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Die Socialdemokratie und die Schule

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Textdaten
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Autor: Ferdinand Lindner
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Titel: Die Socialdemokratie und die Schule
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 25, S. 408, 410-412
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
zum Autor siehe Kleiner Briefkasten (Die Gartenlaube 1878/28)
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[408]
Die Socialdemokratie und die Schule.

„So kann es nicht bleiben; es muß etwas gethan werden!“ In allen Orten und Gegenden, in den verschiedensten Parteien und Classen unseres Vaterlandes war dieser Nothruf seit einiger Zeit das vorherrschende Stichwort des Tages geworden. Immer bestimmter erhob er sich in den Reihen der Conservativen wie der Liberalen, und immer dringender und angstvoller tönte er neuerdings selbst aus jener schwerfälligen Masse sogenannter friedlicher Bürger, die endlich gleichfalls aus ihrer Ruhe aufgescheucht und in Bewegung gerathen waren ob der gemeinsamen Gefahren, mit denen die sogenannte Socialdemokratie die Sicherheit unseres Daseins, das Glück unserer Zukunft bedroht. Und nun ist das selbst für die Schwarzsehendsten doch noch Unerwartete geschehen: mitten aus dieser Socialdemokratie heraus, jedenfalls von ihrem Geiste vollgesogen, haben in dem kurzen Zeitraume von drei Wochen zwei Menschen zum Mordversuche auf unsern Kaiser, auf den geliebtesten und verdientesten Monarchen Europas, das Herz gefunden. Ja wohl, die Gefahr ist da; aus unscheinbaren Anfängen ist sie binnen Kurzem so riesig emporgewachsen, daß kein Unverblendeter sie hinwegleugnen und gleichgültig vor ihr die Augen verschließen kann. Wohin wir den Blick wenden, überall flammt sie uns aus Mienen und Worten, aus Handlungen und Bewegungen entgegen, überall hat sie den Verhältnissen die Merkmale der Verwilderung und gesellschaftlichen Wirrniß aufgeprägt. Wie sollte die Unhaltbarkeit eines solchen Zustandes nicht der überwiegenden Menge besonnener Zeitgenossen sich fühlbar machen, nicht in ihnen die Ueberzeugung wecken, daß hier wirksam eingegriffen und Wandel geschafft werden muß?

Es muß etwas gethan werden! Gewiß, wir haben alle Veranlassung zu dem Glauben, daß der Alarmruf ein ernstgemeinter ist und aus der Tiefe der bedrängten Seelen kommt. Hätte man aber die Rufer beisammen und wollte die ersten Schritte zur Ausführung ihres Entschlusses mit ihnen besprechen, so würde sich bei dieser Erörterung, zu allgemeiner Ueberraschung und Beschämung, eine vollständige Hilflosigkeit der Urtheile bei der Beantwortung der Frage herausstellen: was denn nun eigentlich zur Bekämpfung der socialdemokratischen Unterwühlung unseres Staats- und Gesellschaftsbodens gethan werden soll? „Gewaltmaßregeln!“ ruft das leicht erregte, auf’s Tiefste empörte öffentliche Gefühl. „Nein,“ sagen die sorglichen Wächter unserer politischen Freiheiten, „energische Handhabung der bisherigen Gesetze, Selbsthülfe, im uebrigen Ueberwindung der Socialdemokratie mit geistigen Mitteln.“ Dauernd hilft ohne Zweifel nur das Letztere, und doch ist gerade auf diesem Punkte die Rathlosigkeit selbst bei der Mehrzahl der Gebildeten eine vollständige. Denn hinsichtlich der für den ersten Blick wichtigsten Bedingung eines erfolgreichen geistigen Einwirkens, der Kenntniß wenigstens der elementaren volkswirtschaftlichen Begriffe, stehen selbst die höchstgebildeten Classen auf keiner besonders höheren Linie, als die mindergebildeten, natürlich mit Ausnahme Derjenigen, die sich durch eigenes Studium auf dem betreffenden Gebiete umgesehen und orientirt haben. Möge einmal der Versuch gemacht und ein socialdemokratischer Agitator herbeigerufen werden, der sein Sprüchlein gut auswendig kann und das erforderliche freche Mundwerk besitzt! Stelle man demselben Leute gegenüber, von denen es feststeht, daß sie eine vorzügliche „allgemeine Bildung“ besitzen – vielleicht aus der Gattung der Universitätsprofessoren oder intelligenten Künstler – und es wird, natürlich immer mit [410] Ausnahme Einzelner, jene traurige Hülflosigkeit alsbald zu Tage kommen. Jeder dieser Männer wird empfinden, daß der Agitator mit seinen kecken Behauptungen Unrecht hat, aber eine schneidige Antwort wird sich aus ihrem auf diesem Felde ganz ungeschulten Denkvermögen nicht loszuringen vermögen. In der Regel wissen sie nicht einmal, wo sie den Hebel anzusetzen haben, um den Gegner aus seiner Position zu bringen.

Wir werden im weiteren Verlaufe unserer Darlegungen auf diese äußerst wichtige Thatsache zurückkommen.

Zuvor müssen wir indessen einen Scheidungsproceß vornehmen und die Begriffe „Sociale Frage“ und „Socialdemokratie“ streng von einander trennen, da das große Publicum durch fortwährende Vermischung dieser beiden sehr verschiedenen Dinge die Entscheidung erschwert und die ganze Angelegenheit sehr erheblich verwirrt hat.

Die sociale Frage will die Aufgabe lösen, den ärmeren Volksschichten eine möglichst menschenwürdige Existenz zu sichern. Wir sagen „möglichst“, denn eine absolute Lösung dieser Aufgabe ist unmöglich, und wenn ein Gott vom Himmel niederstiege, er wäre nicht im Stande, sie herbeizuführen, es sei denn, er kehrte alle Voraussetzungen des menschlichen Daseins um. Möglich dagegen ist in der Folge der Zeiten eine annähernde und verhältnißmäßige Lösung, wenn jede Generation mit gutem Willen das Ihrige dazu beiträgt. An diesem guten Willen zu wachsamem und durchgreifendem Wirken für das Wohl der ärmeren Classen hat es freilich in früheren Perioden selbst unserer neueren Geschichte vielfach gefehlt, und es fehlt auch gegenwärtig noch häufig daran gerade in denjenigen Kreisen, die in erster Reihe fühlen und erkennen müßten, daß die Gesellschaft ein Organismus und die Interessen aller ihrer verschiedenen Glieder solidarische, das heißt untrennbar zusammenhängende und so von einander abhängige sind, daß der eine Theil ohne Gesundheit und Gedeihen des anderen nicht gesund sein und gedeihen kann.

Mit diesem Begriffe der „socialen Frage“ darf aber die gegenwärtig überall besprochene socialdemokratische Frage in keiner Weise verwechselt werden. Denn die Socialdemokratie ist nichts Anderes, als eine Partei, welche in einseitiger Weise die absolute, das heißt also die unmögliche Lösung der socialen Frage verlangt. Die Systeme, welche sie dafür aufstellt, werden wir hier nicht erörtern, weil dieselben, wie wir dies weiter zeigen werden, in Bezug auf die Bekämpfung der Socialdemokratie eine ganz untergeordnete Rolle spielen. Dagegen kommt es bei einem Kampfe vor Allem darauf an, seinen Gegner und die Kraftentwickelung desselben genau kennen zu lernen. Um dies zu erreichen, wollen wir an diejenige Seite der Socialdemokratie anknüpfen, welche im Publicum die bekannteste ist – an ihre Eigenschaft als „Umsturzpartei“. Das deutsche Reich hat gegenwärtig zwei auf den Umsturz des Bestehenden hinarbeitende Parteien aufzuweisen, die ultramontane und die socialdemokratische, aber meist wird bei dem Gemeinsamen dieses Charakterzuges der gewaltige Unterschied übersehen, welcher zwischen beiden besteht.

Das Auftreten des Ultramontanismus ist im Grunde nichts Anderes, als das letzte verzweifelte Zucken und Umsichschlagen eines sterbenden Organismus, der einst furchtbarer Kraftentwickelung fähig war. Je langsamer dieser Sterbeproceß sich innerhalb einer Nation vollzieht, desto mehr wird sie, den anderen Völkern gegenüber, an Widerstandskraft im Kampfe um’s Dasein einbüßen – aber der Proceß geht dennoch vor sich mit der Unerbittlichkeit eines Naturgesetzes; jede neue Schulstunde, jede neue Eisenbahnschiene entzieht jener mittelalterlichen Welt mehr und mehr den Boden. Gerade entgegengesetzt verhält es sich mit der Socialdemokratie. Während der Ultramontanismus im Widerstreit gegen die Mächte, welche unsere Zeit bestimmen, zu Grunde geht, sind es gerade diese Mächte, aus welchen die Socialdemokratie Leben schöpft.

Dem Auge des Bürgers erscheint die Socialdemokratie wie ein plötzlich auftauchendes Gespenst, wie etwas ganz Neues, noch nie Dagewesenes, das zum ersten Male die Hand nach seinen wohlerworbenen Gütern ausstreckt. Diese Auffassung ist jedoch durchaus falsch, denn ganz dieselben Anschauungen, welche den Socialismus unserer Tage charakterisiren, haben sich schon früher, in der alten Geschichte sowohl, bei Griechen wie Römern, wie auch in der neueren, zur Zeit der Reformation, geltend gemacht. Zum Theil tritt der Socialismus als eine Folge der geschichtlichen Entwickelung des betreffenden Staates auf, sei es, daß die Einrichtungen desselben wiederholt einen Umsturz erfuhren, oder daß das demokratische Princip zu einer nicht organisirenden und erhaltenden, sondern zersetzenden Geltung gelangte, Erscheinungen, wie sie namentlich im Alterthum dem Socialismus zu Grunde lagen und in Verbindung mit diesem den Untergang des Staates herbeiführten. Für unsere deutschen Verhältnisse sind diese Momente von geringer Bedeutung, indem der Germane, von dem Heine sagt, daß er den Strom der That mit prüfendem Fuße betritt, mehr der Reform zuneigt, während bei den Romanen der Hang zur gewaltsamen Durchführung reformatorischer Ideen, zur Revolution vorherrscht. Wir beobachten letzteres besonders an Frankreich, das sich ja seit hundert Jahren gleichsam in einer chronischen Revolution befindet und wo dieser Zustand für die Aufrechterhaltung des Socialismus eine verhängnißschwere Rolle spielt.

Andrerseits aber – und das ist es, was speciell für unsre Verhältnisse in Betracht kommt – ergeben sich Hauptfäden zum Gespinnst des Socialismus aus solchen Gestaltungen, welche der Culturgang mit Nothwendigkeit hervorgerufen hat und die an sich selber segensreich sind. Zu diesen Gestaltungen gehört, als die für uns hier wichtigste und alle anderen überragende, die starkgegliederte Arbeitstheilung. Der schroffe Gegensatz zwischen Armuth und Reichthum ist für die Förderung socialitischer Ideen bei Weitem nicht so bestimmend wie jene Theilung der Arbeit. Denn erstens ist, mit wenigen Ausnahmen, in den heutigen Culturstaaten der gesunde Mittelstand ein breites Uebergangsgebiet zwischen beiden Gegensätzen, und ferner ist die bloße Begehrlichkeit allein nicht im Stande auch den Besseren und Besonneneren so mit fortzureißen, wie es die Logik eines ruhigen Gedankenganges vermag, wenn derselbe erst einmal bei der Frage angelangt ist: wie kommt es, daß der Arbeiter den ganzen Tag sich um einige Groschen müht, während der Banquier im Handumdrehen eben so viele Tausende von Mark durch eine Fahrt nach der Börse verdient? Diese Unterschiede des Arbeitsertrages, die auf der Arbeitstheilung basirt sind, vermag der Arbeiter nicht zu vereinigen; die hier wirkenden Kräfte und Verhältnisse vermag er nicht zu übersehen; es erscheint ihm wie ein schreiendes Mißverhältniß, und das ist die Lücke seines Denkens, in welche die socialistische Idee ihren Samen wirft. Die Arbeitstheilung aber ist eine der wichtigsten Voraussetzungen menschlicher Production in der Gegenwart wie Zukunft, und um deswillen sagten wir, der Socialismus unterscheide sich dadurch vom Ultramontanismus, daß er seine Lebenskraft aus Bedingungen schöpft, welche an sich für das Leben des Volkes nothwendig sind und es bleiben werden.

Der oben gezeigte Umstand, daß der Socialismus niemals selbstständig erscheint, sondern stets in Zusammenhang mit ungesunden Staatszuständen oder als üble Kehrseite von an sich nützlichen Einrichtungen, – dieser Umstand drückt ihm den Charakter einer socialen Krankheit auf. Es ist dies eine durchaus zutreffende Bezeichnung für ihn, und wir halten sie fest, da sie uns zugleich auf den Weg führt, der zur Bekämpfung des Socialismus in erster Linie eingeschlagen werden muß. Dabei wird es sich zeigen, daß der bisher verfolgte Weg ein falscher gewesen ist.

Was würde der Leser von einem Arzte sagen, der zu einem Fieberkranken gerufen wird und weder dessen Puls untersuchte, noch überhaupt nach dem Sitz des Uebels forschte, sondern blos auf die Ideen eingehend, welche der Kranke in seinen Phantasien äußert, mit Gründen der Vernunft und Logik sie beantworten und dadurch Heilung erzielen wollte? – Genau so aber verhält es sich mit der Taktik, mit welcher man dem Socialismus entgegenzutreten pflegte, in der Presse sowohl, wie anderweitig. Die Phantasie von Gütergemeinschaft, Enteignung des Capitals, Staatsverwaltung, kurz den ganzen Unsinn, den der Communismus hervorbringt – diese Phantasien wollte man durch „Belehrung in der Presse sowohl, wie durch private Thätigkeit“, durch „Vereine“ etc. bekämpfen; in dieser Richtung bewegte sich wenigstens bisher der im Bürgerthum erwachte Drang, etwas gegen die sociale Gefahr zu thun. Dabei übersah man jedoch gänzlich, daß man auf diesem Wege zu einem Kampfe gegen Windmühlen ausrückte, indem hier die beiden unerläßlichen Vorbedingungen eines Erfolges fehlten: erstens, daß der Arbeiter belehrt werden will und zweitens, daß er belehrt werden kann.

[411] Zuerst also: er will nicht belehrt sein. Bei den Gründen dafür hat auch die Beobachtung und Vergegenwärtigung rein psychologischer Thatsachen ein Wörtchen mitzureden.

Der aufreizende Socialismus hat sich gerade mit den zwei Regungen des menschlichen Geistes verbunden, welche der nachhaltigsten Kraftentwickelung fähig sind: mit der Hoffnung und dem Fanatismus. Wie das Christenthum mit seiner communistischen Tendenz zu den „Armen und Elenden“ sagte: hoffet! so ruft jetzt der Communismus: hoffet – hoffet auf eure Stimmenzahl oder auf – eure Fäuste! So hoffen sie denn selbst angesichts der Thatsache, daß sie in dem endlich aufgerüttelten Bürgerthum eine Macht gegen sich heraufbeschwören, die ihnen die Hoffnung auf künftige Siege raubt, wenn sie nur irgend fest und sich treu bleibt. Und dann der Partei-Fanatismus: in jedem, selbst dem schwerfälligsten Menschen sitzt ein Stückchen Parteigänger, ein Stückchen Kampfhahn – man muß nur den Punkt wissen, wo man ihn zu fassen hat, und er wird bald ebenso hitzig, ebenso verstockt zu der vor ihm aufgerollten Fahne stehen, wie jeder Andere. Und der Socialismus hat es jederzeit wahrlich leicht genug gehabt, den Weg zu den Gemüthern und zur Erregung der Parteisucht zu finden. Neben diese Bundesgenossen des Socialismus, neben Hoffnung und Partei-Fanatismus, tritt aber noch ein dritter finsterer Geselle – das Mißtrauen. Wollte sich Jemand dem Glauben hingeben, jene ersten Beiden durch Vernunftgründe und Belehrung bekehren zu können – dieser Dritte im Bunde bricht alle Brücken zwischen den Classen hinweg, an dem verstockten Mißtrauen stumpft der beste Wille, das größte Wohlwollen für die verführten Classen ab; an ihm scheitert jeder und jeder Versuch einer Verständigung. Selbst in die Logik des einleuchtendsten Ideenganges drängt sich dieses zerstörende Gift und blendet die Augen des bethörten Arbeiters in einem solchen Grade, daß ihm selbst die unabweisbarste Wahrheit als eine schlaue Ueberrumpelung erscheint.

Zeigt sich also schon aus einer Betrachtung dieser Sachlage der Plan einer Widerlegung und Bekehrung der Socialisten als praktisch unausführbar, so kommt noch ein Anderes hinzu. Jene Ideen nämlich, auf deren Bekämpfung man so vielen Werth legt, sind in der Masse der socialdemokratischen Arbeiter gar nicht so weit und so ausnahmslos verbreitet, wie man annimmt. Wir nehmen ein Buch her, orientiren uns über die verschiedenen Lehren des Socialismus, lesen die von socialdemokratischen Agitatoren gehaltenen Reden, hören das beistimmende Zujubeln des Anhanges und sind nun überzeugt, daß dies Alles eine einheitliche Manifestation socialistischer Ideen ist. Und dennoch ist dies durchaus nicht der Fall. Wohl keine andere Partei wird an ihren einzelnen Elementen eine so verschiedene Auffassung des gemeinsamen Zieles aufweisen, wie die socialdemokratische. Ueber das eigentliche System des Socialismus ist sich nur eine sehr geringe Minderheit klar; eine weitere Gruppe, namentlich der jugendlicheren Classen, nimmt die Lehren als eine unverdaute und unverstandene Masse ganz äußerlich in ihr Gehirn auf, die weitaus größte Mehrzahl aber läßt die eigentlichen socialistischen Ideen nur so mitlaufen; ihr handelt es sich ganz allein um den einen Gedanken: um die für ihr Verständniß unübersteigbare Kluft zwischen ihrer Arbeit und ihrem Lohn im Verhältniß zu dem der anderen Classen, oder besser gesagt, der andere Classe. Denn für sie existiren überhaupt nur zwei: Arbeiter und „Geldmänner“, welche letztere, ihrer Ansicht nach, allein den goldenen Schlüssel zu allen Genüssen des Lebens besitzen. Wie sie zu den Vortheilen dieser Classe gelangen können – ob auf dem Wege socialistischer Ideen oder sonst wie – das ist dieser größeren Mehrzahl ganz gleich, wenn sie es nur erreicht. Und weil die Führer des Socialismus so bestimmt versichern, das könne nur nach ihrem Recept geschehen, darum schlägt dieser große Haufen sich eben auf ihre Seite. Socialisten aus Princip und Ueberzeugung sind diese Leute durchaus nicht; sie gehören der Partei nur aus, ihrer Anschauung nach, rein praktischen Gründen an. An der Sache selbst ändert das nun freilich nichts, aber der Einblick genügt doch, uns jede Hoffnung aufgeben zu lassen, durch irgend eine Belehrung oder irgend welche Einwirkung auf solche leidenschaftlich erregte Gemüther zu einer Lösung zu gelangen.

Gestehen wir es uns lieber ohne alle Umstände: eine Verständigung giebt es nicht mehr – die Classen haben aufgehört, sich zu verstehen – der Classenkampf ist da, und es giebt hier zunächst nur eine Losung: Nothwehr gegen fortgesetzten Angriff! Mit der gegenwärtigen Socialdemokratie, wie sie vor uns steht, giebt es kein Pactiren, kein Auseinandersetzen. Aber hier ist – wohl verstanden – namentlich bei uns in Deutschland, auch nicht das letzte Mittel der Kanonen nöthig. Trotz der schönen Tiraden vom „dumpfen Tritt der Arbeiterbataillone“ und dergleiche Drohungen können wir dies bestimmt behaupten. Die Nothwehr, von der wir sprechen, ist vielmehr nur ein entschlossenes, thatkräftiges Auftreten des Bürgerthums, jener großen Mittelclasse, welche in hervorragender Weise den modernen Staat auf ihrem breiten Rücken trägt. Von dem Augenblicke an, wo unser noch gesundes und kräftiges Bürgerthum in den Kampf eintritt, steht eine Gewalt auf, vor deren Uebermacht diejenige des Socialdemokratismus weichen muß. Wie man von den bösen Geistern sagt, daß sie das Böse wollen und das Gute schaffen, so würden auch die socialistischen Wühler ein Gutes hervorrufen, indem sie das bisher noch träg und gleichgültig sich verhaltende Bürgerthum dem constitutionellen Leben gewinnen, sodaß wir fortan vielleicht nicht mehr die Schmach erleben würden, einen beträchtlichen Theil dieser ausschlaggebenden Classe an den wichtigsten Staats- und Gemeindewahlen sich gar nicht betheiligen zu sehen.

Mit einer solchen Nothwehr aber, mag sie eine mehr private bleiben oder mag der Staat zu einer polizeilichen Gegenwirkung autorisirt werden, wäre nichts weiter gewonnen, als daß eine auf den Umsturz ausgehende Bestrebung mehr als bisher in Schranken gehalten würde und zwar im Falle staatlichen Eingreifens vielleicht zu Gunsten reactionärer Absichten, zur Schädigung wohlerworbener Volksrechte und der allgemeinen bürgerlichen Freiheit. Eine Heilung des socialen und politischen Uebels würde dadurch nicht erzielt sein. Wie soll nun diese Heilung geschehen?

Wir haben oben die Ueberzeugung ausgesprochen, daß die Socialdemokraten nicht blos nicht belehrt sein wollen, sondern daß sie auch nicht belehrt werden können. Und jetzt kommen wir auf das schon beim Eingang versprochene Capitel. Sieht es, wie wir dies Alle wissen, schon mit den volkswirthschaftlichen Begriffen selbst der gebildetsten Classen sehr trübe aus, wie kann man bei dem Arbeiter gegen eine Idee ankämpfen wollen, der gegenüber ihm alle Voraussetzungen eines Urtheils fehlen? gegen eine Idee, welche gerade auf dem völligen Mangel an Ueberblick, an Bewußtsein von dem Verhältnisse seiner Arbeit zu der Arbeit der übrigen Gesellschaft beruht?

Hier ist der Punkt, wo wir den Hebel ansetzen müssen – hier gilt es, unsere Kräfte zu vereinigen und wenigstens für die ganz sicher noch zu rettenden jung aufwachsenden Generationen eine positive Thätigkeit zu entwickeln, deren Gesichtspunkte offen auf der Hand liegen. Diesen Geschlechtern der Zukunft müssen wir für das Leben gewähren: erstens die Widerstandskraft, um den Verlockungen der Demagogen zu widerstehen, und zweitens: die Fähigkeit, zu unterscheiden zwischen dem, was erreichbar und demgemäß auch zu erstreben – und dem, was unerreichbar und also nicht zu erstreben ist. Das aber erlangen wir einzig und allein dadurch, daß wir ihnen das Handwerkszeug für ein gesundes Urtheil in die Hand drücken. Das muß durch die Schule geschehen. Haben wir die Frage erst auf diesem Punkte, so befinden wir uns auch sofort auf dem günstigen Felde, wo von Classenunterschied nicht mehr die Rede ist, da hier eben alle Classen der Bevölkerung vor einem gemeinsam empfundenen Bedürfnisse stehen.

Mit einem Worte also: Die Volkswirthschaft muß in die Lehrgegenstände der Schule aufgenommen werden, um den Schüler zu einem Menschen heranbilden zu helfen, welcher die wesentlichsten Begriffe in sich aufgenommen hat, mit deren Hülfe er im Stande ist, die Bedingungen seiner Existenz und sein Verhältniß zur menschlichen Gesellschaft vernünftig zu beurtheilen.

Indem wir dies schreiben, bezweifeln wir keinen Augenblick, daß man von verschiedenen Seiten mit allerhand Gegengründen über uns herfallen wird, als da sind: die Volkswirthschaft gehöre nicht in die Schule; es sei eine neue Belastung des so wie so kaum zu bewältigenden Lehrstoffes; sie gehe über die Fassungskraft des Schülers hinaus u. dergl. m., Gründe, von denen kein einziger stichhaltig ist. Daß ein ähnliches Bedürfniß, wenn auch in unpraktischer Form, schon einmal zur Geltung gelangt ist, [412] daran erinnert das von der Pädagogik längst abgethane Institut der „Denkübungen“, eine Unterrichtsstunde, die, gänzlich zwecklos, von Lehrern und Schülern nur zum Faulenzen benutzt wurde, der jedoch der gesunde Gedanke zu Grunde liegen mochte, daß man das Urtheil des Schülers an Gegenständen üben wollte, die aus dem Leben gegriffen waren, im Unterschiede von den täglich gebrauchten, den sonstigen Zweigen des Unterrichts angehörigen Begriffen. In der That ist das aber nichts Anderes, als was man, nur in methodischer und weitblickender Weise, mit einem Unterrichte in volkswirthschaftlichen Begriffen erstreben würde.

Sehen wir vor der Hand von der Volksschule ab und fassen wir desto fester die Fortbildungsschule und das Gymnasium in’s Auge! Hier würden sich die angeführten Einwände wesentlich um die zwei Hauptpunkte gruppiren: daß der Gegenstand über die Fassungskraft des Schülers gehe und daß der Lehrstoff noch mehr als nöthig belastet würde.

Was nun den ersteren Einwand betrifft, so geht er nur von einer Unkenntniß der Begriffe aus, mit denen die Volkswirthschaft zu rechnen hat und die in Wirklichkeit so einfach sind, wie sie einfacher kein anderer Lehrgegenstand aufweisen kann. Sollte der Schüler, welcher die ganz abstracten Grundbegriffe der Mathematik zu erfassen und zu Combinationen zu verwerthen vermag, der die abstracten Begriffe, welche der Satzbildung in der Grammatik zu Grunde liegen, in einer fremden Sprache anzuwenden versteht – von dem höheren grammatischen Unterricht gar nicht zu reden – sollte ein derartiger Schüler nicht spielend solche Sätze aufnehmen und ebenso leicht wieder verbinden können, wie: Je mehr Esser im Staate, desto kleiner die Portionen – oder solche simple Definitionen wie die der Begriffe: Gut, Tausch, Werth?

Es ist wohl kaum nöthig, hervorzuheben, daß es sich hier nicht um tiefergehende Probleme oder streitige Gegenstände der Volkswirthschaft handelt, sondern daß lediglich zwei Punkte zu erreichen sind: die volkswirthschaftlichen Grundbegriffe einzuprägen und daneben eine Anleitung zur Verbindung und Anwendung jener Begriffe zu geben. Es kommt also hier Alles auf die Methode an. Zu Grunde liegen müßte natürlich stets ein klar, einfach und leichtfaßlich eingerichteter Leitfaden, was keine Schwierigkeiten bietet, denn in der Herstellung solcher Bücher besitzen wir Deutschen ja eine hervorragende Befähigung.[1]

Die Methode in der Fortbildungsschule würde sodann darin bestehen, daß man, nachdem jene Grundbegriffe gewonnen worden sind, die Verbindung und Anwendung derselben fortgesetzt an Beispielen übte, welche den praktischen Gebieten der hier zunächst betheiligten gewerblichen Classen zu entnehmen wären. Dem Gymnasium gegenüber ist eine solche specielle Uebung gar nicht nöthig, da sich die Erlernung der volkswirthschaftlichen Grundbegriffe zu einer wesentlichen Erleichterung des Unterrichts, namentlich des geschichtlichen und der Erklärung der Schriftsteller gestaltet. Aber Eines ist als Voraussetzung festzuhalten: daß man nicht etwa meint, diesen Stoff des Unterrichts für die Prima, das heißt für das reifere Verständniß, aufheben zu müssen – dann thut man besser, ihn lieber gar nicht in die Schule aufzunehmen. Will man eine wirklichen praktischen Erfolg erzielen, so muß die Einprägung der so überaus leicht faßlichen volkswirthschaftlichen Grundbegriffe in der Classe beginnen, wo der Vortrag der speciellen, also zunächst der griechischen Geschichte anfängt; der Geschichtsvortrag und die Interpretation der Schriftsteller in allen folgenden Classen ist dann eine unausgesetzte Anwendung, Verwerthung und Uebung jener grundlegenden Begriffe. Und in welchem Grade würde dadurch den Lehrern und Schülern einerseits die Darstellung, andererseits die Auffassung der Geschichte und der alten Schriftsteller erleichtert! Der Schüler wird in der Geschichte der asiatischen Völker nicht mehr ein wirres Drängen des einen gegen das andere, sondern das sich gleichmäßig wiederholende Wirken eines einfachen Bevölkerungsgesetzes erkennen; er wird die volkswirthschaftlichen Beweggründe, welche in allen Stämmen und durch die ganze griechische Geschichte gleichmäßig thätig waren, die Beweggründe, welche, im Classenkampfe zu Tage tretend, auch das Bild der römischen Republik charakterisiren, viel klarer und viel einfacher verstehen lernen. Wie die Schule heute ist, verläßt sie der überwiegende Theil der Zöglinge mit der Auffassung, daß Rom allein deshalb zu Grunde ging, weil die Römer moralisch heruntergekommen waren, während er von den Sünden gegen die gleichfalls hier sehr erheblich in Frage kommenden volkswirthschaftlichen Gesetze keine Vorstellung hat.

Auf diesem Wege würde dann auch sicher der gebildete Stand jene erbarmungswürdige Hülflosigkeit des Urtheils in Betreff der gesellschaftlichen Verhältnisse verlieren und zu einer viel tieferen Anschauung, einer viel wärmeren Erfassung seiner Existenzbedingungen und seiner Pflichten dem Staate gegenüber gelangen.

Der Arbeiter aber, welcher den Weg durch alle die Begriffe vom Gute zum Tausche, zum Werthe und Kaufe gemacht hat – wird er nicht zum Bewußtsein kommen, daß hinter der Zahlungsfähigkeit seines Arbeitgebers die Zählungsfähigkeit des Weltmarktes steht? Und wird ihn das weiter nicht zu einem bald mehr bald weniger klaren Verständniß oder wenigstens zu einem Bewußtsein dessen führen, was er an Lohnhöhe beanspruchen und erstreben und was er nicht erstreben kann und darf? Wird er, wenn er erkannt hat, daß Sparsamkeit und Rechtssicherheit zwei wesentliche Factoren der Capitalbildung sind – wird er nicht einerseits eine ganz andere Auffassung vom Capital und damit der „Geldmenschen-Classe“ erhalten, andererseits in Bezug auf seine eigene Sparsamkeit nachdenklich werden? Wird ihn endlich nicht in gleicher Weise die Bevölkerungslehre zu verschiedentlichem Nachdenken anregen? Ueber communistische Ideen braucht dabei gar nichts gelehrt zu werden. Was wir verlangen und was erstrebt werden muß, das ist einzig und allein die Urtheilsfähigkeit aller Classen auf dem ihnen zu allernächst liegenden Gebiete ihrer gemeinsamen eigenen Existenz.

Und damit befinden wir uns auch vollständig im Rahmen der unserer Epoche überhaupt gestellten Aufgabe, einer Aufgabe von furchtbarer Verantwortlichkeit. Die Bewegung, welche gegenwärtig durch die Geister geht, ist gleichsam der Morgenwind, der einer aufdämmernden neuen Weltanschauung vorausgeht. Mögen die künftigen Geschlechter sich mit der Methode dieser neuen Weltanschauung befassen, unsere Aufgabe ist es: die Methode des Ueberganges zu schaffen, damit das Tageslicht jener neuen Weltanschauung nicht in der wirklichen Menschenwelt noch gänzlich unversöhnte Gegensätze findet, die sich nun erst noch thatsächlich in langen Wirrsalen furchtbarer Umwälzungen ausgleichen müßten.

Niemand weiß, welchen Gang die Geschichte nehmen mag, aber das Eine wissen wir alle: wir müssen zu glücklicher Hinausführung augenblicklich noch sehr trauriger Kämpfe auf eine energische und sorgsame Erhaltung und Pflege aller idealen Züge im Volksleben bedacht sein; es wird zu einer Ueberbrückung der Klüfte, zu einer Verständigung des heißen Widerstreits und also zu einem Heil und Frieden nicht kommen ohne einen gewissen Grad allseitiger volkswirthschaftlicher Bildung, welcher der Mehrzahl der Bevölkerung die ihr bis jetzt fern gehaltene Einsicht in die materiellen Existenzbedingungen eines menschlichen Gemeinwesens möglich macht.[2]
F. L.
  1. Zur Ergänzung können wir übrigens noch hinzufügen, daß volksthümlich geschriebene Leitfäden für wirthschaftliche Belehrung schon vorhanden sind. Wir machen unter Anderem nur auf das in der „Gartenlaube“ bereits empfohlene Schriftchen „Wirthschaftliche Lehren“ von Fritz Kalle aufmerksam, von dem jetzt (Berlin, Expedition der „Gesellschaft zur Verbreitung von Volksbildung“) eine zweite Auflage erschienen ist.
    D. Red.
  2. Gern haben wir den meistens beherzigenswerthen Ausführungen und Vorschlägen des Herrn Verfassers in unseren Spalten das Wort gelassen, sind indessen mit sehr vielen Beobachtern unserer öffentlichen Zustände und der genannten Bewegungen der festen Ueberzeugung, es sei der entbrannte Classenkampf bei uns noch gar nicht zu einem solchen Umfang gediehen und die gerissene Kluft noch nicht eine so durchgreifende, daß nicht zahlreiche Elemente des von dem Herrn Verfasser so treffend bezeichneten Anhanges dem blendenden Einflusse demagogischer Hetzereien noch entzogen und dem gesellschaftlichen Frieden, der gemeinsamen Arbeit zu allmählicher Besserung der Zustände gewonnen werden könnten. Sehr freudig haben wir daher die mehrfach jetzt endlich laut gewordenen Entschlüsse zu einer organisirten Gegenagitation des gesunden deutschen Bürgerthums begrüßt und wünschen nur, daß dieselbe als eine ebenso umfassende und energische, wie verständige und nachhaltige sich bewähren möge. Die Schule hat in dieser Frage eine große Aufgabe, aber ein so gewaltiger, so tief in alle wirklichen Verhältnisse eingreifender Kampf um’s Leben muß gleichzeitig auch auf dem Boden des Lebens ausgefochten werden, und zwar mit allem Ernste, den er erfordert, und mit allen den Mitteln der Macht, des Widerstandes und der geistigen und sittlichen Einwirkung, welche bei uns der Welt der Intelligenz und der edleren Gesittung so reich zu Gebote stehen, wenn sie dieselbe nur verwenden und zur Bethätigung ihrer Kraft sich aufraffen will. Hier ist durch Versäumniß unverantwortlich gesündigt worden! Mögen die Schreckenszeichen der Zeit jeden Einzelnen an seine Pflicht mahnen!
    D. Red.