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Die Sühne durchs Leben

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Autor: Gottfried Kinkel
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Titel: Die Sühne durchs Leben
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40–42, S. 661–664, 681–684, 707–712
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Sühne durchs Leben.

Von Gottfried Kinkel.


Eine warme Sommernacht ruhte über einer noch jungen Ansiedlung im westlichen Theil des Staates Iowa, da wo er an Minnesota stößt. Der Mond, im ersten Viertel über der Prairie untergehend, warf ein röthliches Dämmerlicht über die Gegend. Es war, was die Hinterwäldler eine Opening nennen; die Prairie drang vom Westen her in den Urwald ein und bildete zwischen dessen dunkler Umsäumung eine Bucht. Am Waldrand floß mit leisem Rauschen ein klarer tiefer Bach, und über diesem war ein Stück des Forstes ausgehauen, um das Holz für die Wohngebäude und die mächtigen Zäune zu liefern, welche die Pflanzung mit dunkeln Linien einschlossen und durchschnitten. Die Stümpfe der von der Holzaxt auf halber Manneshöhe abgeschlagenen Bäume standen bleich im Mondlicht, wie Grabsteine auf einem Kirchhof; zwischen ihnen lagen schlafend die braunen Pferde. Näher der Wohnung, auf der flachen Wiese, ruhten die Rinder, und nur leise tönte zuweilen eine Kuhglocke, wenn ein Thier im Schlaf einen kriechenden Käfer abschüttelte. Weiterhin am Waldsaume hingereiht sah man noch ein paar Blockhäuser in ihren Pferchen liegen, wo andere Ansiedler auf dem Boden sich niedergelassen hatten, den der Pflug aber erst dem Ackerbau eroberte. Die Nacht war heiter und still: aus dem tiefen Urwald kein Schlag eines Vogels, im Haus des Ansiedlers kein Licht; nur Feuerfliegen durchgaukelten den Wald, wo sein Laub gegen den Wiesenrand hin dünner wurde und ihrem Spiel Raum gab. Zuweilen rauschte ein Windstoß von der Steppe herüber und verklang ostwärts in dem unergründlichen Walde.

Jetzt aber, als eben der Mond über der silberglänzenden Grasfläche wie über einem Meere versank, scholl aus der Prairie, von dem hohen Gras gedämpft, der Hufschlag eines Pferdes. Auf einem zottigen Pony ritt ein Knabe auf die Ansiedlung zu, an allen Blockhäusern vorüber, schlug mit dem Knopf seiner Peitsche an die Fensterladen und weckte die Bewohner. Vor dem größten der Häuser sprang er vom Pferde, band den Zügel an den Pfostenring und öffnete die Thür.

Drinnen und in allen Blockhäusern den Waldsaum entlang wurde es lebendig, in den Fenstern schienen Lichter. Die Thüren öffneten sich, die Männer traten heraus in ihren warmen Röcken von Wolldecken gemacht, alle die Flinte in der Hand, in den Thüren standen die Frauen, neugierig zu hören, was es gebe.

Die Männer sammelten sich vor der größten Ansiedlung; deren Besitzer trat unter sie und sagte leise: „Aloys meldet, die Indianer kommen diese Nacht. Ritter,“ sagte er zu einem der Nachbarn, „lauf’ an alle Häuser und heiße die Frauen die Lichter löschen, damit sie nicht sehen, daß wir gewarnt sind.“

„Laß den Aloys erzählen, was er weiß,“ sprach ein Anderer.

Der Knabe, der inzwischen einen Carabiner geladen hatte, trat unter die Männer und gab Bericht.

Er war höchstens fünfzehn Jahr alt, aber in der frühen Reife, die Arbeit und Gefahr auf solch neuem Boden hervortreiben, mochte er an Thatkraft und Verstand wohl für einen Mann gelten.

Die Nachbarn schätzten ihn und vertrauten seinem Wort.

Wieder einmal war an den Grenzen der Cultur und der Steppe der Kampf zwischen Ackerbau und Jägerfreiheit entbrannt, der so alt wie die Culturwelt ist. Der Indianerstamm der Dacotahs hatte auf diesen äußersten Pflanzungen mit einem Viehdiebstahl den Anfang gemacht; auch dem Vater des Aloys waren ein paar gute canadische Pferde in die Prairie verschwunden. Aus Rache hatten einige Yankees von der drei Stunden entfernten Nachbar-Ansiedlung zwei Indianer erschossen, die friedlich und vielleicht ohne böse Hintergedanken ihre Pflanzungen betraten. Die Dacotahs übten Blutrache, und jene Pflanzung war in einer Nacht überfallen, alle Männer erschlagen, Weiber, Kinder und Vieh fortgeführt und die Blockhäuser niedergebrannt worden.

Seit dies geschehen, litt es den Aloys Nachts nicht zu Haus. Die Männer waren von der schweren heißen Tagesarbeit der Ernte zu müde, um regelmäßige Wachen aufzustellen; auch hatte man mehrere Wochen von Indianern nichts mehr gehört, es hieß, sie hätten sich nordwärts nach dem inneren Minnesota zurückgezogen; die Regierung der Vereinigten Staaten hatte zehn Stunden rückwärts von der Pflanzung einen Posten regelmäßigen Militärs aufgestellt, das schien sie zurückgescheucht zu haben. Mit der Leichtblütigkeit, die alle Menschen in stets gefährdeter Lage kennzeichnet, gab man sich wieder einer sorglosen Sicherheit hin.

Nur Aloys rastete nicht. Er war ein merkwürdiger Mensch. Schon mit sechs Jahren ritt er am liebsten allein auf seinem Pony in die Prairie hinaus, halbe Tage lang, wenn es auf den Feldern und beim Vieh nichts zu arbeiten gab. Mit der Prairie war er vertrauter als irgend ein Mann unter den Ansiedlern. Jedes Rinnsal eines Baches, jeden Busch kannte er, der als Merkzeichen eines Tümpels diente; Tagereisen weit in die Steppe hinaus wußte er, wo Wasser anzutreffen war. Als er zehn Jahre alt wurde, ritt er mit der Vogelflinte den Prairiehühnern und Wandertauben nach, die waren dann auch seine Nahrung, und oft kam [662] er erst nach mehreren Tagen mit reicher Jagdbeute in der Ansiedlung wieder an.

Sein Vater, der die jüngeren Kinder nach amerikanischer Weise als Gottessegen ansah, weil sie ihm von früh auf tapfer bei der Arbeit halfen, ließ diesem Einen Sohn die merkwürdigste Freiheit, dafür arbeitete Aloys aber auch für zwei, wenn zur Zeit des Pflügens, Säens und Einschneidens die Geschäfte sich drängten.

Die Mutter des Aloys war vor einem Jahr gestorben. Mit deren Tode kam über ihn ein neuer Geist. Ein Wanderapostel der Mäßigkeitsvereine war um jene Zeit in diese entfernten Gebiete vorgedrungen und hatte auf der Farm für eine Nacht gastliche Aufnahme nach Hinterwäldlersitte gefunden. Von diesem nahm der Knabe aus eigenem Entschluß die Medaille, die ihn zur Enthaltsamkeit von allen geistigen Getränken verpflichtete, und wenn der Vater bei der Feldarbeit den Kindern einen Whisky einschenkte oder Sonntags ein Glas guten Weines gab, verschmähte er jede Stärkung dieser Art. Man bemerkte im Dorf, daß er seit dem Tod der Mutter auch sonst einsamer und ungeselliger in Gemüth und Sitten wurde und immer länger in Wald und Steppe sich umtrieb.

Diesmal kam aber seine rastlose Jäger- und Reiternatur allen Nachbarn zum Segen. Seit der Indianergefahr war er wie von innerer Unruhe verzehrt. Jeden Abend nach dem Nachtessen lud er die Flinte frisch, bestieg sein Pferd und schweifte nach der Steppe hinaus; oft kehrte er erst gegen die Morgendämmerung zurück, aber seiner starken Natur genügten die paar Stunden Schlaf, um am Morgen wieder mit allen übrigen Hausbewohnern die Sichel oder Sense zu schwingen. Alles kannte seine Tüchtigkeit, und seine Meldung in jener Nacht: die Indianer kommen! wurde aufgenommen, als ob ein reifer Mann sie ausgesprochen hätte.

„Die Indianer kommen,“ sagte er ruhig und leise zu den lauschenden Männern. „An der Creek, drei Stunden von hier, haben sie am Abend ihr Lagerfeuer gezündet. Sie schlachteten und brieten einen Ochsen von unsern Nachbarn, und im Mondlicht malten sie ihre Gesichter mit der Kriegsfarbe.“

„Woher weißt Du das?“ fragte der Vater.

„Ich sah das Feuer fern auf der Prairie,“ antwortete Aloys. „Da ließ ich das Pferd im Gebüsch an der untern Creek zurück, kroch und watete durch’s Flußbett bis zum Lager hinauf. Ich war ihnen so nahe, ich sah den Feuerglanz in ihren Augen sich spiegeln. Hunde haben sie keine mit, sie mögen wohl fürchten, daß ihr Bellen sie verrathen könnte. Als sie aufbrachen, bin ich durch die Creek bis zum Pferd zurückgewatet; sie können keine Fährte von mir spüren, sie wissen sicher nicht, daß wir gewarnt sind, und in einer Stunde sind sie hier.“

„Du bist ein braver Bursch,“ sagte Straites, ein Anglo-Amerikaner unter den sonst deutschen Ansiedlern. „Capitain Wölfling,“ wandte er sich an des Aloys Vater, „hier stellen wir uns Euch zu Dienst, commandirt uns, wir haben keine Zeit zu verlieren.“

„Aber wohl haben wir noch Zeit für einen kurzen Kriegsrath,“ sagte der Capitain. „Was meint Ihr Herren? Wir sind hier einundzwanzig Männer, die Buben eingerechnet, die auch ihr Gewehr zu führen wissen. Jeder hat seinen Fiveshooter, zwölf haben Bajonnete auf den Flinten, die andern haben gute Büchsen. Wie stark schätzest Du den Feind, Aloys?“

„Es sind nicht unter fünfzig und nicht über sechszig Indianer,“ sagte mit fester Bestimmtheit der Knabe.

Wäre die Nacht nicht dunkel gewesen, man hätte doch bei dieser Zahl einige Gesichter erbleichen sehen. Der Capitain aber entgegnete ruhig. „Im schlimmsten Fall also nur Drei auf Einen, und wir haben bessere Waffen und wehren uns um Weib und Kind, um unser Leben und unser wohlerworbenes Eigenthum. Also, was machen wir? Fünf Häuser und Haushaltungen sind. Sollen wir vier Mann in jedes Haus legen und aus den Fenstern schießen?“

„Unmöglich,“ sagte der Amerikaner. „Nur wenn wir zusammenwirken, können wir über die Ueberzahl siegen. Fallen sie Ein Haus an, da müssen die Anderen doch heraus, um zu helfen, und dann schießen die Indianer die Abtheilungen einzeln nieder. Wir müssen alle Häuser preisgeben bis auf Eins, in das versammeln wir alle Weiber und Kinder, und das eine vertheidigen wir.“

„Das muß Euer Haus sein, Capitain,“ sagte einer der Nachbarn, „denn es ist das festeste und hat die meisten Fenster zum Schießen.“

„Aber,“ warf der kleinere deutsche Ansiedler ein, „soll ich mein Haus abbrennen lassen und einem Anderen seines vertheidigen?“

Der Capitain erwiderte ruhig. „Was Einem zerstört wird, ersetzen wir Alle. Ist das Euch recht?“

„Recht, Capitain!“ tönte es von allen Seiten.

„Also die Frauen und Kinder schnell hierher in dies Haus,“ sagte Straites. „Und wir mit den Büchsen an die Fenster!“

„Capitain Wölfling,“ sagte Aloys, „wollt Ihr und die Männer mir gestatten, daß ich Euch eine andere Meinung sage? Ich habe mir’s überlegt auf dem Ritt hierher.“

„Sprich, Junge, wenn Du etwas Vernünftiges weißt!“

„Also,“ sagte Aloys, „es handelt sich nur um die Pferde. Die Indianer wollen die Pferde vor Allem, auch schon, damit Keiner von uns ihnen entwischen kann. Haben sie die Pferde, so hilft es uns nichts, wenn wir auch siegen, denn sie reiten uns in die Prairie hinaus und treiben auch die Kühe mit sich. Die Pferde, meine ich also, werden sie zuerst zu bekommen suchen und die Pferde müssen wir vertheidigen.“

Die Gründe des Knaben waren so schlagend, daß sie den kleinen Kriegsrath augenblicklich überzeugten. Ein beistimmendes Gemurmel sagte dies dem Capitain.

„Wir sollten,“ fuhr Aloys fort, „zwölf Pferde zäumen, satteln und festpflöcken, damit wir sie nachher verfolgen können, wenn sie fliehen. Dann möchte die Halbscheid von uns, die mit den Bajonneten, sich hinter den Pferdezaun dicht neben dem Gatter in’s Versteck legen. Durch’s Gatter werden sie eintreten wollen, um die Pferde zu fangen, dort empfängt man sie durch den Zaun mit einer Salve und stürzt durch’s Gatter mit den Bajonneten auf sie los.“

„Und die andere Halbscheid von uns?“

„Nun,“ sagte Aloys, „wenn sie beim Roßgatter im Schrecken auseinanderfliegen, so werden sie einzeln in den Wald zu entkommen suchen, wo er ihnen am nächsten ist. Da finden unsere Kugeln sie nicht mehr, sie könnten dort sich sammeln und uns am Ende noch einmal angreifen. Diesen Rückzug müssen wir ihnen abschneiden. Laßt uns die übrigen zehn Mann in drei getrennten Posten hinter dem Zaune aufstellen, der am Walde hinläuft, und wenn sie auf der Flucht ankommen, schießen wir sie dort zusammen. Halten sie aber Stand bei den Pferden, so fallen diese drei Abtheilungen ihnen in den Rücken.“

Der Knabe hatte ganz ruhig, ganz bescheiden gesprochen und trat jetzt aus dem Kreise der Männer hinter seinen Vater zurück. Dieser sagte:

„Es dünkt mich gescheidt, was Aloys meint – aber Ihr sollt entscheiden.“

„Yes, the boy is right,“ sagte Straites, „und so muß es gehen.“

„Alle elf Bajonnete also hinter den Roßhag, dicht bei dem Gatter!“ befahl der Capitain.

„Diese Abtheilung laßt mich commandiren, als Euern Lieutenant!“ verlangte der Amerikaner. „Ihr, Capitain, solltet den äußersten Posten am Walde einnehmen, wo Ihr Alles übersehen und zu rechter Zeit eingreifen könnt.“

„Also trennen wir uns!“ rief Wölfling. „Merkt, Ihr Elf: keinen Schuß, bis der Feind das Gatter fast erreicht hat und der Lieutenant Feuer commandirt. Aloys,“ fragte er leise, „wo willst Du stehen?“

„Allemal auf dem äußersten Posten, und bei Euch, Capitain.“

Die kleine Truppe vertheilte sich; die Frauen kamen weinend mit den schlaftrunkenen Kindern auf dem Arme und zogen in das große Haus ein. Die Mannschaft für die drei Posten am Walde war eingetheilt und legte sich hinter den hohen Zaun in den Hinterhalt. Elf Pferde waren gesattelt und gepflöckt, der Lieutenant schritt durch’s Gatter in den Roßhag und befahl seinen Leuten, sich hinter dem Zaune niederzulegen.

Alles dies ging schneller, als wir es erzählen konnten; auf die rasche Aufregung folgte wieder die lautlose Stille der Nacht. Im Hause des Capitains hörte man nur noch ein Kind weinen, das aus dem Schlafe geschreckt war, und den leisen Gesang der Mutter, die es auf ihrem Schooße wieder einwiegte. Auch das Kind wurde endlich still, der Gesang der Mutter verstummte – und nichts mehr hörten die Männer, als das erwartende Klopfen ihrer eigenen Herzen.

Wie lange diese Stille dauerte, hätte nachher Keiner von ihnen berichten können. Unsäglich langsam schleichen auch dem [663] Tapfern die Minuten in solcher Zeit des Abwartens, wo Leben, Familie, Habe, wo Alles, was ein Mann sein nennt, auf dem Spiele steht. Nur der Capitain versuchte auf seine Uhr zu sehen, aber obwohl draußen die Sterne so hell funkelten, daß man auf einen nahen Feind vortrefflich zielen konnte, hier im Waldesschatten war es desto dunkler, er konnte die Zeiger auf dem Zifferblatte nicht erkennen. Neben ihm hatten diesen äußersten Posten noch zwei Nachbarn. Aloys, der einen doppelläufigen Carabiner führte, lag hart bei ihm wie ein Hühnerhund auf dem Bauche und spähte durch die untersten Baumstämme der Fenz auf die Prairie hinaus. Der Capitain saß auf einem Feldsteine und hatte den Lauf der Büchse auf die Riegel gelegt.

Die Nachtstille wurde fast schauderhaft; selbst die Windstöße aus der Prairie hörten auf, als die Mitternacht langsam heranschlich.

Da schwirrte etwa fünf Minuten Wegs vor der Ansiedelung eine Kette Prairiehühner in die Luft; man hörte deutlich den scharfen knatternden Schlag ihrer Flügel.

„Da sind sie,“ flüsterte Aloys.

In diesem Moment erhob sich in dem unbestimmten Sternenlicht eine dunkle Linie aus der Prairie. Die Indianer, welche bisher herangekrochen waren, sprangen auf ihre Füße und liefen mit fast lautlosem Trott über das Gras auf das Haupthaus zu.

Jetzt mußte sich’s entscheiden. Schoß jetzt ein Mann von den Weißen zu früh, so war Alles verloren. Der Capitain faßte sein Gewehr krampfhaft; jede Secunde fürchtete er den Schuß aus dem Walde blitzen zu sehen. Aber Alles auf seiner Linie bis zum Pferdehag blieb still. Jeder Mann dachte mit Schaudern, ob jetzt die Indianer sich gegen das Haus wenden würden, das all’ ihr Lebensglück umschloß.

Aber Aloys hatte Recht gehabt. Die Indianer trabten an dem Hause, an den Kühen vorbei und liefen auf das Gatter des Pferdehags zu.

Da – „Fire!“ scholl der laute Ruf des Amerikaners. Elf Blitze schlugen aus dem dunkeln Hag. Und dann mit lautem frohem Hurrah sprangen die Gestalten der weißen Männer in das aufgerissene Gatter. Die Indianer schossen in jähem Schreck ihre Flinten los, ohne zu zielen, aber schon wütheten die Bajonnete in ihren Eingeweiden. Mit dem wilden Geheul eines verwundeten Raubthieres zerstreuten sie sich und eilten theils einzeln in die Prairie hinaus, theils dem schützenden dunkeln Walde zu. Aber gerade als sie den Zaun erreichten, der vor dem Walde die Wiese umgab, knatterte ihnen eine frische Gewehrsalve entgegen. Die dennoch den Zaun erklettern wollten, fielen von Revolverschüssen, die Anderen rannten besinnungslos der Prairie zu. Die weißen Männer auf dem Waldposten hörten die kleine Schwadron von elf Pferden aus dem Roßhag den Fliehenden in die Prairie nachstürmen. Allein in diesem Moment sah Aloys dicht am Walde eine dunkle Masse, die gegen den Posten sich bewegte, wo sein Vater und er stand.

„Zu Hülfe dem Capitain und frisch geladen!“ schrie er den Männern zu, die schon in Siegesfreude sich wiegten. Er selbst hatte seine Revolverschüsse gespart.

Auch die Indianer zeigten auf ihre Weise Taktik. Mit einem Dutzend seiner besten Krieger war ihr Häuptling als Reserve hinter der Linie seiner Leute geblieben, welche gegen den Roßhag vorging. Sie Alle trugen Aexte; mit ihnen wollte man das große Haus angreifen, während die Anderen das Vieh wegtrieben. Jetzt war das Alles verloren; aber noch Rache wollte der rothe Mann für die Gefallenen und wenigstens einen Skalp mitbringen aus dem unrühmlichen Gefecht. Sein scharfes Auge hatte an den Schüssen erkannt, daß auf dem letzten Posten nur wenige Männer standen; auf diese rannten jetzt die zwölf Indianer blitzschnell vor. Wie wilde Luchse übersprangen sie den Zaun, zwei der Weißen fielen unter ihren Schädelhieben, ehe sie noch die Gefahr recht erkannt, und der Häuptling wurde mit dem Capitain handgemein. Der Kampf war nicht ungleich, dieser mit dem langen Messer, jener mit dem Tomahawk. Der Indianer erhielt einen Stich in den Arm, aber er unterlief den zweiten Stoß und warf durch die Wucht seines Anpralls den weißen Mann nieder.

„Zu Hülfe dem Capitain!“ scholl zum zweiten Mal die schrille Stimme des Knaben. Er war fast am Boden liegen geblieben; jetzt sprang er auf, schoß zwei Läufe seines Revolvers ab und blendete die anderen Angreifer. Dann nahm er den Carabiner in beide Hände, schritt auf den Indianer los, der zum Todeshieb auf das Haupt des Capitains ausholte, und schmetterte ihm das Schloß des Carabiners an die linke Schläfe. Den Kolben brach ein Schlag ab; aber wie ein Ochs, den das Beil des Schlächters trifft, fiel das mächtige Mannsbild mit einem tiefen Stöhnen zu Boden. In diesem Augenblicke brachen die Männer von dem nächsten Waldposten laut rufend durch’s knackende Unterholz und Dorngestrüpp, das Bowieknife in der Hand, und die elf Reiter aus der Prairie kamen in Galopp zurückgesprengt, weil sie zu ihrer Verwunderung das Schießen in ihrem Rücken sich erneuern hörten. Die noch kampffähigen Indianer verloren den Muth: ein paar entkamen in den Wald; zwei, die über den Zaun wieder zurücksprangen, wurden von der kleinen Schwadron niedergeritten und dann mit dem Bajonnete abgethan. Der ganze Kampf war in weniger als zehn Minuten entschieden; die Reiter hielten noch eine Weile in der Prairie, auch die Posten am Waldsaum stellten sich noch einmal auf für den Fall, daß unversehens noch ein Angriff käme. Aber Alles blieb still, man hörte nur das Röcheln der Sterbenden. Der Capitain befahl der ganzen Mannschaft, sich vor dem Hause zu sammeln; die Frauen öffneten die Läden, die Reiter ritten zu ihnen und umarmten sie von den Pferden. Ein lauter Freudenschrei stieg aus allen Herzen empor.

Die Ansiedlung war gerettet. Die Weißen hatten nur auf dem äußersten Posten Einen Todten und Einen Verwundeten; dann war am Gatter des Roßhags einer der Ansiedler in das Bajonnet des andern gelaufen und hatte eine gefahrlose Fleischwunde zwischen den Fingern erhalten. Aber von den Indianern fand man fünfzehn Todte, und starke Blutspuren nach der Prairie zeugten davon, daß manche mit schweren Wunden geflüchtet waren. Bei anbrechendem Tage ritten drei Männer wohlbewaffnet zu dem Mititärposten der Vereinigten Staaten, der im Rücken der Ansiedlung lag; am Abend rückte ein Detachement regelmäßiges Militär ein, die weiter zurückliegenden Posten wurden vom Commandeur in den nächsten Tagen verstärkt, und nie wieder hat der Fuß eines feindlichen Indianers die Ansiedlung betreten. Heute, so wenige Jahre nach jener Angstnacht, ist sie zu einem blühenden und wohlhabenden Dorfe an der nordwestlichen Ecke von Iowa geworden und bildet mit Kirche, Schul- und Gerichtshaus und einigen Kaufläden ein kleines Culturcentrum für die Ansiedler, welche, von ihr im Rücken gedeckt und mit der Welt vermittelt, jetzt schon meilenweit hinaus in die Prairie den Pflug geführt und die Sense geschwungen haben.


Vierzehn Jahre vor diesen Ereignissen war Wölfling in die Gegend eingewandert. Zu jener Zeit war Alles umher noch unvermessenes Wald- und Prairieland; er hatte jene Opening sich ausgewählt und sich als Squatter daselbst niedergelassen. Damals brachte er aus Deutschland eine Frau und den Aloys mit, der noch an der Brust lag. Seine bürgerliche Stellung war ohne Makel; er hatte klein angefangen und hart gearbeitet, aber der Boden war gut und zehn Jahre hatte er Mais bauen können, ohne zu düngen. Dann begann er Weizen zu säen und zu verkaufen. Gute Pferde von der ausdauernden canadischen Race züchtete er mehr, als für seine Farm nöthig war; sie wurden von neuen, meist deutschen Ansiedlern gern gekauft, die in seiner Nähe sich niederließen. Der Hausstand vermehrte sich in Amerika noch um vier Kinder; das älteste nach Aloys war ein Mädchen, das trotz seiner Jugend nach dem Tode der Mutter die Sorge für die einfache Haushaltung und für die kleinen Kinder verständig in die Hand nahm. Man wußte, daß Conrad Wölfling aus dem Rheinlande und zwar von der Ahr abstammte; soviel konnten seine deutschen Nachbarn allenfalls aus seinem Dialekt schließen. Sonst wußte man nichts von seiner Vergangenheit, er war ein stiller und besonnener Mann und redete über das, was hinter ihm lag, wenig. Daß er in der preußischen Armee gedient, verrieth seine stramme soldatische Haltung; deshalb und weil sie ihn achteten, hatten seine Nachbarn ihn zum Capitain für ihre freiwillige Bewaffnung gewählt. Jeder der neuen Ansiedler war ihm zu Dank verpflichtet: dem einen hatte er sein Blockhaus aufsetzen helfen, dem andern Saatkorn vorgeschossen, dem dritten auf sein ehrliches Gesicht Milchkühe und Fohlen auf Credit verkauft. Auch die Frau, so lange sie lebte, war Allen freundlich gewesen und hatte tapfer zum Wohlstand des Hauses mitgewirkt. Als sie starb, galt ihr Mann für einen der angesehensten und reichsten Farmer an der Westgrenze des Staates.

[664] Inzwischen gingen die Jahre in’s Land, der Indianer war seit jener Blutnacht verschwunden, und wie die Cultur nach dem Westen vorrückte, hatte die Regierung der Vereinigten Staaten die Gegend vermessen lassen und das Land zum Verkauf ausgeboten. Conrad Wölfling bediente sich seines Anspruchs auf den Vorkauf, den das Gesetz in Nordamerika jedem Squatter giebt; er kaufte mit baarem Geld das von ihm besetzte Land von der Regierung und besaß nun ein Grundstück zu eigen, das in Deutschland ein Rittergut repräsentirt hätte. Sein und der Nachbarn Land wurde zu einer Gemeinde, einer Township der Vereinigten Staaten erklärt, und es galt nun, auf demokratischem Wege und nach allgemeinem Stimmrecht Personen in die bürgerlichen Aemter zu wählen.

Das geehrteste und einflußreichste dieser bürgerlichen Aemter ist das des Friedensrichters. Er ist der Hauptrepräsentant des Staates in den neuen Ansiedelungen; er kann durch freundlichen Beirath viel Unglück und Streit abwenden; er traut, wo noch kein Priester ist, die jungen Paare, und wo ein neuer Ankömmling Rath und gute Sitten der Nachbarn braucht, geht er zuerst zum Friedensrichter. Niemand in der Ansiedelung war darüber zweifelhaft, daß Conrad Wölfling das Amt des Friedensrichters erhalten müsse. Um diese Zeit aber trat in der ganzen amerikanischen Union die Spaltung über die Sclavenfrage hervor. Es handelte sich um die erste Wahl Abraham Lincoln’s.

Bis in diese entfernten Grenzgegenden hinein spalteten sich die Bürger der großen Republik. Wölfling, wie die meisten im Unmuth vom Vaterland geschiedenen Deutschen, war gegen die Sclavenpartei und ging für Lincoln. In einer benachbarten Ansiedelung aber, welche zu derselben Township gehörte und den Friedensrichter mit zu wählen hatte, herrschte die Partei der Sclavenhalter vor. Die geographischen Verhältnisse machten sich geltend. Die entfernten Ansiedelungen trieben den Des Moines-Fluß hinunter Handel mit dem Mississippi. Ein reicher Schweinezüchter, auch vom Rhein gebürtig, hatte ein großes Geschäft in gepökeltem Schweinefleisch angefangen, das er in Fässern den großen Fluß hinunter den Sclavenbaronen zur Fütterung der Neger auf den Pflanzungen zusandte. Mit mehreren der reichsten Plantagenbesitzer stand er so in Verbindung, und gar nicht ohne Ursache fürchtete er, wenn der Süden ruinirt würde, möchten drunten in Arkansas keine Neger als Consumenten seines Schweinefleisches mehr übrig bleiben. Aus reinem Geschäftsinteresse war er demnach ein wüthender Anhänger der Sclaverei, und unter der Devise: „Erhaltung der Union durch Erhaltung der Sclaverei“, trat er in seiner Gemeinde für die Wahl von Jefferson Davis auf. Seine Anhänger in der Township ernannten ihn zum Candidaten für die Friedensrichterstelle, und der Wahlkampf zwischen ihm und Capitain Wölfling erregte die Gemüther des jungen Districts, weil man die Entscheidung als eine Vorbedeutung für die Wahl der beiden Präsidentschaftscandidaten ansah.

Der Kampf zwischen den beiden Bewerbern um den Ehrensitz im Friedensgericht hatte zugleich einen persönlichen Charakter. Man wußte, daß der Schweinezüchter aus einer Gegend ganz nahe der Heimath Conrad’s herstammte. Er war ein paar Jahre später als dieser nach Amerika eingewandert, und er hätte dem Nachbar viel aus der Heimath erzählen können. Aber Conrad, sonst gegen alle neuanziehende Nachbarn, Deutsche wie Amerikaner, freundlich und zuvorkommend, war diesem eher aus dem Wege gegangen, als scheute er an seine Vergangenheit erinnert zu werden. Die beiden Männer, beide in ihren Kreisen die geachtetsten und einflußreichsten, hatten wenigstens in Amerika sich nie von Aug’ zu Aug’ gesehen. Conrad’s Anhänger in seiner Ansiedelung waren von der Richtigkeit und Ehrlichkeit ihrer Opposition gegen die Sclaverei so treulich überzeugt, daß sie eine Verständigung mit der Gegenpartei für möglich hielten. Sie luden demnach die Nachbargemeinde zu einem Wahl-Meeting ein, das in dem Schulsaal ihrer Niederlassung zusammenberufen wurde.

Die Nachbarn erschienen, und in englischen und deutschen Reden, mit mehr und weniger Geschick, mit mehr und weniger Ideal oder Egoismus wurde die Frage durchgesprochen, welche als Gegensatz von Capital und Arbeit, Grundbesitz und Frohndienst, Despotie und Freiheit in unserm Jahrhundert die Lebensfrage aller gebildeten Völker geworden ist.

Ueber diese theoretische Frage kam es zu keiner Einigung. Man mußte die Personalfrage berühren. Straites, den wir als Capitain Wölfling’s tapferen Lieutenant aus jener Schreckensnacht kennen, hob in englischer Rede die Verdienste des Letzteren hervor: man wisse, wie freundlich und leutselig er sei, was einem Friedensrichter am besten anstehe, und wie er Andere immer bereitwillig unterstützt und oft schon, auch ohne amtliche Stellung, den Nachbarn zu Frieden und Eintracht geholfen habe. Auch seiner Uneigennützigkeit und Tapferkeit bei dem Indianerangriff wurde gedacht, und seines kühnen Aloys neben ihm in Ehren Erwähnung gethan. „Vom Schweinezüchter aber,“ fuhr der Redner fort, „ja, was wisse man von Dem, als daß er ein wohlhabender Mann sei und das Seine gut zu Rath halte, aber um die Nachbarn habe er sich nie besonders gekümmert, und wenn sein Schweinefleisch im Norden der Union bessern Absatz finde als unten am Mississippi, so würde er ebenso tapfer, wie heute für die Sclavenbarone, für die Abolitionisten einstehen.“

Dieser Hieb traf, und der reiche Fleischhändler empfand, daß er traf. Straites brachte nun in bester Form den Antrag, daß diese Versammlung den Capitain der freiwilligen Miliz in der Township, Conrad Wölfling, als eine geeignete und tüchtige Person erkenne für das Amt eines Friedensrichters, und daß man sich verpflichte, ihm bei der bevorstehenden Wahl die Stimmen zu geben. Der Beifall, womit dieser Antrag entgegengenommen wurde, zeigte dem Gegencandidaten, daß seine Sache verloren sei, wenn er keinen starken Gegenschlag führte. Er bestieg die Rednerbühne und sprach in gebrochenem Englisch wie folgt:

„Männer und Mitbürger! Wer über Recht und Eigenthum amerikanischer Bürger als Richter entscheiden soll, der muß, meine ich, ein unbescholtener und friedlicher Mann sein, der nicht selber dem Gesetz verfallen ist. Ob ich das bin, mögt Ihr entscheiden; mich aber dünkt, ein jeder Bürger sei ehrenwerth, der fleißig zu seinem eigenen Gut sieht, dafern er dabei daß Recht seines Nachbars nicht schädigt. Das, hoffe ich, ist mein Fall. Aber Eins könnt Ihr nicht leugnen: Ein Mann soll nicht in Amerika mit den Händen den Richterstab führen, mit denen er daheim in Deutschland, wie mein Gegencandidat, dort Mister Wölfling, eines Menschen Blut vergossen hat.“

Ein ungeheurer Tumult durchlief bei diesem Wort die zahlreiche Versammlung. „Hört, hört!“ riefen die Anhänger des Fleischhändlers. Aber die Freunde Conrad’s drangen in wilder Wuth gegen den Sprecher, um ihn von der Rednerbühne herabzureißen, und wohl hundert Stimmen riefen: „Das lügt er!“

Der Capitain stand todtenbleich, und Aloys unterstützte ihn.

„Hört mich,“ rief der Sprecher jetzt mit lauter Stimme von der Tribüne herab. Ihr sagt, ich lüge. Gut, geht vor die rechte Schmiede, fragt Den, der es am besten wissen kann. Fragt den Capitain selber. Ihr sagt, er ist ein ehrlicher Mann, ich halte ihn dafür wie Ihr. Laßt ihn sprechen: kann er auf seine Mannesehre versichern, daß kein Menschenblut an seinen Händen klebt, so will ich ihm abbitten, was ich gesagt habe, und will ihm selber meine Stimme geben zum Friedensrichter!“

Alle Augen wandten sich auf den Capitain.

[681] Der Capitain stand vornüber gebückt, die Augen zur Erde geschlagen, sprachlos. Aber als fühlte er die Blicke der Versammlung wie Stiche, die in sein Inneres drangen, richtete er sich stramm und militärisch auf, sah schweigend umher und sprach mit fester Stimme „Ich fürchte das Gericht des wahrhaftigen Gottes und will nicht Schuld mit Schuld gut machen. Nachbarn, ich habe daheim einen Mann ermordet, und wenn Ihr mein Leben seither unter Euch für keine Buße haltet, so wählt mich nicht zum Diener der Gerechtigkeit!“

Die Worte waren fest und klar gesprochen. Aber wie der schon ergrauende Mann die Angesichter um sich weiß werden und die Nachbarn aus seiner Nähe zurücktreten sah, da durchfuhr ein Zittern seinen kraftvollen Bau. Aloys faßte ihn unter den Arm; er wandte sich nach der Thür und wankte mit dem Knaben seinem Hause zu. In das Meeting war keine Ordnung mehr zu bringen, Jeder sprach mit seinem Nachbar, ein Redner hätte keine Hörer mehr gefunden. Der Präsident bedeckte sein Haupt und erklärte die Wahlversammlung auf morgen früh neun Uhr vertagt. –

Als der Capitain mit Aloys in sein Haus trat, war es später Abend und Zeit zum Nachtessen. Die älteste Tochter trat ihm freundlich entgegen und setzte ihm den Stuhl an den Tisch. In das friedliche Haus war die Schreckenskunde noch nicht gedrungen, und daß der Vater oft ernst und still dasaß, waren die beiden Kinder gewohnt. Er aß und trank nicht, die Kinder endeten das Mahl, die kleinen Mädchen küßten ihn und gingen zu Bett. Als aber Aloys ihm die Hand zum Nachtgruß bot, sagte er leise: „Geh’ Du nicht schlafen, sondern wenn Alles im Hause zur Ruhe ist, da komm’ zu mir hier in die untere Stube, ich habe mit Dir zu reden.“

Aloys nahm das Licht schweigend vom Kaminsims und ging hinter den anderen Kindern die Treppe hinauf.

Der Capitain trat an das Brett über der Thür, langte die Bibel herunter und legte sie auf den Tisch. Sie schlug sich von selbst auf an einer Stelle, wo beide Blattseiten rechts und links vom Gebrauch gebräunt und von Thränenspuren befleckt waren. In mancher Nacht hatte er Einen Vers, der auf diesem Blatte stand, aufgeschlagen und aus ihm Schmerz und Trost gesogen.

Als Katholik geboren und wenig mit der Bibel bekannt, hatte er in Amerika sie schätzen gelernt. Der Yankee nimmt in die Hinterwälder seine Axt, seine Büchse und seine Bibel mit. Das Alte Testament im Leben der Patriarchen hat Vieles, was in den Urzuständen der neuen Ansiedlungen sein Spiegelbild findet.

Auch heute brannten die Augen des gebeugten Mannes sich auf den Einen Vers ein; er faßte die Bibel mit der Hand und legte den Finger unter den Vers, als wollte er sich sinnlich versichern, daß dessen tröstender Inhalt ihm nicht zerrinnen könne und wirklich in Gottes Wort stehe. Es war das tiefe Wort des Propheten: „Der Herr hat nicht Lust am Tode des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe.“

Der Mann las den Vers murmelnd; er las ihn noch einmal; er las ihn zum dritten Male mit lauter Stimme; dann legte er Hände und Haupt auf die Bibel, und die Spannung seiner Seele löste sich in Thränen, welche die alten Thränenspuren im Buche auffrischten. Jetzt schlug die Schwarzwälder Uhr auf dem Kamin zehn; der hölzerne Vogel auf ihr schwang seine Flügel, und gleichgültig, wie bei allem Schmerz und aller Lust seiner Hausgenossen, schrie er sein lustiges Kukuk. Aloys kam die Treppe herunter, der Mann hob den Kopf von der Bibel und betete leise. „Herr, sei mit mir in dieser Stunde.“

„Setz’ Dich!“ sagte er zu dem eintretenden Sohn.

„Nein,“ antwortete Aloys, „laßt mich stehen vor Euch, weil Ihr redet!“

Er lehnte sich gegen den Tisch und schlug die Ellenbogen übereinander, ruhig abwartend, was der Vater ihm zu sagen hätte.

„Aloys,“ sprach dieser, „die Stunde zwischen Dir und mir ist eher gekommen, als ich dachte. Wenn Du achtzehn Jahre alt wärst, da wollte ich reden. Jetzt muß es gleich geschehen nach dem, was Du heute vernommen hast.“

„Redet, Vater!“ sagte der junge Mann.

„Du weißt, wir stammen von der Ahr. Ich war ein Bauernknecht im obern Thal, nicht besser und nicht schlechter als ein Anderer. Meine Herren sind aber immer mit mir zufrieden gewesen, und die Feldarbeit habe ich ordentlich gelernt. Hernach habe ich Preuß werden müssen und in Köln, zwei Jahre bei der Infanterie gestanden, das dritte Jahr hatte ich Urlaub und kam mit dreiundzwanzig Jahren in’s Dorf zurück. Auch als Soldat bin ich immer ein ordentlicher Mensch gewesen. Ich hatte mir als Knecht ein Stück Geld zurückgelegt und hoffte mit der Zeit so viel zu verdienen, daß ich ein Fleckchen Land kaufen und für mich pflanzen könnte.

Damals lernte ich Deine Mutter kennen, die uns vor vier Jahren gestorben ist. Du hast sie wohl nur noch in Erinnerung, wie sie schon hinfällig und schwach vom kalten Fieber war. [682] Dazumal war sie ein schönes braunes Mädchen, feiner anzusehen als die anderen Dirnen von den Dörfern. Sie war auch ein armes Kind wie ich, dazu eine Waise, und diente bei einem Verwandten als Wirthschafterin. Obwohl ich dazumal ein blöder und gar nicht geschickter Mensch war, hatte sie mich herzlich lieb. Auch sie sparte von ihrem Lohne und wir meinten in ein paar Jahren unser eigen Heimwesen anfangen zu können. Wenn das so fortging, so wäre ich heute höchstens ein armes Bäuerchen im Ahrthal mit Einer Kuh; aber freilich,“ fügte er hinzu, und eine Thräne kam ihm in’s Auge, „dann würde wohl Deine Mutter uns noch leben.

Inzwischen kamen die Jahre vor der großen Revolution von 1848. Es waren böse Zeiten für die armen Weinbauer auf der Ahr. Die Lese war mehrmals schlecht, die kleinen Leute kamen aus den Schulden gar nicht mehr heraus und mußten am Ende verkaufen. Aus unserer Gegend wanderten Viele nach Amerika; von diesen kamen bald Briefe, die uns die Augen öffneten. Die Menschen fingen auch bei uns nachzudenken an. Was arme Leute waren wie ich, die hofften, wenn einmal eine Revolution käme, würde es ihnen besser gehen als vorher. Der lange Militärdienst sollte aufhören, der unser Einem die bestem Jahre zum Erwerb wegstiehlt; die Moststeuer wollte man abgeschafft haben, damit man an den Rebbergen mehr verdiente, und die Leute dachten, es sollte bald drüben so werden wie hier in Amerika, daß Alle gleich wären und auch ein armer Mann es zu etwas bringen könnte. Ich war mit Leib und Seele bei der Sache, hielt mich Sonntags im Wirthshause zu den demokratischen Führern und half auch die Anderen überzeugen. Was ich damals gemeint habe, meine ich auch heute noch, und darum bin ich hier gegen die Sclavenbarone, wie ich dort gegen die Adeligen war.

Nun mußte ich im Herbst als Landwehrmann zur Uebung eintreten. Ich war Knecht bei einem reichen Bauern und dachte an kein Verändern. Aber meinem Herrn setzten bei einer Versammlung des landwirthschaftlichen Vereins ein paar Rittergutsbesitzer und Beamte beim Weine zu. Ich sei ein Communist, sagten sie, der vor dem Eigenthume keinen Respect habe, und mit so Einem fahre man auf einem Bauernhof auf die Länge nicht gut. Als ich heimkam, fand ich einen andern Knecht in meiner Arbeit. Mein Herr kündigte mir wohl nicht, aber ich sah, daß ich unwerth geworden war und überflüssig, und ich suchte mir freiwillig einen andern Dienst.

Dabei ging’s mir aber schlecht. Auch die anderen reichen Eigenthümer wollten keinen Knecht, der beim Landrath übel angeschrieben stand. Ich bekam nur bei einem Bauer, der selbst arm war, einen schlechten Dienst. Das hätte ich schon ausgehalten und auf die Revolution gewartet, die ja auch bald gekommen ist, aber Eins schnitt mir tief in’s Herz: Deine Mutter war nicht mehr zu mir, wie sie zuvor gewesen.

Es lebte damals in unserer Gegend ein Mensch aus der Provinz Posen, er war aber ein richtiger Deutscher; der hatte sein Lebenlang im Herrendienste gestanden und war immer auf den großen Gütern gewesen, wie man sie drüben in den östlichen Provinzen hat. Jetzt war er Jäger und Reitknecht bei einem reichen Rittergutsbesitzer in der Eifel und dachte wie so Mancher: ‚Weß Brod ich ess’, deß Lied ich sing’.‘ Von Anfang an, da er aus Ostpreußen herüber kam, war er gegen die Bauern spöttisch und feindselig gewesen. Er hütete die Forsten seines Herrn und war den Waldfrevlern hart und streng. Früher hatte eine arme Frau in der Herrschaftswaldung wohl Holz lesen und Streu sammeln dürfen, er aber wollte das nicht mehr leiden. Auf den Dörfern erzählte man von ein paar Mädchen, er hätte sie freigegeben, weil sie in ihrer Angst ihm mehr zugelassen hätten, als ein Mädchen einem Manne zulassen soll. Am meisten aber haßte man ihn wegen einer andern Sache. In unserer Kreisstadt, wo die Leute unseres Schlages auch fest zusammenhielten, wohnten zwei Männer, die wir als unsere Führer ansahen. Der eine war ein pensionirter Beamter aus der französischen Zeit her, der andere ein Handwerksgesell, der bei den Vereinen in der Schweiz gewesen war. Diese hatten einmal im Wirthshause stark über den König, die Junker und das Militärwesen gesprochen, und das war verrathen worden. Ein Gerichtsschreiber, der im Stillen zu uns hielt, that es uns zu wissen, daß die Beiden sollten verhaftet werden. Man hätte sie dann nicht vor die Geschworenen, sondern klüglich vor das Zuchtpolizeigericht gestellt und auf ein paar Jahre Gefängniß verurtheilt. Wir flüchteten sie noch an dem Abend, wo wir davon hörten, in den Wald, dann kamen die Steckbriefe ihnen nach, und sie haben sich nachher durch die Eifel nach der französischen Grenze durchgeschlagen. Da hatte nun der Fritz, wie man nachher erfuhr, Tag und Nacht die Wälder mit dem Hunde nach ihnen abgesucht, um sie einzufangen und der Polizei zu überliefern.

Natürlich, das verziehen wir ihm nicht, ich und alle jungen Leute von unserer Partei. Aber es war ihm schwer etwas anzuhaben; denn das muß ich sagen, es war ein stattlicher und in seiner Art auch ein tüchtiger Mensch, und wenn er so auf einem Prachtroß seines Herrn, das er eben zuritt, auf der Kirmeß in irgend einem Dorfe herangesprengt kam, da konnte man wohl begreifen, warum die Mädchen so gern mit ihm tanzten.“

Als der Capitain so sprach, sah Aloys mit blitzenden Augen und gehobenem Haupte in das vor ihm brennende Licht. Der Erzähler aber bemerkte es nicht, denn er hatte die Hände auf seine Kniee gelegt, den Kopf über den Schooß gesenkt und redete fort, ohne den Knaben anzublicken.

„Bei einer solchen Kirmeß war es, daß ich zuerst merkte, was vorging. Ich war ja ein armer Bauernknecht, er hatte an Lohn und Ansehen dreimal mehr als ich, und sein Herr, hieß es, wollte ihn zum Verwalter über das ganze Rittergut setzen. Deine Mutter tanzte oft und willig mit ihm, und in ihren Augen stand es geschrieben, daß sie ihn gern hatte.

Was nun folgte, mag ich nicht erzählen. Oft noch traf ich Deine Mutter auf dem Felde, wenn die Mädchen oder Schnitter ihre Mittagsruhe hielten. Ich habe ihr zugeredet, habe ihr die Mädchen als Warnung vorgehalten, die Fritz schon unglücklich gemacht hatte – aber es war umsonst. Es giebt Männer, Aloys, die sind, als verständen sie die Hexerei, und die Weiber könnten ihnen nicht widerstehen. Sie sagte mir zuletzt, daß sie mich nicht mehr wollte, und daß sie den Fritz heirathen würde, wenn er erst Verwalter geworden wäre.

Aloys, Du bist ein junger Bursch, und wie weh es einem Manne thut, wenn ein Mädchen ihm die Treue bricht und so an einen feindseligen Menschen sich hängt, das kannst Du noch nicht fassen. Aber dann der Spott der andern Bursche, wenn man Sonntags einmal auf die Kegelbahn geht, und daß man zu dem Spott schweigen muß –“

„Doch,“ sagte Aloys, „das verstehe ich.“

„Also es wanderten zu der Zeit viele Leute nach Amerika. Jedem, der den Kopf etwas höher trug, machten sie ohnehin das Lebens sauer. Ich entschloß mich kurz und gut, auch zu thun wie die Anderen. Einen Auswanderungspaß konnten sie mir nicht abschlagen, da ich meine Militärpflicht abgeleistet hatte; Geld für die Reise hatte ich mir genug gespart. Beim Agenten kaufte ich mir einen Platz auf einem Schiffe, das von Antwerpen abging. Ich hatte bis zur Abfahrt aus dem Hafen noch vier Tage Zeit, aber es ließ mir keine Ruhe mehr. Ein Camerad nahm meine Kiste nach Antwerpen mit; ich wollte in Köln noch Bekannte besuchen, die ich dort von der Militärzeit hatte, und machte mich zu Fuß durch die Eifel dahin auf. Es war ein Sonntagmorgen, nach der Kirche, die jungen Bursche gaben mir noch bis auf’s nächste Oertchen das Geleit und tranken da mit mir den Abschied.

Nun weiß ich noch ganz genau das Dorf und das kleine Wirthshaus drei Stunden von Köln, wo ich Abends einkehrte. Die Leute kannten mich dort; als Militär war ich hier immer durchgekommen, wenn ich auf Urlaub nach Hause ging. Alles war noch auf den Feldern, ich ließ mir ein Glas Bier geben und saß ganz allein in der Wirthsstube. Mein Gemüth war schrecklich düster. Ich wußte, daß Fritz glücklich war, ich fürchtete nur, daß er mit Deiner Mutter es nicht ehrlich meinte, denn die Welt lag vor ihm, und sie war ja ein armes Mädchen. Aber im Zorn meines Herzens war ich fortgegangen, ohne sie noch einmal zu sehen, ohne ihr Adieu zu sagen. Wenn ich sie nur noch ein einziges Mal vor dem Menschen warnen könnte, sagte ich zu mir selbst. Das brannte mir auf der Seele. Schlafen, das spürte ich, hätte ich die Nacht doch nicht können. Der Mond ging hell und schön auf: ich bezahlte mein Bier, als die Leute vom Feld in’s Haus kamen, und weil ich mich schämte zurückzulaufen, sagte ich der Wirthin, ich wolle die Nacht noch auf Köln und morgen mit der Eisenbahn an’s Meer. Als ich aber vor’s Dorf kam, ging ich durch Heckenwege zurück, Alles war jetzt am Nachtessen, [683] ich begegnete keiner Seele und schlug die Straße nach heim ein. Deine Mutter würde Morgens früh auf der Wiese das Heu wenden, das wußte ich, denn sie hatten den Samstag gemäht. Dort konnte ich sie allein treffen. Für mich hoffte ich nichts mehr, aber ich wollte ihr noch gerade in’s Gewissen reden, daß sie sich behütete – und dann fort, fort auf immer, in die neue Welt!

Es kam aber anders. Ich lief durch die Nacht schneller heim, als ich selber wußte. Der Mond ging unter, ich sah den Morgenstern über meinem Dorfe stehen, als ich von der Eifel in’s Ahrthal hinabstieg. Jetzt erkannte ich im Sternenschein das Haus, wo Deine Mutter wohnte, erkannte ihr Fenster – und in dem Fenster brannte ein Licht.

Sie ist wach, und er ist bei ihr, rief ich aus in wilder Wuth. Aber wenn das ist, so will ich’s wissen, und er soll mir Rede stehen!

Ich stieg vollends in’s Thal hinab und legte mich unter einen Hollunderbusch auf die Lauer, wo ich das Fenster und die Hinterthür des Hauses recht im Auge hatte. Mir war zu Muth nicht wie einem Menschen, sondern wie einem wilden Thier. Ich hatte Deine Mutter immer so in Ehren gehalten, ich hätte nicht daran gedacht, etwas von ihr zu begehren, denn ich meinte, sie sollte als ehrliches Mädchen meine Frau werden. Und nun dieser Bösewicht!

Langsam fing es zu dämmern an, die Sterne verblichen. Es steht mir noch vor den Augen, wie die hohen grauen Felsenspitzen umher hell wurden. Da bewegte sich das Licht im Fenster, ich sah es die Treppe hinabgehen. Die Thür that sich auf, das Mädchen trat heraus, sah sich rechts und links vorsichtig um, und dann schritt Einer hinter ihr auf die Straße. Ja, er war es. Sie redeten noch zusammen, ich aber sprang hinter meinem Hollunder her in’s Gras und lief einen steilen Wiesenweg, wo ich jeden Schritt und Tritt kannte, den Berg hinan. Niemand konnte meine Fußtritte in dem gemähten Heu hören. Ich wußte die Stelle, wo er oben auf dem Berg durchkommen würde, um nach Hause auf’s Rittergut zu gehen.

Im Ahrthal, Aloys, ist’s nicht so eben und flach wie hier auf der Prairie; scharfe Felsgräte trennen die Thäler, über diese Gräte ziehen sich die Fußsteige von einer Ortschaft zur andern, unten im Thal geht die Fahrstraße. Da, wo ich hinauflief, steht oben auf der Schärfe des Grates ein hölzernes Kreuz; die Felsplatte läßt nur für ein paar Menschen Platz zwischen dem Kreuz und dem jähen Abhang daneben, wo unten dann die Weinberge vom Thal aufsteigen. Der Fels fällt wohl fünfzig Fuß jäh in diese Weinberge ab. Auf den Grat führen von beiden Seiten steile Felsenstege, die da und dort zu Treppen ausgehauen sind.

Als ich beim Kreuz anlangte, war es droben schon ziemlich hell. Ich hörte Fritz hinter mir langsamer hinaufsteigen, man konnte zuletzt jeden Fußtritt auf dem harten Gestein vernehmen. Er pfiff sich die Melodie des Liedes:

Geh Du nur immer hin,
Wo Du gewesen hast,
Und binde Deinen Gaul
An einen dürren Ast!

Das verdroß nach noch mehr. Hätte er gesungen oder in der Freude seines Herzens gejuchzt, das hätte mich weniger geärgert; aber daß er von der Anna kam und dann so leichtfertig pfiff und ein Schelmenlied pfiff, das machte mich wüthend. Jetzt kam er die letzten jähen Treppen herauf und sah mich auf einmal am Kreuz stehen. Er fuhr zusammen, hielt an und rief: ‚Wer da so früh?‘

‚Ich bin’s,‘ sagte ich, ‚und wer hier zu fragen hat, bin ich. Sage Du mir, wo Du herkommst zu dieser frühen Zeit?‘

‚Conrad?‘ sagte er. ‚Ich meinte, Du schwämmest schon den Rhein hinunter. Was willst Du noch hier?‘

‚Dich finden.‘ rief ich, ‚und Dich fragen will ich, was Du bei der Anna zu suchen hast!‘

‚Was geht Dich die Anna an?‘ fragte er spöttisch. ‚Hast Du doch das Feld bei ihr geräumt, und das war sehr weise von Dir, denn alle Bursche im Dorf wissen, daß sie Dich hat laufen lassen. Gieb Raum, ich habe mit Dir nichts zu schaffen.‘

‚Aber ich mit Dir, Du Bösewicht! Andere Mädchen hast Du unglücklich gemacht, die Anna sollst Du nicht unglücklich machen!‘

‚Aus dem Weg, Bauer!‘ sagte er. ‚Nimm Dich in Acht vor mir, ich nehme es mit Dreien von Dir auf.‘

‚Das wird sich finden, Du Polizeiknecht. Höre mich an, und wenn Du einen braven Blutstropfen im Leib hast, steh’ mir Rede. Ich will die Anna nicht, ich möchte sie auch gar nicht mehr, nun sie Dich Nachts in’s Haus gelassen hat, und wer weiß wie oft schon. Aber lieb habe ich sie gehabt, und leid thut sie mir noch. Sage mir als ein ehrlicher Kerl, willst Du sie heirathen?‘

‚Dummer Bauernbub,‘ rief er mir entgegen, ‚was hast Du mich in die Kinderlehr’ zu nehmen? Das Mädel ist mein jetzt, und was ich mit ihr anfange, geht Niemanden was an, als sie und mich. Mach’, daß Du fortkommst, oder Du sollst an mich glauben lernen.‘

Er schritt auf mich zu und packte mich an der Brust. Ich fühlte einen starken Stoß gegen die Stirn und taumelte nach dem Abgrund zu. Aber ich hielt auch ihn fest, und wir begannen zu ringen. Er war wohl stärker als ich, aber ich war rasend vor Zorn und Rachsucht. Ich faßte ihn beim Hals; er ließ mich von der Brust los, um nach meiner Hand zu greifen, die ihm den Athem zuschnürte. Da schwang ich ihn herum, und er flog über den Felsrand. Aber fallen hörte ich ihn nicht. Ich sprang an den Rand und sah, wie er sich mit Einer Hand an einem Büschel Gras hielt. Da faßte mich der Teufel: ich gab der Hand einen heftigen Fußtritt, und mit einem heisern Schrei rollte er den Abhang hinunter. Ich hörte ihn noch einmal auf den Fels aufschlagen, dann krachten tief unten ein paar Weinbergstangen. In der Einen Secunde war ich ein Mörder geworden und hatte zuvor nicht daran gedacht.“

Der Capitain hielt inne in Schmerz und Erschöpfung. Aloys ging an den Wandschrank und holte eine Flasche Wein. Er schenkte ein Glas ein und sagte: „Trinkt und faßt Euch! Ihr braucht es.“

Der Capitain trank und schwieg lange. „Ich danke Dir,“ sagte er tonlos.

„Du mußt nun Alles hören,“ fuhr er fort. „Gott ist mein Zeuge, ich dachte in dem Augenblick nicht an mich! Ich sprang an dem jähen Felsen hinab, um ihm zu helfen, wenn es möglich wäre. Ich weiß heute noch nicht, wie ich hinunter gekommen bin; am folgenden Morgen hatte ich beide Hände inwendig voll eitriger Schrunden. Unten in den Reben war es noch dunkel, ich fand ihn nicht gleich, aber ich ließ nicht nach, bis ich ihn wohl fünfzehn Schritt vom Fuß des Felsens liegen sah: so weit war er im Schwung in den Weinberg hinabgestürzt. Ich befühlte ihn, er war schon todt. Es dämmerte jetzt auch hell genug, um Alles zu sehen. Er sah gräßlich aus. Die Hirnschale war hinten fort vom Schlag auf den Stein, und wie er herabkam, war er auf einen spitzen Weinpfahl gestürzt, der war ihm durch und durch gegangen und dann zerbrochen, das blutige Stück stak ihm noch im Leibe. Rundum war eine rothe Lache und das Blut tröpfelte noch aus Einer Ader auf die halbreifen Trauben und die gelben Weinblätter. Das Gesicht war verzerrt von Ingrimm und Todesnoth, und mit beiden Händen hatte er tief in die Schollen gegriffen und Erde gefaßt, als wollte er sie noch auf seinen Mörder schleudern. Aber in meinem Herzen schwand aller Haß, ich glaube, ich hätte in dem Augenblick gar mein eignes Leben hingegeben, wenn ich ihn hätte retten können.

Lange aber konnte ich den entsetzlichen Anblick nicht ertragen. Es wurde heller und heller um mich her, eine furchtbare Angst ergriff mich. Ich lief durch die Weinberge unten ins Thal, auf die große Straße – da stand ich, zweifelnd wohin. Ich konnte mich westlich in die Wälder schlagen, die belgische Grenze zu Fuß erreichen und dann mit der Eisenbahn nach Antwerpen fahren. Aber sicherer wandte ich den Verdacht ab, wenn ich mich noch in Köln bei den Bekannten zeigte, denn man wußte ja im Dorfe, daß ich über Köln reisen wollte. Also faßte ich mir Muth, eilte die Straße hinab, und wie es Tag wurde, schlug ich mich auf Waldwegen geradewegs an den Rhein. Dort traf ich das erste Dampfboot, das Morgens von Koblenz abgeht, und war fünf Stunden nach meiner That schon in Köln. Ich eilte gleich zu meinen Bekannten, sagte ihnen, daß ich die Nacht durch gewandert sei, und ging des Abends mit meinem Auswandererbillet auf der Eisenbahn nach Antwerpen ab. Die Weinberge waren damals schon wegen der Traubenhut gesperrt, Niemand betrat sie. Ich habe nachher erfahren, daß man die Leiche erst acht Tage später, als ich längst auf der See war, in den Reben gefunden hat. [684] Es hatte geregnet, man konnte rundum keine Spur mehr sehen, daß ich drunten bei der Leiche gewesen war. Es ließ sich glauben, daß er aus Versehen in der Nacht hätte stürzen können, auch wußte man, daß ihn alle junge Bursche haßten, und nach meiner Abreise war er ja noch gesehen worden. Ich konnte hoffen, daß mich kein Verdacht treffen würde.

Als ich in New-York ankam, merkte ich bald, daß man unter den Amerikanern es zu nichts bringt, wenn man nicht englisch kann. Ich suchte also unter die Deutschen zu kommen und ging nach dem Staate Ohio. In Cincinnati traf ich einen Deutschen aus Pennsylvanien, dessen Vorväter schon vor hundertfünfzig Jahren eingewandert waren. Der gefiel mir, er redete mich, wie sie drüben in Pennsylvanien thun, gleich mit Du an; nur das ärgerte mich, daß er mir immer sagte: ‚Wir Pennsylvanier sind Deutsche, Du bist kein Deutscher, Du bist nur ein Deutschländer!‘ Aber wir kamen doch bald miteinander zurecht. Er hatte im Herzen von Ohio, mitten zwischen Cincinnati und Cleveland, eine junge Farm mit noch viel Urwald gekauft und dingte mich als ‚Help‘, wie die Amerikaner sagen. Ich bekam sogleich sechsmal soviel Lohn, als ich auf der Ahr verdiente. Er verstand sein Geschäft eben wie ein deutscher Pennsylvanier, und bei ihm lernte ich, wie und warum man in Amerika das Feld und das Vieh anders behandelt und behandeln muß, als bei uns drüben in Deutschland. Das Eine Jahr bei meinem Meister hat mir hernach mehr genutzt, als alle meine Arbeit für Andere drüben. Man lebte da ganz einsam im Walde, sah keinen Menschen und konnte, auch wenn man es gewollt hätte, kein Geld ausgeben. Ich hatte noch erspartes Geld von heim genug; als am Ende des Jahres mein Herr seine Frucht verkaufte und mir meinen Lohn gab, war ich reicher, als ich selber geträumt hatte.

Drinnen aber in meinem Gemüth – da ging es schlimmer und schlimmer. Anfangs dachte ich oftmals, sie könnten mich doch noch am Ende finden. Nachts träumte mir wohl, es käme aus dem Wald auf die Pflanzung heraus eine Abtheilung meiner Cameraden vom Militär, sie rissen mich vom Pflug, legten mir Handschellen an und schleppten mich nach Europa zurück. Doch schwand diese Angst bald: meinen Namen hatte ich zur Vorsicht verändert, meinem Paß an einem sichern Ort im Stall gut versteckt, auch ließ ich mir den Bart wachsen. Und wenn wirklich drüben ein Verdacht auf mich gefallen war, wie hätten sie meine Spur finden können unter den Millionen von Deutschen in der weiten Union und bis in die tiefen Wälder hinein?

Also das drückte mich nicht mehr; aber je mehr ich des Lebens mich sicher glaubte, desto mehr fühlte ich, daß dieses Leben mir nichts mehr werth war.

Mein Herr und ich waren anfangs auf der Farm mit dem Vieh ganz allein; später lebte noch ein Negerjunge bei uns, den sein Herr in Kentucky schlecht behandelte; er war entlaufen und hatte sich in einer dunklen Nacht auf einem Kahn über den Ohio gerudert. Er kam bettelnd auf die Farm, mein Herr nahm ihn aus Barmherzigkeit auf, und er war gut zu brauchen, denn er kochte ganz ordentlich, molk die Milchkuh und hielt die Wirthschaft sauber. Von ihm habe ich erfahren, wie es drunten in dem Süden hergeht, und darum habe ich immer wider die Sclaverei geredet und gethan. Der Negerbub blieb fast immer daheim bei den Hausgeschäften, wenn wir Männer auf dem Feld arbeiteten oder den Wald aushieben. Letzteres fiel mir am meisten zu, und zwischen den hohen schönen Bäumen, wie sie in Ohio wachsen, war ich tagelang mit meiner Holzaxt ganz allein. Sieh, Aloys, wenn ein Mensch, der so einen Stein, wie ich, auf dem Gewissen hat, unter andern Menschen lebt und seine Herzensangst wegreden kann, das geht noch; aber allein sein in der Wildniß mit dem eignen verzagenden Herzen und, wie geschrieben steht, mit allen den Gedanken, die sich unter einander entschuldigen und verklagen, das ist nicht auszuhalten. Es giebt keine Gespenster, das glaube ich fest, und wer todt ist, kömmt auch als Geist nicht wieder, aber drinnen in Herz und Hirn leben sie fort, die Todten, und das ist schlimmer, als wenn sie in eigner sichtbarer Gestalt kämen mit dem Leichenhemd, und man könnte ihnen entgegentreten mit dem lebendigen Lebensblut in den Adern. So stieg auch mir jener schreckliche Todte aus meinem eignen Innern immer wieder empor. Wenn Abends in der Dämmerung ein Eichhorn vom Baum in’s Moos sprang, wenn ein Reh durch’s Unterholz setzte oder ein Steinbeißer durch die dürren Blätter schlüpfte, so zitterte ich; am schrecklichsten aber war der hohe Mittag im Sommer, wo Alles in der Natur eine Stunde ruht, wo selbst die Mücken unter den Blättern rasten und kein Laub noch Halm sich regt. Dann wollte auch ich rasten nach der Mahlzeit und eine Stunde schlafen, aber es ging nicht, denn in dieser Stille malte mir die Einbildung wieder den todten blassen Mann mit der tröpfelnden Ader, als sähe ich ihn vor mir, und die furchtbare Minute des Ringens und den Einen unbarmherzigen Fußtritt, der mich zum Mörder gemacht hatte. Dann sprang ich auf und schrie vor entsetzlicher Angst laut in den stillen Wald hinein, um nur wieder eine Stimme zu hören in dem gespenstigen Schweigen!

Dieser Sommer entschied über mein Schicksal. Aus dem Katechismus kannte ich die Lehre, daß, wer Blut vergießt, dessen Blut soll wieder vergossen werden, und der Pfarrer hatte uns Beispiele von Mördern erzählt, die sich freiwillig dem Richter angaben, nur um die Seelenpein los zu werden. Wir Kinder glaubten diese Geschichten nicht – jetzt wurden sie mir alle lebendig. Gott, so meinte ich, der für die Sünden der Welt seinen Sohn opferte, verlangte ein Sühnopfer für alles Menschenblut. Wenn diesem Gesetz genügt ist, kommt wieder Frieden in’s Menschenherz. Meine Träume wurden ruhiger: ich sah mich vor dem Schwurgerichte in Köln, Alles von meiner Seele wälzend, was mich drückte; ich fühlte, wie sie mich auf’s Brett schnallten und unter’s Fallbeil schoben – ich empfand den Schnitt des Beiles und zuckte nicht mehr dabei. Immer mehr gewöhnte ich mich an diesen Gedanken, er wurde mir vertraut in seiner Schauerlichkeit, und zuletzt siegte er im Kampfe meiner Seele vollständig. Als die Ernte vorbei war, nahm ich den Lohn von meinem Herrn, suchte meinen Paß aus dem Versteck, fuhr nach New-York und nahm auf dem Paketboot Passage nach Antwerpen.

Wieder kehrte ich in dem kleinen Wirthshaus unweit Köln ein, diesmal für die Nacht. Am Morgen ging ich ab, um Mittags in mein Dorf zu kommen und auf dem Amt mich anzugeben. An der Stelle meines Verbrechens ging ich scheu vorüber, das Kreuz stand noch auf dem Felsengrat wie das Jahr vorher, die Weinberge hatten wieder ihre gelben Blätter, die Trauben färbten sich wie damals. Ich sah, daß auf der Wiese wiederum das zweite Heu geschnitten war, und quer durch die Wiese schritt ich zu meinem Dorf hinunter, wie hundertmal zuvor.

Es war gerade in der Underzeit, die Mäher saßen mit den Mädchen im Heu, manche hielten den Mittagsschlaf. Ich kannte die Meisten und grüßte im Vorübergehen. Sie sahen neugierig und lachend auf meinen hinterwälderlichen Blanketrock, aber aus der Art des Wiedergrüßens konnte ich abnehmen, daß keiner mich mehr erkannte. Die Arbeit in der gesunden wilden Waldluft hatte mich breitschultriger gemacht, und weil ich trotz allem inwendigen Leid in Amerika gelernt hatte, was ein Mann werth ist, schritt ich strammer und stracker daher, auch machte der Bart mich unkenntlich.

Das Dorf lag jetzt hart unter mir, in einer Viertelstunde war mein Schicksal entschieden.

Da sah ich in einem kleinen eingehegten Wieschen unter einem schattigen Birnbaum eine Person auf einem Haufen Heu sitzen und einem Wickelkind schenken. Das Wieschen kannte ich, es gehörte einer ganz armen alten Frau im Dorf, die nur ein Stückchen Krautland bei ihrem Häuschen und eine Geis im Stall hatte, die sie von dieser Wiese nährte. Aber die Person war nicht die alte Frau, sondern Jemand ganz anderes. Ich trat an den Zaun, wo ich ihr Angesicht von der Seite sehen konnte. O, es war sehr blaß und kränklich, dies Angesicht – aber durch all die Verwüstung hindurch erkannte ich die Augen, ist denen einst alle meine Lust gewesen war. Das Herz that mir einen Freudensprung; ohne daß ich es wollte, rief ich leis über die Hecke hinüber: ‚Anna!‘ Sie sah sich erschreckt um, sie erkannte mich an der Stimme, dann wandte sie ihre Augen auf’s Kind und fing bitterlich zu weinen an.

Ich glaube, Aloys, daß der barmherzige Gott das willige Opfer meines Lebens angesehen hat, als hätte ich es wirklich dargebracht, und wie er den Engel dem Abraham schickte, daß er seinen Sohn nicht tödtete, so hat er mir als Engel dazumal die Anna über den Weg geführt. Denn nun sollst Du es wissen, Aloys – das Wickelkind warst Du, und der Mann, den ich getödtet hatte, war Dein Vater!“

[707] Mit diesen Worten blickte Conrad Wölfling in die Augen des Jünglings, der sein Sohn nicht war. Aloys sah ihn mit ernster Aufmerksamkeit an, aber erschüttert war er nicht, und kein Ausruf verrieth sein Erstaunen.

„Aloys,“ fuhr der Capitain fort, „ich habe gearbeitet, meine Schuld gut zu machen vor Gott und den Menschen. Das Gesetz verfolgt mich nicht mehr. Daß die Nachbarn es jetzt wissen, das will ich gerne tragen als letzte Buße. Aber ein Mensch ist noch, vor dem ich mich fühle als vor meinem Richter, und das bist Du. Aloys, ich habe damals, glaube ich, die Mutter und Dich gerettet; kannst Du mir heute in Deinem Gemüth verzeihen, daß ich Deinen Vater gemordet habe?“

Da knieete der starke männliche Jüngling vor den zitternden Mann, legte sein Haupt in dessen Schooß, und seine Thränen flossen. „Ihr,“ sagte er, „seid mein Vater, mein lieber Vater, und nicht der Mann, der mich verstoßen hat, als ich noch im Schooße der Mutter war. Und redet nicht von Verzeihung, denn das ziemt Euch nicht gegen mich. Den Mann, dessen Blut in mir ist, habe ich lange in meinem Herzen begraben, denn daß Ihr ihm das Leben nahmt, das weiß ich seit vier Jahren!“

Der Capitain sprang vom Stuhle auf. „Und woher?“ fragte er.

„Die Mutter selber hat es mir gesagt am Tage vor ihrem Tode. Ihr waret ausgeritten, um die letzte Arznei für sie zu holen, da war ich wohl eine Stunde mit ihr allein, und so hat sie mir’s anvertraut.“

[708] „Aber warum?“ fragte Conrad erstaunt.

„Sie meinte, einmal möchte es doch herauskommen, so daß ich’s erführe, und weil ich ein wilder und trotziger Junge war dazumal, so fürchtete sie, ich könnte an Euch unrecht thun. Sie hat mir auch gesagt, was ich Euch schuldig bin, und hat mir das Versprechen abgenommen, daß ich nie gegen Euch hart sein wollte mit Rache oder Vorwurf.“

„Und das hast Du in Dir überwunden, mein tapferer Junge, und geschwiegen all die Jahre her?“

Aloys ging an den Schrank und holte ein zweites Glas. Er stellte es auf den Tisch und schenkte sich Wein aus des Vaters Flasche ein. „Stoßt an, Vater,“ sagte er, „mit diesem Glas trinken wir Vergessenheit auf ewig!“

Conrad zögerte erstaunt. „Seit vier Jahren hast Du Wein und Whisky nicht angerührt,“ sagte er, „und heut trinkst Du?“



„Ja, Vater, heut trinke ich wieder. Damals war ich im Gemüth sehr verwüstet, und als die Mutter todt war, da ritt ich hinaus in die Prairie, und in der Einsamkeit sind mir auch böse Gedanken gekommen. Ich bin nicht heimgeritten, bis ich sie heruntergezwungen hatte. Aber ich fürchtete, wenn ich Wein oder Whisky tränke, es könnte meine Zunge einmal los werden, und ich könnte zu bösen Stunden sagen, was Euch wehe thäte. Darum ging ich unter die Temperancer. Jetzt ists vorüber zwischen Euch und mir, und nun laßt mich um Euch trinken auf herzliche Liebe.“

Die Gläser klangen zusammen, der Mann legte seine Hand auf des Jünglings Haar, und Aloys umfaßte den Vater mit beiden Armen. Eine dunkle Schuld war gesühnt.

„Und, Vater,“ sagte Aloys, „Ihr wißt nicht, wie gut es die Mutter gemacht hat, daß sie mir es sagte. Ich bin ein neuer Mensch geworden von da an. Ich meinte, ich müßte Euch zeigen, daß es der Mühe werth war, daß Ihr Euch am Leben erhalten hattet, und darum beschloß ich etwas Rechtes zu werden und etwas Rechtes zu thun. Wenn Ihr das sähet, müßtet Ihr Euch freuen, daß Ihr Euer Leben gespart hattet für die Mutter und mich.“

[710] „Daher also, was Du in der Indianernacht gethan hast, und daß Du mir das Leben rettetest?“

„Ja, daher, Vater. Und ich hoffe, es soll nicht das Letzte sein, was ich thue. Ihr sollt sehen, der alte Abe wird gewählt, und die frechen Tyrannen im Süden heben den Tanz an. Es giebt Krieg um die Union, und dann, Vater, laßt mich hinaus, wir wollen ihnen ein Stückchen aufspielen, daß ihnen die Ohren gellen sollen! Sie haben die Männer drüben zusammengehauen, die sich 1849 für die Republik schlugen. Dafür haben diese Männer hier die Deutschen aus dem Schlafe gerüttelt, und mit denen wählen wir jetzt den Lincoln und stellen die Republik fest auf alle Ewigkeit. Da will ich mit bei sein, Vater, und ob ich in Ehren falle oder in Ehren siege, dann sollt Ihr Euch freuen, daß Ihr den Aloys als Sohn angenommen habt!“

Der Capitain reichte dem Jüngling die Hand. Dann wandte er sich zum Schrank, die Lampe war während dieser Gespräche niedergebrannt, er wollte Oel aufschütten. „Wir brauchen’s nicht mehr, es graut schon der Morgen,“ sagte Aloys. Er stieß den Laden auf, und auf dem Thau der Prairie schimmerte wie ein blasses Mondlicht das Silber der Morgendämmerung.

„Wollt Ihr noch schlafen gehen?“ fragte Aloys. „Oder soll ich heute noch das Ende hören, wie meine Mutter mit Euch nach Amerika ging? Das weiß ich noch nicht. Sie bekam damals das Fieberschütteln, und hernach war sie nicht mehr allein mit mir, sie starb den folgenden Tag.“

„Du sollst Alles hören, und heut noch,“ erwiderte rasch der Capitain. „Dann ist’s vorüber, ein ander Mal würde es mir schwer werden, neu damit anzufangen.“

Aloys setzte sich zum Vater und schlug den Arm über seine Schulter.

„Ich sprang über den Hag auf die Wiese zu Deiner Mutter. Daß sie ein Kind haben könnte, daran hatte ich niemals gedacht. Ich setzte mich zu ihr aufs Heu und sah Dich an. Du warst kein schönes Kind dazumal. Die Hände waren mager, daß man alle Knöchelchen durchsah, das Gesicht war von einem häßlichen Ausschlag bedeckt, daß man keine saubere Stelle an Dir sah, und die Augen waren verschworen, als wärest Du blind. Man hätte nicht denken können, daß Du einmal einen Häuptling der Dacotahs zusammenhauen würdest.

‚Ist das sein Kind?‘ fragte ich. ‚Es sieht seinem stolzen Vater nicht ähnlich.‘

‚Ach,‘ sagte sie, ‚es war ein schönes Kind, wie es auf die Welt kam! Aber es hat zu viel gelitten seitdem.‘

‚Erzähl’ mir,‘ bat ich.

‚Du weißt, daß er todt ist?‘

‚Ich weiß es.‘

‚Hast Du –?‘

‚Ja, ich habe,‘ sagte ich. Am Geheimhalten lag mir ja längst nichts mehr.

Sie rückte mit dem Kinde einen Schritt von mir hinweg. ‚Ich habe mir’s immer gedacht,‘ sagte sie.

‚Glauben es auch die andern Leute?‘ fragte ich.

‚Man weiß nicht, was man denken soll. Das Gericht hat dazumal untersucht; in einem Wirthshaus an der Straße nach Köln bist Du den Abend gewesen und hast gesagt, Du gingest die Nacht noch nach Köln; Deine Kölner Freunde haben freiwillig bezeugt, daß Du am Morgen früh sie daselbst besucht hast. Auf das hin haben sie Dir keinen Steckbrief nachgeschickt.‘

‚Und Du?‘

‚Mich haben sie auch als Zeugen aufs Gericht gefordert und auf den Eid genommen.‘

‚Wie kam aber das?‘

‚Ach,‘ sagte sie und verbarg ihr Angesicht an Deiner Brust, ‚es wußten schon mehr Leute als Du von Fritz und mir. Einer von der Nachtwache hatte ihn einmal Nachts gesehen. Was habe ich noch zu verschweigen nach all der Sünde, die ich an Dir gethan, Conrad? Ich war gegen ihn schon viel zu gut gewesen, als Du den Herbst mit der Landwehr auf dem Manöver warst.‘

Eine fürchterliche Bitterkeit stieg ist meiner Seele auf. Wenn ich damals nicht meinen Blutzins bezahlen mußte, wenn ich meine gute Stelle nicht verlor, so hätte ich vielleicht das Unglück abwenden können.

‚Also vor Gericht mußte ich auf meinen Eid Alles aussagen, auch daß Du mich hattest heirathen wollen und daß der Fritz dazwischen gekommen war. Das kam denn Alles in der Zeitung mit Namen und Vornamen. Ich war vor allen Menschen verloren, noch ehe ich wußte, daß ich dies Kind hatte, und meine reichen Verwandten stießen mich aus dem Haus. Einen Dienst fand ich nicht mehr, und was ich die Jahre her mir erspart hatte, das ging drauf für das Kindbett. Als die Taufgebühr bezahlt war, hatte ich gar nichts mehr, keinen Pfennig.‘

‚Wie hast Du ihn taufen lassen?‘ fragte ich.

‚Aloys heißt er und hat einen guten Schutzpatron. Den Namen habe ich ihm ausgesucht, weil der heilige Aloysius mit den Mädchen so fromm war, daß er dem nachschlägt und nicht seinem Vater. Aber was wird’s ihm nützen? sieh ihn nur an, ich weiß, er muß sterben.‘

‚Sterben?‘ sagte ich.

‚Ja, sterben. Er hat zu viel Noth gelitten, und ich weiß dem armen Würmchen auch nicht mehr zu helfen. Erst wollte ich nicht Säugamme in der Stadt werden, weil ich das Kind nicht abgeben mochte, und jetzt, wenn ein Doctor das kranke aussätzige Kind ansieht, nimmt mich kein Mensch mehr als Amme.‘

‚Aber was hast Du gemacht seither, wo lebst Du?‘

‚Bei der armen Frau oben im Dorf, der diese Wiese gehört. Sie hat mir ein Kämmerchen geliehen und ich darf das Kind bei mir haben, dafür thue ich ihr Abends das bischen Arbeit, und den Tag über gehe ich tagelöhnern, wenn’s auf dem Felde was zu verdienen giebt. Aber ich kann nicht genug verdienen für mich und das Kind, es hat nicht Milch genug, und Brei kann es nicht vertragen, es liegt auch manchmal halbe Tage lang ohne rechte Pflege, wenn ich auf die Arbeit muß. Der Armendoctor sagt, wenn es keine bessere Kost bekommt, kann er es nicht beim Leben erhalten.‘

Als Deine arme Mutter so sprach, fühlte ich ein tiefes herzliches Mitleid mit Dir. ‚Anna,‘ sagte ich, ‚ich habe etwas Geld mitgebracht, nimm soviel Du willst, nimm es alles und halte Dich stark und gesund.‘

‚Nein,‘ rief sie, ‚von allen Menschen könnte ich Almosen annehmen, nur von Dir nicht, nachdem ich Dir so wehe gethan. Und Du bist ja auch jetzt fremd hier und brauchst Dein Geld selber.‘

‚Ich nicht,‘ sagte ich. ‚Mein Ende ist da, ich gehe mich selber angeben wegen der Mordthat, und wenn Du das Geld nicht willst, so nimmt es das Gericht mir ab, da haben sie gleich um den Scharfrichter zu bezahlen.‘

Ich sah, daß sie erschrak. Sie rückte mir wieder näher und sagte: ‚Thu das doch ja nicht, was soll’s ihm nützen, daß Du stirbst?‘

‚Ich kann nicht mehr leben,‘ antwortete ich, ‚ich sehe ihn vor mir Tag und Nacht, er läßt mich nicht, bis ich ihn bezahlt habe. Und jetzt erst recht kann ich das Leben nicht ertragen, da ich Dein Elend sehe und das arme Kind. Hier ist mein Geld; willst Du’s, so sag’s, denn ich gehe.‘

Sie schüttelte mit dem Kopf und wiegte das Kind im Schlaf. Ich stand auf, voll von Galle, und ging wieder dem Dorfe zu.

Aber wie ich näher und näher kam, wankte mir, das Herz in der Brust. Jetzt gehst Du in den Tod, dachte ich, und reißest die Anna und das Kind mit, wenn sie ohne Dich verelenden. Was ist ihm besser, wenn ich für ihn sterbe, ober wenn ich sein Kind rette?

Ich stand still und sann. Ich fühlte, daß ich auf dem falschen Wege ging. Was wäre jetzt leichter, fragte ich mich, der Tod oder das Leben? O, der Tod! rief mein Eigensinn. Das Leben ist ja so schwer auszuhalten! Nein, schrie wieder mein Gewissen dazwischen, ein Leben lang die Schuld tragen und nach besten Kräften gut machen, das ist tapfer, aber in den dummen stummen Tod gehen, weil man eine Sünde vergessen will, das ist feig! So lange ein Mann noch ein recht Gutes thun kann, kommt der Tod zu früh. Ich will’s versuchen!

Wieder wandte ich meine Schritte zu Anna hinauf. Du schliefst jetzt auf dem Heuhaufen, Aloys, Deine Mutter hatte die Hände auf die Augen gedrückt und saß die Ellenbogen auf den Knieen. Sie sah nicht auf, als ich mich wieder neben sie setzte.

‚Anna,‘ sagte ich leise, ‚wollen wir ihm sein Kind am Leben erhalten? Ich kann es, wenn Du mit mir nach Amerika gehen [711] und meine Frau werden willst. Dann soll es mir sein wie mein eigen Kind.‘

Ich sah, daß sie heftig weinte bei diesen Worten, aber sie hielt die Hände fest vor den Augen und sagte leise:

‚Es ist Blut zwischen Dir und mir: er wird zwischen Dich und mich treten und uns trennen, wenn Du mich in die Arme schließest.‘

‚Ich kenne ihn,‘ sagte ich, ‚und ich weiß, wie schrecklich er ist. Aber ich glaube jetzt, daß wir ihn los werden können, und ich sehe Rettung vor mir.‘

‚Ach,‘ sagte sie, ‚und wie könntest Du mir verzeihen, was ich Dir anthat? Wird das Kind uns nicht ein ewiger Vorwurf sein, Dir und auch mir?‘

‚Anna,‘ erwiderte ich, ‚was hätte ich Dir zu verzeihen? Daß Du ihn lieb hattest, daß Du ehrlich meintest, er würde Dich heirathen? Du hast mir schrecklich weh gethan, und ich habe Dir noch schrecklicher weh gethan. Laß uns gleiche Rechnung machen und alle beide uns von Herzen verzeihen.‘

Sie schwieg.

Mir fuhr der Zorn durch alle Glieder. ‚Ich sehe,‘ rief ich unmuthig, ‚es ist aus mit uns. Du denkst noch mehr an ihn als an mich und verweigerst mir aus Rache Deine Barmherzigkeit. Hättest Du noch ein Fünkchen Liebe zu mir, Du würdest nicht drei Menschen hinopfern. Ich muß wohl ein Mörder heißen wie Kain, aber bei Gott, der die Herzen wägt, meines ist weicher als Deins! Sei es denn: auf Dein Haupt lege ich meinen Tod und den Tod Deines Kindes!‘

Ich sprang auf und legte die Hand auf Dein kurzes schwarzes Härchen, dann faßte ich ihre Hände und drückte sie. Sie war kalt wie Eis und zitterte, aber sie sah nicht auf und that die Hände nicht von den Augen. Ich wandte mich abermals zu gehn, und diesmal wäre ich nicht wiedergekommen. Aber hinter mir hörte ich leise Füße auf dem Wiesenpfade mir nachlaufen. Sie umfaßte mich vom Rücken mit beiden Armen, sie sah mir ins Auge und sagte: ‚Also Du hast mich wirklich noch lieb, und Du kannst mir verzeihen?‘

Ich drückte sie herzlich an mich, wie in der Zeit unserer alten Liebe. Sie sah mir fest in die Augen und konnte gut genug lesen, was darin geschrieben stand. Die Pein meiner Seele floß dahin wie ein Bach, ich hatte im Leben wieder etwas zu thun, und mir war es, als könnte ich nicht nur Versöhnung finden, sondern auch Glück.

Aber auch eine jähe Angst befiel mich, daß grade jetzt sie mich fangen könnten, wo ich wieder zu leben wünschte. ‚Wir müssen heute fort,‘ rief ich, ‚gleich. Kannst Du bei Deiner Frau Dich aus dem Dienst losmachen?‘

‚Ach Gott,‘ sagte Anna, ‚ich esse ja eigentlich das Gnadenbrod bei ihr. Sie sagt mir’s auch oft genug, daß ich gehen kann, wann ich will. Mein Bündel ist rasch gepackt.‘

‚Dann trag mir das Kind dort in die Erlen,‘ sagte ich, ‚ich will’s hüten, bis Du mit Deinen Sachen kommst, und dann fort auf der Stelle!‘

Sie ging. Ich war allein mit Dir unter den Bäumen und hatte Dich mir auf die Kniee gelegt. Wenn eine Fliege um Dich summte und Du im Schlaf danach schlugst, hob ich Dich auf die Arme und schaukelte Dich. Wenn dann Dein Köpfchen an meinem Herzen lag, so fühlte ich, es war wie ein Balsam, der die bittere Wunde drinnen kühlte und leise zuschloß. In der Stunde habe ich mit Freudenthränen gelobt, Dir ein treuer und guter Vater zu sein – und ich meine, Aloys, ich habe es gehalten.“

Ein herzlicher Druck von der Hand des Jünglings belohnte den Vater.

„Und so kam die Mutter daher mit einem kleinen Bündel, worin Dein Kindszeug war; ich nahm ihr das Bündel ab, sie nahm Dich auf den Arm, und so bist Du schlafend aus Deiner Heimath getragen worden. Wir wanderten ruhig die Straße im Thal herunter und erreichten noch am Abend den Rhein. In Antwerpen kaufte ich ihr ordentliche Kleider und ging an den Hafen, um ein Schiff zu suchen. Da traf ich den Capitain des Schiffes, mit dem ich zurückgekommen war, er kannte mich und gab mir auch für Mutter und Kind gleich Passage, obwohl sie keinen Paß hatten. Ich hatte Geld genug, um die Mutter als Cajütenpassagier einschreiben zu lassen: da hatte sie mit Dir Raum genug, gute Luft und prächtige Nahrung. Ich selber ging ins Zwischendeck.

Die ersten Tage litt die Mutter wohl von der See, aber dann war es eine Wonne zu sehen, wie sie wieder aufblühte in dem reinen Gottesathem des Meeres, und auch Fülle der Nahrung hatte für Dich. Als wir nach drei Wochen in New-York landeten, war sie wieder eine schöne gesunde Frau, an Dir war kein Mälchen mehr von Ausschlag; Deine Aeugelchen waren rein und munter, und Du warst ein netter kleiner Kerl geworden.

In New-York ließen wir uns trauen und fuhren mit Dir nach Hoboken in eine deutsche Gartenwirthschaft. Da gaben wir Dir frische Milch von der Kuh zu trinken, und wir tranken Lagerbier und aßen ein gutes Mahl. Sonst war kein Hochzeitsgast bei uns, das war unser Trauungsfest.

Ein paar Jahre haben wir dann noch dienen und sparen müssen, aber es gelang uns, zusammen Arbeit zu bekommen, ich als Knecht und sie auf derselben Farm für die Milchkühe und die Käserei. Als aber mehr Kinder kamen, da dachten wir, es wäre nun Zeit einmal an das eigne Haus zu denken: ich schaffte an, was man für eine Blockhauswirthschaft in den Hinterwäldern braucht, kaufte einen Wagen mit Zugvieh und setzte die Mutter und die kleinen Kinder darauf. Du liefst da schon manchmal nebenher, betteltest mich um die Geißel und hattest große Freude, wenn Du mir halfst die Ochsen treiben. So kamen wir hierher auf die Prairie, und da mit Gottes Hülfe sind wir nun und hoffen zu bleiben. Zwölf Jahre bin ich glücklich gewesen mit der Mutter, bis das Neubruchfieber sie uns nahm. Die alte Angst ist niemals wiedergekommen, und heut hast auch Du Dich mit mir versöhnt. Ich freue mich, daß ich gewagt habe, durchs Leben zu büßen, statt durch den Tod!“




Ueber dieser letzten Erzählung war der Morgen herangekommen; der Kukuk der Uhr, der inzwischen oft gerufen hatte, verkündigte jetzt die fünfte Morgenstunde, und prächtig ging die Sonne östlich über dem Walde auf und warf ein zitterndes Netz von Silber über die bethaute Prairie. Drunten klopfte es an der Hausthüre. Aloys trat ans Fenster, es waren drei Männer aus den Nachbarn. „Oeffne, junger Mann,“ sagte Straites der Amerikaner, „wecke den Capitain und laß ihn wissen, wir kommen als Deputation zu ihm.“

„Der Vater ist wach,“ sagte Aloys und ging hinab, um die Thüre zu öffnen.

Die drei Männer traten ein und boten dem Capitain die Hand. „Wie ich Euerm jungen Mann sagte, Mister Wölfling,“ begann Straites, „wir kommen als Deputation zu Euch von den Männern der republikanischen Partei in unserer Gemeinde, die gestern Abend noch ein Special-Meeting gehalten haben.“

„Setzt Euch, Nachbarn,“ sagte der Hausherr. „Ihr trefft uns noch vom Abend her beim Wein. Aloys, reich’ den Herren die Flasche. Bedient Euch!“

„Danke Euch, nein,“ sagte Straites. „Kein Wein am frühen Morgen, und kein starkes Getränk, ehe die Geschäfte abgethan sind. Hört also, wenn’s Euch gefällig ist.

Wir haben den Mann von drunten aus der Township, der als Euer Gegencandidat für Friedensrichter läuft, ersucht, diese Nacht hier zu bleiben und uns genau zu sagen, wie es mit der Anklage steht, die er gestern Abend gegen Euch erhob. Er ist unser Gegner in der Politik, aber wir sind der Meinung, daß er sonst ein ehrlicher Mann ist und kein schlechter Bürger. Wir calculiren nun, die Sache steht so. Erstlich: Ihr habt in Eurer Heimath drüben einen Mann getödtet, den Ihr wegen Eurer verstorbenen Frau haßtet. Wie es dabei zugegangen ist, weiß der Mann nicht, wir wissen auch nicht, ob es Nothwehr gewesen ist oder Todtschlag oder Mord. Gott allein ist dabei gewesen, und mit dem habt Ihr die Sache abzumachen. Was ein Mann drüben im alten Lande gethan, darüber richten wir nicht; wir urtheilen, daß ein Jeder einen neuen Menschen anzieht im Augenblick, wo er amerikanischer Bürger wird. Wäret Ihr nun noch dem Gesetz Eures Landes verfallen, so möchten wir wohl keinen zum Richter haben, auf den das Gesetz einen Anspruch hätte. Aber Euer Landsmann hat uns berichtet, daß jener Mann ist todt gefunden worden vor mehr als fünfzehn Jahren, und die That ist verjährt auch nach dem Recht Eures Landes. Nun aber [712] haben Eure Nachbarn Euch gesehen und gekannt all die Zeit her, und ich kenne Euch am längsten als Euer ältester Nachbar. Wenn Ihr einmal gefehlt habt gegen Gottes Gesetz, so habt Ihr in einem langen Leben voll Gutthaten das wett gemacht. Euer Landsmann hat uns aber auch gesagt, daß Ihr des Sohnes Eures Feindes Euch menschlich angenommen habt. Eure Nachbarn vermuthen, dies sei der junge Mann Aloys, der hier vor uns steht.“

„Er ist es,“ sagte der Capitain mit Stolz.

„Wenn also dem so ist,“ fuhr der Sprecher mit unerschütterlichem Gleichmuth fort, „so sehen Eure Nachbarn deutlich den Finger der Vorsehung darin, daß dies Kind der Sünde auserwählt war, in jener Nacht uns Allen das Leben zu retten. Daß aber dieser Knabe lebt und als wackerer Bürger sich gezeigt hat schon in den Kinderschuhen, das danken wir nächst Gott Euch und Eurem wackern Herzen, Capitain. Also lassen Eure Nachharn Euch wissen, daß sie heut wie gestern gewillt und, Euch die Ehre anzuthun, die Ihr um uns verdient habt. Wir haben unsern Canvaß gestern Abend neu gemacht, und wir bürgen Euch, daß wir Eure Wahl zum Friedensrichter mit fünfunddreißig Stimmen Mehrheit durchsetzen werden.“

Der Capitain wollte reden, der Amerikaner fiel ihm ins Wort.

„Sprecht nicht zu rasch, Nachbar,“ sagte er. „Wir sehen wohl, daß jetzt, wo Eure deutsche Vergangenheit so plötzlich an den Tag gezogen ist, es Euch schwer ankommen wird, Euer Licht so recht oben auf den Scheffel zu stellen. Aber wir meinen, es sei Eure Pflicht unser Candidat zu bleiben, denn einen andern können wir jetzt in der elften Stunde nicht mehr aufstellen, und wenn Ihr uns Nein sagt, so siegen in unsrer braven Township die Sclavenhalter, was Gott verhüten wolle. Ihr habt einmal in schwerer Stunde an Eurem verstorbenen Weib und an diesem Knaben gezeigt, daß Ihr begreift, was Pflicht heißt, und so vertrauen wir, Ihr werdet auch heut Eure Pflicht kennen als amerikanischer Bürger und als Mann einer wackern Partei, die die Freiheit will für die Union und für die ganze Welt, und werdet diesen Beweis von Achtung annehmen, den Euch Eure Mitbürger darbringen möchten. Und nun Ihr unsre ganze Meinung wißt, Mann, nun sprecht, wenn es Euch gefällig ist. Denn um neun Uhr hebt das Meeting der gesammten Township wieder an, und unsre Committenten müssen wissen, wie sie zu handeln haben.“

Der Capitain stand auf, legte seine Hand auf Aloys’ Schulter und hob sein Haupt freudig empor. „Seit heut Nacht,“ sagte er, „wo ich diesem jungen Mann Alles offenbart, habe ich keine Angst mehr wegen dessen, was hinter mir liegt, und ich fühle mich stark für Alles, was noch vor mir liegen mag. Gebt mir die Hand, liebe Nachbarn und Freunde, und danket den Herren, die Euch gesandt haben, für ihr Vertrauen. Ich weigere mich keiner Pflicht mehr, die das Leben mir bringt, und wollet Ihr mich wählen, so will ich versuchen Euch ein braver und treuer Richter zu sein.“