Die Stadtgrenze bei Räcknitz

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Das Dresdner Landwehrbataillon 1813/14 Die Stadtgrenze bei Räcknitz (1892) von Otto Richter
Erschienen in: Dresdner Geschichtsblätter Band 1 (1892 bis 1896)
Zinzendorf in Dresden
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Die Stadtgrenze bei Räcknitz

ist, wie ein Blick auf den Stadtplan lehrt, außerordentlich unregelmäßig. Von der alten Dippoldiswaldaer Straße an folgt sie nach Osten hin im ganzen der Richtung des Zelleschen Weges, jedoch greift das Stadtgebiet unterhalb Räcknitz und Zschertnitz plötzlich in einem breiten Streifen weit nach Süden aus, zwängt sich dann in bloßer Wegbreite zwischen den Fluren dieser beiden Dörfer hindurch nach der Höhe hinauf, umfaßt ein großes Landstück zwischen Räcknitz und Kleinpestitz bis an die von Plauen nach der Mockritzer Höhe führende „Kohlenstraße“ und zieht sich an dieser entlang noch über die neue Dippoldiswaldaer Landstraße hinweg beim Kaitzer Chausseehause vorbei weit nach Plauen zu.

Es liegt auf der Hand, daß ein so unregelmäßiges Stück Grenze nicht schon dem ursprünglichen Weichbilde angehört haben kann, wie es der Stadt bei ihrer Gründung vom Landesherrn verliehen worden ist, sondern daB diese seltsame Ausbuchtung des Stadtgebiets auf einer späteren Erwerbung beruhen muß. In der That liegt dort eine solche Erwerbung von Landgebiet vor, nämlich die des Vorwerks Räcknitz.

Unter einem Vorwerk verstand man im Mittelalter ursprünglich ein größeres Hofgut, das als Zubehör eines innenstädtischen Hofes von diesem aus mitbewirthschaftet wurde und das bisweilen auch befestigt war, in diesem Falle also als vorgeschobenes Bollwerk und Beobachtungsposten zur Stadtbefestigung gehörte. Später verlor sich jedoch das Merkmal der Zugehörigkeit zu einem Hauptgute und bezeichnete man als Vorwerk jedes ausgedehnte, aus Wirthschaftsgebäuden, Aeckern und Wiesen bestehende Landgut, das eine städtische Gemeinde oder Familie außerhalb des Weichbildes inne hatte.

Das Vorwerk Räcknitz war von alter Zeit her als markgräfliches Lehen und später als Erbgut im Besitze von Dresdner Bürgerfamilien. So finden wir z. B. 1384 den Bürger Peter Münzmeister, 1404 die Dresdner Familie von Leubnitz im Besitze je einer Hälfte des Vorwerks. In den Jahren 1465 und 1467 gingen beide Hälften von den Erben Franz Bibrachs, der sie zuletzt besessen hatte, kaufsweise auf den Rath zu Dresden über. Der Rath erwarb aber das Vorwerk nicht zu eigner Bewirthschaftung, sondern zum [30] Zwecke der Parzellirung, um den einzelnen Bürgern mehr Grundbesitz und damit bessere Erwerbsverhältnisse zu verschaffen. Er veräußerte davon Ackerstücke an 38 verschiedene Stadtbürger und Bauern der Nachbardörfer gegen Erbzins, während den Vorwerkshof der Bauer Palatzsch zu Pestitz übernahm. Im Laufe der Zeit aber gingen die Parzellen alle an eine kleinere Anzahl Bauern über, welche die Erbzinsen bis zu ihrer Ablösung fortgezahlt haben.

Die Erwerbung des Vorwerks war natürlich für die Stadt nur unter der Voraussetzung von Werth, daß dessen Landfläche dem Stadtgebiete einverleibt wurde. Diese Einverleibung ist thatsächlich auch erfolgt. Der Bauer Palatzsch mußte sich im Kaufvertrage von 1469 verpflichten, von dem bisherigen Vorwerkshofe ebenso wie von den ausgesetzten Ackerstücken, die er etwa an sich bringen würde, gleich einem Mitbürger städtisches Geschoß zu zahlen, auch diese Aecker nicht zu seinen Grundstücken in Pestitz zu schlagen, sondern sie abgegrenzt zu lassen, so daß sie stets „Stadtzinsgut“ blieben. So erkennen wir in den ober- und unterhalb Räcknitz in die umliegenden Dorffluren einschneidenden Theilen des Stadtgebietes die Aecker des ehemaligen Vorwerks Räcknitz und in dem jetzigen „Stadtgute“ den alten Vorwerkshof wieder.

Westlich von der Bergstraße reicht das Stadtgebiet weit über den Zelleschen Weg hinaus bis zu der dem Dorfe Räcknitz zunächst gelegenen großen Plauenschen Ziegelei hinauf, von wo sich die Grenzlinie nach dem Annenfriedhofe an der Chemnitzer Straße hinüberzieht. Die Fluren zwischen dieser Linie und dem Zelleschen Wege waren einst ebenfalls Zubehör eines Vorwerks, und zwar des Vorwerks Auswik. Dieses hatte der Rath gleichzeitig mit dem Vorwerke Räcknitz und von denselben Besitzern für zusammen 565 Schock Groschen gekauft, eine für jene Zeit sehr bedeutende Summe, die allein schon auf eine große Ausdehnung der zu den beiden Vorwerken gehörigen Ländereien schließen läßt. Aus Urkunden des 15. Jahrhunderts ist ersichtlich, daß Auswik oberhalb des „Hellegrundes“ lag, das ist die Einsenkung, die vom Kreuzungspunkte der Bergstraße und des alten Zelleschen Weges nach Plauen herüberläuft. Das Vorwerk Auswik, das meist in den verderbten Formen Ußewig, Ausigk, Uzmig, Ußmegk u. a. genannt wird, war ursprünglich nicht ein bloßer Gutshof, sondern zugleich eins der erwähnten vorgeschobenen Bollwerke. Dies geht aus mehreren Vermerken einer Baurechnung vom Jahre 1473 hervor, wonach der Rath von einem dort befindlichen, wahrscheinlich damals schon verfallenen Thurme Steine wegbrechen ließ („7 gr. 2 gesellen, das sye han steyne gebrochen czu Außwick an dem thorme... 17 1/2 gr. geben den steynbrechern czu Außwick an dem forburgk“). Gewiß nicht zufällig wird der Hof statt, wie sonst stets, als „Vorwerk“, bei dieser Gelegenheit als „Vorburg“ bezeichnet und der Name Auswik, d. h. eben Vorburg, Außenort (von wic, Burg, Stadt, Bezirk), nicht in den gewöhnlichen Verstümmelungen, sondern in der ursprünglichen richtigen Form wiedergegeben, offenbar weil der Schreiber sich bei Gelegenheit der Zerstörung des Thurmes der ehemaligen Bestimmung der Anlage bewußt war. Der deutsche Name deutet darauf hin, daß dieses befestigte Vorwerk nicht aus einem der alten Dörfer, die sämmtlich slavische Namen trugen, hervorgegangen, sondern von der Stadt aus, wahrscheinlich schon bei deren Gründung, angelegt war. Allerdings blieb der Grund und Boden dieser Befestigungsanlage landesherrlich und wurde erst dann städtisch, als die Anlage bereits aufgegeben war. Nach der Parzellirung der Aecker wurden offenbar alle Baulichkeiten abgetragen. Der Hof mit dem Wartthurme hat vermuthlich auf der obersten Ausbuchtung des Stadtgebiets gestanden, also nahe an dem durch die Ziegeleien hindurchführenden Fahrwege, von wo aus sich ja ein umfassender Ueberblick über den Elbthalkessel bietet. Möglich, daß einmal beim Fortschreiten der Lehmausschachtungen nach Räcknitz zu die Aufdeckung von Mauerresten die Bestätigung dieser Vermuthung bringt. (Vgl. meine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Dresdens I, 42 u. III, 34.)

Dr. O. Richter.