Die Schriftsprache der durch Schlaganfall Gelähmten

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Titel: Die Schriftsprache der durch Schlaganfall Gelähmten
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aus: Die Gartenlaube, Heft 5, S. 90
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[090] Die Schriftsprache der durch Schlaganfall Gelähmten. In Nr. 52 des letzten Jahrganges der „Gartenlaube“ wurde über die bekannte Thatsache erklärend berichtet, daß vom Hirnschlage getroffene Personen sowohl die Beweglichkeit der Extremitäten, wie auch die Sprache verlieren; es findet sich dieses Unglück vornehmlich bei rechtsseitig Gelähmten. Die ärztliche Beobachtung hat nun ergeben, daß die halbseitigen Lähmungserscheinungen in den meisten Fällen auf Hemmungen der Willensthätigkeit beruhen und demnach sich nur auf willkürliche Bewegungen sowohl der betreffenden Theile des Kopfes wie der Extremitäten beziehen. Kranke mit Zerstörung gewisser Theile der linken Hälfte des Gehirns wollen wohl den rechten Arm und das rechte Bein bewegen, aber die Glieder gehorchen nicht ihrem Willen; sie müssen die linke Hand zu Hülfe nehmen, um die rechte Hand zu bewegen, wenn sie dazu aufgefordert werden. Es handelt sich also um eine Unterbrechung der Leitung von den normal erregbaren Centralorganen unseres Denkvermögens, welche beim Erfassen von Entschlüssen functioniren, zu denjenigen Nervenfasern, welche die Bewegungen der Extremitäten und der Zunge, gleich elektrischen Zügeln, regieren. Da nun die Sprachorgane, das heißt die kleinen Muskeln, welche die Bewegungen der Zunge, des Kehlkopfs und des Gaumensegels, sowie der Wangen regieren, dem Willen des gelähmten Menschen nicht gehorchen, so befindet er sich in der peinlichen Lage, immer seine Wünsche aussprechen, etwas sagen zu wollen und nichts sagen zu können. Seine Umgebung merkt in den meisten Fällen nicht, welch innerer Seelenkampf in dem Unglücklichen tobt. Die Angehörigen stehen um ihn herum und halten es für eine Gunst des Schicksals, daß seine geistigen Functionen vermeintlich getrübt seien, er also wohl seinen Zustand glücklicher Weise nicht so schlimm beurtheile.

Es zieht nämlich, wie das die tägliche Erfahrung lehrt, die nichtärztliche Umgebung des Leidenden aus seinem stummen Hinsiechen den Trugschluß, daß er selbst über sein Leiden kein Urtheil habe und auch, ebenso wie seine Sprachorgane, sein Denkvermögen gewissermaßen gelähmt sei. Dem ist aber in sehr vielen Fällen durchaus nicht so. Wenn, wie dieses oft vorkommt, das plötzlich eingetretene Gehirnleiden sich bessert und der Patient wieder zu seinen normalen Sprachfunctionen zurückkehrt, so hört man gewöhnlich von ihm die Schilderung der moralischen Qualen, welche er während der Hemmung seiner Willensthätigkeit erdulden mußte.

Nun lag es ja sehr nahe und geschah dies auch in manchem einzelnen Falle, daß man dem seiner Sprache Beraubten Tafel und Stift in die ungelähmte Hand gab, um ihn zum Niederschreiben seiner Gedanken zu veranlassen, aber obgleich die linke Seite nicht leidend war und der Patient den Griffel fest zur Hand hatte, um auf die Tafel in derben Zügen seine Wünsche niederzuschreiben, konnten die Schriftzüge von der Umgebung nicht entziffert werden. Dieselben machten stets den Eindruck, als ob eine Fliege, deren Füße mit Tinte befeuchtet waren, über die Tafel oder das Papier gekrochen wäre. Je weniger die Umgebung das von dem Kranken Geschriebene deuten konnte, desto erregter wurde der Patient, bis er verzweifelt und ermattet in die Kissen zurücksank Es lag hier ein psychologisches Räthsel vor, welches erst in jüngster Zeit durch genaue klinische Beobachtungen gelöst worden ist.

Auf der Krankenstation des Herrn Professor Biermer zu Breslau hat nämlich der Assistenzarzt Herr Dr. Buchwald die Beobachtung gemacht und solches kürzlich in der Berliner klinischen Wochenschrift veröffentlich, daß rechtsseitig Gelähmte, wenn sie mit der linken Hand sich schriftlich verständlich machen wollen, stets Spiegelschrift schreiben, das heißt eine Schrift, welche von rechts nach links, erst im Spiegel gesehen, sich als unsere gewöhnliche Schrift darstellt. Diese merkwürdige Thatsache ist physiologisch so zu erklären, daß im Gehirne ein Theil der Organe, welche die Schreibbewegungen von links nach rechts gleichsam erlernt haben, in der linken Seite des Gehirns liegen und gelähmt sind, mithin die Schreibbewegungsthätigkeiten von links nach rechts, wie wir sie in den Schulen lernen und unser ganzes Leben hindurch üben, nicht ausgeführt werden können. Dagegen wird unwillkürlich die Schreibbewegung der rechten Hand von dem rechtsseitig Gelähmten auf seine linke Hand in analoger Weise durch die gesunde rechte Hirnseite übertragen, und die Bewegungen, die wir unser Leben lang beim Schreiben mit der rechten Hand von links nach rechts ausgeführt haben, führen wir nun mit der linken Hand gleichsam instinctmäßig von rechts nach links aus, worauf eine Spiegelschrift entsteht, welche man bisher, wenn von Gelähmten geschrieben, als unlesbare Zeichen betrachtete. Man kam eben nicht auf den Gedanken, einen Spiegel zu Hülfe zu nehmen. Der Fall, bei welchem diese merkwürdige Thatsache zum ersten Male erforscht wurde, war folgender: Gottlieb Gärtner, ein fünfundvierzigjähriger Arbeiter, der unter gewöhnlichen Erscheinungen einer rechtsseitigen Lähmung nach einem Hirnschlaganfall in die Breslauer Klinik kam, zeigte Sprachlosigkeit; die rechte Hand konnte zum Schreiben nicht verwendet werden, jedoch schrieb der Gelähmte auffallend geschickt mit der linken Hand von rechts nach links in Spiegelschrift, wie wir dieses indem beifolgenden Facsimile abbilden; es erscheinen hier auf verhältnißmäßig geschickte Weise geschriebene Zahlen in Spiegelschrift.

Ebenso konnte der Patient seinen Namen und viele andere Worte in Spiegelschrift wiedergeben. Auf die Eigenthümlichkeit und Regelwidrigkeit seines Schreibens aufmerksam gemacht, konnte er anfangs nicht bewogen werden, in der üblichen Weise von links nach rechts, zu schreiben. Auch die Vorschrift seines Namens, sowie von links nach rechts gehender Zahlen hatte nur zur Folge, daß er in die ursprüngliche Spiegelschrift zurückfiel. Später wurden noch andere, ganz analoge Fälle in der Breslauer Klinik beobachtet.

„Sophie“

Schreiber dieser Zeilen hat in seiner ärztlichen Praxis ofters Fälle vor Augen gehabt, in welchen solche Schreibversuche bei Gelähmten vorgenommen wurden. Nebenstehendes Facsimile, welches von einer Dame stammt, die er vor mehreren Jahren behandelte, hatte er in seinen Notizen aufbewahrt, ohne solches deuten zu können, bis er vor einigen Wochen die erwähnte Beobachtung aus der Breslauer Klinik gelesen. Bei Zuhandnahme eines Spiegels zeigte es sich nun, daß jene, mittlerweile an einem wiederholten Schlaganfalle verstorbene Dame das Wort „Sophie“, den Namen ihrer Pflegerin, geschrieben hatte.

Ganz abgesehen von dem hohen wissenschaftlichen Interesse, welches solche Beobachtungen bieten, haben dieselben einen bedeutenden praktischen Werth. Es ist durch sie Gelegenheit geboten, die Schriftsprache jener unglücklichen von nun an zu verstehen. Dieselben werden durch die gegebene Möglichkeit, sich mitzuteilen, der peinlichen Seelenqualen enthoben, über welche wir eingangs dieser Zeilen berichtet.

Dr. St.