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Die Schlange mit Füßen

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Textdaten
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Autor: Alfred Waeldler
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Titel: Die Schlange mit Füßen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 223
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Bearbeitungsstand
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[223] Die Schlange mit Füßen. Die Entstehungsgeschichte fabelhafter Thiere, mit welchen die Phantasie des Volkes nicht allem in der Vergangenheit, sondern sogar noch in der Gegenwart einsame oder fremde Gegenden zu bevölkern pflegt, hat man wohl hauptsächlich in der geringen Beobachtungsgabe und Beobachtungslust des Volkes zu suchen, in der Faulheit desselben, über die Erscheinungen der sichtbaren Welt gehörig nachzudenken. Hiervon ein Beispiel:

Als ich einst in Süd-Brasilien einen Bau unternahm und zu diesem Zwecke Steine zum Fundament fahren ließ, entdeckten die Arbeiter in einem hohlen Raume zwischen lose auf einander liegenden Felsblöcken eine der gefürchteten graubraunen Giftschlangen, Jararaccas genannt, welche in jener Gegend häufig vorkommen. Obgleich dieselbe träge und unbeweglich dalag und durchaus keinen Angriff zu beabsichtigen schien, schlugen die Arbeiter sie begreiflicherweise ohne Weiteres mit Knüppeln todt, wobei sie ihr den Kopf ganz zerschmetterten. Nun bemerkten sie an der auf dem Rücken liegenden Schlange vier Füße, weswegen sie mich herbeiriefen, um mir das Wunder zu zeigen. Etliche deutsche Colonisten, die gerade bei mir waren, begleiteten mich bis zum Steinbruche, und dort erklärten sie, daß ihnen eine solche Schlange mit Füßen gar nichts Neues sei, und daß sie derartige Thiere schon öfters unter Steinen gefunden hätten. Ich nahm nun die Schlange genau in Augenschein und überzeugte mich zunächst davon, daß ich eine wirkliche Jararacca von ganz außergewöhnlichem Leibesumfange vor mir hatte und zwar eine Jararacca mit vier Füßen, an deren jedem ich fünf außerordentlich harte und scharfe Zehen wahrnahm. Schnell griff ich zu meinem Gürtelmesser und trennte die Bauchhaut der Schlange von unten bis oben auf. Was kam hervor? Eine jener Hornkröten (ceratophrys), die man so häufig in den brasilianischen Urwäldern trifft. – Ich habe später noch öfters große Ratten und Kröten in den Leibern der Jararaccas gefunden, doch niemals wieder wahrgenommen, daß eine übergeschluckte Kröte mit ihren scharfen Zehen die harte Panzerhaut der Schlange durchbrochen hätte.

Die Moral von der Geschichte ist nun die, daß, wenn ich nicht die Schlange aufgeschnitten und die Kröte heraus geholt hätte, die Fabel von der Schlange mit Füßen wohl heute noch in den Köpfen jener Leute, die sie gefunden, spuken und von ihnen weiter verbreitet sein würde.

Alfred Waeldler.