines Jahrhunderts gewonnen haben.
In neuester Zeit sind wichtige Schritte in dieser Richtung gethan worden. Ich glaube dass wir Virgil und Cicero, den Häuptern der römischen Kultur, wieder ins Auge sehen können. Aber der Boden muss vorsichtig gewonnen werden, wir dürfen nicht aus einer Reaktion des Geschmacks gegen althergebrachte Bewunderung nur in eine andere Geschmacksreaktion verfallen. Es handelt sich zunächst nicht darum zu urtheilen, sondern der Willkür und den Zufälligkeiten des Urtheils für immer vorzubeugen, die Fragen für die analytische Untersuchung richtig zu stellen und deren Resultate unter den richtigen Gesichtspunkten zusammenzufügen. Heute indessen kann uns keine Analyse, sondern nur allgemeine Gesichtspunkte können uns noch für einige Augenblicke beschäftigen. Lassen Sie mich auf das Moment zurückkommen, das für die Geltung der römischen Litteratur in unsern Zeiten verhängnissvoll geworden ist: auf die Frage nach ihrer Abhängigkeit von der griechischen Litteratur, kürzer die Frage nach ihrer Originalität.
Es ist keine Frage, dass die römische Litteratur aus der griechischen hergeleitet ist; aber damit ist nicht gesagt, dass sie eine Nachahmungslitteratur, gleichsam eine Litteratur aus zweiter Hand gewesen sei. Diese Vorstellung entstand, als man die Griechen kennen lernte, nicht sowohl weil die römische Litteratur nachahmend, als weil die griechische[1] in einziger Weise original ist. Es giebt nur eine im strengen Sinne originale Litteratur auf der Welt, das ist die griechische; denn die Griechen haben die litterarischen Gattungen gestaltet. Nicht aus dem Nichts; das Kunstwerk soll uns erscheinen ‚frei und leicht wie aus dem Nichts entsprungen‘, aber es entspringt nicht aus dem Nichts. Aus den Elementen des Volks- und Heldenliedes, des Kultliedes, des Geselligkeitsliedes, des regellosen Spiels hat der griechische Geist die litterarischen Gattungsformen hervorgebracht, die in der Folge bei allen Kulturnationen direkt und [7] indirekt wie von der Natur gegebene Formen fortgewirkt, Nebenformen und Spielarten erzeugt haben. Es sind auch später neue Gattungsformen entstanden, aber sie haben als solche nicht gedauert. Dantes Komödie, die den mythischen Stoff der Visionen in ähnlicher Weise zu einer neuen Form gestaltete wie das attische Drama die Heldensage, war als Gattung für immer in sich beschlossen und einsam. Im allgemeinen ist jede litterarische Originalität nach der Erschaffung der Kunstformen durch die Griechen Originalität der Persönlichkeit; und die litterarische Abhängigkeit ist nichts anderes als jede andere Kette von Ursachen und Wirkungen, verschieden geartet nach den Anschauungen und Kulturmitteln, die den geistigen Gang der Nationen bestimmen.
Wenn man auf die Reihen der Römer blickt und Namen wie Lucrez, Catull, Horaz, Tacitus nennt, so sieht man rasch, dass es hier an künstlerischer Persönlichkeit nicht fehlt. Man sieht auch gleich ein zweites: nämlich dass die hellenistische Litteratur in den Zeiten des Cicero bis Tacitus Namen von diesem Klange und von dem der augusteischen Dichter nicht aufzuweisen hat. Das würde bedeuten: die römische Litteratur folgt der griechischen nach. In dieser Richtung dürfte die bestimmende Fragestellung zu finden sein. Es ist richtig antik gedacht, wenn Kant die Stufenfolge Nachmachen, Nachahmen, Nachfolgen aufstellt.
Die Griechen haben auf zwei nationale Litteraturen unmittelbar eingewirkt: die römische und die deutsche. Der gewaltige Unterschied fällt ins Auge. Hier eins von vielen Kulturvölkern, reiche mittelalterliche Litteratur, die Begründung einer neuen Schriftsprache, eine lange geistige Gährung im Kampfe von Renaissance und Reformation, eine lateinisch-französische Kunstregulirung, der mächtige Einfluss der entwickelten Kunst des Nachbarvolkes: als dann die Griechen hereintraten, war Shakespeare an ihrer Seite; und welche Phalanx von Helden stand da, sie zu empfangen. Die Römer hatten, als sie vor der Schwelle ihrer litterarischen Produktion standen, eine kriegerische und politische Vergangenheit ohne gleichen; sie hatten Italien erobert, ihren Staat und ihr Recht gestaltet; ihre Sprache hatten sie sicherlich nicht nur zu scharfer Formulirung der Rechtssätze, sondern auch in Gericht, Senat und Volksversammlung durchgebildet; von Poesie aber gab es nichts als die volksmässigen Elemente, aus deren gleichen die Griechen ihre Poesie geschaffen hatten. Das litterarische Bedürfniss erwachte, als in dem erobernden Rom eine griechische Bevölkerung zusammenströmte, als Rom über Italien hinaus in die hellenistischen Länder griff. Es wurde befriedigt, indem ein halbgriechischer [8] Schulmeister Homer, Sophokles und Menander übersetzte. Um aus ihren Balladen und Ernteschwänken ein eigenes Epos und Drama herauszuschaffen, hätten die Römer eben die Griechen sein müssen.
Das Entscheidende ist dieses: es gab nur eine litterarische Kultur, nur eine Litteratur, die griechische; sie war die Litteratur. Jedes andere Barbarenvolk hätte sich begnügt, die Originale, von wandernden Truppen gespielt, auf der Bühne zu sehn; ein anderes Volk mit so starkem Bildungsdrange wie das römische hätte sich wenigstens in seinen oberen Schichten hellenisirt. Die Römer, die doch, soweit ihre Geschichte zurückreicht, den Kultureinfluss der italischen Griechen und der halb hellenisirten Etrusker erfahren hatten, erfanden statt dessen die Kunst des Uebersetzens, eine neue Kunst, durch die sie die griechische Litteratur für ihr Volksthum eroberten. Es war eine ganz populäre Bewegung, und, mehr als das, keine specifisch römische, sondern eine italische Bewegung. Vornehme Römer schrieben damals in der That römische Geschichte in griechischer Sprache; den italischen Plebejer erhob eine neue Art nationalen Selbstgefühls, und in der Stadt, die einen italischen Staat geschmiedet hatte, dichtete er im Dialekt des herrschenden Stammes, indem er sich mit Stolz poeta barbarus nannte.
Die ersten Generationen sind erfüllt von einem Wellengange auf- und niedergehenden Strebens, einmal den italischen Vers gegen die andringenden griechischen Formen zu vertheidigen, die Thaten des eigenen Volks in Epos und Tragödie, das eigene Volksleben in der Komödie vorzuführen; dann wieder, dem griechischen Vorbilde so nahe wie möglich zu kommen. Diese zweite Tendenz musste um so stärker werden, je mehr sich durch den beständig steigenden Verkehr in Krieg und Handel, durch den wachsenden Zufluss gebildeter Griechen die Einwirkung der griechischen Kultur verstärkte. Es war dem römischen Geiste nicht beschieden, seine Bahn allein zu wandern. Als die römische Litteratur ein Jahrhundert gedauert hatte, besass sie ein nationales Epos in Hexametern und eine ganze Bibliothek von attischen Komödien und Tragödien in lateinischen Bearbeitungen von sehr verschiedener Individualität, von durchgehender Vollendung der Verstechnik und Sprachbehandlung.
Für uns vertreten diese Periode vornehmlich Plautus und Terenz, jener ein Zeitgenosse des älteren, dieser des jüngeren Scipio Africanus. Wenn wir nach ihrer Originalität fragen, so gibt es keinen besseren Maasstab der Vergleichung als die Lustspiele [9] ihres Nachfahren Holberg. Plautus und Terenz waren ihm vertraut; dazu brachte er aus Frankreich und Italien die Stoffe des romanischen Lustspiels in seine nordische Heimath. Er behielt die Motive und Erfindungen der Vorgänger in Menge bei, auch die von ihnen ausgeprägten Charaktere finden sich wieder, aber Geist und Lebensluft seines Lustspiels sind dänisch, das städtische und ländliche Kleinleben, die Gestalten aus dem Bürgerhause und vom Bauernhofe. So gab er seinem Volk mit einem Schlage ein nationales Lustspiel als Grundstock einer eigenen Litteratur. Plautus dagegen überträgt das Stück eines attischen Dichters mit Costüm und Schauplatz, Personen und Sitten, nur dass er Elemente römischen Lebens und römischer Denkweise aufs freieste einströmen lässt; stofflich oft sehr willkürlich und zum Schaden der Kunstform, indem er ein paar Stücke in einander arbeitet und die Absichten des Dichters oder der Dichter verdunkelt, ohne ein neues in sich ruhendes Gebilde zu schaffen. Diese Gleichgiltigkeit gegen die feine attische Form hat ihren guten Grund, denn in der That wollte er eine neue Spielart der Komödie, ein Singspiel im neueren hellenistischen Stil, an die Stelle des recitirenden Lustspiels setzen und wenigstens die theatralische Form der Komödie weiter bilden. Terenz dagegen ist, soweit es die gefestigte Gewohnheit der Bühne gestattete, wieder zur recitirenden Form Menanders zurückgekehrt und hat die Reinheit des attischen Tones wenigstens insoweit wieder hergestellt, dass er die Anklänge an römisches Leben verstummen liess.
In der nun folgenden Zeit, dem Jahrhundert der Revolution und der inneren Kämpfe bis zum Untergang der Republik, einer Zeit, die trotz der schrecklichsten politischen Zerfahrenheit doch die Bande, mit denen der römische Staat die hellenistische Welt umklammerte, nur immer fester zog, in dieser Zeit vollendete sich die griechisch-römische Kultur; die griechische Sprache, Kunst und Wissenschaften waren in den höheren römischen Bildungsschichten so heimisch geworden wie daheim; sie wirkten nun produktiv in neuer Weise, in innerer Verbindung mit dem römischen Geiste. So vollzog sich die Entwickelung der römischen Litteratur, auf die schon Plautus hinweist, von der ein dunkles Streben nach nationaler Selbständigkeit vor und nach ihm abgelenkt hatte, in der die Zukunft der römischen Produktion beschlossen war.
Man kann es vielleicht so ausdrücken, dass die Nachahmung durch die Nachfolge ersetzt wurde. Nachahmen und Nachmachen gab es auch ferner, das Uebersetzen aus dem Griechischen galt noch lange als vornehme Kunst; aber im allgemeinen wurde es eine Nachfolge.
[10] Das ist so zu verstehen. Auch in der griechischen Litteratur gab es eine absolute Originalität nur bis die litterarischen Gattungen ausgebildet waren. Als das Epos seine Gestalt hatte, als Aeschylos die Tragödie, Menander die neue Komödie, Thukydides die politische Geschichtsschreibung, Plato den philosophischen Dialog vollendet hatte, da gab es auch unter den Griechen nur Nachfolger; wie in jeder Kunst von eigener und ungestörter Entwicklung. An diese Reihen schlossen sich die Römer an und setzten mit ihrer eigenen Kunst, deren Wurzeln im eigenen wie im griechischen Volksthum lagen, die griechische Produktion fort; und sie thaten es mit Ehren.
Diese Bewegung leitete Lucilius ein, der die Satire geschaffen hat; eine poetische Spielart der vielen in griechischer Produktion vorhandenen Formen, in denen ein freier Geist den Inhalt seiner Persönlichkeit darlegen konnte; entschieden italischen Blutes, doch nicht denkbar ohne die griechische Bildung in der sie ruhte. Diese innere Befreiung, die zwar die Ketten abstreifte, mit denen der Besiegte den Sieger gefesselt hatte, aber nur um so bereiter im Gefühl der eigenen Stärke den griechischen Wegweisern folgte, führte die nächsten Generationen empor. Wir besitzen das Gedicht des Lucrez: die mechanische Welterklärung Epikurs hat den Römer von Götterfurcht und Todesfurcht befreit; was für den Griechen nur eine Form der Aufklärung neben ändern, war für ihn begeisternde Offenbarung, was den Griechen aus der Unruhe des Lebens in befriedigten Quietismus lockte, weckte sein poetisches Vermögen. Er dichtete die Physik Epikurs, weil ihn der Geist ergriff, wie vor einem halben Jahrtausend die philosophischen Dichter der Griechen ihre Welterkenntniss gedichtet hatten. Das war nicht mehr griechisch und war auch nicht mehr denkbar auf griechischem Boden; solche Pflanze konnte nur auf neuem Lande gedeihen. Catull war Einer von Vielen, die in der griechischen und nun, in Sullas und Cäsars Zeiten, auch in der römischen Gesellschaft künstliche Verse verfertigten. Aber statt des abgenutzten, mit gelehrtem Beiwerk verbrämten Sentiments erklang hier, im Munde des italischen Galliers, auf einmal eine Melodie und Fülle wie sie den Griechen seit Jahrhunderten abhanden gekommen war.
Sobald die römische Produktion auf eigenen Füssen stand, musste die Prosakunst in ihr nach dem Vorrang dringen; denn da lagen die eigenen Aufgaben des Römers, in den Gebieten der juristischen und politischen, der rhetorischen und historischen Schriftstellerei. So ist es im folgerichtigen Lauf der Dinge gekommen, [11] dass die römische Litteratur der republikanischen Zeit zu Cicero als ihrem Gipfel aufstieg.
Cicero hat von griechischen Lehrern und in Griechenland gelernt, er hat Demosthenes als sein rednerisches Vorbild anerkannt, er hat seine technischen Erörterungen an die griechischen Begründer der Rhetorik angeknüpft, er hat seine philosophischen Schriften selbst als Nachbildungen bezeichnet. Wo ist seine Originalität?
Die Redekunst verlangt, um wahrhaft zu leben, einen lebendigen Staat von politischer Macht und freier innerer Bewegung. Für Griechenland hatte sie mit Demosthenes ihr natürliches Ende erreicht. Eine neue starke Entwicklung erfuhr sie wieder in Rom, zuerst aus eigenen Wurzeln, dann unter Einwirkung der griechischen Zeitströmungen, getragen von politischen Persönlichkeiten und beseelt vom Drange des Parteienkampfes um Macht und Existenz. Aber den Griechen war die Rede nicht nur ein Kampf- und Machtmittel, gesprochen für die Wirkung des Moments oder als Pamphlet ins Publikum gebracht, sie war seit Isokrates eine litterarische Kunst. Das wurde sie in Rom durch Cicero, er stellte sich als Beherrscher aller Stile und Meister in der kunstmässigen Gestaltung, die aus der Rede des Tages ein Werk von litterarischer Dauer machte, unmittelbar hinter Demosthenes. Die Griechen hatten eine reiche technisch-rhetorische Litteratur; in diese trat Cicero mit seinem Buche ‚vom Redner‘ mitten hinein; und hier geschah es zum ersten mal, dass ein Römer die griechische Produktion insgesammt überragte. Hier sprach aus den Erfahrungen seines Lebens heraus ein Meister, dessen Rede am Sitze der Weltregierung etwas bedeutete, ein Schriftsteller, dem die litterarische Kunst wie wenigen Griechen zu Gebote stand. Er stellte das Ideal der rednerischen Bildung auf, das griechische Philosophen im Hinblick auf die römische Jugend construirt hatten; denn noch war es für den jungen Römer das Lebensideal, durch Redekunst zu politischer Thätigkeit und Macht zu gelangen. Noch, wie es für Cicero selber das Lebensziel gewesen war. Darin liegt die Tragik nicht nur seines Lebens, auch seines Schaffens, dass schon die Welt im Versinken war, für die er schuf und lebte. Schon für die nächste Generation konnte das Buch vom Redner nur noch ein litterarisches Buch sein, nicht mehr ein Führer fürs Leben. Ebenso das Buch ‚vom Staate‘ mit Ciceros politischem Ideal, dem verklärten Bilde des römischen Staates, die Fortsetzung der staatsphilosophischen Litteratur der Griechen. Diese Werke wie die folgende Reihe der philosophischen Schriften erneuerten die platonische [12] Kunstform des Dialogs, indem sie den griechischen Schulstreit in die Sphäre des geselligen Gesprächs der neuen griechisch-römischen Bildung erhoben. Es ist vielleicht zu Ciceros Nachtheil, wenn man ihn mit Demosthenes, gewiss wenn man ihn mit Plato vergleicht; aber als Nachfolger des Künstlers Plato steht er über allen ändern Nachfolgern die wir kennen, und hoch über der Produktion seines Zeitalters.
Als der andere Gipfel der römischen Litteratur steht Cicero gegenüber, von ihm getrennt durch die Kluft der vollendeten Umwälzung des Staates und der Lebensanschauungen, die Poesie der augusteischen Zeit. Dass diese Poesie dem Kunstverlangen, der ästhetischen Sehnsucht der römischen Welt genug gethan hat, wie den Griechen Homer und Kallimachos, Euripides und Menander, das lässt sich nur zum Theil der vollkommenen Behandlung der Sprache, dem Wohllaut des Verses, dem das vorhandene Gut nach den neuen Wünschen eines neuen Zeitalters klug umprägenden Kunstverstande zuschreiben; ein Volk das die barbarische Welt des Westens civilisirt hat, nicht nur mit seinem Staat und Recht, auch mit seiner Sprache und Litteratur, dessen Poesie hat auch ihren Gehalt aus eigenem Rechte gehabt. Nur nach diesem Eigenen fragen wir heute.
Virgil steht in der Nachfolge Homers genau in dem Sinne wie Goethe es für schön erklärt hat, Homeride zu sein; auch Hermann und Dorothea steht unter der Sonne Homers; nur dass für den antiken Poeten eine dem modernen Verständniss fremde, durch die immer fortzeugende Einwirkung immer neu sich aufdrängende poetische Kleinarbeit mit der künstlerischen Freiheit verbunden war. Wie das ganze griechische Epos von Homer abhängig war, so war für Virgil wie vordem für Ennius dieselbe Abhängigkeit als etwas Natürliches gegeben. Auch seine Aeneis war mythisch-homerisch; aber sie war zugleich national und römisch im neuen Sinne. Der Stammvater Roms und des Augustus war sein Held, die Einkehr der Vorfahren und ihrer Götter auf italischem Boden sein Gegenstand. Dass ein nationaler Stoff diese hellenisirende Behandlung vertrug, lag eben daran, dass die geistige Kultur Italiens griechisch-italisch geworden war. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet steht die Erfindung Virgils dem homerischen Epos mit grösserer Freiheit gegenüber als die nachhomerischen Griechen alle. Die Ausführung, Virgils epische Kunst, erscheint als eine eigene, bewusst durchgeführte Kunst, von Homer und dem hellenistischen Epos gesondert, aus der Zeit und ihrer Sinnesrichtung hervorgewachsen. Der Römer durfte sich sagen, das [13] eigenste Produkt grossen epischen Stils zu besitzen, das nach der Blüthe des alten Epos entstanden war.
Horaz hat seine Formen dem lesbischen Liede nachgebildet und Anklänge an dieses wie an Pindar, Bakchylides, Anakreon finden sich bei ihm; darum ist er nicht Nachahmer eines oder einiger aus diesem Kreise. Er hat sich selbst den neun lyrischen Dichtern der griechischen Vergangenheit angereiht; aber dieser zehnte Lyriker dichtet nicht nur in lateinischer Sprache, sondern als Römer. Es ist das Rom dieser Zeit, mit Augustus in der Mitte, das aus Schrecken und Graus zu neuem Leben und Lebensgenuss erwachte Rom, dessen bewegende Empfindungen und Gedanken hier ihren Ausdruck gefunden haben. Und es ist Horaz, dessen Gefühl und Geist sich ausspricht, eine so ganz auf eigenen Füssen stehende Persönlichkeit, dass die Versuche ihn nachzuahmen zu aller Zeit übel abgelaufen sind.
Wie Virgil und Horaz die klassische Poesie fortsetzen, so Tibull, Properz und Ovid die moderne der hellenistischen Welt; und zwar haben, nach Allem was wir sehen und vermuthen können, Tibull und Properz die elegische Dichtung des Alterthums, Ovid die mythische Erzählung leichteren Stils zu ganz individueller Vollendung geführt. Auch dieser Dichter Stoffe und Motive waren zum grossen Theil von ihren griechischen Vorgängern gefunden; aber doch spiegelt sich in ihrer Dichtung das neue Rom mit seinen Stimmungen und den bunten Farben seiner grossen und kleinen Welt; ihre Dichtung ist bedingt und frei nicht anders als Goethes Elegien, da Properz ihn begeisterte, und seine Epigramme, da sich Martial der Verwegene zu ihm gesellt hatte.
Hiermit mag es genug sein, denn ich will nicht alle Namen nennen und auch nicht viele; wenn es nur deutlich geworden ist, dass die römische Litteratur, sobald sie zu eigenem Rechte anwuchs, nicht die Nachahmerin, sondern die Fortsetzerin der griechischen wurde, mit demselben Anspruch an Mit- und Nachwelt, den die griechischen Dichter erheben, so viele den grossen Begründern der litterarischen Gattungen nachfolgten. Auf mehr als einem Gebiete haben die Römer ihre Vorgänger in Schatten gestellt. Und die Dante und Tasso, die Milton und Pope, die Corneille und Molière und Holberg haben auch aus lebendigen Quellen des Alterthums, nicht aus der Wasserleitung getrunken. –
Es gab eine Zeit, da man in den Kirchen die Bilder übertünchte, die dem Geschmacke des Tages fremd geworden waren und die man in unsern Tagen als Zeugen wahrer Kunst wieder aufgedeckt hat. Alle Wissenschaft hat die Aufgabe, das Dauernde [14] zu erkennen und das Flüchtige und den Schein abzusondern. Auch die historische Wissenschaft, die den Blick in die Vergangenheit senkt, will nur Lebendiges zum Leben erwecken, aber das Todte bei den Todten lassen. Die Gegenwart, in der sich tausend lebendige Kräfte treffen die aus der Vergangenheit in die Zukunft dringen wollen, ist ihr Freund; nur dem Ephemeren ist sie feind, das sich am Lichte der einen Sonne spreizt, die ihm aufgehen sollte.
Wir feiern jetzt von Jahr zu Jahr die Gedächtnisstage der Grossen, die vor einem Jahrhundert als Begründer der neueren deutschen Kultur dahingegangen sind. Damals ist die historische Philologie geboren worden, als ein Kind der geistigen Bewegung, mit der sich das achtzehnte Jahrhundert zum Ende neigte. Ihre ältere Schwester, die Naturwissenschaft, war schon ein Jahrhundert hindurch erstarkt und hatte die europäische Aufklärung von England durch Frankreich nach Deutschland herein begleitet. Hier wuchs, alles Wachsthum der Zeit überragend, die deutsche Dichtung auf, und neben ihr, in der alten Kraft und Fülle des griechischen Gedankens, die neue Philosophie. In wunderbarer Vereinigung ging die schöne Litteratur mit den Wissenschaften, mit der Wissenschaft den Weg hinan.
Solch ein Zusammenklingen aller geistigen Kräfte ist nicht jedem Zeitalter beschieden; am wenigsten dem unsern, das von den Schlagworten einer ästhetischen Kultur oder gar einer technischen Kultur widerhallt. Auch in solchen Zeiten geht die Wissenschaft still und bewusst, erobernd und bewahrend ihres Weges weiter. Sie kann nicht anders als sich unablässig erneuern und ihr Reich erweitern; aber sie kann es nur, indem sie das echte alte Gut hütet und verwaltet, um ihrer selbst willen, um seiner selbst willen, aber auch um der allgemeinen Kultur willen, die im Trug und Rausch des Tages so gern den Boden überflöge, der doch ihr mütterlicher Boden ist.
Die Universität ist mit allen Bewegungen der Zeit verbunden, sie wird durch alle berührt. Möge sie keinem lebendigen Wollen und Werden der Gegenwart fremd bleiben und sorgen, dass vom wahren Leben der Vergangenheit kein Stück verloren gehe.
An diesem Tage tritt die Universität an die Öffentlichkeit, um das Resultat der vor einem Jahre ausgeschriebenen Preisbewerbung zu verkünden. Die Fakultäten stellen die Aufgaben und erteilen die Preise, die Universität verteilt sie. So sind überhaupt die Fakultäten die Organe für die wissenschaftliche Verwaltung
[15] der Universität, die solcher Organe bedarf. Denn die Organisation der Universität als einer die Gesamtheit der Wissenschaften umfassenden öffentlichen Lehranstalt muss so beschaffen sein, dass sie eingreifend und mitwirkend den Veränderungen des öffentlichen Bildungslebens folgen, seine Stösse pariren, seine Anstösse zum Guten lenken, die in ihren Bereich fallende Entwicklung führen könne. Diese Organisation ruht in den Fakultäten. Die Fakultäten richten keine Schranken zwischen den Wissenschaften auf. Sie sind Verwaltungskörper, die lediglich für die zweckmässigste Einrichtung des öffentlichen Unterrichts, die lediglich dazu da sind, dass die Universität durch stets rasch und sicher arbeitende Organe das Gute zu erhalten und zu ersetzen, das Neue nutzbar zu machen, das Ephemere fern zu halten vermöge. Wenn sie diesen Zwecken nicht mehr genugtun, so müssen die Fakultätsgrenzen anders gezogen werden.
Die Fakultäten trennen uns nicht und verbinden uns nicht; aber die Universität verbindet uns mit der ihr innewohnenden Einheit. Die Vielheit der Wissenschaften trennt uns nicht, sie verbindet uns mit dem Bande, das die Wissenschaften selbst zu einer Einheit macht. Wenn die Einheit der Wissenschaft den Maasstab gibt, so erscheinen die Fakultätsgrenzen als das was sie in Wahrheit sind. Es ist zum Schaden des Ganzen, wenn man aus missverständlicher Anwendung ideeller Argumente die reale Wirkung lahm legt, der die Fakultäten zu dienen bestimmt sind.
Ich gedachte etwas von diesen Sätzen an den vorliegenden Preisfragen selbst zu demonstrieren. Aber ich ziehe es vor, rasch über sie hinwegzugleiten, denn wir können mit der Preisbewerbung dieses Jahres keinen Staat machen. Nur eine Aufgabe hat einen Bearbeiter gefunden, die der medizinischen Fakultät. Das Thema lautet:
„Es soll, im Anschluss an eine Zusammenstellung des einschlägigen literarischen Materiales, untersucht werden, inwieweit die Wirkung des Mutterkorns und seiner Präparate, insonderheit die des Sphacelotoxins, auf den Uterus von einer Wirkung auf die Circulation, inwieweit von einer direkten Beeinflussung nervöser Apparate oder der Muskulatur abhängt“. Es ist eine Arbeit eingegangen mit dem Motto: The proper study of mankind’s man. Das Urtheil der Fakultät lautet:
Wie bei dem Umfang des gestellten Themas kaum anders zu erwarten war, hat der Verfasser auf eine Behandlung desselben in seiner Gesamtheit verzichtet und hat sich darauf beschränkt, [16] die allerdings zunächst wichtige Frage nach der Wirkung des Mutterkorns und seiner Präparate auf die Circulation im Allgemeinen zu bearbeiten.
An der Hand der mit grossem Fleiss zusammengestellten und unter kritischer Besprechung wiedergegebenen sehr umfangreichen Literatur sucht der Verfasser festzustellen, welche Veränderungen im Gebiete der Blutcirculation auf Grund der zur Zeit vorliegenden Versuche als sicher festgestellt anzusehen sind.
Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass eine anhaltende Blutdrucksteigerung, wie sie für die Erklärung der Entstehung der Gangrän auf Grund eines allgemeinen Spasmus der Gefässe bisher angenommen wurde, von keinem Experimentator einwandsfrei und überzeugend nachgewiesen ist und wie es scheint auch nicht besteht.
In bester Uebereinstimmung mit diesem Ergebnis seiner Literaturstudie stehen die zum Schluss wiedergegebenen zur Klärung der Frage neu angestellten Versuche, welche zeigen, dass auch die Uteruswirkung nicht wohl mehr als eine indirekte Folge einer allgemeinen Gefässwirkung und durch sie bedingten Circulationsveränderung angesehen werden kann.
Die Arbeit hat somit, wenn sie auch nicht die Frage nach der Art des Zustandekommens der Wirkung des Mutterkorns auf den Uterus als solche beantwortet, einen für die Bearbeitung dieser schwierigen Frage sowie für die Aufklärung der Mutterkornwirkung überhaupt sehr wichtigen Punkt klargestellt.
Das von dem Verfasser als Anhang gegebene sehr umfassende Verzeichnis der gesamten sich mit der pharmakologischen Wirkung des Mutterkorns befassenden Literatur stellt für die weitere Bearbeitung der Mutterkornfrage, da es gleichzeitig kurze Angaben über den Inhalt der betreffenden Publikationen enthält, eine wertvolle Vorarbeit dar. Da die Arbeit grossen Fleiss und gutes Verständnis zeigt, ertheilt die Fakultät derselben den vollen Preis und die Zulassung zur Publikation.
Der Umschlag enthält den Namen:
Für das Jahr 1904/5 werden folgende Preisaufgaben gestellt: Von der theologischen Fakultät:
- „Die Exegese von Röm. VII in der alten Kirche bis auf Augustin und Pelagius einschliesslich als Beitrag zur Geschichte der Lehre von Gnade und Freiheit“.
[17] Als Text für die nächste Preispredigt wird bestimmt:
- Jeremia 31, 31–34.
Von der juristischen Fakultät:
- „Der vertragsmässig bestellte Leistungsempfänger (solutionis causa adiectus) nach römischem und nach heutigem Recht.“
Von der medizinischen Fakultät:
- „Der Einfluss metereologischer Faktoren auf den Keimgehalt der Luft.“
Von der philosophischen Fakultät:
- 1. „Es soll das wechselseitige Verhältnis von Vers-, Wort- und Satzaccent in Chaucers Canterbury Tales nach Umfang und Art festgestellt werden. Die ermittelten Tatsachen sind geschichtlich zu begründen und die Ergebnisse für Chaucers Verskunst fruchtbar zu machen.“
- 2. Otto Freiherr von Münchhausen auf Schwöbber, seine Bedeutung als landwirtschaftlicher Schriftsteller und seine Verdienste um die Begründung der Landwirtschaftslehre. Die Arbeit soll sich auf die vorhandenen Druckschriften, vielleicht auch auf noch nicht veröffentlichtes Material, stützen und nebenbei auch ergänzende Notizen über den Lebensgang O. v. Münchhausens bringen.
Die Bedingungen der Konkurrenz werden durch Anschlag am schwarzen Brett bekannt gemacht werden.
Über die Veränderungen, die seit der letzten Jahresfeier an unserer Universität stattgefunden haben, ist rasch berichtet. Der Tod hat die Reihen des Lehrkörpers verschont, aber vier hoffnungsvolle Studenten hingenommen: Gerhard Rohlfs aus Aurich, August Rinke aus Markoldendorf, Dimitry Schor aus Odessa, Isidor Bruck aus Neu-Satz in Ungarn.
Auch um an andere Universitäten überzusiedeln hat keiner unsrer älteren Kollegen uns verlassen. Prof. Dr. Paul Kehr ist seit Oktober 1903 mit den Direktorialgeschäften des preussischen historischen Instituts in Rom betraut und bis auf weiteres aus seinem Amt als ordentlicher Professor beurlaubt worden. Drei Privatdozenten sind in ihre ersten Professuren berufen worden: Dr. Heinrich Lüders als ausserordentlicher Professor nach Rostock, Prof. Dr. Rudolf Beneke als ordentlicher Professor nach Königsberg, Dr. Wilhelm Manchot als ausserordentlicher Professor nach Würzburg.
[18] Dagegen durften wir eine Anzahl neuer Kollegen unter uns begrüssen: Prof. Dr. Friedrich Andreas, über dessen Ernennung bereits vor einem Jahre berichtet werden konnte, trat sein Amt als ausserordentlicher Professor in der philosophischen Fakultät im Herbst 1903, der Geh. Kirchenrath Prof. Dr. Ferdinand Kattenbusch das seine als Nachfolger von Hermann Schultz mit Beginn des Sommersemesters an. Dr. Walther Stein wurde zur Vertretung von Prof. Kehr als ausserordentlicher Professor aus Breslau berufen, Dr. Paul Stolper nach seiner Habilitation zum ausserordentlichen Professor für gerichtliche Medizin ernannt.
Ausserdem haben sich in der medizinischen Fakultät habilitirt Dr. Georg Fleck, Dr. Heinrich Jacobsthal, Dr. Alfred Schittenhelm, Dr. Heinrich Vogt und Dr. Julius Voigt; in der philos. Fakultät Dr. Wilhelm Biltz für Chemie und Dr. Max Friederichsen für Geographie.
Die Immatrikulation dieses Semesters ergibt die Zahl von 1592 Studierenden und 116 Hörern, zusammen 1708 gegen 1502 des vorigen Semesters, gegen die bisher höchste Frequenz von 1547 im Jahre 1823.
Die deutschen Universitäten haben sich, indem sie ihren Beruf als Unterrichtsanstalten in hohem Sinne fassten, zu Zentralstätten der wissenschaftlichen Arbeit entwickelt. Unser Staat hat mit einer wahrhaft grandiosen Auffassung dessen, was ihm zum Heile gereicht, diese Entwicklung acceptirt; er geht in der Unterhaltung seiner hohen Schulen weit über das sichtbare Bedürfnis hinaus; wir fühlen uns in seinem Schutze wohl geborgen und sind der Bedingungen unseres Lebens und Gedeihens in alle Wege sicher. Das Wollen und Können unseres Staates sehen wir in unserm Könige verkörpert. So oft wir zu öffentlicher Feier zusammenkommen, gilt ihm unser huldigender Dank; und wie wir in die Arbeit des Tages zurücktreten, bringen wir ihm unsern Heil- und Segenswunsch mit dem Rufe: Seine Majestät unser Kaiser und König, Wilhelm II., er lebe hoch! hoch! hoch!
Göttingen. Druck der Dieterich’schen Univ.-Buchdruckerei (W. Fr. Kaestner).
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: griechiche